M i n i st e r i u m f ü r Ju st i z , G e su n d h e i t u n d S o z i a l e s Dokumentation der Fachtagung „Maßregelvollzug im Kreuzfeuer – Disput oder Dialog?“ vom 18./19. Mai 2006 in Merzig INHALT VORWORTE Josef Hecken Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland ................................................. 10 Dr. Volker Heitz Direktor der Saarländischen Klinik für Forensische Psychiatrie, Merzig...................... 11 I. ERÖFFNUNGSREDE Josef Hecken Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland ................................................. 14 II. REFERATE Justizvollzug und Maßregelvollzug – Fehlplatzierung und Kooperation Prof. Dr. Norbert Konrad, Berlin ................................................................................... 22 Privatisierung im Maßregelvollzug - Hintergründe, aktueller Stand, Modelle, Risiken und Möglichkeiten Friedrich Schwerdtfeger, Bremen .................................................................................. 30 Psychisch Kranke im Strafvollzug Dr. jur. Rolf Grünebaum, Brandenburg ......................................................................... 39 Entwicklungen der Forensischen Psychiatrie in der Schweiz: Modell für die Nachbarländer? Prof. Dr. Volker Dittmann, Basel/Schweiz .................................................................... 48 Forensische Psychiatrie – Identität und Abgrenzung Prof. Dr. Dr. Paul Hoff, Zürich/Schweiz........................................................................ 49 Straf- und Maßregelvollzug - Probleme und Ergebnisse der Rückfallforschung Prof. Dr. Rudolf Egg, Wiesbaden .................................................................................. 67 Maßregelvollzug – Rückblick und Vision Dr. jur. Thomas Wolf, Marburg ..................................................................................... 78 Maßregelvollzug von außen betrachtet Prof. Dr. Friedemann Pfäfflin, Ulm ............................................................................... 89 REFERENTENVERZEICHNIS........................................................................................... 107 ANHANG 1. Daten und Fakten des saarländischen Maßregelvollzugs................................................ 110 2. Pressemitteilung vom 18. Mai 2006, Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland............................................ 111 VORWORTE Vorworte Mit dieser Tagung knüpft die Saarländische Klinik für Forensische Psychiatrie und das Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales an den großen Erfolg der Tagung aus dem Jahre 2004 an. Maßregelvollzug und Justizvollzug haben „miteinander zu tun“. Gleichwohl sind es jedoch zwei Arbeitsfelder, die sich unterscheiden, different geprägt und gestaltet sind. Wer kooperieren will, muss voneinander wissen. Genau hierzu will diese Fachtagung beitragen: Die Schnittmengen, Berührungspunkte sowie Kooperationsinhalte von Maßregelvollzug und Justizvollzug ausleuchten. Dabei beschäftigt sich die Tagung auch mit deren Problemen und Ergebnissen der Rückfallforschung. Weitere Themen werden der Prozess des Maßregelvollzugs vom Schlusslicht der Psychiatrie zu einem Wegbereiter kriminaltherapeutischer Interventionen und eine historische Betrachtung des Faches Forensische Psychiatrie sein. Da Europa als Ganzes zusammenwächst – auch im Bereich des Maßregelvollzugs komplettieren Erfahrungen aus der Schweiz im Umgang mit Therapie und Sicherung von psychisch kranken Straftäter das interessante und spannende Programm. Josef Hecken Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales 10 Vorworte Immer häufiger stellt sich in den Maßregel- und Strafvollzugseinrichtungen die Frage, ob der Untergebrachte in der jeweiligen Einrichtung denn richtig sei. Und immer wieder wird deutlich, dass solche Fragen dann am besten beantwortet werden, wenn sie aus verschiedenen Blickwinkeln betrachtet werden. Im Maßregel- und Strafvollzug als Gutachter und Therapeuten tätige Psychiater und Juristen, die das der jeweiligen Unterbringung zugrunde liegende Urteil gefällt haben, werden von unterschiedlichen praktischen Erfahrungen und juristischen Erwägungen erzählen. Im Mittelpunkt wird eine Standortbestimmung des Maßregelvollzuges heute stehen verbunden mit einem Austausch über seine Möglichkeiten und was für die forensische Psychiatrie zukünftig realisierbar bleibt. Das Saarland als Grenzland ist den Blick über die eigenen Grenzen gewöhnt. Aus den Erfahrungen unserer Nachbarn wollen wir lernen. Für diese Fachtagung haben wir die Schweiz gewählt, um auch kritisch den deutschen Maßregelvollzug von außen zu betrachten. Dr. Volker Heitz Direktor der Saarländischen Klinik für Forensische Psychiatrie 11 I. ERÖFFNUNGSREDE Eröffnungsrede Josef Hecken 1 Sehr geehrter Herr Bürgermeister, meine sehr verehrten Damen und Herren, bevor ich in die Tagesordnung einsteige, glaube ich im Namen aller, die heute hier nach Merzig gekommen sind, ein Wort des Dankes an die Organisatoren richten zu können. Ich weiß, sehr geehrter Herr Dr. Heitz, Frau Dr. Bücken, Herr Annen, was Sie in den letzten Wochen gemeinsam mit der Abteilung des Ministeriums an logistischem, zeitlichem und auch energetischem Aufwand betrieben haben, um ein anspruchsvolles Programm, um anspruchsvolle Referenten, um eine vernünftig organisierte Veranstaltung auf die Beine zu stellen; eine Veranstaltung, die hoffentlich nutzt den Menschen, für die wir Verantwortung tragen, eine Veranstaltung, die hoffentlich nutzt, um das, was wir beruflich bearbeiten müssen, ein sensibles Themenfeld auch ein Stück weit richtig in den Blickpunkt der Öffentlichkeit zu richten, nicht, um unsere eigene persönliche oder politische Wohlfahrt zu befördern, sondern um rationalere Diskussionen über Dinge, die sich in Forensiken, aber auch in Justizvollzugsanstalten abspielen, solche rationalere Diskussionen überhaupt erst zu ermöglichen. Deshalb möchte ich im Namen aller herzlichen Dank sagen, an alle, die sich krumm gelegt haben, und ich vergesse selbstverständlich auch Herrn Knorst und alle anderen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer forensischen Klinik hier nicht. Herzlichen Dank. Sehr geehrte Damen und Herren, ich möchte nicht in die Einzelthemen der Fachvorträge einsteigen, sondern versuchen, ein bisschen aus der Sicht eines Sozial-, Gesundheits- und Justizministers Überbau zu geben und beginne deshalb mit einer ganz banalen Feststellung: Manche sagen, die Feststellungen von Politikern beschränken sich immer nur auf das Banale. Dem möchte ich aber heute entgegentreten. Ich beginne trotzdem mit einer banalen Feststellung, die ich im „stern“ gelesen habe und die lautet: „Die geschlossene Psychiatrie ist eines der letzten Tabu-Themen unserer Gesellschaft“. Ich habe gerade in der Pressekonferenz gesagt: Spätestens, nachdem vor einer Woche die Entzauberung des Bundesnachrichtendienstes begonnen hat, kann man wahrscheinlich sagen, die geschlossene Psychiatrie ist das letzte Tabu-Thema unserer Gesellschaft. Diese Aussage ist richtig und weil sie richtig ist, ist sie auch so gefährlich. Aus Unwissen, aus Halbwissen und aus Vorurteilen entsteht Angst – das weiß jeder. Diejenigen, die im psychiatrischen Felde arbeiten, mögen es mir verzeihen, wenn ich jetzt auch wieder mit einer banalen Feststellung komme. Aber ich habe mir überlegt: Wieso habe ich früher immer Angst gehabt, wenn mir meine Mutter das pädagogisch sicher nicht wertvolle Erziehungsinstrument des Einsperrens auf der dunklen Kellertreppe angedroht hat? Ich habe Angst gehabt, weil ich nicht wusste, was auf der Kellertreppe war, vor Dingen, die man nicht sieht, vor Dingen, die man nicht kennt, vor Dingen, die man nicht erkennt, hat man Angst. Und aus Angst entsteht – nach meiner politischen Wahrnehmung – in aller Regel ein sehr, sehr hohes Maß an Irrationalität. Sie wissen es besser als ich, viele Patienten mit 1 Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland 14 Eröffnungsrede Psychosen leben im Maßregelvollzug und nicht nur dort, in ihrer eigenen Welt, sie halten Halluzinationen für wahr und die Wahrheit für ein Trugbild. Und ähnlich ist es in vielen öffentlichen Diskussionen über den Maßregelvollzug und die forensische Psychiatrie. Ich habe manchmal das Gefühl, als jemand, der eben Forensik von innen kennt, dass man hier über irgendwelche Trugbilder diskutiert, die mit der Realität, mit der Wahrheit in den Einrichtungen, auch mit den Patienten, für die wir Verantwortung tragen, sehr häufig überhaupt nichts oder jedenfalls nicht viel zu tun haben. Wir haben sowohl im Maßregelvollzug, als auch im Strafvollzug mit gleichen Problemlagen zu kämpfen. Immer, wenn wir über Forensik reden, über forensische Psychiatrie und auch über den Strafvollzug gilt es, das legitime Sicherheitsinteresse der Öffentlichkeit im Auge behalten. Wir müssen auch immer bei unseren politischen Entscheidungen und bei unseren fachlichen Entscheidungen, die Realität im Auge behalten und müssen dem einzelnen Patienten gerecht werden. Sehr häufig ist das, was fehlt, mit unseren Aufgabenfeldern verbunden wird, sehr weit weg von der Realität und deshalb ist es häufig auch völlig irrational. „Wegschließen, und zwar für immer!“ - so eine gängige Schlagzeile, die gelegentlich zu lesen ist, wenn bestimmte Dinge die öffentliche Meinung erschrecken und die Öffentlichkeit auch zu Recht erschrecken. Ein geflügeltes Wort, ich habe eben gesagt, fast so bekannt, wie die Aussage „Wir sind Papst“. Solche Aussagen machen der Bevölkerung Angst, man fühlt sich bedroht, solche Aussagen machen Politikern Angst, man fühlt sich in seinem weiteren beruflichen Werdegang bedroht, weil man eben weiß, wenn man selber mit einer solchen Schlagzeile in Verbindung gebracht wird, egal – wie es passiert, egal – was passiert ist. „Ende der Fahnenstange“ - und solche Aussagen machen auch Ärzten und Therapeuten Angst, weil sie eben wissen, weil ihnen ein Stück weit auch suggeriert oder vor Augen geführt wird, welches Risiko mit therapeutischen und mit prognostischen Entscheidungen immer und notwendig verbunden ist. In dieser öffentlichen Gemengelage, die flach an der Oberfläche diskutiert wird und wenig auf die Unterschiedlichkeiten in den forensischen Einrichtungen eingeht, kann eigentlich kein vernünftiger Dialog gedeihen, sondern in einer solchen Gemengelage kann jetzt im Verhältnis zur Öffentlichkeit, eigentlich nur eine konträre Frontstellung entstehen. Das ist schade, denn, Sie wissen es, als Mediziner jedenfalls wieder besser als ich als Jurist, Voraussetzung für therapeutische Erfolge ist gegenseitiges Vertrauen. Voraussetzung für politische Erfolge ist auch gegenseitiges Vertrauen. Voraussetzung für vernünftige Arbeit, für effidenzbasierte Behandlungen, für vernünftige prognostische Beurteilungen ist ebenfalls Vertrauen. Und deshalb ist diese Tagung für mich so wichtig. Wichtig auch im Verhältnis zur Öffentlichkeit. Denn dieses Verhältnis zur Öffentlichkeit und die Bereinigung dieses Verhältnisses zur Öffentlichkeit ist für mich Voraussetzung dafür, dass wir uns danach überhaupt mal vernünftig über unser Verhältnis untereinander unterhalten können. Dass wir nicht immer die Getriebenen sind, die irgendwelchen Entwicklungen hinterherlaufen und die dann gejagt werden und die dann wieder mit irgendwelchen „Abc-Pflästerchen“ irgendwas verkleben müssen, sondern die offensiv fachliche Positionen vertreten können. Dieses 15 Eröffnungsrede Vertrauen zu schaffen, ist jetzt nach draußen gerichtet, ist für mich der Hauptzweck und das Hauptziel dieser Veranstaltung. Wir wollen auch auf hohem fachlichen Niveau durch unsere Referenten aufklären über das, was in Forensiken, aber auch im Justizvollzug geschieht. Frau Landtagsabgeordnete Rehlinger, wir kennen es, wir beschäftigen uns im Landtagsausschuss mit der Thematik, wir gehen in die Einrichtungen, aber die Masse der Bürgerinnen und Bürger kennt es nicht. Wir wollen also das Licht auf der Kellertreppe anmachen, um es in dieses banale Bild vom Anfang zu übertragen. Wir wollen transparent machen, wie Behandlung geschieht, wir wollen auch transparent machen, nach welchen Regeln es geschieht und – das wollen wir auch nicht verschweigen - wir wollen den Menschen sagen, mit welchen Risiken unsere Arbeit verbunden ist. Es wäre fatal, wenn man hier von Merzig das Signal in die Öffentlichkeit senden würden, wir haben alles im Griff, wir behandeln, wir therapieren, und dann irgendwann stellen wir eine Prognose und dann wird diese Prognose, die wir gestellt haben, der dann eine richterliche Entscheidung folgt, auch mit 100 %-iger Sicherheit in Erfüllung geht. Jede Prognose, egal, ob gegenüber einem vermeintlich Gesunden abgegeben oder einem Kranken, ist mit Unsicherheitsfaktoren behaftet und die Frage ist, welche Risiken können wir in Kauf nehmen, welche Risiken können wir verantworten, welche Risiken wollen wir verantworten und was können wir der Bevölkerung, abgeleitet von dieser seriösen Risikoeinschätzung, dann eben noch als verbleibendes Restrisikopotential vernünftig kommunikativ vermitteln. Das will ich gerne als Landesregierung, das wollen wir gerne als Landeseinrichtung, eben als öffentlichen Impuls nach draußen bringen, um Irrationalitäten und Unsicherheiten aus der öffentlichen Diskussion zu entfernen. Und ich sage es an dieser Stelle nochmals: wir haben es bei den Patientinnen und Patienten, für die wir Verantwortung tragen, mit einem großen Spektrum von Menschen zu tun, bei denen sich ernsthaft die Frage a) nach der Therapiewilligkeit, b) nach der Therapiefähigkeit und daraus abgeleitet dann auch die Frage stellt, ob, zu welchem Zeitpunkt oder ob überhaupt irgendwann einmal über eine Entlassung nachgedacht werden kann. Wir haben es mit Patientinnen und Patienten zu tun, bei denen ich jenseits der formaljuristisch anzustellenden Prüfungen, die selbstverständlich die Gerichte, die unabhängig sind, vorzunehmen haben, bei denen ich als unbefangener Entscheider und unbefangener Betrachter immer zugunsten des Sicherungs- und Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit Entscheidungen treffen würde. Entscheidungen, die in dubio zu Ungunsten des Patienten ausfallen würden. Dieser Bereich – das ist der Bereich, des „Wegschließen und zwar für immer!