Thüringen Londesuerbond im Deutschen e.V Bibliotheksverbond 6. ThüringerBibliothekstag in Nordhausenam 4. Oktober2000 Erfurt2000 lnhalt Vorwort Heidemaie Trenkmann 6. Thüringer Bibliothekstag, Nordhausen, 4. Oktober 2000 Begrüßung und Eröffnung Gisela Rauschhofer Grußwort der Rektorin der Fachhochschule Nordhausen Dagmar Schipanski Grußwort der Thüringer Ministerin für Wissenschaft, Forschung und Kunst Gabi eIe Krompholz- RoehI Grußwort des Vorstandsmitglieds des Deutschen Bibliotheksverbandes 11 Kaus Ring Leseförderung im Zeitalter des Internet Harald Müller Rechtliche Aspekte der Internetnutzung Frank Simon-Ritz Einführung in das Thema Thüringer Bibliotheken im Netz: lnternet-Angebot und -Nutzung in Offentlichen und Wissenschaftlichen Bibliotheken 33 55 Barbara Bnndt Erfahrungen mit dem ISTAR-Projektin ileiningen 59 Dorothee Reißmann Perspektiven für die digitale Bibliothek 67 Anschriften der Autorinnen und Autoren 75 Klaus Ring Leseförderung im Zeitalter des Internet 1. Orientiertman sich an den Medien,vor allem an den Wirtschaftsteilen,und verfolgt an den Neuen Märkten,dann befindetsich Deutschland die Börsenkursnotierungen in einem kollektivenRausch, denn Deutschlandgoes online, wie die ganze Welt sich aufmacht, online zu gehen. Wir sind begeistert,denn binnen kurzem wird unsere Vernetzung total und global sein. Räumliche Distanzen schmelzen zu zeitlichen Distanzen zusammen. Die Dimensionen dieser Distanzen liegen im sind also bedeutungslos.Alles ist jedezeit und ,,inreal time" über Sekundenbereich, www abrufbar. Jeder kann sich jedezeit allüberallhinmitteilen oder, umgekehrt, alles erfahren.Bill Gates sagte einmal,,,dasNetz sei das demokratischsteMedium, welches je existierthabe". Nun weiß ich nicht, was es mit den ,,demokratischen" Eigenschaftendieses Netzesauf sich hat. Aber eines ist sicher:Die Entwicklungder auslösen;sie neuen Technologienwird enorme Innovations-und Kreativitätsschübe sollte bei aller EuDhorieauf der einen und Skepsisauf der anderenSeite wertneuhal betrachtetwerden! 2. Die neuen Technologienverändern unsere Gesellschaften,unsere Ökonomien, unsere Kulturen und gewiss auch unsere Kommunikationuntereinander.Diese Veränderungen haben technologische wie, und das ist besonders wichtig fesEuhalten,inhaltlicheKomponenten. Ganz gewiss, und das hier festzustellen ;st eigentlich trivial, beeinflusst die technologischeRevolutionauch die Welt der Bücher. ,,DasNeE" macht sich längst auch hier bemerkbar. Wir sind in der Tat mittendrinin einem radikalenWandel,der technologischdefiniert ist, und weltweitgleichartigeAuswirkungenhat; ein Wandel,der überhaupterst der Wirtschaftermöglichtund die immer wiederangesprocheneGlobalisierung damit Entwicklungsschübegerade auch in den kleinen und mittleren Unternehmenerzwingt,wie sie noch vor wenigenJahrenundenkbarwaren. in der täglichenArbeit einfach voraussetzt, Es rst ein Wandel, der "lnterkulturalität" wenn die Arbeiterfolgreichsein soll; - schon heuteumkrempelt:Nicht nur in ein Wandelauch, der die Arbeitsmärkte quantitativerWeise, sondern vor allem auch hinsichtlichder qualitativenAnfor0erungen; - der damit die Leistungsfähigkeit des einzelnenMenschenzwangsläufiginternational normiert (in der globalen Arbeitsteilung muss der thüringische "können" wie sein Kollege in Arbeitnehmer letztendlichgenau das gleiche Singapuroder auf der indischenHochebeneund er muss mit ihm darüberauch zu kommunizierenvermögen.Wenn er das nicht schafft,verlierter seinen Job, und, wenn es zu viele nicht schaffen,wird das gesamteArbeitsfeldwoandershin "ausgelagert". Die dezeitige Green-Card-Diskussionzeigt diese Situation deutlich). Er kommtdamit automatischin die Situation,mit Menschenganz unterschiedlicher kultureller,religiöserund sozialerPrägungund Traditionenzurechtkommenzu