Sprache des Bildes, der Metapher, des Pars pro Toto, vielleicht des Symbols, jedenfalls aber der Ganzheit (und nicht der analytischen Zerlegung) nennen. Bekanntlich macht die Psychologie des Denkens eine ähnliche Unterscheidung zwischen dem sogenannten gerichteten und ungerichteten Denken. Ersteres folgt den Gesetzen der Logik der Sprache, also ihrer Grammatik, Syntax und Semantik. Das ungerichtete Denken dagegen liegt Träumen, Fantasien, dem Erleben der Innenwelt und dergleichen zugrunde. Es ist ungerichtet nur im Vergleich zum gerichteten Denken, denn es hat seine eigenen, «unlogischen» Regeln und Gesetzmäßigkeiten, die sich unter anderem in Witz, Wortspiel, Kalauer, Innuendo und Verdichtung ausdrücken. Auch in der Linguistik und der Kommunikationsforschung besteht eine fast identische Zweiteilung; nämlich die in digitale und analoge Modalitäten. Zum Ausdruck eines bestimmten Sinnes, einer Bedeutung, besteht entweder die Möglichkeit der Darstellung durch eine Bezeichnung, die mit dem Bezeichneten eine rein willkürliche (aber von allen Zeichenbenützern notwendigerweise anerkannte) Beziehung hat. Ein einfaches Beispiel ist ein beliebiges Wort auf dieser Buchseite: zwischen ihm und seiner Bedeutung besteht kein unmittelbar naheliegender und direkt verständlicher Zusammenhang, sondern nur die stillschweigende Übereinkunft, dass diese Folge von abstrakten Zeichen (bzw. im Falle des gesprochenen Wortes, von Lauten) im Deutschen eben diese Bedeutung hat. Für diese Form der Darstellung wird der aus der Mathematik übernommene Fachausdruck digital verwendet. Die andere Möglichkeit besteht in der Verwendung von Zeichen, die zu dem von ihnen Bezeichneten eine unmittelbare Sinnbeziehung haben, indem sie eine Analogie, also eine gewisse Bildhaftigkeit, darstellen. Beispiele sind die Landkarte in ihrer Beziehung zum dargestellten Land (die aufgedruckten Bezeichnungen natürlich ausgenommen), Bilder und bildhafte Zeichen aller Art (obwohl, wie z. B. im Falle der chinesischen Schrift, rein bildhafte Zeichen durch langsame Stereotypisierung digitalisiert werden können), echte Symbole (also nicht nur allegorische Darstellungen), wie sie sich z. B. in Träumen spontan ergeben, onomatopoetische Wörter (wie krachen, plätschern, prasseln und zahllose andere), Pars pro Toto Darstellungen (in denen gewisse Einzelheiten sozusagen für die Ganzheit stehen), und so weiter. 19 © 2015 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Paul Watzlawick; Die Möglichkeit des Andersseins. 7., durchgesehene Auflage. Die Tatsache des Bestehens dieser beiden «Sprachen» legt die Vermutung nahe, dass ihnen zwei grundsätzlich verschiedene Weltbilder entsprechen müssen, denn bekanntlich spiegelt eine Sprache ja nicht so sehr die Wirklichkeit wider, als sie eine Wirklichkeit erschafft2. Und so sehen wir, wie durch die Jahrtausende der Geistesgeschichte, durch Philosophie, Psychologie, bildende Kunst, Religion, und selbst die angeblich objektiven Naturwissenschaften sich diese Zweiteilung zieht – viel öfters als ein Schisma, denn als harmonische Abgestimmtheit. Man denke z. B. an C. G. Jungs Typenlehre [60], in der sich die Gegensatzpaare Denken-Fühlen, bzw. Wahrnehmung-Intuition, diametral gegenüberstehen. In ihr drücken sich zwei Formen der Wirklichkeitserfassung aus, nämlich ein logisch-methodisches, schrittweise sich aufbauendes Vorgehen, das u. U. den Wald vor den Bäumen nicht sieht, und andererseits ein global-holistisches Erfassen von Ganzheiten, von Gestalten, das den Einzelheiten recht hilflos gegenübersteht – also die Bäume vor lauter Wald nicht sieht. Es scheint dem Genie Vorbehalten, diese zwei antagonistischen Erfassungsweisen integrieren zu können: «Das Resultat hatte ich schon», soll Gauss einmal bemerkt haben, «jetzt musste ich nur noch die Wege entdecken, auf denen ich zu ihm gelangt war.». In diese Äußerung sind zwei wichtige Tatsachen hinein verkapselt: erstens die für uns mathematische Laien fast unglaubliche Tatsache, dass genialen Mathematikern das Resultat kompliziertester Probleme nicht selten von vornherein «irgendwie» unmittelbar klar ist, und das Problem dann