“ – mit der Forensik gleichgesetzt wird. Dieser Bereich ist aber der quantitativ kleinere Bereich, der wesentlich kleinere Bereich der Patienten, der kleinere Anteil der Patienten und Patientinnen, die wir in unseren Einrichtungen haben. Die Normalen (80 oder 85 % unserer Patientinnen und Patienten) sind therapiewillig, therapiefähig und ich sage, sie verdienen auch Therapie. Sie verdienen eine Chance, sie brauchen Hilfe, sie wollen Hilfe, wir können sie nicht einpferchen, nur weil einige dabei sind, von denen man sagt: „Na ja, die kannst du nicht rauslassen!“ Wir müssen ihnen ihre Chance geben. Anwälte müssen mit beiden Bereichen gleichermaßen vertraut sein, wir müssen schaffen, eben hier über die Grenzen hinweg ein gemeinsames Grundvertrauen erzeugen. Wir haben 16 Eröffnungsrede das Glück, dass wir im Saarland durch die Zuständigkeit meines Ressorts die Dinge in einem Geschäftsbereich gebündelt haben. Wir überwinden damit nicht die Sektorengrenze, indem wir sagen, wir werfen alles in einen Topf, wir arbeiten sauber auf der Basis getrennter gesetzlicher Grundlagen. Gleichwohl haben wir die Chance, eben bestimmte Problemlagen, die in beiden Bereichen auftreten, eben auch im Ministerium zusammenzuführen und gemeinsam und konstruktiv einheitlichen Lösungen zuzuführen. Ich wünsche mir, dass das, was mit viel Mühe in einer kleinen Abteilung geschehen ist, auch im Alltagsleben gelingt. Denn wir haben in beiden Bereichen die gleichen Herausforderungen, und ich greife hier und an dieser Stelle, weil ich das Programm nicht über Gebühr hier in seinem Fortgang behindern will, nur einen Bereich auf, der beide Bereiche gleichermaßen betrifft. Wir hören gleich einen Fachvortrag, einige Gedanken zu möglichen Überlegungen, die es bundesrepublikweit gibt, über die Frage, ob und in welchem Umfang der Staat staatliche Hoheitsaufgaben zu privatisieren im Stande sei. Überlegungen, die seit zehn Jahren durch alle Gazetten geistern, die angefangen haben bei irgendwelchen öffentlichen Verkehrsunternehmen, die mittlerweile die allgemeinen Krankenhäuser erreicht haben und die zwischenzeitlich auch diskutiert werden am Beispiel von Strafvollzugsanstalten und am Beispiel von forensischen Einrichtungen. Ich sage Ihnen an dieser Stelle, was ich an anderer Stelle schon im Landtag gesagt habe: wir sind als Saarland sicher kein finanzstarkes Land, wir sind als Saarland sicher darauf angewiesen, alle Synergiepotentiale zu nutzen, sind als Saarland sicher auch in der Situation, dass wir den öffentlich-rechtlichen Overhead nicht weiter ausbauen dürfen, sondern im Gegenteil versuchen müssen, alle Dinge, die nicht notwendiger Weise auf Rechnung des Staates ausgeführt werden müssen, an Dritte zu übertragen. Aber, wir sind im Saarland nicht so finanzschwach, dass wir uns – aus meiner Sicht – eines elementaren Kernbereichs staatlicher Hoheitsverwaltung entledigen. Wenn wir über Strafvollzug reden, wenn wir über Forensik reden, dann reden wir über einen Bereich, in den der Staat wie in keinem anderen Lebensbereich in elementare, grundrechtlich geschützte Positionen von Einzelpersonen eingreift. Ein solcher Eingriff ist für mich nur dann legitimiert, wenn er vollzogen wird nicht nur unter einer entfernten Regieverantwortung eines mit Gewaltmonopol ausgestatteten Staates, sondern in originärer Verantwortung und in originärer Anwendung staatlicher Hoheitsbefugnisse. Und deshalb halte ich viele der Diskussionen, die über Vollprivatisierungen geführt werden, für verfassungsrechtlich, verfassungspolitisch für grenzwertig und deshalb beteilige ich mich an solchen Diskussionen nicht. Wenn wir irgendwann zu der Auffassung kämen, dass man sagt, man kann Forensiken privatisieren, dann kann man auch noch die Polizei privatisieren. Denn dann bleibt ja nichts übrig. Der Eingriff gegenüber einem Strafgefangenen, der Eingriff gegenüber einem Patienten der Forensik ist weitaus intensiver, als der im klassischen öffentlich-rechtlichen Bereich, im Polizeirecht gegenüber dem Bürger aussieht, wenn dieser ein bisschen flott gefahren ist oder falsch geparkt hat oder um eine Bauerlaubnis nachsucht, gegenüber diesem Bürger vollzogen wird und wenn wir in diesem Bereich hier die Grenzen brechen, ist aus meiner Sicht jedwede Legitimation für andere staatliche Hoheitsaufgaben auch ein Stück weit nach hinten getreten. 17 Eröffnungsrede Gleiches gilt für Mischmodelle von Privatisierungen. Für mich ist aber völlig unvorstellbar und undenkbar, wenn der eigentliche Betrieb der Klinik, in dem zum Beispiel das weitere Verbleiben eines Patienten ja durchaus von finanziellem Interesse für denjenigen ist, der die Einrichtung betreibt, einer Privatisierung zugeführt werden soll. Wenn der eigentliche Betrieb eben von Privaten gesteuert wird und dann nur noch ein staatlicher Oberaufseher mit einem Wappen in der Einrichtung herumläuft, ist das nicht hinnehmbar. Der Oberaufseher kann vielleicht formal noch kontrollieren, ob die Leute nicht gequält und menschenwürdig behandelt werden. Er kann aber nicht kontrollieren, ob Ärzte in irgendeiner Form angehalten werden, für den Betreiber wirtschaftlich vernünftige Entscheidungen zu treffen und das ist doch der Eingriff in den Kernbereich dessen, was Würde des Menschen angeht, der gerade in einer Forensik, in der er zeitlich unbefristet seinen Aufenthalt hat und in der Einzelne darauf angewiesen ist, dass er sich zumindest darauf verlassen kann, dass die Leute, die Prognosen über ihn anstellen, das besten Wissens und Gewissens tun und nicht, weil irgendeine Klinikbetreiber ihnen gesagt hat, „Der ist pflegeleicht, mit dem können wir leicht Geld verdienen, schau, dass dieser noch ein Jahr hier bleibt oder guckt, dass er rauskommt, weil er uns hier unseren ganzen Betrieb durcheinander mach“ Das sind aus meiner Sicht Weichenstellungen, bei denen man sehr genau bedenken muss, wie die Folgewirkungen sind. Deshalb habe ich hier und in diesem Bereich unbeschadet von möglichen partiellen Öffnungen aus meiner Sicht eine klare Position. Im „stern“, den ich eben schon einmal zitiert hatte, sagt ein Patient aus einer forensischen Einrichtung: „Ich fühle mich lebendig begraben.“ Ein tragische Aussage, die dann Realität ist, Realität wird, wenn man eben „0 8 15“-Vollzug, „0 8 15“-Therapie macht und den einzelnen Patienten/Gefangenen nicht in seiner Individualität, nicht in seiner persönlichen Befindlichkeit annimmt und versucht zu helfen, indem wir ihn dort abholen, wo er steht. Ich weiß, dass das schwer ist. Ein Politmensch, wie ich einer bin, kann sich ja hier vorne hinstellen und sagen: „Ihr müsst die Leute abholen, wo sie stehen!“ Sie treffen sie morgen oder übermorgen in ihren Einrichtungen und da ist der eine oder andere dabei, dem man eigentlich überhaupt nicht begegnen wollte und den dann auch noch dort abzuholen, ist schwer. Aber wenn wir es nicht tun, mal versuchen, hier „therapie-light“, phlegmatisch Patienten zu behandeln, Therapiealltag zu gestalten, dann werden wir in zweifacher Hinsicht versagen. Wir werden erreichen, dass in der öffentlichen Wahrnehmung Forensik nur noch mit Fehlschlägen, mit Katastrophen, mit Desastern verbunden ist, so dass fachliche Diskurse überhaupt nicht mehr möglich sein werden, sondern wir uns nur noch auf dem Niveau „Wegschließen, und zwar für immer!“ unterhalten werden. Wir werden erreichen, dass wir die öffentliche Sicherheit und das legitime Sicherungsinteresse der Allgemeinheit auch nicht erfüllen können. Ganz zu schweigen davon, dass wir vielleicht auch den Ansprüchen, die wir an uns selber stellen, unsere persönliche berufliche Erfüllung und Erfahrungen, nicht gerecht werden. Ich wünsche uns allen, dass die kommenden zwei Tage dazu beitragen, Diskussionen zu versachlichen, von den Kollegen zu hören, dass es bei ihnen auch etwas gibt, worüber man sich aufregen kann (Das hilft: Geteiltes Leid ist halbes Leid) und ich hoffe, dass es gelingt, eben auch gemeinsam über die Grenzen der Sektoren hinweg, gemeinsam Fortentwicklungstendenzen, vielleicht auch Lösungsansätze für das eine oder andere Problem zu entwickeln. Herr Dr. Heitz hat es gesagt: Beim letzten Mal haben wir über forensische Nachsorge gesprochen – wir haben sie eingeführt – und es funktioniert zum Wohle der 18 Eröffnungsrede Patienten und der Einrichtung und wir haben damit einen richtigen Weg gefunden. Einen Weg, den wir ohne die Erkenntnisse, die wir bei der letzten Tagung hier gewonnen haben, mit Sicherheit nicht gegangen wären. In diesem Sinne, zwei erfolgreiche und schöne Tage bei den sachlichen Vorträgen. Viel Erfolg und Glück Auf Minister Josef Hecken 19 II. REFERATE Referate Justizvollzug und Maßregelvollzug – Fehlplatzierung und Kooperation Prof. Dr. Norbert Konrad 2 Zunächst ganz kurz zu den rechtlichen Voraussetzungen, die den meisten von Ihnen bestens bekannt sind; gleichwohl will ich es als Einleitung noch mal kurz vornehmen. Es muss natürlich eine Straftat passiert sein, bevor jemand in den 63er-Bereich kommt, aber der nächste Punkt ist schon problematisch: Die Schuldfähigkeit im Sinne einer erheblichen Minderung oder Aufhebung muss feststehen, also zumindest eine erhebliche Minderung der Schuldfähigkeit. Das ist mitunter bei Fehleinweisungen nicht ganz so eindeutig. Es muss eine längerdauernde Störung vorhanden sein, die die Schuldfähigkeit mindert. Es geht also nicht, dass etwa die Kombination einer Persönlichkeitsstörung als längerdauernde psychische Störung mit einer Alkoholintoxikation als vorübergehender psychischer Störung dann als Unterbringungsgrund dient. Die Auslösetat muss symptomatisch sein für die vorliegende psychische Störung, künftige Taten müssen mit bestimmter Wahrscheinlichkeit zu erwarten sein, die auch wieder symptomatisch sein müssen für die psychische Störung und, das ist dann die juristische Wertung, der Schweregrad künftiger Taten muss erheblich sein, es muss eine Gefahr für die Allgemeinheit bestehen und die Verhältnismäßigkeit der Maßregelanordnung muss gegeben sein. Im 64er-Bereich gibt es auch mehrere Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, nämlich neben der Straftat muss ein Hang festgestellt sein, wobei es hier durchaus Diskrepanzen gibt zwischen der Einstellung von Psychiatern und Juristen. Aus meiner Sicht ist der Hang als Abhängigkeitssyndrom nach ICD-10 zu klassifizieren. Mitunter wird aber in der Rechtssprechung die Grenze etwas weiter gezogen. So gibt es BGH-Entscheidungen, die lediglich eine intensive Neigung voraussetzen, immer wieder aufgrund einer bestehenden psychischen Disposition oder einer durch Übung erworbenen Neigung, Alkohol oder andere psychotrope Substanzen im Übermaß zu sich zu nehmen. So wird dann der Hang operationalisiert. Die Auslösetat muss symptomatisch für den Hang; das ist einfach bei Beschaffungskriminalität, jedenfalls ist es nicht symptomatisch, wenn auch ein nicht im Übermaß psychotrope Substanzen Konsumierender die Tat in einer ähnlichen Situation, etwa angesichts eines Lebenskonfliktes oder bei Provokation durch einen Geschädigten verübt haben könnte oder würde. Es muss ähnlich wie beim § 63 StGB eine negative Legalprognose bestehen, die Symptomatizität gilt wie bei der Auslösetat, künftige Taten müssen erheblich sein. Aber im Unterschied zu § 63 StGB muss eine hinreichend konkrete Behandlungsaussicht bestehen, wie das Bundesverfassungsgericht 1994 festgelegt hat. D. h. hier spielt das Moment der Behandelbarkeit durchaus eine gewichtige Rolle. Dem Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten in der Praxis beim 64er kaum Bedeutung zu. Wie sieht es dann mit der Fehlplatzierung aus, wie würde man das fassen? Es gibt aus meiner Sicht in dieser Diskussion, die ja seit Jahrzehnten geführt