müssen; Menschen mit sehr verschiedenartigenVerhaltensweisen,Ansprüchen und Qualifikationen. Zu rechtwird daher prognostiziert,dass "Kommunikationsfähigkeit" eine der Schlüs- selqualifikationen der Zukunftim digitalenZeitaltersein wird, und zwer - nicht nur in instrumenteller,d. h. technischerHinsicht(Bedienungder entsprechendenGerätschaftenund Programme), - sondernvor allem hinsichtlichder mentalen,der intellektuellenund der sozialen Fähigkeiten.Die Köpfe werden sich daher bei vielen Menschennoch verändern müssen, - I sich schon übrigensauch unter denen, die in der neuen Kommunikationswelt heimischfühlen;diese Welt steht erst am Anfang ihrer Entwicklung. sondern Denn: Wir sind nicht nur auf dem Weg in eine Informationsgesellschaft, diese Gesellschaftwird nur Erfolg haben können, wenn sie, wie der frühere BundespräsidentProfessorRoman Hezog gesagt hat, eine Wissensgesellschaft wird; eine Wissensgesellschaft, die getragenwird von einer genügendgroßen Zahl qualifizierterund immer weiter qualifizierbarerMenschen,die Wissen nicht nur aufbauen,sondernauch nuEbar machenkönnen. Die Entwicklungdorthin wird noch überlagert,in Deutschlandanders als in anderen Ländern,von einer problematischendemographischenEntwicklung,die im übrigen bislangviel zu wenig beachtetwird. Währendheute das Verhältnisder Erwerbstätigen zu den im RuhestandLebendenetuta2 zu 1 beträgt,wird sich dieses Verhältnisin 40 bis 50 Jahren umgedreht haben: Ein Eruverbstätigerwird dann für 2 Versorgungsempfänger auftommen müssen. Wenn man heute also von "Generationenverträgen" spricht, dann müsste man sich gegenüberden Jugendlichenund nachhaltigvor allem anderenmit der Fürsorgepflicht Kindern von heute erfassen,die angemessenauf die Welt von morgen vorbereitet werdenmüssen. "heute" ist, und was sich unter Kommen wir aber zunächst zu dem, was "Bildungsfähigkeit", "Kommunikationsfähigkeit" rubrizierenlässt, breiter definiert als oder auch als Ausbildungsreife. Da ergibt sich dann ein merkwürdigesund nur schwer zu verstehendes Bild: Auf der einen Seite gibt es viele Menschenmit sehr hoher beruflicherQualifikation (einer Qualifikation,die vermutlich höher ist als früher; ich sage dies auch als I ehemaliger Hochschullehrer),verbunden mit einer erstaunlichen Flexibilität und Mobilität, und auch - inzwischen wieder - mit Freude an der eigenen Menschenalso mit beruflichenund persönlichenZielen. Leistungsfähigkeit: Auf der anderen Seite gibt es mehr und mehr Menschen,für die das Gegenteilgilt. Und um diese müssen wir uns als Mittler von Kultur und Bildung besonders kümmern. Wissenschaftler Hier scheint realisiert,was Schweizerund später US-amerikanische schon seit Jahren nachweisen:Eine Spaltung der Gesellschaften,nunmehr nicht und das Herkunft,sondernnach Bildungsfähigkeit; hinsichtlichder gesellschaftlichen heißtauch: ihrer Fähigkeitzur Nutzungder Bildungsmöglichkeiten: - Eine Spaltungin eine Wissenseliteund ein Wissensproletariat: "information gap" voneinander Zwei Bevölkerungsgruppen,die durch ein getrenntwerden. Der frühere BildungsministerRüttgerssprach daher zu recht in unsererGesellschaft. von einer "Refeudalisierung" - Dieses"gap",diese Wissenskluftnimmt stetigzu, auch in Deutschland. Und das, obwohl wir in unserem Land eine flächendeckendeschulische Versorgunghaben, - und obwohl schon seit einigerZeit der Zugangzum Wissenjeder Art und jeden Ansprucheszu jeder Zeit nahezu unbegrenztist. Noch nie konnten so viele Menschen an so viele Informationenherankommenwie heute. Daran haben übrigens die öffentlichen Bibliothekenihren bedeutendenAnteil, neuerdings ergänztdurch ,,dasNetz". 