im methodischen Nachweis der Richtigkeit des a priori erfassten Resultats liegt3, und zweitens, 2 Dies ist leicht gesagt, aber schwer akzeptiert. Es war jahrtausendelang die Überzeugung der Philosophen, schreibt Schneider, es ist der selbstverständliche Denkansatz aller Kinder und es scheint den meisten Erwachsenen unauslöschlich eingeprägt zu sein, dass die Wörter die Wirklichkeit exakt abbildeten, Sätze einen Sinn haben müssten und die Welt um uns so beschaffen sei, wie sie in unserer Muttersprache heißt. Man kennt die Empörung des Südtirolers über die Italiener, weil sie zum Pferd «cavallo» sagen: «Wir sagen ‹Pferd› und es ist auch ein Pferd» [89, S. 193–4]. 3 Ein interessantes Beispiel aus der Technik ist die im Jahre 1933 im Kanton Bern dem Verkehr übergebene Schwandbachbrücke. Ähnlich wie bei der Europabrücke bei Innsbruck bildet ihre Fahrbahn eine horizontale Kurve, was die statischen Berechnungen (ein Vierteljahrhundert vor Anbruch des Compu20 © 2015 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Paul Watzlawick; Die Möglichkeit des Andersseins. 7., durchgesehene Auflage. dass – wie man sich leicht vorstellen kann – sich ein Schisma zwischen analytischen und intuitiven Strömungen durch die Philosophie und Epistemologie der Mathematik zieht. Ein nicht weniger tiefer Graben trennt in den Hochreligionen die Orthodoxie von der Mystik: Auf der einen Seite steht hier der Glaube, das Wort Gottes sei dem Einzelnen nur über das Mittlertum der Priester und der heiligen Bücher zugänglich; auf der anderen Seite die kompromisslose Haltung der Enfants terribles der Orthodoxie, der Mystiker, die sich über Liturgie und ein für allemal verpflichtend festgelegte Offenbarung hinwegsetzen, um Gott «von Angesicht zu Angesicht» zu schauen. All dies ist seit langer Zeit wenigstens empirisch bekannt. In den letzten Jahrzehnten erhielten diese Erfahrungstatsachen jedoch eine unerwartete wissenschaftliche Untermauerung durch die Ergebnisse der modernen Hirnforschung. Wir haben es hier mit einem jener seltenen Fälle zu tun, in denen uns die exakte Wissenschaft nicht nur das objektive Verständnis vereinzelter psychologischer Funktionen (wie etwa Wahrnehmung, Gedächtnis, usw.) vermittelt, sondern auch jener eben beschriebenen, sich durch fast alle Bereiche menschlichen Erlebens und Handelns ziehenden Komplementärphänomene. Ich glaube, dass wir damit zum ersten Mal einen Schlüssel zum objektiven Verständnis jener funktionellen seelischen Mechanismen und Störungen (wie Verdrängung, Depersonalisation, Wahnbildung, usw.) haben, für die uns bisher nur recht nebelhafte, spekulative Hypothesen zur Verfügung standen. Umgekehrt fällt damit auch neues Licht auf jene Phänomene, die von Wissenschaftlern als plötzliche, bildhafte Erleuchtung erlebt werden, nachdem sie sich lange Zeit vergeblich mit einem Problem intellektuell herumgeschlagen haben. Man denke nur an Kekulés Erfassung des Benzolrings in einem Traume, oder die vielen anderen Beispiele, die Koestler in seinem Göttlichen Funken [64] zusammengetragen hat, und die auch Kuhn [66] als wesentliches Element wissenschaftlicher Entdeckung beschreibt. terzeitalters) überaus verkomplizierte. Der technische Entwurf stammt von ­Robert Maillart und es spricht für seine Genialität, dass diese Berechnungen erst nach Erbauung der Brücke abgeschlossen und für richtig befunden wurden. 21 © 2015 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Paul Watzlawick; Die Möglichkeit des Andersseins. 7., durchgesehene Auflage. Unsere zwei Gehirne Über Zwillinge, besonders über eineiige, besteht häufig ein Familienmythos: der eine ist der gescheite, der andere der künstlerische. Kein Mythos dagegen ist, dass wir alle ein solches Zwillingspaar im Kopf herumtragen; nämlich unsere beiden Großhirnhälften (Hemisphären), die keineswegs eine scheinbar unnötige Verdoppelung darstellen, sondern – wie wir nun wissen – im eigentlichsten Sinne zwei Gehirne mit verschiedenen Funktionen sind. Etwas konkreter als Goethe das meinte, stellte 1844 der englische Arzt und Anatom Wigan fest, dass zwei «Seelen» zwar nicht in unserer Brust, aber in unserem