wird, in den ersten Publikationen 2 Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten 22 Referate zum Maßregelvollzug in den 30er Jahren war auch schon das Thema Fehleinweisung verbalisiert worden. Gibt es unterschiedliche Perspektiven? Man kann die juristische Perspektive anlegen, d. h. schauen, sind denn die eben von mir skizzierten Voraussetzungen im Einzelnen erfüllt worden. Das habe ich in einer früheren Studie mal gemacht und habe bei einer Vollerhebung im Lande Berlin festgestellt, dass von nach § 63 StGB Untergebrachten 27 % eigentlich als fehleingewiesen zu gelten haben, da dort die Voraussetzungen, so wie sie sind, eben nicht bestanden haben. Der hauptsächliche Fehleinweisungstypus war der, dass eben das Kriterien der sicheren Feststellung einer länger dauernden Störung, die zu einer erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit führte, gefehlt hat. Dann, und das ist die Perspektive der Maßregelinstitutionen, wird weniger geschaut, sind denn die juristischen Kriterien im Einzelnen erfüllt, sondern passt der eigentlich in den Maßregel, können wir mit ihm was anfangen, d. h. da geht es um die Frage der therapeutischen Ansprechbarkeit. Wie vorhin ausgeführt, spielt ja die Behandelbarkeit, die therapeutische Ansprechbarkeit bei den nach § 63 StGB Untergebrachten juristisch gesehen überhaupt keine Rolle. Das ist irrelevant. Anders beim 64er. Aber in den Behandlungsinstitutionen, ich war selbst einmal fast drei Jahre Leiter einer 63er-Einrichtung, ist es durchaus ein Thema. Wird nicht die Institution „missbraucht“ lediglich zur Sicherung, wenn jemand drin ist, der – jedenfalls zur Zeit – nicht therapeutisch ansprechbar ist. Und dann gibt es die Perspektive des Strafvollzuges, die sich damit auseinandersetzt (darauf gehe ich später noch ein), dass es eine erhebliche Zahl von Gefangenen gibt, bei denen doch schwerere psychische Störungen festzustellen sind und wo sich dann die Justizvollzugsbediensteten fragen, der gehört doch eigentlich nicht zu uns, was sollen wir denn mit dem machen, wir haben nicht die ausreichenden therapeutischen Mittel, wo eigentlich eine Behandlungsindikation gegeben ist, die aber weder im Normalvollzug noch in Spezialinstitutionen, wie der Sozialtherapeutischen Anstalt, eigentlich bedient werden kann. Zunächst einmal zum Umfang des Problems. Hier einige Zahlen zur Entwicklung der Strafgefangenen und der Maßregelvollzugspatienten in Deutschland: Sie sehen, das habe ich nach fünf Jahresintervallen gegliedert. Im psychiatrischen Maßregelvollzug gab es nach der Psychiatrie-Enquête, die ja die Schlusslichtposition des Maßregelvollzuges verbalisiert hat, im Rahmen der Fortentwicklung von Behandlungsstrategien durchaus Tendenzen, die Belegung zu senken. Das hat sich dann zwischen 1970 und 1980 im damaligen Deutschland, also den alten Bundesländern, auf 2.500 Patienten eingependelt. Erst nach der Wende gab es einen Anstieg, der vielleicht bis 1995 noch mit dem Zuwachs mit den neuen Bundesländern erklärt werden kann, aber danach eben nicht mehr. Danach ist immer noch anhaltend eine deutliche Steigerung der Belegungszahlen zu vermerken. In den Erziehungsanstalten war 1970 im Grunde die Zahl der nach § 64 StGB Untergebrachten vernachlässigbar, mittlerweile sind es 20mal soviel wie 1970. Wenn man die Belegung im Strafvollzug anschaut, dann gibt Schwankungen zwischen 1970 und 1980 bis 1995 entsprechend der Zunahme im psychiatrischen Maßregelvollzug – auch hier eine gewisse Zunahme, aber dann nach 1995 eine ganz deutliche Belegungszunahme. Gegenübergestellt sieht man die Betten in der Allgemeinpsychiatrie, wo ganz deutlich nach der Psychiatrie-Enquête, insbesondere Mitte der 70er Jahre im Rahmen der Enthospitalisierung, eine kontinuierliche Abnahme der aufgestellten Betten erfolgte, die erst in den letzten Jahren in der Tendenz des Abbaus so langsam zur Ruhe gekommen ist. Die Zahl ist von 2004 (neuere Daten gibt es nicht). 23 Referate Nun gibt es international die Tendenz, weil diese Abnahme der Belegung in der Allgemeinpsychiatrie nicht nur ein deutschlandspezifisches Phänomen ist, sondern in der gesamten Welt zu registrieren ist, Hypothesen zu formulieren, dass letztendlich die Abnahme der Belegung in der Allgemeinpsychiatrie zu einer Zunahme im Justizvollzug oder im Maßregelvollzug führt. Sehr häufig wird ein Soziologe namens Penrose zitiert, das sogenannte Penrose-Law bereits Ende der 30er Jahre formuliert, der etwas verkürzt ausgedrückt sagte, dass die Zahl der in den totalen Institutionen Untergebrachten eigentlich immer gleich ist. Wenn die Psychiatrie sehr viele Betten zur Verfügung stellt, dann sinkt die Zahl im Knast und umgekehrt, wenn die Psychiatrie wenig Betten zur Verfügung stellt, findet man mehr Leute im Knast. Dass das für Deutschland nicht stimmt, habe ich versucht, Ihnen darzustellen. Zwischen 1970 und 1990 gibt es nämlich einen Parallelenabbau der Belegung in der Allgemeinpsychiatrie und im psychiatrischen Maßregelvollzug, ohne dass jetzt im Justizvollzug, im Strafvollzug eine deutliche Zunahme der Gefangenen zu registrieren ist. Es stimmt eigentlich auch nicht für die Zeit bis Mitte der 90er Jahre und danach stimmt es schon deswegen nicht, weil es zu einer so deutlichen Zunahme gekommen ist, dass die Zahl der aus der Psychiatrie Enthospitalisierten in der Zeit übertroffen wird. Nun, wenn man mal fragt, im Strafvollzug oder überhaupt im Justizvollzug, wie viel psychisch Kranke findet man da? Ich habe Ihnen mal zunächst eine Metaanalyse, die 2002 in „Lancet“ veröffentlicht worden ist, zusammengestellt. Da wurden damals 62 Studien aus 12 wesentlichen Ländern zusammengestellt, insgesamt fast 23.000 Gefangene betrafen, überwiegend Männer. Da kam heraus, dass etwa 3,7 % eine psychotische Störung hatte, 10 % eine sogenannte Major depression, 65 % eine Persönlichkeitsstörung. Bei den Frauen war es im Grunde ähnlich (4 % psychotische Störung, 12 % Major depression, 42 % Persönlichkeitsstörung) und es wurde die internationale Diskussion über die hohe Prävalenz psychisch Gestörter im Justizvollzug um folgende Punkte gruppiert, die möglicherweise auch für Deutschland eine Rolle spielen, nämlich: Zunächst das in den letzten Jahrzehnten im Rahmen der Enthospitalisierung dann zunehmend psychisch Kranke kriminalisiert werden, indem sozial abweichendes Verhalten nicht toleriert, sondern zur Anzeige gebracht wird. Dann ist ein Punkt die Ökonomisierung der Behandlung psychisch Kranker mit dem Abbau stationärer Langzeiteinrichtungen, zunehmender Verkürzung der Liegedauer und unzureichender Entlassungsvorbereitung bei gleichzeitig unzureichenden komplementären Versorgungsstrukturen in der Gemeinde, insbesondere hinsichtlich der Eignung, vor allem als personenzentrierter Ansatz für die sogenannten young adult chronic psychiatric patients und die Verfügbarkeit entsprechender Behandlungsmöglichkeiten. Dann wird international die länderspezifische Rechtslage diskutiert, wo häufig eng gefasst geltende Kriterien zivilrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Unterbringung ins Feld geführt werden, die dann den Eindruck einer Sicherungslücke hinterlassen, für deren Schließung dann, wenn jemand auffällig wird und sich nicht gesetzeskonform verhält, bei eigentlich bestehender Behandlungsnotwendigkeit, aber wenn sich der Betreffende eben nicht behandeln lassen will, mangels sonstiger sozialer Kontrolle am ehesten im Maßregel oder im Justizvollzug in Betracht kommt. Weitere Punkte: In den verschiedenen Ländern werden die Regelungen zur Schuldfähigkeit bzw. Strafrechtlichen Verantwortlichkeit mitunter ausgeweitet mit der Konsequenz der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen. Für Deutschland kann man sagen, dass es doch in den letzten Jahrzehnten zu einer zwar nicht deutlichen, aber doch gewissen Zunahme der Einweisungszahlen in den psychiatrischen Maßregelvollzug gekommen ist, sicher auch aus der Überlegung heraus, dass jemand aus 24 Referate Katamnesestudien wusste, dass die Behandlung im Maßregelvollzug, auch wenn diese nicht unbedingt vergleichbar ist, zu einer geringeren Rückfallbelastung führt, als die Unterbringung im Justizvollzug. Dann ist es so, dass mit der zunehmenden Auseinanderentwicklung der Allgemeinpsychiatrie und forensischen Psychiatrie international Zurückhaltung existiert, wenn etwa psychisch kranke Gefangene in eine stationäre Behandlung kommen sollen, dass dann eher Sicherheitsbedenken geltend gemacht werden in Form unzureichender räumlicher Sicherheitsbedingungen und fehlende forensisch-psychiatrische Praxiserfahrung des Personals geltend gemacht werden. International ist es ein Gesichtspunkt, dass insbesondere schwierige chronisch-psychotische Patienten, wenn sie eben als nicht behandlungsgeeignet gelten, dann eben auch von den allgemeinpsychiatrischen Institutionen zunehmend abgelehnt werden. Eine Rolle spielt des weiteren die Zunahme der Kriminalitätsfurcht, speziell bezogen auf gewalttätiges Verhalten, das psychisch Kranken zugeschrieben wird und der letzte Punkt, was schon John Gunn „death of liberalism“ genannt hat in Verbindung mit einem politischen Klima, das die Ressourcen für psychisch gestörte Rechtsbrecher auf einem niedrigen Niveau hält. Wie ist es nun in Deutschland? Es gibt wenige Studien in Deutschland, die etwas aussagen über die Prävalenz psychischer Störungen, die mit standardisierten Untersuchungsinstrumenten vorgegangen sind und die eine gemäß Internationalem Klassifikationssystem ermittelte Diagnose vermitteln. Ich habe Ihnen zwei Studien zusammengestellt: Eine betraf Ersatzfreiheitsstrafer, d. h. das sind Gefangene, die zu einer Geldstrafe verurteilt worden sind, diese aber nicht bezahlen und deswegen ersatzweise in Haft kommen. Sehr häufig passiert das auf dem Weg des Strafbefehlsverfahrens ohne Hauptverhandlung, d. h. der Betreffende bekommt irgendwann einen Brief, dass er so und so viel zu zahlen hat. Er könnte in Beschwerde gehen, aber oft wird der Brief weggeworfen oder nicht beachtet und irgendwann kommt dann die Freiheitsstrafe auf ihn zu. Im Justizvollzug stellt man dann fest, er ist eigentlich schwer psychisch krank. Damit meine ich, dass bei dieser Untersuchung festgestellt worden ist, dass 10 % der Ersatzfreiheitsstrafe an einer psychotischen Störung leiden. Die häufigste Diagnose war die eines Alkoholmissbrauchs oder einer Alkoholabhängigkeit. Wenn man nur die Alkoholabhängigen nimmt, sind das in dieser Studie 56 % gewesen, d. h. mehr als die Hälfte der Ersatzfreiheitsstrafen in Berlin waren Alkoholabhängige, 20 % sind Drogenabhängige; es gab noch depressive Episoden, entweder als erste oder als rezidivierende 20 %. Das sind allerdings häufig Anpassungsstörungen, d. h. depressive Syndrome, die im Rahmen der Inhaftierung als Reaktion auf die Veränderung der Lebenssituation dann auftreten. Eine weitere Studie hat sich einer repräsentativen Auswahl von Untersuchungsgefangenen gewidmet. Da war die Prävalenz der Alkoholproblematiken niedriger, dafür viel höher die Prävalenz an depressiven Episoden: 40%. Jeder, der mal im Justizvollzug konsiliarpsychiatrisch tätig war, weiß, dass es da ganz häufig Anpassungsstörungen gibt und dass sehr viele Gefangene reaktiv depressiv beeinträchtigt sind und dass dies im Grunde der Alltag des Knastpsychiaters ist. 25 Referate Relativ wenige Drogenabhängigen (14 %), auch sind psychotische Störungen weniger in diesem Bereich (6 %); dann muss man davon ausgehen, dass bei Untersuchungsgefangenen ja, wenn eine psychotische Störung in Frage steht, häufig – nicht immer – begutachtet wird und dann im Übergang zum Strafvollzug sich die Zahl der Psychosekranken voraussichtlich vermindern wird. Wenn wir dagegen das Diagnosespektrum im psychiatrischen Krankenhaus anschauen, dann kommen wir natürlich zu einer viel größeren Prävalenz an Psychosekranken, überwiegend Schizophrenerkrankten, nach den zur Verfügung stehenden Publikationen durfte das zur Zeit so etwa 35 bis 45 % sein, also deutlich mehr als im Justizvollzug. Hirnorganische Störungen liegen bei etwa 5-10 %. Wenn man Persönlichkeitsstörungen anschaut – mit oder ohne Minderbegabung einschließlich sogenannter Sexualdeviationen – dann sind das im Maßregelklientel häufig 40-50 %, also knapp die Hälfte. Nun darf man nicht vergessen, wenn man die Gefangenen anguckt, da gibt es eine Studie aus Deutschland in der Arbeitsgruppe von Prof. Pfäfflin: Bei einer Stichprobe des offenen Vollzugs gibt es auch 50 % Persönlichkeitsgestörte. Also insoweit wird man schon sagen müssen, dass es zwar im Maßregelvollzug – insbesondere im63er-Bereich – sicher von einer 100 %-igen Prävalenz an psychischen Störungen auszugehen ist, dass es aber im Justizvollzug keineswegs so ist, dass man nur von 5 oder 10 % psychischen Störungen ausgehen muss, sondern dass nach den aktuellen Studien sicher mehr als die Hälfte der Gefangenen, und zwar auch in Deutschland, an einer psychischen Störung im Sinne der ICD-10 leidet. In manchen Bereichen (Ersatzfreiheitsstrafe) kamen