Barrierefreiheit für Menschen mit geistiger Behinderung

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Titelthema: Barrierefreier Zugang zum ÖPNV
Barrierefreiheit für Menschen
mit geistiger Behinderung
Im Rahmen eines Forschungsprojekts wurde untersucht, welche Barrieren für
Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung im ÖPNV bestehen und in welchen Bereichen der größte Handlungsbedarf besteht. Die Ergebnisse liefern klare
Anhaltspunkte, wie auch für diese Personengruppe der ÖPNV barrierefrei gestaltet
werden kann.
Barrierefreiheit für Menschen
mit geistiger Behinderung
Barrierefreiheit im Öffentlichen Personennahverkehr (ÖPNV) für Menschen
mit Behinderung ist in Deutschland eine
wichtige gesellschaftspolitische Forderung. Durch das Inkrafttreten des Behindertengleichstellungsgesetzes im Jahr
2002 ist dieses Ziel auch gesetzlich festgeschrieben worden. Tatsächlich gibt es
bezüglich des barrierefreien Ausbaus von
Fahrzeugen und Verkehrsanlagen in
Deutschland inzwischen schon erhebliche Fortschritte.
Univ.-Prof. Dr.-Ing Fritz Busch,
Inhaber des Lehrstuhls
für Verkehrstechnik,
TU München
Orientierungsschwierigkeiten beim Umsteigen an einem Zentralen Omnibusbahnhof
(Bild: TU München).
Dipl.-Ing. Daniel Monninger,
Wissenschaftlicher Mitarbeiter am
Lehrstuhl für Verkehrstechnik,
TU München
Dabei wurde einer Personengruppe
bisher noch recht wenig Aufmerksamkeit geschenkt: Menschen mit geistiger Behinderung. Gerade für sie ist die
Nutzung des ÖPNV jedoch von zentraler Bedeutung. Da nur die wenigsten in
der Lage sind, eine Fahrerlaubnis zu
erwerben, sind sie ansonsten immer auf
spezielle Fahrdienste angewiesen. Diese Abhängigkeit steht in diametralem
Gegensatz zu der Forderung nach einem
selbstbestimmten Leben und gesellschaftlicher Teilhabe. Eigenständige
Mobilität spielt bei der Verknüpfung der
Lebensbereiche Wohnen, Arbeit, Bildung, Versorgung und Freizeit eine
Schlüsselrolle.
Nahverkehrs-praxis – Ausgabe 11-2010
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Schwierigkeiten bei Lesen und Verstehen von Information: Fahrplanvielfalt im Verkehrsgebiet der Verkehrsgemeinschaft Grafschaft Bentheim
(Bild: TU München).
Zielsetzung des vom Bundeswirtschaftsministerium geförderten Forschungsprojektes „MogLi – Mobilität auf
ganzer Linie“ (Laufzeit 2007-2010) war
es daher zu untersuchen, mit welchen
Maßnahmen es gelingen kann, Menschen mit geistiger Behinderung zu
befähigen, den ÖPNV selbstständig zu
benutzen. Dieses interdisziplinär aufgebaute Projekt wurde von Pädagogen
(Universität Gießen, TU Dortmund) und
Verkehrsforschern (TU München) bearbeitet. Praxispartner war der Landkreis
Grafschaft Bentheim (Niedersachsen) in
Zusammenarbeit mit der Kreisverwaltung, der Vechtetal Schule, einer Förderschule mit dem Schwerpunkt Geistige
Entwicklung, sowie der Verkehrsgemeinschaft Grafschaft Bentheim. Viele der
im Projekt gewonnenen Erkenntnisse
wurden von der Vechtetal Schule bereits umgesetzt. Es ist ein beachtlicher
Erfolg, dass inzwischen rund 80 Schüler – etwa 1/3 der Schülerschaft – selbstständig mit dem ÖPNV zur Schule fahren und nicht mehr auf den privaten
und darüber hinaus sehr kostenintensiven Beförderungsdienst angewiesen sind.
Barrierenkatalog
Ein wichtiges Ziel des Forschungsprojektes war es, Barrieren im ÖPNV für
Menschen mit geistiger Behinderung zu
untersuchen und Maßnahmen zu deren
Beseitigung aufzuzeigen. Barrieren sind
dabei „Hindernisse, die die selbstständige Nutzung öffentlicher Verkehrsmittel erschweren oder sogar verhindern“.
Zu beachten ist, dass dies sämtliche
Elemente der Reisekette von Start- bis
Nahverkehrs-praxis – Ausgabe 11-2010
Zielpunkt (inkl. Fußwege, ggf. Umsteigen, etc.) mit einschließt, und dass
darunter nicht nur physische Barrieren
sondern auch bestimmte Situationen
oder Ereignisse zu verstehen sind.
Um festzustellen, was für Schüler mit
geistiger Behinderung eine Barriere im
System ÖPNV darstellt, wurden zunächst
Piloterhebungen durchgeführt, bei denen alle Barrieren entlang des Schulwegs einzelner Schüler erfasst wurden.
Anschließend fand ein interdisziplinärer Workshop statt, in dem alle identifizierten Barrieren zusammengetragen
und Beseitigungsmaßnahmen diskutiert
wurden. Im Ergebnis wurde schließlich
ein Barrierenkatalog erstellt, der alle
identifizierten Barrieren (insgesamt 90
Stück) umfasste.