4. die wir sehr ernst nehmen müssen, Dennoch vezeichnen wir Fehlentwicklungen, und zwar gerade im Hinblickauf das sich entwickelnde,,digitaleZeitalte/': Denn die werden unsere Welt stark verändern, und der neuen Informationstechnologien Einzelnewird davon nicht ausgenommenbleiben. lch will diese Fehlentwicklungen an wenigen Beispielenerläutem, und zwar an solchen, die wir als Indikatorenfür Kommunikationsfähigkeitund Bildungsfähigkeit ansehenkönnen. Diese Entwicklungensetzenfrüh ein: Wir vezeichnen in Deutschlandeine starke Zunahme an Entwicklungsstörungen bei Kindern im Vorschul-und Einschulungsalter, die - weit vor allen anderen Defiziten, die glücklicherueiseabnehmen- betreffen: - das Sprachvermögen - dasWahrnehmungsvermögen, - die Motorik. Nach jüngsten Berichten aus verschiedenenBundesländernist jedes dieser drei Defizitebei etwa 20 o/oder Kinderim Einschulungsalter anzutreffen. Schon vor längerer Zeit wurde durch klinische und andere Feldstudien nachgewiesen,dass bei 3 % - bis 4jährigen Kindern, also jungen Kindergartenkindern,die allesamtaus deutschenFamilienstammten, knapp 25 Prozent klinisch relevanteSprachentwicklungsstörungen aufweisen,gegenüber 4 bis 5 Prozent l0 Jahre zuvor. Ob wir wollen oder nicht und wie auch immer wir dies zu erklären versuchen:Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass am Beginn des Kommunikationszeitalters zunehmendviele KinderProblememit ihrer persönlichstenKommunikationsfähigkeit, nämlichihrer Sprache,haben. Aber diese Erscheinungsteht nicht isoliertda. Mit ihr im Zusammenhangsteht eine auffälligeVerminderungauch der Lesefähigkeit(und Schreibkompetenz): 19 - Über 40 Prozentder Grundschulenin Deutschlandrichtenfür die Drittklässler außerhalbdes SchulunterrichtsSonderkurseein, um den Kinderndas Erlernen von Lesen und Schreiben zu erleichtern,was sie in diesem Alter eigentlich schon beherrschensollten. - 30 Prozentder Achtklässlerhaben nach eigenemBekundenProblememit dem Lesen und Schreiben. - 60 Prozentder Lehrer sehen Defizitebei der Lesekompetenzder Achtklässler, bedingt durch die sehr geringe Neigung,etwas zu lesen und die ausgeprägte AbneigunggegenüberBüchern. - 70.000 junge Menschen verlassen nach Angaben des Bundesbildungsministeriumsjährlichdie Schulenohne Abschluss:Mindestens10.000geltenals Analphabeten. - sind ohne Chance,einen Ausbildungsplatz 15 Prozentder Lehrstellenbewerber zu bekommen,weil sie zu große Problemeim Umgang mit der Schriftsprache haben (obwohlsie keine Problemehaben,mit PC's umzugehen). - 20 Prozentder Unternehmenkönnen nicht alle freien LehrstellenbeseEen, da zu viele der Bewerbernicht genügendqualifiziertsind. Das hat Konsequenzenfür die Betroffenen,zunächst einmal für sie persönlich, schließlichaber auch für uns alle, für unsereGesellschaft: - Sehen wir einmal von den persönlichen Schicksalen ab, die in einer geprägtwerden: Informationsgesellschaft sehr stark von den Bildungschancen - wir können es uns auch als Gesellschaftnicht mehr leisten, Begabungenin Zukunft noch brachliegen zu lassen; ich habe auf die demographische Entwicklung hingewiesen,die mit sich bringt, dass auf den Schultern der heutigen Kinder und Jugendlichen in Zukunft sehr schwere Lasten liegen werden. Die Problemesind indessennicht neu, sondernwachsenseit längeremstetig weiter. Die Defizite sind nämlich nicht nur bei den heutigen Jugendlichenzu finden; wir finden sie auch bei Erwachsenen,den Eltern dieser Jugendlichenalso: Insofern habenwir keinenGrund,nur immer über die jüngerenMenschenzu klagen,die ja nichtwenigerbegabtsind als früher. - Neuere Untersuchungen zeigen, dass 14 Prozent der Deutschen im Alter praktischsekundäreAnalphabetensind, und erwerbsfähigen - weitere 34 Prozent erkennbareSchwierigkeitenim Umgang mit Schrifttexten haben. Wir haben es hier mit einem sehr merkwrirdigenPhänomenzu tun, welchesin einem Land mit einem Bildungssystem,das in weiten Kreisender Öffentlichkeitimmer noch als vorbildlichbezeichnetwird, gar nicht existierendürfte.Allerdingsgibt