wir zu 96 %. Nun ist es so, dass es im Maßregelvollzug, auch wenn in Deutschland die Zweispurigkeit als Prinzip gilt -da die eine Spur „Maßregelvollzug“, da die andere Spur „Strafvollzug“- nicht wenige Patienten gibt, die die Systeme wechseln. Und da gibt es mehrere Möglichkeiten: Es gibt den Vorwegvollzug – mitunter als teilweisen Vorwegvollzug bei gleichzeitiger Verhängung von Freiheitsstrafe und Maßregel. Da gibt es mitunter unterschiedliche Perspektiven, wann das zur Anwendung kommen soll. Aus der Perspektive des Justizvollzuges ist es häufig so, dass sich die Justizangehörigen fragen, warum jemand, der doch offensichtlich psychisch gestört ist und eine Maßregel bekommen hat, dieser dann zunächst in den Knast soll, was soll man eigentlich dort mit ihm machen. Hingegen wird im Maßregelvollzug überlegt, wann es eigentlich sinnvoll ist, mit einer Behandlung einzusetzen unter den gegenwärtigen rechtlichen Bedingungen auch der Entlassung. Dann gibt es die Möglichkeit der Erledigung der Maßregel bei gleichzeitiger Verhängung von Freiheitsstrafe und Maßregel; das betrifft relativ viele Patienten des 64er Maßregelvollzuges. Mittlerweile ist ja die Erledigungsquote so an die 50 %; das differiert regional sehr unterschiedlich. Man würde also sagen, dass zumindest die Hälfte der 64er Patienten beiden Systemen begegnet sind, sehr häufig auf dem Weg der Erledigung und dann gibt es noch die Möglichkeit der Vollstreckung der Strafhaft aus anderer Seite. Das betrifft nach früheren Studien der kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden etwa 37 % der 64er Maßregelpatienten. Also bei den 63er Patienten kommt es nicht selten zu dem Wechsel der Systeme, während im 64er Bereich begegnet die Mehrzahl der untergebrachten Patienten im Vollstreckungsverlauf beiden Systemen. Das Maßregelziel, § 63 StGB, da geht es um die erfolgreiche Behandlung der psychischen Erkrankung oder Störung – soweit sie symptomatisch ist für die Straffälligkeit und wenn es zu einer erfolgreichen Behandlung kommt, resultiert daraus dann die gute Legalprognose, im 64er Bereich die erfolgreiche Suchtbehandlung. 26 Referate Die Behandlungskonzeption im Maßregelvollzug verkürzt ausgedrückt, ist nicht eine Kopie der Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie. Alle Publikationen, die sich mit Behandlungen im Maßregelvollzug auseinandersetzen, weisen auf notwendige Modifikationen des Therapiesettings im Vergleich zu den allgemeinpsychiatrischen Institutionen hin. Insbesondere sind sozialtherapeutische Bemühungen wichtig, wenn man sich die Maßregelvollzugsklientel näher anschaut, also z. B. aufgrund der niedrigen schulischen und beruflichen Qualifikation, vielfach strukturell gestörten familiären Verhältnissen und dann auch Wechselwirkungseffekten mit Delinquenz und Hafterfahrung. Also es gibt Überschneidungen in der Klientel, es gibt viele psychisch Gestörte im Justizvollzug. So stellt sich die Frage, können diese Institutionen nicht miteinander kooperieren? In einer, mittlerweile einige Jahre alten Studie, die ich zusammen mit meinem Vorgänger, Herrn Dr. Missoni durchgeführt habe, haben wir die Leiter der Maßregelvollzugseinrichtungen in Deutschland befragt, inwieweit bei ihnen tatsächlich jetzt Gefangene des Justizvollzugs behandelt werden. Da hatten sich nach der damaligen Erhebung 17 von 59 Einrichtungen aus zehn Bundesländern so erklärt, dass sie sich an der stationären und 4 an der ambulanten Versorgung von Gefangenen in dem jeweiligen Bundesland beteiligen. Das waren in Zahlen ausgedrückt damals 187 Gefangene und etwa 0,08 % der Summe der Gesamtzahlen der Gefangenen in dem betreffenden Land, also es war recht niedrig, wenn man die Prävalenzzahlen anschaut. Wir haben dann diejenigen Leiter der Einrichtungen befragt, die tatsächlich eine Behandlung von Gefangenen durchführen, ob sie denn meinen, dass der Maßregelvollzug geeignet ist, für die psychiatrische Behandlung von Gefangenen und herauskam, dass die entsprechenden Leiter durchaus positiv eingestellt waren für kurz- und mittelfristige Behandlungen von akuten Psychosen und depressiven Syndromen mit Pharmakotherapie und Psychotherapie, aber eher negativ für langfristige Behandlungen von chronischen Psychosen und Persönlichkeitsstörungen sowie für Rehabilitationsmaßnahmen. Das hat uns allerdings irritiert, denn das ist genau die Klientel, die sich im Maßregelvollzug befindet, nämlich chronische Psychosen, die langfristig behandelt werden müssen, Persönlichkeitsstörungen (40-50 %) und eben Patienten, die Rehabilitationsmaßnahmen erfahren sollen. Ich sehe durchaus Konvergenzprozesse zwischen Strafvollzug und Maßregelvollzug. Beide Sanktionsformen sind letztlich unterschiedliche Mittel zur Erreichung desselben Ziels, nämlich das Ziel künftiger Deliktfreiheit als gemeinsame Schnittmenge. In der Terminologie des Maßregelvollzuges geht es um Besserung, in der Terminologie des Strafvollzugs um Resozialisierung gemäß § 2 StrVollzG. Weitere Konvergenzprozesse können wir in Deutschland daran ablesen, dass – soweit es Neubauten und bauliche Veränderungen gibt -, sich die äußeren Sicherungsvorkehrungen im Maßregelvollzug dem des Justizvollzuges annähern. Ich komme aus Berlin und dort ist das Krankenhaus des Maßregelvollzugs in den letzten Jahren so umgebaut worden, dass es sich vom Äußeren her von einer Justizvollzugsanstalt nicht mehr unterscheidet, aber sehr wohl von einer allgemeinpsychiatrischen Institution. Das war vor gut 20 Jahren, als ich als Assistenzarzt dort gearbeitet habe, ganz anders. Der dritte Punkt ist, dass es Konvergenzprozesse bei der Maßregelvollzugsgesetzgebung gibt, wenn man sich die Revisionen der Maßregelvollzugsgesetze in den letzten Jahren anschaut, dann gibt es zunehmend Tendenzen, die gesetzlichen Regelungen denen des 27 Referate Strafvollzugsgesetzes anzugleichen und sich wegzubewegen von denen der psychisch Kranken-Gesetzen der Länder. Insoweit denke ich, dass es gute Gründe gibt dafür, dass Maßregelvollzug und Justizvollzug enger zusammenarbeiten sollten. Das setzt aber aus meiner Sicht voraus, wenn man eine echte Kooperation will, dann muss man die Perspektiven wechseln, d. h. dass man seitens des Justizvollzuges sich mehr identifiziert mit Therapieverpflichtungen bei bestehender Indikation, auch wenn schon aufgrund der zur Verfügung stehenden Mittel die Behandlungsmöglichkeiten im Justizvollzug grundsätzlich schlechter sind als im Maßregelvollzug. Aber auch der Maßregelvollzug sollte aus meiner Sicht die Perspektive wechseln, nämlich die Einstellung, welche dem Strafvollzug primär als Entsorgungsinstanz sieht und zwar für unkooperative therapeutisch zur Zeit nicht erreichbare oder institutionsstörende Patienten betrachtet, wo gerne sozusagen der Strafvollzug negativ etikettiert als „Mülleimer der forensischen Psychiatrie“ betrachtet wird. Der Justizvollzug sollte dann bei Suchtkranken nicht als Verwahr- und schlechtere Therapieinstitution, sondern aus meiner Sicht ein bescheideneres, aber realistisches Ziel als Motivationsinstanz begriffen werden, die unter Umständen regelhaft die in den Entziehungsanstalten erfolgende, aus Sicht des Justizvollzugs externe Therapie sinnvoll vorbereitet und in manchen Fällen, z. B. im Hinblick auf spezielle intramurale Ausbildungschancen bessere Behandlungssettings bereitstellen kann. Das bezieht sich jetzt insbesondere auf die aktuell nach § 64 StGB Untergebrachten. Und ich verhehle nicht, dass ich mit meinem Lehrer Wilfried Rasch einer Meinung bin, dass aus meiner Sicht notwendige gesetzliche Veränderungen darauf hinauslaufen könnten, den § 64 StGB in der Form, in der er zur Zeit existiert, abzuschaffen. Aus meiner Sicht sollte die Kooperation in Zukunft so aussehen, dass eine gemeinsame Planung und Gestaltung der therapeutischen Arbeit mit dem Verurteilten für die Gesamtdauer der Freiheitsentziehung erfolgt. Entscheidende Grundlage wäre aus meiner Sicht das Ergebnis einer für die Unterbringungsanordnung eigentlich sowieso erforderlichen Sachverständigenbegutachtung, die ausreichend Anknüpfungspunkte für die spezielle Therapieplanung liefern müsste und auf Seiten des Sachverständigen Erfahrung und Vertrautheit mit der Behandlung psychisch Kranker oder psychischer Gestörter oder suchtkranker Straftäter voraussetzt. Das ist nicht bei jedem Sachverständigen gegeben. Aus meiner Sicht und das wäre allerdings nur dann möglich, wenn es durchgreifende gesetzliche Änderungen gäbe, sollte ein möglichst weisungsunabhängiges Gremium aus Vertretern beider Bereiche geschaffen werden. Das ist nicht eine originäre Idee von mir, sondern das ist schon durchaus publiziert worden von einem Juristen, dem Strafvollzugspraktiker Preusker. Dieses Gremium sollte anstelle der Strafvollstreckungskammer unter Berücksichtigung der Sicherheitsprobleme und Behandlungsmöglichkeiten der Einrichtung auch die Vollstreckungsreihenfolge bestimmen und ggf. ändern. Damit sollen dann eher Behandlungsabbrüche verhindert werden und es soll flexibler auf aktuelle Entwicklungen reagiert werden können. Nun zum Schluss auf Gesetzesänderungen, die ich, wenn man mir denn in der Argumentation folgt, für notwendig erachte. Insgesamt geht es mir um eine verbesserte Durchlässigkeit zwischen Straf- und Maßregelvollzug während des Vollstreckungsverfahrens. Die Institution des psychiatrischen Krankenhauses sollte auch für behandlungsbereite und therapeutisch ansprechbare Inhaftierte geöffnet werden, denen im Erkenntnisverfahren keine zumindest erheblich verminderte Schuldfähigkeit zuerkannt wurde. Das heißt nicht, um das hier einzufügen, dass ich den Gedanken teilen würde, wie er zur Zeit im Bundesjustizministerium diskutiert wird, die Eingangsvoraussetzungen für den § 63 StGB so abzusenken, dass grundsätzlich auch bei nur nicht ausschließbarer erheblicher Verminderung der 28 Referate Schuldfähigkeit bereits eine Unterbringung nach § 63 StGB ermöglicht wird. Das wäre eine einseitige Öffnung des psychiatrischen Krankenhauses und würde vermutlich dazu führen, dass bei den gegebenen 63.000 Strafgefangenen und – wie Sie gesehen haben – knapp 6.000 in den alten Bundesländern nach § 63 StGB Untergebrachten noch mehr die Belegung im Maßregelvollzug zunehmen würde. Vielmehr geht es mir um die Flexibilisierung in beiden Richtungen. Umgekehrt sollte es dem psychiatrischen Krankenhaus ermöglicht werden, z. B. durch die Entkopplung von verminderter Schuldfähigkeit und Maßregelanordnung, sich nach einiger Zeit ausreichend intensiver therapeutischer Bemühungen von therapeutisch nicht ansprechbaren Patienten zu trennen. Entziehungsanstalten sollten auch für behandlungsbereite und therapeutisch ansprechbare suchtkranke Inhaftierte geöffnet werden -wie Sie gesehen haben, ist die Prävalenz der Alkoholabhängigkeit allein im Justizvollzug relativ hoch- und im Gegenzug Patienten, die sich zur Zeit als therapeutisch nicht ansprechbar erwiesen haben, nach einiger Zeit ausreichend intensiver suchttherapeutischer Bemühungen schneller als bisher in den Justizvollzug verlegt werden. Mir schwebt insgesamt kein radikaler Gesetzesänderungsentwurf vor, der etwa die Zweispurigkeit grundsätzlich aufgäbe und abgekoppelt vom Schuldfähigkeitsprinzip psychisch gestörter Straftäter nur noch in Abhängigkeit von der mit Sachverständigenhilfe festzustellenden Legal- und Behandlungsprognose dem einen oder anderen System zuweist. Darüber könnte man auch reden. Vielmehr sollte man aus meiner Sicht überlegen, ob man angesichts der gegenwärtigen Situation die Kooperation zwischen Justiz und Maßregelvollzug im Hinblick auf die psychiatrische Versorgung nicht verzahnen sollte – selbst wenn sich in der praktischen Ausgestaltung diverse, zu überwindende Probleme, etwa die Amtshilfethematik abzeichne dürfte. Also mir geht es insgesamt um eine Flexibilisierung der beiden Systeme. Ich denke, die strikte Zweispurigkeit, die Starre, die in diesem System liegt, die ist nicht mehr zeitgemäß. 29 Referate Privatisierung im Maßregelvollzug - Hintergründe, aktueller Stand, Modelle, Risiken und Möglichkeiten Friedrich Schwerdtfeger 3 „Nachdem wir das Ziel endgültig aus den Augen verloren hatten, verdoppelten wir unsere Anstrengungen, es zu erreichen.