Kopfe wohnen: Ich glaube, beweisen zu können, dass erstens, jedes Zerebrum [Hirnhälfte] für sich ein ganzheitliches Denkorgan darstellt, und zweitens, dass separate und verschiedenartige Denkprozesse und Überlegungen gleichzeitig in den beiden Hirnhälften stattfinden können [113, S. 26]. Wigan stützte sich auf Obduktionsbefunde, wovon er einen wie folgt beschreibt: Eine Hemisphäre war vollkommen verschwunden – das war meinen Sinnen ­offenkundig; der Patient, ein Mann von etwa 50 Jahren, hatte aber noch wenige Tage vor seinem Tode vernünftig konversiert und sogar Verse gedichtet [113,­ S. 40]. Und an anderer Stelle schreibt Wigan: Dr. Conolly erwähnt den Fall eines Mannes, dessen Krankheit so schwer war, dass sie durch die Augenhöhle ins Großhirn vorgedrungen war und sein Leben langsam zerstört hatte […]. Die Beschau erwies, dass eine Hirnhälfte völlig zerstört – verschwunden, vernichtet – war, und an ihrer Stelle (in der empathischen Sprache des Berichterstatters) «eine Leere gähnte». Bis wenige Stunden vor seinem Tode war er aber durchaus bei Sinnen und sein Geist klar und ungestört gewesen [113, S. 41]. Wigan ist damit einer der Vorläufer der modernsten Hirnforschung. Ihm standen für seine Untersuchungen nur die klinischen Bilder schwerster Hirnschäden zur Verfügung, den heutigen Forschern zusätzlich aber auch die psychologischen und 22 © 2015 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Paul Watzlawick; Die Möglichkeit des Andersseins. 7., durchgesehene Auflage. verhaltensmäßigen Auswirkungen der Kommissurotomie. Darunter versteht man die hirnchirurgische Durchtrennung der breitesten Verbindungszone der beiden Großhirnhälften, des sogenannten Balkens oder corpus callosum1. Und wie schon Wigan feststellte, scheint merkwürdigerweise auch das Verhalten dieser Patienten bei oberflächlicher Beobachtung trotz der Schwere des Eingriffs praktisch unbeeinträchtigt. Erst genauere Untersuchungen enthüllen psychische Veränderungen, die unmittelbare Bedeutung für meine Ausführungen haben und daher im folgenden kurz zusammengefasst werden sollen. Das Studium der Ausfallserscheinungen bei Kommissurotomie Patienten erlaubt folgende Rückschlüsse auf die individuellen Funktionen der beiden Hemisphären: Im typischen Rechtshänder dominiert die linke Hemisphäre und ist für die Übersetzung der wahrgenommenen Umwelt in logische, semantische und phonetische Repräsentationen und für die Kommunikation mit der Wirklichkeit auf der Grundlage dieser logisch-analytischen Aufschlüsselung der Welt spezialisiert. Zu ihren Funktionen gehört daher alles mit Sprache (also Grammatik, Syntax, Semantik) und mit Denken auf dieser Basis Zusammenhängende – daher auch Lesen, Schreiben, Zählen, Rechnen und ganz allgemein die digitale Kommunikation. In der Literatur wird sie daher oft auch als die verbale Hemisphäre bezeichnet. Im Rorschachversuch dürfte sie die Detail- und die Kleindetaildeutungen beisteuern. In psychoanalytischer Sicht deckt sich ihre Funktion weitgehend mit der Definition der Sekundärprozesse. Sie bewirkt die bewusste Innervationen und bedingt daher die normale, das heißt spontane Rechtshändigkeit, durch die die linke Hand buchstäblich zu Handlangerdiensten degradiert wird. Wie schon erwähnt, neigt die linke Hemisphäre auf Grund dieser Spezialisierung dazu, den Wald vor lauter Bäumen nicht zu sehen. Läsionen in ihrem Bereich führen zu Ausfallserscheinungen von Sprache, Schrift, Zählen, Rechnen und Schließen. Dabei können sich die merkwürdigsten Komplikationen ergeben: Ein Patient mit totaler linker Hemisphärektomie (chirurgischer Entfernung 1 Der Zweck dieses Eingriffs besteht meist darin, das Übergreifen epileptischer Störungen von der einen auf die andere Gehirnhälfte in jenen Fällen zu verhindern, die auf die übliche, medikamentöse Epilepsiebehandlung schlecht oder überhaupt nicht ansprechen. 23 © 2015 by Verlag Hans Huber, Hogrefe AG, Bern Dieses Dokument ist nur für den persönlichen Gebrauch bestimmt und darf in keiner Form vervielfältigt und an Dritte weitergegeben werden. Aus: Paul Watzlawick; Die Möglichkeit des Andersseins. 7., durchgesehene Auflage.