es ähnliche Verhältnisse auch in anderen modernen Gesellschaften: sie scheinen allen westlichenIndustrienationen eigenzu sein. Wenn man danach fragt, wie man gegen diese Entwicklungenangehen kann, also Präventionbeheibenkönnte - und diese Frage muss beantwortetwerden - ist nach ihren Ursachen zu suchen. Und dazu gehört Kenntnis darüber, wie sich denn Sprache und Lesevermögen entwickeln, und was diesen Entwicklungen ggf. entgegenwirkt. Häufigwird gefragt,ob es die vielen Bildersind, die die Medienbeherrschen,und irgendwannfalsche Prozessein den Köpfen auslösen,oder die in der Konkurrenzmit Wort und Schrift zu dominant geworden sind und somit verhindern,dass sich die Köpferichtigentwickelnkönnen? lch will jetzt schon vor zu einfachenAntwortenund Rezeptenwarnen,denn die Ursachen sind vielschichtig. Vielmehrmöchte ich erst einmal fragen: Wie entstehendenn überhauptLeser? Wie entstehtLesekomoetenz? 21 Es mag überraschendsein: Zum Leser wird man nicht geboren.Vermutlichist dies einer der Gründe, warum das Lesen immer bedroht war und daher auch unverdrossengefördertwerden muss (aber auch mit Erfolg gefördertwerden kann). Bücher und Zeitungengab es noch nicht, als sich homo sapiens,der Vorgängerdes heutigen homo zappens,aus seinen frühen Vorfahrenentwickelte,zu deren Zeiten das menschlicheGehirn seine für die kommunikativenLeistungenso maßgebenden Entwicklungssprünge vollzog. Das menschliche Gehirn besitzt keine Region, die im Laufe der Entwicklungsgeschichte speziell für die Kompelenz zu lesen ausgebildetworden wäre, ganz im Gegensatzzur Fähigkeitzu Sprechen,zum Hören,zum Sehen, oder auchzum Fühlen. Warum konnte aber dennoch vor vielleicht 5 oder 6 Tausend Jahren eine erste Schrift entwickeltwerden, die ja schließlichauch gelesen werden musste, um als eingesetztwerden zu können, - verständlichund verbindlich Kommunikationsmittel für alle, die sie lasen,- als wichtigerTeil der kulturellenFähigkeitendes Menschen? Es muss also Teile im menschlichenGehirn geben, die die entsprechendenBefähigungenvermitteln.ln der Tat kennt man heute die Hirnregionen,welche für das Lesen genutzt werden: Beim Rechtshänderbefinden sie sich überwiegend im Bereichdes linkenScheitellappensder Großhirnrinde. Man ist auf diese Regionenbei UntersuchungenHirnverletztergestoßen,die durch ein Trauma nicht mehr lesen und schreiben konnten. Man fand sie im übrigen deshalb, weil diese Verletzten ihre Sprachfähigkeitverloren hatten. Patienten mit motorischenoder sensorischenAphasien (also sprachunfähigeMenschen)erleiden sekundär, d. h. infolge des Verlustes ihrer Sprachkompetenz,auch Lese- und Schreibstörungen. Heute kann man durch die modernen bildgebenden diagnostischenVerfahren während des Lesens genau lokalisieren,welche Regionen des Gehirns für die einzelnenKomponentendes Lesensin Anspruchgenommenwerden. Danach lässt sich sagen, dass für alphabetischeund syllabischeSchriftender linke Teil des Cortexzuständigist; für das Lesen ideographischer, also bildhafterSchriften (chinesischeZeichen,Kanji im Japanischen)der rechteTeil. Aus der Differenzierung zwischenlinker und rechter Hirnhälftelässt sich bereitsein wichtigerUnterschiederkennen: - die Entzifferunggraphischer Zeichen, die eine analytisch-synthetischeund intellektuelleAufgabe ist, also ein kognitiverVorgang, ist Aufgabe vorwiegend der linkenHälfte; - die Verarbeitungvon Bildern, und dazu gehört eine ideographischeSchrift, erfolgt an anderer Stelle, nämlich rechts, dort also, wo vor allem unsere emotionalenReaktionenihren Ursprunghaben. Man weiß heute, dass die Hirnregionen,die für das Lesen in Anspruch genommen werden, entwicklungsgeschichtlichsehr viel älter sind (und a ta( viele Hunderttausend Jahre),als die Fähigkeitzu lesen. Sie mögen sich fragen: Was sollten diese Regionendamals? Man