“ Mark Twain Die deutsche Krankenhauslandschaft befindet sich in einem rasanten Umbruch, einem Veränderungsprozess, der neben einem allgemeinen Bettenabbau auch durch die Einführung von DRGs im somatischen Bereich und einen zunehmenden Rückzug der kommunalen Krankenhausträger bestimmt ist. Insofern verwundert es nicht, wenn Ulrich Wandschneider - Partner der Unternehmensberatung Arthur Andersen - den Klinikmarkt in Deutschland für den „spannendsten in Europa“ hält4. Trotz erheblicher Fallzahlsteigerungen der Kliniken fand, bei gleichzeitiger Verkürzung der Verweildauern, in den letzten 15 Jahren ein Bettenabbau um mehr als 20% statt. Dass dieser noch nicht sein endgültiges Ende erreicht hat, steht zu vermuten. Gleichzeitig zieht sich die öffentliche Hand zunehmend aus diesem Bereich zurück und veräußert ihre Kliniken, vorwiegend an Unternehmen der Privatwirtschaft in deren Besitz sich 2003 24% der deutschen Kliniken befanden5. Ein Prozess, der Studien der Unternehmensberatungen Arthur Anderson und Ernst & Young zufolge in den nächsten 10 Jahren dazu führen wird, dass öffentlich-rechtliche Krankenhausträgerschaft vom Markt verschwindet6. Gerade in den letzten Wochen haben sich die großen privaten Klinikbetreiber Asklepios Kliniken GmbH, HELIOS Kliniken GmbH und die RHÖN-Klinikum AG unterstützt von dem Gesundheitsökonomen Prof. Günter Neubauer von der Bundeswehr Universität München dazu entschlossen, zum Sturm auf die Bastion der öffentlich-rechtlichen Trägerschaft zu blasen7. Der erhobenen Forderung nach mehr Transparenz im Gesundheitswesen mag man sich noch anschließen können, die nach einer Einstellung staatlicher Förderung und gleichzeitiger Zurückhaltung des Bundeskartellamtes bei Zusammenschlüssen von Klinikbetreibern lässt jedoch eher vermuten, dass hier eher unliebsame Konkurrenten aus dem Bereich der öffentlich-rechtlichen und freigemeinnützigen Träger aus dem boomenden Geschäft ferngehalten werden sollen. 3 4 5 6 7 Klinikum Bremen-Ost Hauschild (2001); Deutscher Klinikmarkt im Übernahmefieber. Infodienst Krankenhäuser Heft 13, S. 40 Der Landkreis 11/2004; Deutsches Ärzteblatt 25/2005 Arthur Anderson (2000); Krankenhaus 2015 - Wege aus dem Paragraphendschungel Ernst & Young (2005); Gesundheitsversorgung 2020 Pressemitteilung der Fresenius Medical Care bei Presserelations.de 30 Referate Nur am Rande sei erwähnt, dass die Länder gerade aus Sorge darum, ihre gestalterischen Einfußmöglichkeiten zu verlieren, dem Gesetzesentwurf zur GKV-Gesundheitsreform im Jahr 2000, der einen Übergang zur monistische Finanzierung durch die Krankenkassen bis 2008 vorsah, nicht zugestimmt haben. Der eben beschriebene Veränderungsprozess ist auch an den psychiatrischen Kliniken nicht spurlos vorbeigegangen. Als durchaus erwünschter Bettenabbau der Landeseinrichtungen im Rahmen der Ergebnisse der Psychiatrie-Enquete, fand seit 1975 neben der Regionalisierung mit der Integration psychiatrischer Abteilungen in die Allgemeinkrankenhäuser, der Schaffung von Institutsambulanzen und einer Förderung ambulanter Versorgung durch komplementäre Einrichtungen eine Veränderung der Psychiatrielandschaft statt, die es erlaubte, die Verweildauern von damals durchschnittlich 230 auf heute 23 Tage zu verkürzen und nahezu 50% der psychiatrischen Klinikbetten abzubauen8. Dass Kliniken in öffentlicher Trägerschaft durchaus rentabel arbeiten können, machten unter anderem Studien deutlich, die im Zusammenhang mit Privatisierungsgedanken in Hessen, Niedersachsen und Bayern durchgeführt wurden. So zeigte eine im Auftrag der bayrischen Staatsregierung von der Unternehmensberatung PricewaterhouseCoopers durchgeführte Untersuchung für den bayrischen Maßregelvollzug u. a., dass der geringe Unterschied der Kosten im Wesentlichen auf eine ungünstigere Alterstruktur des Personals und die Differenz zwischen BAT-Ost und -West zurückzuführen war. Für Niedersachsen konnte das Institut für Betriebswirtschaftliche und Arbeitsorientierte Beratung, das im Auftrag von Ver.di tätig wurde, aufzeigen, dass in den niedersächsischen Landeskrankenhäusern trotz der Gewinnabschöpfung durch das Land bereits aktuell der größte Teil der Investitionen aus dem operativen Geschäft getätigt würde, der Weg in eine „monistische“ Finanzierung somit zumindest umsetzungsnah ist. Dem hessischen Landeswohlfahrtverband wurde im vergangenen Jahr bescheinigt, dass er betriebswirtschaftlich arbeitet und gut positioniert ist. Um diese Position zu erhalten, entschloss man sich dazu, die bisher als Eigenbetriebe geführten Einrichtungen in eine gGmbH zu überführen. Dennoch kann man nicht verhehlen, und dies machen auch die eben angesprochenen Untersuchungen deutlich, dass Kliniken in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft zunehmend Probleme haben, im freien Spiel der Kräfte zu bestehen. 2004 stammten nur noch 2/3 der Investitionen im Krankenhausbereich aus öffentlichen Kassen. Der reale Rückzug der Länder aus der dualen Finanzierung, der nach Angaben der Deutschen Krankenhausgesellschaft zwischen 1991 und 2005 bei einem Minus von fast 26% lag, hat zu einem erheblichen Investitionsstau in der Größenordnung von 25-50 Mrd. Euro geführt.9 Während nach Mitteilungen der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen (KGNW) der Haushaltsplan des Landes für 2005 noch 255 Mio. Euro für Investitionen im 8 9 DGPPN (2005); URL: http//:idw-online.de/pages/de/news138032 http://www.medizin.de/gesundheit/deutsch/2578.htm 31 Referate Krankenhausbereich vorsah, wurde er für das Jahr 2006 auf 30. Mio. Euro reduziert. Während Klinikverbünde in privatwirtschaftlicher Trägerschaft hier sehr viel leichter und meist zu günstigeren Konditionen andere Finanzierungswege erschließen können, treffen solche Entscheidungen Häuser in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft hart. Die oft langen Beteiligungs- und Genehmigungswege machen es für Kliniken in öffentlicher Hand darüber hinaus meist schwer, sich an die schnell ändernde Strukturlandschaft anzupassen und selbst, wenn der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst erhebliche Abstriche im Vergleich zum BAT mit sich bringt, ist die Tarifstruktur insgesamt nicht geeignet, Initiative in ausreichendem Maße zu fördern. Ob der von vielen Untersuchungen gesehene Widerspruch von politischen Zielen zu betriebswirtschaftlichen tatsächlich ein Nachteil ist, ist bei Unternehmungen im sozialen Bereich zu bezweifeln. Die ehemalige niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen machte im Rahmen einer Haushaltsklausurtagung in Hildesheim im vergangenen Jahr deutlich, dass die Länder der Schuh aber auch an anderer Stelle drückt. Das Land Niedersachsen sei ohne zusätzliches Kapital nicht mehr dazu in der Lage, einen verfassungskonformen Haushalt zu Wege zu bringen und dabei auch noch die erforderlichen Investitionen vor allem im Maßregelvollzug aufzubringen. Die hier beklagten Probleme, die aus einem stetigen Anwachsen der Zahl der Untergebrachten im Maßregelvollzug erwachsen, sind nicht spezifisch niedersächsischer Natur, sondern treffen alle Bundesländer gleichermaßen. Sie gehen zu einem großen Teil zurück auf ein fachlich nicht begründetes gestiegenes gesellschaftliches Sicherheitsbedürfnis. Weder ist die Zahl der von psychisch Kranken begangenen Straftaten in auch nur annähernd vergleichbarem Maße angestiegen, noch hat der Maßregelvollzug in der Bundesrepublik gravierende Defizite aufgewiesen, die die in den letzten Jahren erfolgten Restriktionen sachlich begründen könnten. Vielmehr waren es Einzelfälle, die dazu geführt haben, dass die gesetzlichen Möglichkeiten, Patienten aus dem Maßregelvollzug zu entlassen, undifferenziert und drastisch verschlechtert wurden. Lockerungen wurden teilweise aus politischen und nicht fachlichen Gründen seitens des Trägers für ganze Kliniken zurückgenommen und der Entlassungsprozess insgesamt verzögert. Die therapeutischen Bemühungen ersticken unter dem von Medien verbreiteten Bild des „gefährlichen Irren“. Sukzessive findet so eine Umformung des Maßregelvollzuges hin zu den Polen Gefängnis und psychiatrisches Dauerwohnheim statt. Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Zahl der im Maßregelvollzug untergebrachten, sich in den letzten 10 Jahren nahezu verdoppelt hat - sie liegt im Bundesgebiet heute bei über 10.000 - und die durchschnittliche Verweildauer in den letzten Jahren dramatisch angestiegen ist. Der Ärztl. Direktor des Niedersächsischen Landeskrankenhauses Moringen - einer zentralen Einrichtung des Maßregelvollzugs in Niedersachsen – berichtet davon, dass die dortigen Verweildauern zwischen 1996 und 2003 von durchschnittlich 3,9 auf 6,7 Jahre angestiegen sind. Eine im Auftrag des Landes Rheinland-Pfalz durchgeführte Untersuchung zur Kostenbegrenzung im Maßregelvollzug macht dabei deutlich, dass diesbezüglich erhebliche Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern bestehen, deren Ursache unklar bleibt. So schwankt beispielsweise der Anteil der Patienten, die länger als 10 Jahre untergebracht 32 Referate sind, in den beteiligten Bundesländern zwischen 10 und 34 % und die Verweildauer der im Jahr 2003 entlassenen Patienten aus dem 63er-Bereich zwischen 44 und 134 Monaten. Bei einem durchschnittlichen finanziellen Aufwand von 6.500 € je Behandlungsmonat ergeben sich so Fallkosten zwischen 300.000 und 900.000 €.10 Kammeier, der vor einigen Jahren schon einmal versuchte, das Problem der Fallkosten anzugehen, machte auf einer Tagung in Andernach im vergangenen Jahr zu Recht darauf aufmerksam, dass der Eindruck besteht, dass bei den sehr unterschiedlichen Versuchen von Landesregierungen, dieses Problem in den Griff zu bekommen, eher ein Kurieren an den Symptomen stattfindet, der erforderliche gesellschaftliche Diskurs jedoch vermieden werde. Was wir stattdessen erleben ist eine Flucht in die Privatisierung, die mit der Hoffnung verbunden ist, dadurch die Kosten für den Maßregelvollzug in einem politisch vertretbaren Rahmen zu halten. Für eine solche privatwirtschaftliche Orientierung stehen verschiedene Organisations- und Rechtsformen zur Verfügung, die jeweils unterschiedliche Möglichkeiten eröffnen. Der Eigenbetrieb als Gestaltungsmöglichkeit eines kommunalen oder Landesunternehmens ist organisatorisch und finanzwirtschaftlich zwar aus der jeweiligen kommunalen Struktur ausgegliedert, unterliegt jedoch weiterhin maximaler staatlicher Einflussnahme und ist aufgrund oft komplizierter Abstimmungs- und Genehmigungswege sowie eingeschränkter Möglichkeiten zum eigenständigen Agieren in seinen eigenen Innovationsmöglichkeiten eingeschränkt. Dies führt in der Regel auch dazu, dass er bei der Kapitalaufnahme von Banken gegenüber privatwirtschaftlich agierenden Unternehmen benachteiligt ist. Formale Privatisierung Formen Kernpunkte Public Privat Partnership Materielle Privatisierung z. B. AöR, GmbH, gGmbH Betriebsführungsmodell Betreibermodell Betriebsüberlassungsmodell Gemischtwirtschaftliche Unternehmen z. B. GmbH, gGmbH, AG erhebliche öffentliche Einflussnahme komplizierte Abstimmungs- u. Genehmigungswege eingeschränkter Innovationsspielraum Belastung der öffentlichen Haushalte öffentl. Einflussnahme gesichert Privatwirtschaftl. Potential wird genutzt Finanzhaushalte entlastet Gemeinsame Partizipation am Erfolg öffentl. Einflussnahme minimiert Risiken bei der öffentl. Hand mögliche Struktureinbrüche keine Partizipation des Landes am Erfolg Akzeptanzprobleme Im Rahmen einer formalen Privatisierung werden öffentliche Aufgaben durch ein Unternehmen in privater Rechtsform, welches jedoch zu 100% der öffentlichen Hand gehört, übernommen. 10 Jaschke/Oliva (2005); Abschlussbericht „Kostenbegrenzung im Maßregelvollzug in Rheinland-Pfalz. Ceus consulting/FOGS 33 Referate Als klassische Rechtsformen sind hier sowohl die Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) als auch GmbH-Formen denkbar. Viele der eben besprochenen Problembereiche, so beispielsweise die Schwierigkeiten bei der Kreditaufnahme, bestehen auch hier weiter. Aktuell betreiben die Länden Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ihre Landeskliniken einschließlich Maßregelvollzug als AöR. Sachsen-Anhalt führte seine Landeskliniken der Salus GmbH, einem 100%igen Landesbetrieb, zu. Wohl aus später noch zu erörternden rechtlichen Überlegungen heraus fand hierbei auf gleichem Gelände eine Trennung der ehemaligen Landeskliniken in einen allgemeinen Krankenhausbereich (so genannte Fachkliniken) und den Maßregelvollzug (Landeskrankenhäuser) statt. Während ersterer nun bei erhaltenem Besitz der Salus GmbH von der Asklepios GmbH gemanagt wird, übernimmt die Salus GmbH dies für die Landeskrankenhäuser selbst. Wir finden hier eine öffentlich-private Partnerschaft (ÖPP), auch Public Privat Partnership (PPP)11 genannt, bei der der KHG-Bereich im so genannten Betriebsführungsmodell, der Maßregelvollzug als Organisationsprivatisierung geführt werden. Sehr viel weiter reicht das Betreibermodell, bei dem das private Unternehmen ein Infrastrukturprojekt nicht nur auf eigenes Risiko betreibt, sondern auch als Bauherr mit allen damit verbundenen Risiken errichtet und während des späteren Betriebes durch Gebühren der Nutzer finanziert. Eine Zwischenform zwischen den eben genannten stellt das Betriebsüberlassungsmodell dar. Die sicherlich häufigste Form der PPP außerhalb des Krankenhausbereiches stellen gemischtwirtschaftliche Unternehmen dar, wie sie beispielsweise dass Land Thüringen für seine Landeskliniken einschließlich des Maßregelvollzuges gewählt hatte. Mit je einem Partner für jedes Landeskrankenhaus12 ging das Land eine Partnerschaft ein, bei der es sich eine Sperrminorität von 25,3% der Anteile sicherte. Der Vorteil solcher öffentlich-privaten Partnerschaften liegt darin, dass einerseits