Da Barrieren in sämtlichen Teilbereichen einer Reisekette auftreten können, erstreckt sich ihre Vielfalt von phy-
Unsichere Straßenquerung (Bild: TU München).
sischen Gegenständen und Konstruktionen, über die kognitiven Schwierigkeiten der Verkehrsteilnehmer bis hin
zu psychologischen Vorgängen und der
sozialen Interaktion mit dem eigenen
Umfeld sowie den übrigen Verkehrsteilnehmern und Mitreisenden. Aufgrund
der Vielzahl und Komplexität wurde zunächst eine Kategorisierung der Barrieren in verschiedene Abschnitte der
Reisekette vorgenommen:
❏ Information über das Verkehrssystem: Vorbereitung der Reise, Orientierung im Netz, Unterscheidung der
Verkehrsmittel und Produkte des ÖPNV,
Verbindungssuche mit den verfügbaren
Fahrplanmedien.
❏ Haltestellen und Fahrzeuge:
Schwierigkeiten der Orientierung an der
Haltestelle und im Fahrzeug, Verständlichkeit der Fahrgastinformation, Haltestellenausstattung.
Titelthema: Barrierefreier Zugang zum ÖPNV
❏ Fahrt im Bus: Sitzplatzverfügbarkeit, Verhalten der Schüler mit Behinderung, aber auch das der übrigen
Fahrgäste, Ängste und Unsicherheiten
während der Fahrt.
❏ Bewältigung der Fußwege (Weg
von der Haustür zur Einstiegshaltestelle,
ggf. Umsteigewege): unsichere Straßenquerungen oder fehlende Gehwege, Verständnis für den Verkehrsraum, fehlende Sichtbeziehungen, Reizüberflutung.
❏ Störfälle: Betriebliche Störfälle
(z.B. Verspätungen, Nichteinhaltung
eines Anschlusses) und individuelle
Störfällen (z.B. Bus verpassen, in einen
falschen Bus einsteigen, falsch aussteigen).
❏ Sonstige Barrieren: Alle übrigen
Barrieren, die in keine andere Kategorie passen.
Untersuchung zur Relevanz
der Barrieren
Um zu erheben, welche Barrieren für
Menschen mit geistiger Behinderung
eine besonders hohe Hürde darstellen
und damit die größte Relevanz besitzen, wurde eine Befragung an Förderschulen mit dem Schwerpunkt geistige
Entwicklung durchgeführt. Hierzu wurden alle derartigen Schulen in Deutschland (insgesamt 738) einbezogen. Dabei wurden die Lehrer gebeten, für jeweils zufällig ausgewählte Schüler (3.12. Klasse) eine Einschätzung zu relevanten Barrieren abzugeben. Insgesamt
213 Schulen aus allen 16 Bundesländern beteiligten sich, was einer Rücklaufquote von fast 30% entspricht. Die
hohe Beteiligung unterstreicht dabei,
wie wichtig das Thema eigenständige
Mobilität auch von den Förderschulen
eingeschätzt wird.
Das Diagramm oben rechts zeigt die
von den Förderschullehren eingeschätzte Relevanz der Barrieren. Angegeben
ist jeweils der Mittelwert der Relevanz
der genannten Barriere.
Das größte Problem stellt – insbesondere im ländlichen Raum – die Län-
ge des Schulwegs dar. Dies ist auf die
meist großen Einzugsbereiche der Förderschulen zurückzuführen. Es tritt vor
allem bei dezentral gelegenen Schulen
auf und hängt zudem von der Angebotssituation des örtlichen ÖPNV ab. Ebenfalls wichtig sind Barrieren im Bereich
der Orientierung, der Fahrgastinfor-
❏ Ergreifung von Maßnahmen bei
Störfällen, Schaffung einer Rückfallebene, damit sich Menschen mit geistiger Behinderung auch in solchen Situationen noch zurechtfinden können
bzw. in der Lage sind, Hilfe zu holen
(z.B. mit Hilfe mobiler Endgeräte).
❏ Schaffung verkehrssicherer Wege zur
Die relevantesten Barrieren im ÖPNV für Kinder und Jugendliche mit geistiger Behinderung
(Bild: TU München).
mation, der Verkehrssicherheit (unsichere Straßenquerungen) und bei Störfällen. Es zeigt sich jedoch auch, dass
einige der genannten Barrieren Missstände sind, die auch für gewöhnliche
Fahrgäste ein Problem darstellen.
Handlungsbedarf
Ausgehend von diesen Ergebnissen
sind aus verkehrlicher Sicht folgende
Handlungsfelder für Menschen mit geistiger Behinderung besonders zu berücksichtigen, um eine Barrierefreiheit herzustellen:
❏ Klare Orientierung durch einfach
verständliche, übersichtliche und möglichst einheitlich gestaltete Fahrgastinformation, nach Möglichkeit unter Zuhilfenahme von Symbolen und Piktogrammen.
Haltestelle – insbesondere sichere Straßenquerungen.
Die verkehrlich notwendigen Maßnahmen müssen jedoch immer auch von
pädagogischen Maßnahmen begleitet
werden, um das richtige Verhalten im
ÖPNV und im Straßenverkehr zu erlernen.
Fazit
Viele Menschen mit geistiger Behinderung sind durchaus in der Lage, den
ÖPNV selbstständig zu nutzen, wenn
ein entsprechendes Training erfolgt
und die verkehrlichen Voraussetzungen dazu geschaffen werden. Es ist an
der Zeit, auch für diese wichtige Personengruppe den ÖPNV barrierefrei zu
gestalten.
e-mail: [email protected]
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