nimmt an, dass sie für lebenswichtigeandere, dem heutigen Lesen indessen verwandte Zwecke ausgebildetwurden,nämlichzur Deutungvon Tierspurendurch unserefrühenAhnen (derenGehirneübrigenserst höchstenshalb so groß waren wie unsereheutigen). lch schilderelhnen dies nicht aus quasi-philologischen Gründen, sondern, um Sie auf eine bemerkenswerteEigenschaftunseres Gehirns aufmerksam zu machen. Denn in diesem Phänomen der "funktionalenUmnutzung" zeigt sich, dass das Gehirn durchauszu einer gewissen kulturellenAdaptierbarkeiteinzelnerRegionen wichtigsein und befähigtist. Das mag auch für künftigeAnpassungsnotwendigkeiten 23 gibt uns begründete Hoffnung, auch in Zukunft mit uneruvartetenneuen Anforderungenfertigzu werden. Aber wie steht es nun mit dem Erlernendes Lesensund Schreibens?Es kann nicht oft und nachdrücklichgenug darauf hingewiesenwerden, dass diese Vorgänge einem biologischenProgrammfolgen,welchesdurch eine biologischeUhr gesteuert wird. Dieses Programm steht fest, - so, wie feststeht, dass man nicht das Fahrradfahrenzu erlernenvermag,bevor man nicht laufenkann. In allen Kulturenbeginntder Schulunterrichtmit der systematischenVermittlungvon Schriftund Zahlen,und zwar zwischendem fünftenund siebtenLebensjahr(übrigens auch das Vermittelndes Spurenlesensdort, wo es heute noch Bedeutunghat: den australischenAborigines). Offenbar sind die entsprechenden Hirnregionen in diesem Alter besonders prägungsbereit,also entwicklungsfähig;jene Hirnregionenalso, die einerseitsfür grapho-motorische Vorgängestehen,darüberhinausaber auch und visuell-kognitive für die emotionalenStrukuren(die im limbischenSystem repräsentiertwerden). Die hirnorganischenund hirnfunktionalenReifungsprozesselaufen relativ rasch ab. lnnerhalbdieser Phasensind die Kinderbesonderslernbereitund aufnahmefähig. Während der Reifung bildet das Gehirn in den entsprechendenRegioneneinerseits "Masse" aus, arrdererseits entwickelt es sich aber auch funktional. Anders ausgedrücktheißtdies: Die Nervenzellen wachsen; darüber hinaus vernetzen sie sich aber auch untereinander,bilden Kontakte in schier unvorstellbarerZahl: In einem hochentwickeltenneuronalenNetz hat jede Zelle Verbindungmit vielleicht40.000 anderen Zellen. Auf diese Weise kommt ein hochhommunikatives System zustande,in dem Botschaften,elektrischelmpulse also, mit hoher Geschwindigkeitübertragenund ausgetauschtwerden. 24 Aber: Die Bildung dieser Strukturen,deren Qualität allein durch den Umfang und ihren VerneEungsgradbestimmt wird, erfolgt nur durch Einfluss von außen; kaum etwas geschiehtvon selbst. Gewiss: Es gibt eine gewisse Grundarchitekturund es gibt genetischeAnlagen, die den Rahmen für die Entwicklungsmöglichkeiten und damit auch für das spätere Können setzen; das Erschließendieser Anlagen erfolgt aber nie von selbst. Das heißt nichts anderes, als dass Lesekompetenznur durch Lesen selbst, durch Praktizierenalso, erworbenwerden kann, aber auch nur durch Praktizierenbewahrt wird. Denn die Verschaltungsstellen des Gehirns, die Synapsen, zerfallen wieder, wenn sie nichtgenutztwerden,ihr Bedarfbestätigtwird. Die Ausbildungder entsprechendenGehirnarealedurch ihre Nutzunglässt sich, wie die andererFähigkeiten,mit entsprechenderMethodiknachweisen. Die Lebensphasen,währendderer diese Entwicklungenmöglich sind, sind indessen nur Kuz: - Für die Sprachkompetenzdie erstenfünf bis acht Jahre, - höchstens12 bis 14 Jahre. für die Lese- und Schreibkompetenz Hirnforscherbezeichnendiese Phase auch als Entwicklungsfenster.Hiermit wird zum Ausdruck gebracht, dass Entwicklungen nur möglich sind, solange die entsprechendenFenster geöffnet sind. Sind sie geschlossen,können weitere Entwicklungenkaum noch stattfinden.Das gilt für die Sprache,aber auch für das Lesen. Die neuronalen Netze, die Chips in den Köpfen, sind dann