die öffentliche Einflussnahme gesichert bleibt, andererseits das privatwirtschaftliche Potential und Know-how genutzt wird. Die Finanzhaushalte sollen so entlastet werden und beide Partner partizipieren am Erfolg der Unternehmung. PPP-Projekte gibt es auch im Bereich des Strafvollzuges. Eines der ersten ist die hessische Justizvollzugsanstalt Hünfeld gewesen. In den ersten Überlegungen 1999 war zunächst vorgesehen, bereits Planung und Bau in private Hände zu geben. Hiervon wurde aus Zeitgründen abgesehen, der später ausgewählte Partner - die britische Serco GmbH - dann jedoch so früh als möglich zur Erzielung von Synergieeffekten durch Baugestaltung mit einbezogen. Der hier gefundene Kooperationspartner zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass er über Erfahrungen im Betrieb von britischen Strafvollzugsanstalten verfügte. Alle Bereiche, die nicht in direktem Zusammenhang mit der Wahrnehmung hoheitlicher oder gravierender sicherheitsrelevanter Aufgaben standen, wurden an Serco übergeben. Hierzu gehörte nicht nur der gesamte Bereich des Facillitymanagement, die Versorgung der 11 12 Auch Public Social Privat Partnership PSPP Mühlhausen Caritas/Diakonie, Stadtroda Asklepios GmbH, Hildburghausen Rhön AG 34 Referate Gefangenen mit Speisen, Kleidung u. ä., sondern auch der Sozialdienst sowie der psychologische und ärztliche Dienst, die Arbeitstherapie und die Schule. So werden 45% des Personals als so genannte Verwaltungshelfer von Serco gestellt, während der überwiegende Teil des Bewachungs- und Kontrollmanagements ebenso wie die Entscheidungskompetenz weiter in der Hand von Beamten bleibt. Kostenersparnis ca. 15% der Gesamtkosten. Dass solche Strukturen nicht immer auf Dauer angelegt sind, zeigt die aktuelle Entwicklung in Thüringen. Das Land hat seine Anteile an den ehemaligen Landeskliniken inzwischen veräußert, so dass zukünftig in Hildburghausen der erste Maßregelvollzug Deutschlands als Aktiengesellschaft betrieben wird. Diese Form des Wandels gilt, wie die Entwicklung in Schleswig-Holstein zeigt, jedoch auch für die vorher beschriebene Organisationsprivatisierung, die ähnlich wie die Entwicklung in Hamburg, als Muster für die Privatisierungsbestrebungen der Länder angesehen werden kann. In beiden Fällen erfolgte zunächst die Überführung in eine AöR, die dann dazu diente, die Betriebe durch „Verschlankung der Strukturen“, attraktiv für privatwirtschaftliche Interessenten zu machen. Man schuf rechtliche Rahmenbedingungen für eine Beleihung der Einrichtung hinsichtlich der Durchführung des Maßregelvollzuges, schrieb dann europaweit aus und veräußerte zu 100% wie Schleswig-Holstein an Ameos und die Damp-Gruppe oder in Etappen wie Hamburg es mit dem LBK an Asklepios tat. Aktuelle Rechtsformen der Maßregelvollzugseinrichtungen Landeseinrichtungen Niedersachsen, Saarland, Sachsen, Mecklenburg-Vorpommern/Uni-Rostock Kommunalverbände Bayern (Bezirkskrankenhäuser), Hessen (Landeswohlfahrtsverband), Nordrhein-W. (Landschaftsverbände) Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz GmbH / gGmbH Öffentliche Brandenburg/Eberswalde (MGK); Bremen (Gesundheit Nord); Sachsen-Anhalt (Salus) Private Asklepios: Thüringen/Stadtroda, Hamburg, Brandenburg/Brandenburg u. Teupitz, Helios: Berlin-Buch, Ameos: Schleswig-H./Neustadt; Damp: Schleswig-H./Schleswig, Mecklenburg-V./Stralsund Freigemeinnützige Diakonie/Caritas: Thüringen/Mühlhausen; Mecklenburg-V./Ueckermünde Aktiengesellschaften Rhön AG: Thüringen/Hildburghausen Eine solche materielle Privatisierung führt dazu, dass die öffentliche Einflussnahme auf das Unternehmen minimiert wird, obwohl die Risiken aufgrund des gesetzlichen 35 Referate Sicherstellungsauftrages weiter bei der öffentlichen Hand liegen. An den insbesondere wirtschaftlichen Erfolgen der Unternehmen partizipiert das Land nicht mehr. Akzeptanzprobleme entstehen nicht nur, weil sowohl der Kaufpreis wie die nicht unerheblichen Gewinnmargen über die Pflegesätze finanziert werden, sondern vor allem deshalb, weil zu unterstellen ist, dass ein privatwirtschaftliches Unternehmen kein intrinsisches Interesse an rückläufigen Zuweisungs- und Belegungszahlen hat. So lässt Axel Paeger, Vorstandsmitglied der Ameos GmbH, keinen Zweifel daran dass jede Einrichtung der Ameos nach spätestens 6 Monaten eine Umsatzrendite von mindestens 20% erbringt, ähnliche Größenordnungen weisen die Geschäftsberichte der Rhön AG aus. Joachim Manz Geschäftsführer der Rhön AG in Hildburghausen, machte 2002 auf einem Vortrag in Klingenmünster deutlich, dass er im Vergleich zum öffentlich- rechtlichen Krankenhausbetrieb ein Einsparpotential von bis zu 35% sieht. Betrachtet man seine Überlegungen hierzu näher, so stellt man fest, dass 5% aus dem Sachkostenbereich und 30% aus dem Personalkostenbereich stammen. Manz machte auch deutlich, wie das Konzept aussieht: Der Strukturwandel wird darin bestehen, dass weniger Patienten aufgenommen werden, die dann jedoch länger bleiben. Niemand glaubt ernstlich, dass in einer Situation, in der sich bereits die Länder kaum noch dazu in der Lage sehen, eine auf Entlassung der Patienten orientierte offensive Politik gegenüber der Öffentlichkeit zu vertreten, ein privater Träger das hierzu erforderliche Standing haben wird. Welche Erwartungen in der Öffentlichkeit bestehen, macht die Presse in Regenburg anlässlich der Privatisierungsgedanken des Landes Bayern deutlich. Sie titelte „Kranke Ganoven in Privathand ?“ und führte im Kommentar dazu aus „Türmen darf nicht sein“, es müsse sichergestellt werden, dass nicht - wie jetzt unter staatlicher Aufsicht - die als gefährlich angesehenen Patienten das Weite suchen können13. Dies ist keine Einzelmeinung, insofern ist davon auszugehen, dass Maßregelvollzug insbesondere unter den Bedingungen einer materiellen Privatisierung eine auf ein Null-Risiko ausgerichtete Wachstumsbranche werden wird. Während in Schleswig-Holstein die Eintragung der zur Damp-Gruppe gehörenden Fachklinik Neustadt bezüglich der Eintragung ins Handelsregister unproblematisch verlief, legten sich die Richter des Amtsgerichtes Schleswig hinsichtlich der Schleswiger Ameos Klinik im Januar 2005 quer und verweigerten den Eintrag unter Hinweis auf verfassungsrechtliche Bedenken hinsichtlich einer Beleihung von Einrichtungen in privater Trägerschaft für den Maßregelvollzug. In dieser Haltung wurde sie durch das Landgericht Schleswig bestätigt, dass im März 2005 deutlich machte, dass es bei der Beurteilung des Gesellschaftszwecks auch auf die Frage ankomme, ob die beabsichtigte Übertragung des Maßregelvollzuges auf eine juristische Person des Privatrechts mit den immanenten Schranken der gesamten Rechtsordnung , insbesondere auch den verfassungsrechtlichen Prinzipien vereinbar sei. Die Übertragung der ständigen Ausübung hoheitlicher Befugnisse - hier des Maßregelvollzuges der im Hinblick auf die Freiheitsentziehung mit dem Strafvollzug gleichzusetzen sei und als 13 http://www.zeitung.org/zeitung/797820-145,1,0.html 36 Referate ein Kernbereich hoheitlicher Gewalt betrachtet werden müsse, sei zur Entlastung der Finanzlage unter Kostengesichtspunkten nicht gerechtfertigt. Rechtfertigungsfähig seien Eingriffe dieser Art nur als staatliche Gewalt, weil der Staat das rechtsstaatlich unabdingbare Gewaltmonopol besitzen müsse. Dabei sei auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die Gefahr eines Konfliktes zwischen gesetzmäßiger Aufgabenerfüllung und Eigeninteresse bei dem vom Gewinnstreben motivierten Privaten höher sei, als bei Angestellten des öffentlichen Dienstes. Dennoch hob das OLG Schleswig die angefochtene Entscheidung im Oktober 2005 als rechtsfehlerhaft auf, weil das Landgericht - wie auch das Amtsgericht - den Umfang der ihm obliegenden Prüfung der Anmeldung verkannt habe. Im Klartext, weil es ihnen nicht zugestanden hätte, in so weitem Umfang zu prüfen. Vereinzelt wurde versucht, die hier anklingenden Bedenken hinsichtlich der Wahrnehmung hoheitlicher Befugnisse dadurch zu relativieren, dass die jeweiligen Klinikleitungen entweder ganz, wie in Brandenburg, oder mit Stundenkontingenten, wie in Bremen, als Angestellte des Landes an die jeweiligen Maßregelvollzugseinrichtungen abgeordnet werden und umfangreiche Einsichtsrechte in die Unternehmensakten erhalten. Andere Länder, wie beispielsweise Thüringen, behalten sich umfangreiche „externe Supervisionsmöglichkeiten“ vor. Ob diese Form der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben ausreichend ist, muss die Zukunft zeigen. Der Richter am Bundesverfassungsgericht Dr. Broß stellte berechtigter Weise die Frage, wofür ein Staat, der sich soweit aus seinen Kernaufgaben zurückzieht, eigentlich noch da ist. Es gibt zweifelsohne keinen staatlichen Bereich, in dem die Macht über andere Menschen so groß ist, wie in der totalen Institution Maßregelvollzug. Es mag sein, dass vor Ort vieles dafür getan wird, diesen Charakter soweit als möglich zurückzudrängen, dennoch bleibt es dabei, dass erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten auf die freiheitlichen Grundrechte der Untergebrachten einschließlich ihrer körperlichen Unversehrtheit bestehen. Der sorgsame Umgang hiermit stellt bereits unter staatlicher Trägerschaft eine schwierige Gradwanderung dar. Der Gedanke, dies bei einem Minimum an staatlicher Kontrolle und Einflussnahme dem Zuständigkeitsbereich privater Betreiber zu überlassen, muss erschrecken. Unter Umständen waren es diese rechtlichen Bedenken, die dazu führten, das sich Niedersachsen vor kurzem - wenn auch in inkonsequenter Weise - dazu entschlossen hat, zwar die Landeskrankenhäuser, in denen sich große forensische Abteilungen befinden, zu verkaufen, die reinen Maßregelvollzugeinrichtungen in Moringen, Brauel und Bad Rehburg jedoch in Landeshand zu lassen. Kein Bundesland verfügt augenblicklich im Bereich des Maßregelvollzuges über eine ausreichend lange und evaluierte Erfahrung mit Modellen von PPP oder materieller Privatisierung, auch mangelt es, wie gerade die Länderumfrage von Rheinland-Pfalz gezeigt hat, an validen Daten und geeigneten Kennzahlen, um aussagekräftige Vergleiche hinsichtlich nachhaltiger positiver Effekte der eingeleiteten Veränderungen anzustellen. Bisher hat dies jedoch keine Landesregierung gestört, den fragwürdigen Weg in die Privatisierung zu gehen. In der Vorstellung, dass andere es besser könnten, suchen die Länder ihr Heil in der Privatisierung. 37 Referate Die Entscheidung über die Rechtsform eines Unternehmen sollte am Ende einer Entscheidungskette stehen, nachdem zuvor zu erreichende Ziele formuliert, Teilschritte und Bedingungen der Zielerreichung beschrieben und das Für und Wider der verschiedenen Rechtsformen abgewogen wurden. Gerade bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben dürfen wirtschaftliche Erwägungen hier nicht alleinige Grundlage sein der Entscheidung. Um diesen Weg zu gehen bedarf es sinnvoller Vergleiche zwischen den Institutionen. Hierzu ist es zwingend erforderlich unter enger Beteiligung der Praktiker aus den Einrichtungen in ein bundesweites Benchmarking einzusteigen. Erst dann wird man halbwegs verlässliche Aussagen über die Auswirkungen eines solchen Vorgehens erhalten. 38 Referate Psychisch Kranke im Strafvollzug Dr. jur. Rolf Grünebaum 14 I. Allgemeines Maßregelvollzugskliniken klagen häufig darüber, dass sie die falschen Patienten eingewiesen bekämen, zum Beispiel, weil die Patienten therapieresistent seien und deshalb im Justizvollzug besser aufgehoben wären, oder weil in der Hauptverhandlung eine Fehleinschätzung erfolgt sei, indem etwa die Persönlichkeitsstörung gar keinen Krankheitswert habe. Umgekehrt wird die gleiche Klage im Justizvollzug geführt: Zunehmend hätten die Vollzugsanstalten es mit Gefangenen zu tun, die psychische Störungen aufwiesen, und deshalb in einer JVA fehl am Platze seien. Tatsächlich kann es zu derartigen vermeintlichen oder tatsächlichen Fehleinweisungen in eine Justizvollzugsanstalt kommen. II. Gründe für den Aufenthalt von psychisch Kranken in einer JVA 1. Kein symptomatischer Zusammenhang Nicht selten werden Angeklagte verurteilt, die bereits eine psychische Erkrankung haben, ohne dass diese in der gerichtlichen Hauptverhandlung eine Rolle gespielt hat. Das wird immer dann der Fall sein, wenn die Erkrankung keinen symptomatischen Zusammenhang mit der Tat aufgewiesen hat, und sich die Frage der Schuldfähigkeit und damit einer Unterbringung im Maßregelvollzug nach § 63 StGB gar nicht gestellt hat. Begeht beispielsweise ein Schizophrener außerhalb eines Schubs eine Straftat, kann es durchaus sein, dass seine strafrechtliche Verantwortlichkeit gar nicht berührt ist, und er deshalb wie ein gesunder Straftäter zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, obwohl er als psychisch Kranker im Justizvollzug als Fehleinweisung empfunden wird. Juristisch ist das aber in Ordnung. 2. Unterlassene Begutachtung im Strafverfahren Eine andere Fallgruppe besteht darin, dass es zwar eine geistige Erkrankung mit einem symptomatischen Tatzusammenhang gibt, dies aber einfach übersehen worden ist, etwa weil der Straftäter sich trotz seiner geistigen Erkrankung unauffällig verhalten hat, und von den am Verfahren beteiligten Juristen kein Anlass gesehen wurde, die Frage der strafrechtlichen Verantwortlichkeit sachverständig näher prüfen zu lassen. Dieser Fall wäre rechtlich fehlerhaft. Stellt sich diese Fehlerhaftigkeit während des Strafvollzugs heraus, weil die psychische Erkrankung offenbar wird, gibt es grundsätzlich die Möglichkeit der juristischen Korrektur. Es handelt sich dann nämlich um eine neue Tatsache im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO, die dem Gericht zum Zeitpunkt des Urteils nicht bekannt war. § 359 Abs. 5 StPO lautet: 14 Leitender Oberstaatsanwalt, Brandenburg 39 Referate "Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens zugunsten des Verurteilten ist zulässig, .......... 5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind;" Das ermöglicht es, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu betreiben mit dem Ziele eines Freispruchs wegen Schuldunfähigkeit oder einer geringeren Strafe wegen eingeschränkter Schuldfähigkeit. In der Praxis sollte man diese Möglichkeit aber nicht überschätzen. In erster Linie werden es Verteidiger sein, die eine derartige Wiederaufnahme zugunsten des Verurteilten ins Auge fassen. Das Wiederaufnahmeverfahren ist ein schwieriger und langwieriger Prozess, der den Verurteilten möglicherweise erst erreichen würde, wenn er gar kein Interesse mehr daran hat, weil sein Strafende vielleicht vor der Tür steht. Entscheidend ist aber, dass über allem das Damoklesschwert der Unterbringung nach § 63 StGB steht. Erreicht der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren nämlich eine Anwendbarkeit der §§ 20, 21 StGB, hat er zu gewärtigen, dass dann möglicherweise zugleich eine unbefristete Unterbringung im Maßregelvollzug nach § 63 StGB droht. Deshalb wird er es im Allgemeinen lassen. 3. Fehlerhafte Einweisungsdiagnose Grundsätzlich besteht die Möglichkeit der Verfahrenswiederaufnahme auch dann, wenn sich herausstellt, dass das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten falsch war, und der Gutachter zu Unrecht die volle Verantwortlichkeit des Angeklagten angenommen hat. Auch dieser theoretische Fall ist praktisch bedeutungslos. Zum einen liegt das daran, dass der Gutachter nur die medizinischen Anknüpfungstatsachen, also beispielsweise den Krankheitsbefund zu liefern hat, und die Schlussfolgerungen, ob dies den Tatbestand der §§ 20, 21 StGB erfüllt, dem Gericht obliegen. Fehler in diesem Bewertungsbereich sind damit Rechtsfehler und keine neuen Tatsachen. Rechtsfehler reichen für eine Wiederaufnahme nicht aus. Aber auch auf der Tatsachenebene, also der Krankheitsdiagnose eröffnet sich dem Gutachter vor allem bei psychiatrisch/psychologischen Fragen zumeist ein Beurteilungsspektrum, bei dem es schwierig sein dürfte, eindeutig nachzuweisen, dass die von dem Gutachter im Erkenntnisverfahren festgestellten Befunde falsch waren. 4. Spätere Erkrankung Eine bedeutende praktische Fallgruppe wird diejenige sein, in der der Strafgefangene erst in der JVA psychisch erkrankt, oder sich sein Zustand krankheitswertig verschlimmert. Erkrankung und Haftsituation stehen oft in einer kausalen Wechselwirkung zueinander: Die psychische Erkrankung stellt sich in nicht seltenen Fällen als Reaktion auf die Haft dar. Der Psychiater/Psychologe in der JVA befindet sich damit in einem oft unauflösbaren Dilemma: Einerseits soll die Behandlung den Gefangenen wieder hafttauglich machen, so dass er am normalen Vollzugsalltag teilnehmen kann, andererseits ist es gerade dieser Vollzugsalltag, der den Gefangenen krank macht. 40 Referate 5. Abhängigkeitserkrankte Eine weitere praktisch bedeutende Gruppe bilden nach den Schilderungen von Anstaltsleitern die Abhängigkeitserkrankten, wobei die Art der Abhängigkeit auch von regionalen Gegebenheiten bedingt wird. In der JVA Brandenburg z.B. wird die Mehrzahl von Alkoholabhängigen gestellt. In Frankfurt a.M. bereiten dem Vernehmen nach vor allem die Drogenabhängigen ein Problem. Die Behandlung von Suchterkrankten in einer JVA stellt allerdings ein Sonderthema dar, zu dem auch viel gesagt werden könnte. Bei der strafjuristischen Aufteilung von psychiatrischen Krankenhäusern nach § 63 StGB und Entziehungsanstalten nach § 64 StGB können Suchterkrankte zwar auch einen Unterfall einer psychischen Erkrankung darstellen, sie werden aber in ein anderes Raster eingegliedert. Es sprengte daher den Rahmen dieses Referats, auch darauf eingehen zu wollen. III. Probleme und Lösungswege in der Justizvollzugsanstalt Seien die Gründe wie-auch-immer, aus denen sich psychisch Erkrankte in der Justizvollzugsanstalt befinden, eines haben alle gemeinsam: Die Haftanstalten werden hierdurch mit Aufgaben belastet, für die sie nicht vorgesehen sind. Die kranken Gefangenen befinden sich in für sie nicht konzipierten Einrichtungen, in denen sie nur „suboptimal“ aufgehoben sind. Psychisch Kranke belasten die JVA oft deshalb in besonderer Weise, weil sie nicht in der Lage sind, den Bedingungen des normalen Vollzugsalltags zu entsprechen. Namentlich zu nennen sind hier: Verständnis der Hausordnung, Hygienevorschriften, Anstaltsdisziplin. Die hierauf nicht eingerichtete JVA und das hierfür nicht ausgebildete Personal reagieren auf krankheitsbedingte Auffälligkeiten und Abweichungen häufig mit wenig Verständnis. Der Zustand wird oft gar nicht als Erkrankung erkannt, so dass allein disziplinäre Maßnahmen ergriffen werden, die die Erkrankung dann eher steigern, als das Problem zu lösen. Damit beginnt ein auf beiden Seiten sich hochschaukelnder Teufelskreis. Ist in der Justizvollzugsanstalt die Erkrankung zumindest als solche wahrgenommen worden, muss die JVA in irgendeiner Weise reagieren, weil der Gefangene auch einen Anspruch auf die Behandlung einer psychischen Erkrankung hat. Dies geschieht im Allgemeinen auf verschiedenen Wegen: 1. Vollzugseigene Psychiatrie Zunächst kann die Behandlung durch die vollzugseigene Psychiatrie geschehen. Es gibt psychiatrische Abteilungen im Justizvollzug sowie einige große Vollzugskrankenhäuser mit psychiatrischen Abteilungen, durch die sowohl eine stationäre als auch eine ambulante Behandlung durchgeführt werden kann. Die Qualität, die Aufnahmekapazitäten, die Behandlungsmöglichkeiten und die Zugangsvoraussetzungen sind allerdings höchst unterschiedlich. 2. Ambulante Behandlung durch Externe In vielen Fällen wird man sich auch mit der Heranziehung externer Fachkräfte (Psychiater/klinischer Psychologe) zur ambulanten Behandlung begnügen müssen. Es besteht allerdings die Gefahr, dass sich derartige Behandlungen nicht immer an dem Gebot einer für den Patienten optimalen medizinischen Versorgung ausrichten sondern an den oft kargen 41 Referate Möglichkeiten, die der Strafvollzug eben gerade hat, auch unter haushalterischen Gesichtspunkten. 3. Verlegung in ein außervollzugliches Krankenhaus oder Strafunterbrechung Häufig wird bei dem Erfordernis einer stationären Aufnahme auch an die Verlegung in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzuges gedacht werden müssen. Zu einem derartigen Krankenhaus außerhalb des Strafvollzugs kann auch eine Maßregelklinik nach § 63 StGB gehören. Schließlich wird in einigen Fällen auch eine Strafunterbrechung erwogen werden müssen, wenn eine Behandlung innerhalb des Vollzugs nicht möglich ist. IV. Vollstreckungsrechtliche Besonderheiten Auf die beiden letztgenannten Möglichkeiten (Verlegung in ein außervollzugliches Krankenhaus - Strafunterbrechung) möchte ich im Folgenden näher eingehen, da sie begrifflich zu differenzieren sind und einige vollstreckungsrechtliche Besonderheiten aufweisen. 1. Außervollzugliches Krankenhaus (§ 65 II StVollzG) und Strafunterbrechung (§ 455 StPO) in Konkurrenz a) Die Rechtsgrundlagen Die Staatsanwaltschaft als Strafvollstreckungsbehörde kann bei der psychischen Erkrankung eines Strafgefangenen mit der Frage konfrontiert sein, ob sie die weitere Strafvollstreckung zu unterbrechen hat. Gesetzlicher Dreh- und Angelpunkt hierfür ist § 455 StPO, dessen Absatz 4 in den maßgeblichen Teilen wie folgt lautet: „(IV) Die Vollstreckungsbehörde kann die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe unterbrechen, wenn 1. der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt, 2. ....................... 3. der Verurteilte sonst schwer erkrankt und die Krankheit in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden kann und zu erwarten ist, dass die Krankheit voraussichtlich für eine erhebliche Zeit fortbestehen wird. Die Vollstreckung darf nicht unterbrochen werden, wenn überwiegende Gründe, namentlich die öffentliche Sicherheit entgegenstehen.“ Vorliegend sind die beiden Fallgruppen der Ziffern 1. und 3. von besonderem Interesse: Zu Ziff. 1.: Eine Geisteskrankheit im Sinne dieser Vorschrift ist juristisch dann anzunehmen, wenn die weitere Strafvollstreckung keinen Sinn mehr macht, weil der Verurteilte nach der Art der psychischen Erkrankung den Sinn der Strafe nicht mehr zu erkennen vermag und für den Behandlungsvollzug unerreichbar istI. Diese Fallvariante ist bei einigermaßen gesichertem medizinischen Befund juristisch relativ problemlos. Allerdings kommt immer nur eine Strafunterbrechung, nicht eine endgültige Beendigung der Strafvollstreckung in Betracht, so dass in zeitlichen Abständen immer wieder eine Überprüfung erforderlich wird. Zu Ziff. 3.: Problematischer ist die zweite Fallgruppe, bei der eine Strafunterbrechung deshalb angezeigt 42 Referate sein kann, weil die psychische Erkrankung des Gefangenen im Vollzug nicht behandelt werden kann. Der Wortlaut des § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO, in dem von Behandlung „in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus“ die Rede ist, ist insoweit irreführend. § 455 StPO wird nämlich durch den § 65 Abs. 2 StVollzG überlagert, der folgenden Wortlaut hat: „Kann die Krankheit eines Gefangenen in einer Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden oder ist es nicht möglich, den Gefangenen rechtzeitig in ein Anstaltskrankenhaus zu verlegen, ist dieser in ein Krankenhaus außerhalb des Vollzugs zu bringen.“ Die Unterbringung in einem außervollzuglichen Krankenhaus nach dieser Vorschrift obliegt der Justizvollzugsanstalt im Rahmen ihrer Krankenfürsorgepflicht. Sie stellt keine Unterbrechung der Strafvollstreckung nach § 455 StPO dar. b) Strafzeitanrechnung und Kostentragung Diese Unterscheidung der beiden möglichen Maßnahmen ist in zweierlei Hinsicht wichtig: – Für den Strafgefangenen bedeutet es: Die Zeit der außervollzuglichen Unterbringung nach § 65 Abs. 2 StVollzG wird auf die Strafe angerechnet, die Zeit einer Strafunterbrechung nach § 455 StPO dagegen nicht. – Bei einer Behandlung nach § 65 Abs. 2 StVollzG ist der Justizfiskus der Kostenträger. Bei einer Strafunterbrechung wird der Gefangene aus der Obhut der Justiz entlassen, deren Kostenträgerschaft damit erlischt. Es erscheint angezeigt, wegen dieses Konkurrenzverhältnisses der beiden Möglichkeiten – Behandlung außerhalb des Vollzugs nach § 65 Abs. 2 StVollzG / Strafunterbrechung nach § 455 StPO – zunächst auf die erste Variante (§ 65 StVollzG) einzugehen. 2. Die Behandlung in einem außervollzuglichen Krankenhaus nach § 65 Abs. 2 StVollzG a) Der Vorrang dieser Maßnahme Kann ein psychisch kranker Strafgefangener einschließlich der Möglichkeiten, die ein Justizvollzugskrankenhaus oder eine –krankenabteilung bietet, nicht ausreichend behandelt werden, ist er nach § 65 Abs. 2 StVollzG in eine außervollzugliche Krankeneinrichtung zu verlegen. Dieser Maßnahme gebührt gegenüber einer Strafunterbrechung in jedem Falle der Vorrang schon deshalb, weil dies im Lichte des Freiheitsgrundrechts die für den Verurteilten angemessenere Variante istII. Die Zeit im außervollzuglichen Krankenhaus gilt nämlich als Strafverbüßung und wird auf die Strafzeit angerechnet. Auch soll vermieden werden, dass die Justiz sich mit einer Strafunterbrechung einfach ihrer sich aus der Krankenfürsorgepflicht ergebenden Kostentragungspflicht entledigen kann. b) Zwangs- und Bewachungsmaßnahmen Aus dem Umstand, dass die Strafvollstreckung auch bei der außervollzuglichen Unterbringung andauert, folgt, dass der im Krankenhaus befindliche Patient weiterhin den Status eines Strafgefangenen hat. Das heißt, er kann mit Zwangsmitteln am Verlassen des Krankenhauses gehindert werden und unterliegt auch sonst allen Beschränkungen des Strafvollzugsgesetzes. Problematisch ist dabei allerdings, dass ein „normales“ Krankenhaus keine staatlichen Zwangsbefugnisse hat und deshalb mit eigenem Personal nicht berechtigt ist, gegen den Patienten Zwang anzuwendenIII. Ist dies erforderlich oder meint die 43 Referate Justizvollzugsanstalt, den Patienten bewachen zu müssen, muss sie dies mit eigenem Personal bewerkstelligen. Anders verhält es sich bei der Unterbringung in einem Landeskrankenhaus, das selbst nach Landesrecht, etwa dem PsychKG, mit eigener staatlicher Zwangsgewalt ausgestattet ist. In diesem Fall kann die Klinik ihre eigenen Zwangsbefugnisse auch gegenüber dem untergebrachten Strafgefangenen ausüben. Rechtsgrundlage ist hier die Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GGIV. Bei – was bei psychisch kranken Strafgefangenen nicht selten der Fall sein wird – für die Allgemeinheit besonders gefährlichen Verurteilten, wird allerdings der Sicherheitsstandard in einer allgemeinpsychiatrischen Landesklinik oft nicht ausreichen, so dass nur die Verlegung in eine Maßregelklinik in Betracht kommt, die ebenfalls ein außervollzugliches Krankenhaus i.S.d. § 65 Abs. 2 StVollzG ist und ihre Zwangsgewalt aus dem jeweiligen Maßregelvollzugsgesetz ableitetV. Wegen der ohnehin unzureichenden Platzkapazitäten der Maßregelvollzugskrankenhäuser sollten Verlegungen in diese Einrichtungen aber auf das unerlässliche Maß beschränkt bleiben. Zu beachten ist in jedem Fall auch hier, dass sich der Rechtsstatus des kranken Gefangenen nicht ändert. Auf ihn sind weiterhin die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes und nicht die des PsychKG oder des Maßregelvollzugs anwendbarVI. 