fertig. "Was nicht rechEeitig verschaltetwird, hat keine Chancen mehr", beschrieb der Frankfurter HirnforscherWolf Singereinmaldie Situation. Warum sind die Öffnungszeitender Fensterso deutlichvoneinanderunterschieden? Offenbarwerdendie Fensterumso später geschlossen,je jünger die entsprechende gilt ist. Für den Spracheruverb Region der Großhirnrindeentwicklungsgeschichtlich I beispielsweise,dass der WortschaE noch bis ins hohe Alter erweitertwerden kann. Die Prosodieder Sprache hingegenist in Hirnregionenlokalisiert,die entwicklungsgeschichtlichsehr alt, mindestens2 MillionenJahre, sind. Daherschließtsich dieses Fenster relativ früh. Hierin liegt der Grund, dass Menschen,die erst spät mit dem Erlerneneiner Fremdsprachebeginnen,diese nie akzentfreiwerden sprechen können. b. Warum aber bemühen wir uns noch so sehr um das Lesen in der heutigen Zeit; warum ist Lesefähigkeitnach wie vor so bedeutend- auch gerade in einem digitalen Zeitalter'? Gemeinhingilt Lesen als eine andere Form des Sprechensund - oft vergessen:auch des Nach-Denkens;wir wissen, dass Lesen den Menschen prägt wie kaum eine anderekulturelleKomoetenz. Golo Mann, der berühmte Historikerund Literat,ging einmal so weit, provozierend "Wir alle sind, was wir gelesen."Damit bringt er einen seiner Essay-Bändezu titeln: das, was wir mit dem Lesen verbinden,auf eine einfache Formel.Wir wissen, dass diese Formelauch schon für ganz junge Menschengilt. Wenn ein Kind beim VorlesenGeschichtenhört,wenn es späterselber liest, eröffnet es sich den Weg in neue, unbegrenzte,bisher nicht erfahreneWelten, Welten der Phantasieund der Kreativität. "lndem es sich den Geschichtenhingibt,schafftes sich die Welt neu, nach eigenen Barry Sanders Bildernund Regeln",hat der amerikanischeKognitionswissenschaftler einmalgeschrieben. Mit der Verarbeitungsolcher neuer Erfahrungenlernt es, nicht nur Fremdes zu verstehen,sondernsich selberin diesenWeltenzu sehen und zu orten. Bücherverhelfeninsofernzur Entwicklungder eigenen ldentitätund Personalität,zu schließlichzu Werten und Urteilskraft.Sie bringenden Kindernbei, Eigenständigkeit, in dieser Welt zu navigieren.Kinder spüren dies sehr schnell und identifizierensich braudaher gerademit Büchernund ihren Inhalten.Diese ldentifizierungsmöglichkeit chen sie für ihre Entwicklung;sie ist der Weg zu geistiger Selbständigkeit,zu Freiheit. Wir kennen heute den Ablauf der Vorgänge im wesentlichen,die letztendlichdazu - strukturiertes,lineares - anders als Bildverarbeitung führen,dass Textverarbeitung Denken induziert.Lesen und IntellekWerstandsind insoferneng verschwistert.Das I Lesen löst, ähnlich dem Sprechen,eine Vielzahl von inneren Prozessenaus, von Gedanken,von ldeen, ldeenkaskaden,von Bildern bis hin zu Gerüchen und zum Hören von Musik: allesamt hochindividuelleVorgänge, die aus sich heraus bereits schöpferisch sind. Lesefähigkeitwird damit zur Kernkompetenz auch in einer Seine wichtigstenMittler sind Bücher, und sie modernen Informationsgesellschaft. werdenes auch bleiben. Der Weg zum eigenenLesen kann daher auch durch nichts ersetztwerden,selbst in unsererdigitalenWelt nicht,die vielesja sehr einfachzu machen scheint;nicht durch das Fernsehenund auch nichtdurch andere Bildmedien. - Lesekompetenzist vielmehr Voraussetzungfür den Zugang zu den neuen Technologienund die Nutzungihrer ungeheuerenMöglichkeiten.Denn: - so sagt Josef Weizenbaum, einer der Pioniere der ,,Medienkompetenz", modernen Medien, ,,ist die Fähigkeit,kritisch zu denken, - zu verstehen,zu verarbeiten;kritischzu denken lernt man allein durch kritischesLesen, und die Sprachbewusstsein." Voraussetzungdazu ist ein hochentwickeltes 7. Warum kommen bei Weizenbaum keine Bilder vor? Unsere Lebenswirklichkeit besteht schließlichaus der bewusstenwie der unbewusstenWahrnehmungvon Wir lernen durch Bilder und mit ungezähltenEinzelbildernund Bildergeschichten. Bildern, und schon die Babys haben ihre ersten Erlebnissemit bis dahin für sie Fremdemdurch Bilderbücher! lch habe schon darauf hingewiesen: - Bilderwerdenanders verarbeitet,und in anderenHirnregionen,als Texte. - Bei ihrerVerarbeitungdominiertdas Emotionaleüber das Rationale. Bilder wirken und beeindrucken spontan: Die emotionalen Eindrücke bleiben durchwegstabil,auch über längereZeit. Man vergisstsie nicht,man korrigiertnicht, sie unterliegenkeinerVeränderung(H. Sturm). Das von den Bildern (Fernsehen)vermittelteWissen, also der kognitiveAnteil der entsprechendenBotschaft,verfliegtdagegenin der Regel rasch. davon Die moderne Forschungzeigt, dass Verständnis-und Erinnerungsleistungen abhängen,wie stark uns die Bildererregen:in der Konkurrenzzwischen,,Bauch"und ,,Kopf'verliertder Kopf (Sturm). Es gibt aber auch psychologischeGründe:Bildererweckenden Eindruck,als seien sie aus sich heraus verständlich,verständlichalso ohne intellektuelleBeteiligung (und das empfindenwir offenbarals angenehm). Bilder erscheinenauthentisch;man hat die Vorstellung,Augenzeugezu sein. Einer,r Augenzeugenaber vertraut man: es gibt keinen Zweifel an der Echtheit des Gesehenen. Wir brauchen uns kein Bild zu machen, wie beim Lesen von Buch oder Zeitung,sonderndas Bild ist bereitsda. Vielleichthat damit zu tun, dass bereits in ihren frühen UntersuchungenElisabeth in der Regel innerhalb Noelle-Neumannnachweisenkonnte,dass Fernsehzuschauer von wenigen Minuten 95 Prozent des Inhaltsder Nachrichtenvergessenund allein die lllusionhaben, etwas vermitteltbekommenund dann auch verstandenzu haben. 28 Wie Noelle-Neumannzeigen konnte, ist dies nur bei solchen Fernsehzuschauern anders, die regelmäßig und ergänzend zum Fernsehen Nachrichten- und Kommentarteileder Zeitungenlesen. Diese Leser verhaltensich signifikantanders. Es muss also etwas daran sein, wenn behauptet wird, Informationsverarbeitung bedarfder Schulungund einer Erfahrung,die nicht oder nicht allein durch Bildervermittelt wird. Anders ausgedrückt:Die linke Hirnhälftemuss in der Regel mit dabei sein, wenn etwas verstanden werden soll, etwas zu entschlüsselnist, in einen größeren Zusammenhang gebracht werden muss und Beziehungen zu anderen Geschehnissenaufgedecktwerdensollen. Bilderentstehenin der Regel aus der Sprache,dem Lesen also und dem Sprechen. Zwischen der Aufnahme eines Textes und seiner Verarbeitungzu inneren Bildern laufen spezifischeProzesse ab, die in der Summe betrachteterheblichdazu beitragen,dass der Text verstandenund intellektuellbearbeitetwerden kann. Dem gegenüber entsteht aus Bildern nur dann Sprache, Interpretation,wenn die Sprache vorher angemessen entwickeltwerden konnte, wenn wir gelernt hatten, Bilder auch intellektuellzu verarbeiten.ihre Nachricht zu entschlüsselnund zu verbalisieren. In der Umsetzung von Sprache, von Texten in Bilder liegt ein hohes Maß an Kreativitätund Reichtum.Wenn tausend Kinderdie gleiche Geschichte,das gleiche Märchen,von der Königstochterlesen, dann entstehen in tausend Köpfen tausend verschiedenePrinzessinnen,von denen keine der anderengleicht. Darin bestehtein unerschöpflichgroßer Reichtum an Möglichkeiten,den zu fördern wichtigstesZiel lederEziehungsein muss. Wenn dagegentausendKinderdie Königstochterauf dem Bildschirmsehen,wird es nur eine einzige in den Köpfen geben, noch dazu eine, die von einem ,,Fremden" gestaltet wurde. Kann das befriedigen?Kann dieses Ergebnis Ziel menschlicher 29 Eziehung in einer Gesellschaftsein, deren Zukunft vor allem in der Kreativitätder Köpfe liegt? Sind das nun kulturelleÜberlegungeneines Gestrigen,vielleichtallzusehrim Traditionellen Verhafteten?lch habe lhnen diesen Abriss über die beim Sprechen und vor allem beim Lesen ablaufendenProzessegegeben um klazumachen, dass auch in nach wie vor unverrückbar einer digitalen Welt bestimmte Grundverhaltensweisen Bedeutung haben, weil sie biologisch begründet sind, einem Programm folgend, welches von der Natur vorgegebenwurde. Daher wird auch das Lesen im digitalen Zeitalternichtanders ablaufenals zuvor,nichtandersgelerntwerden. der Zukunft wird durch Lesen erworben. Der Führerscheinfür die Datenautobahnen Wer surfenwill, muss lesen können. Wir wissen,dass der Weg hierzufestgelegtist. Es bedarf der Bücher und später der Zeitungenund Zeitschriften,wenn die Kinder und Heranwachsendenihren Weg zur Lesefähigkeitfinden sollen; wenn sie dahin geführt werden sollen, dass Lesen Bestandteildes täglichenLebenswerdensoll. selbstverständlicher Wer sich mit Leseförderungbeschäftigt, sollte dies im Kopf haben und nicht versuchen,das Pferd vom Schwanz aufzuzuäumen.Ob ich auf Papier oder einem Glasschirmlese: Die Fähigkeitzum einenwie zum anderenerwerbeich mir in einem identischenProzess.Dieser Prozessmuss sehr früh beginnenund mit Sicherheitin einem Alter, in dem das lnternetnoch keine Rolle spielenkann. Es gibt bisherkeinen Grund anzunehmen,dass die Netze in dieser frühen Lern- und Entwicklungsphase schon förderlichsein könnten. Das Internet kann seine Rolle später spielen, wenn die Lesefähigkeit weiter perfektioniertwerden soll: durch Animation, durch Kommunikationverschiedener Damit entfernenwir uns Partnermiteinander,durch spannendeRechercheaufgaben. heute weniger aber von der Grundproblematikder Leseförderung,die absurdeniveise gelöst ist als in den vergangenen20 oder 30 Jahren. 30 bleibt- das Nein, es bleibtdabei: Das wichtigsteMediumder Leseförderungist und hier haben Buch. Dafür muss allerdingsdeutlichmehr getan werden als bisher, und im Interesse die öffenilichenBibliothekeneinen unvezichtbaren Aufgabenbereich allerauszufüllen. 32 AnschiftenderAutoinnenundAutorcn BarbaraBrandt derStadt-undKreisbibliothek Leiterin Seghers" ,,Anna Ernestiner Str.38 98617Meiningen Telefon:(0 36 93)50 29 59 Telefax:(0 36 93)50 42 46 [email protected] BrigitteKrompholz-Roehl Bibliotheksverbandes e.V desDeutschen Mitglied desVorstandes Göttingen Leiterin derStadtbibliothek Gotmarstraße 8 37037Göttingen (0551)4 002823und24 Telefon: Telefax:(0551)4 00 27 60 E-Mail:[email protected] Dr.jur.HaraldMüller für der Bibliothek desMax-Planck-lnstituts stellv.Direktor RechtundVölkerrecht öffentliches ausländisches Feld5 35 lm Neuenheimer 69120Heidelberg Telefon:(0 62 21)4 82-219 Telefax:(0 62 21)4 82-288 [email protected] E-Mail: URL:http://www.mpiv-hd.mpg.de Prof.Dr.GiselaRauschhofer Nordhausen Rektorin der Fachhochschule 4 Weinberghof 9973 Nordhausen Telefon:(0 36 31)4 2O-10011 Telefax:(0 36 31)4 20-810 E-Mail : [email protected] URL:www.fh-nordhausen.de 75 t - Reißmann Dorothee UniversitätsderThüringer Stellv.Direktorin undLandesbibliothek 07740Jena (0 36 41)9 40-005 Telefon: (0 36 41)I 40-002 Telefax: 0.biblio.uni-jena.de ldr@thulbl E-Mail: URL:http://thulb03.biblio.uni-jena.de Prof.Dr.KlausRing derStiftungLesen Geschäftsführer 23 Fischtorplatz 55116Mainz (0 61 31)28 89 00 Telefon: (0 61 31)23 03 33 Telefax: ungLesen.de URL:http://www.Stift Prof.Dr.Ing.DagmarSchipanski Forschung undKunst Ministerin für Wissenschaft, Thüringer 1 58 Juri-Gagarin-Ring 99084Erfurt (0361)37-900 Telefon: E-Mail : [email protected] Dr.FrankSimon-RiE Weimar Direktor derBauhaus-Universität derUniversitätsbibliothek WeimarplaE 2 99425Weimar Telefon: (0 36 43)58 23 10 Telefax: (0 36 43) 5823 14 E-Mail: [email protected] URL:hfto://www. b/ mar.de/bi uni-wei Heidemarie Trenkmann im DBV Geschäftsführende Thüringen Vorsitzende desLandesverbandes Amtsleiterin Erfurt Stadt-undRegionalbibliothek Domplatz 1 99084Erfurt Telefon: (0361)6 55-1590 Telefax: (0361) 6 55-15 99