3. Die Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO Wenn eine Unterbringung in einem auswärtigen Krankenhaus nach § 65 Abs. 2 StVollzG rechtlich wie eine Behandlung im Vollzug angesehen wird und gegenüber einer Strafunterbrechung Vorrang genießt, stellt sich die Frage, welche Fälle denn dann noch für eine Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO (Unterbrechung wegen außervollzuglichen Behandlungserfordernisses) übrig bleiben. § 65 Abs. 2 StVollzG deckt nämlich insoweit das gesamte tatsächliche Spektrum der Möglichkeiten und Erfordernisse ab. Die insoweit an sich überflüssige Regelung des § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO erfährt ihre Daseinsberechtigung allerdings aus Folgendem: a) Die erhebliche Dauer der Erkrankung als Unterbrechungsvoraussetzung Die Behandlung nach § 65 Abs. 2 StVollzG wird zwar rechtlich wie eine innervollzugliche Versorgung bewertet, ist aber tatsächlich – das ist kaum zu bezweifeln – eine außervollzugliche. Wird ein Gefangener beispielsweise wegen eines schweren psychotischen Schubes in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt, macht es kaum einen Unterschied, ob er sich nun auf freiem Fuß befindet und sich dieser Behandlung hätte ebenfalls unterziehen müssen, oder ob er dies zufällig als Strafgefangener muss. Die Bedingungen des Krankenhausaufenthalts unterscheiden sich in beiden Fällen kaum. Augenfälliger wird dies am Beispiel einer somatischen Erkrankung. Jemand, bei dem mehrere schwierige Herzoperationen mit lang andauernder Bettlägerigkeit erforderlich sind, muss sich dem stationären Krankenhausaufenthalt in jedem Fall unterwerfen. Das heißt auch der kranke Strafgefangene findet Bedingungen vor, die er auch in Freiheit vorgefunden hätte. Im Beispielsfalle des Herzpatienten ist sogar der Unterschied in der Freiheitsbeschränkung, nämlich der, dass der eine im Krankenhaus bleiben darf, während der andere dies muss, ein sehr theoretischer. Vor diesem Hintergrund gilt es zu vermeiden, dass sich der Strafgefangene eine allzu lange Zeit tatsächlich außerhalb des Vollzugs befindet, weil er für den Strafvollzug dann praktisch nicht mehr erreichbar ist, und die speziellen Zwecke des Strafvollzugs und der Strafvollstreckung, seien sie präventiv oder repressiv, leerlaufen. Diesem Konflikt zwischen einer wirkungsvollen Strafvollstreckung einerseits und dem Anspruch des Gefangenen auf 44 Referate optimale Krankenversorgung andererseits trägt § 45 Abs. 2 StVollstrO dadurch Rechnung, indem er bestimmt: „Ist der Zeitpunkt abzusehen, zu dem der Verurteilte voraussichtlich wieder vollzugstauglich wird, so ist eine Unterbrechung zulässig, wenn der Verurteilte sonst einen unverhältnismäßig großen Teil der Strafzeit außerhalb der Vollzugsanstalt zubringen würde (§ 461 StPO).“ Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das, der Gefangene soll nicht den größten Teil seiner Strafe mit dem Auskurieren einer Krankheit außerhalb der tatsächlichen Vollzugssphäre abbüßen. In diesem Sinne dürfte auch § 455 StPO zu verstehen sein, soweit dieser eine Strafunterbrechung zulässt, wenn „die Krankheit voraussichtlich für eine erhebliche Zeit fortbestehen wird.“ Was genau dabei als erheblich anzusehen ist, muss der Einzelfallentscheidung überlassen bleiben. Der vollstreckungsrechtlichen Literatur lässt sich hierzu entnehmen, dass der Gefangene jedenfalls nicht mehr als die Hälfte seiner Strafe im außervollzuglichen Krankenhaus nach § 65 Abs. 2 StVollzG verbringen soll, ohne dass die Strafe nach § 455 StPO unterbrochen wirdVII. Ist ein Straftäter beispielsweise zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt worden und ist abzusehen, dass eine Behandlung in einem außervollzuglichen Krankenhaus erforderlich wird, die vermutlich über ein Jahr dauert, könnte nach einem Jahr außervollzuglicher Behandlung die Strafvollstreckung nach § 455 StPO unterbrochen werden. Das hätte zur Folge, dass dem Gefangenen die Zeit bis zur Unterbrechung, also ein Jahr, auf die Strafe angerechnet wird, die Behandlungszeit nach der Unterbrechung dagegen nicht. Er müsste diese Zeit „nachdienen“. b) Keine Zwangsmaßnahmen während der Strafunterbrechung Die Strafunterbrechung nach § 455 StPO ist ein förmlicher Akt, der von der Vollstreckungsbehörde – das ist zumeist die Staatsanwaltschaft – ausdrücklich verfügt sein muss. Sie kann erst beginnen, wenn der Verurteilte tatsächlich aus der Verfügungsgewalt der Justiz entlassen worden istVIII. Während der Unterbrechung sind weder von der Justiz noch von der Krankenanstalt Maßnahmen zulässig, die die Verfügungsgewalt aufrecht erhalten. Befindet der Verurteilte sich zum Zeitpunkt der Strafunterbrechung bereits nach § 65 Abs. 2 StVollzG in einem außervollzuglichen Krankenhaus, ist er sodann wie ein gewöhnlicher, sich auf freiem Fuß befindlicher Kranker zu behandeln. Bis zum Zeitpunkt der Unterbrechung geltende Freiheitsbeschränkungen werden ungültigIX. Hält – wie in einem Fall, über den das OLG StuttgartX zu befinden hatte – die Klinik ein angeordnetes Ausgangsverbot aufrecht, begibt sie sich in den Bereich der Freiheitsberaubung. Davon zu unterscheiden ist der Fall, dass die Vollstreckungsbehörde die Strafunterbrechung mit einer Bedingung oder Auflage versieht, indem sie dem Verurteilten etwa aufgibt, sich während der Dauer der Behandlung in einer bestimmten Klinik aufzuhalten oder den Therapieanweisungen des ärztlichen Personals Folge zu leisten. Zur Überwachung dieser Auflagen kann die Vollstreckungsbehörde das Krankenhaus um entsprechende Mitteilungen bitten. Es leuchtet ein, dass der Sinn einer krankheitsbedingten Strafunterbrechung nur so lange fortbesteht, wie der Verurteilte auch tatsächlich behandlungsbedürftig ist und sich einer stationären Behandlung unterzieht. § 46 Abs. 6 StVollstrO erlegt der Vollstreckungsbehörde denn auch die Pflicht auf, dafür zu sorgen, dass nach Wiedereintritt der Vollzugstauglichkeit der Strafvollzug fortgesetzt wird. In diesem – rechtlich zulässigen Rahmen – bewegt sich auch die Aufforderung an die Krankenanstalt, bei bevorstehender Gesundung des Patienten den vorgesehenen Entlassungstermin möglichst bald mitzuteilen. 45 Referate c) Ausschlussgründe für eine Strafunterbrechung Soweit bisher die Rede davon war, wann und unter welchen Voraussetzungen eine Strafunterbrechung zu gewähren war, sieht der Gesetzgeber auch Umstände vor, unter denen auf keinen Fall eine Unterbrechung zu bewilligen ist. § 455 StPO verbietet die Strafunterbrechung wegen Vollzugsuntauglichkeit, „wenn überwiegende Gründe, namentlich der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen.“ Als Beispiele werden hier Fluchtgefahr, die Gefahr der Zeugenbeeinflussung oder die Gefahr weiterer Straftaten genanntXI. Gerade bei der psychischen Erkrankung eines Gefangenen kann Letzteres auch oder insbesondere in der Krankheit begründet sein, so dass der mögliche Anlass für die Strafunterbrechung dieselbe sogleich verbietet. Das bedeutet nun nicht, dass der gefährliche, psychisch kranke Gefangene unbehandelt bleiben muss, denn nur die Strafunterbrechung nach § 455 StPO wird untersagt, die Möglichkeit der Verlegung in ein vollzugsfremdes Krankenhaus nach § 65 Abs. 2 StVollzG bleibt hiervon unberührt. Wie bereits dargelegt können und müssen hier – anders als bei der Strafunterbrechung – entsprechende Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen vorgenommen werden, um eine Gefährdung der Öffentlichkeit auszuschließen. V. Zusammenfassung: Zusammenfassend stelle ich folgendes fest: 1. Die Zahl psychisch erkrankter Gefangener nimmt zu und stellt ein Problem für den Strafvollzug dar, da die Bedingungen des Strafvollzugs darauf nicht eingerichtet sind. 2. Der psychisch Kranke erfährt intramural eine optimale Versorgung nur dort, wo es vollzugseigene psychiatrische Abteilungen oder Krankenhäuser gibt. 3. Neben ambulanten Kooperationsmodellen mit außervollzuglichen Krankenhäusern oder Psychiatern und Psychologen bestehen auch die Möglichkeiten, den Gefangenen nach § 65 Abs. 2 StVollzG in ein außervollzugliches Krankenhaus zu verlegen oder die Strafe nach § 455 StPO zu unterbrechen. 4. Bei der Verlegung in ein außervollzugliches Krankenhaus nach § 65 Abs. 2 StVollzG befindet sich der Gefangene juristisch weiterhin im Strafvollzug. Er darf bewacht werden. Die Krankenhauszeit wird auf die Strafe angerechnet. Der Justizfiskus trägt die Kosten. 5. Ein außervollzugliches Krankenhaus kann auch eine Maßregelklinik sein. Die Vorschriften des StVollzG gelten aber weiter. Das Maßregelpersonal darf Zwang anwenden. 6. Bei einer Strafunterbrechung nach § 455 StPO wird der Gefangene vorläufig aus der Strafhaft entlassen. Zwang darf auf den dann freien Bürger nicht mehr ausgeübt werden. Ein Krankenhausaufenthalt während der Strafunterbrechung wird nicht auf die Strafe angerechnet. Der übliche Sozialversicherungsträger trägt die Behandlungskosten. 7. Die Verlegung nach § 65 Abs. 2 StVollzG hat gegenüber der Strafunterbrechung Vorrang. Eine Strafunterbrechung zum Zwecke einer Krankenhausbehandlung ist nur zulässig, wenn der Gefangene sonst einen unverhältnismäßig hohen Teil seiner Strafe im Krankenhaus verbringen würde. 46 Referate Literatur I Pohlmann / Jabel / Wolf, Strafvollstreckungsordnung, 7. Aufl., 1996, S. 439; MeyerGoßner, Strafprozessordnung, 49. Aufl., 2006, § 455 Rdnr. 4; Volckart/Grünebaum, Maßregelvollzug, 6. Aufl., 2003, S. 220; OLG München, NStZ 1981, S. 240 II Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 436; vgl. auch OLG Karlsruhe, NStZ 1991, S. 53 III Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 450 IV Volckart/Grünebaum, a.a.O., S. 220 f. V Volckart/Grünebaum, a.a.O., S. 220 f. VI Volckart/Grünebaum, a.a.O., S. 220 f. VII Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 440; vgl. auch zur „Erheblichkeit“: Meyer-Goßner, a.a.O., § 455 Rdnr. 11 VIII Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 446 IX Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 452 f. X OLG Stuttgart, NStZ 1989, S. 552 XI Meyer-Goßner, a.a.O., § 455 Rdnr. 12; Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 440 f. 47 Referate Entwicklungen der Forensischen Psychiatrie in der Schweiz: Modell für die Nachbarländer? *) Prof. Dr. Volker Dittmann 15 Die Schweiz weist trotz ihrer geringen Größe und Einwohnerzahl (rund 7 Mio.) eine sehr stark föderalistische Struktur auf, die sich auch auf das Justizsystem auswirkt. Die rechtlichen Grundlagen hinsichtlich Schuldfähigkeit und Maßnahmenvollzug ähneln denen der deutschsprachigen Nachbarländer, weisen jedoch einige Spezifika auf. So besteht eine weitgehende Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Unterbringungs- und Behandlungsformen. Entscheidend ist, dass forensische Patienten in der „geeigneten“ Anstalt untergebracht werden. Dies ermöglicht es, strafrechtliche Maßnahmen, insbesondere bei gefährlichen Dissozialen, auch in Haftanstalten durch die dort tätigen forensischpsychiatrischen Dienste durchzuführen. Nach mehreren gravierenden Zwischenfällen mit beurlaubten Patienten aus dem Straf- und Maßnahmenvollzug hat sich seit mehr als zehn Jahren ein strukturiertes einheitliches Vorgehen bei der Prognosebeurteilung für besonders gefährliche Täter schweizweit etabliert. Seitdem sind Zwischenfälle ausgeblieben. Gleichwohl ist es einer Bürgerinitiative gelungen, eine knappe Mehrheit der Wahlberechtigten auf ihre Seite zu bringen und die lebenslange „unwiderrufliche“ Verwahrung für „Sexualstraftäter und andere gefährliche Gewalttäter“ in der Verfassung zu etablieren, dies trotz einhelliger Ablehnung einer Mehrheit von Bundesregierung, Parlament und forensischer Psychiatrie. Damit zeigt sich auch in der Schweiz, wie in den Nachbarländern, eine starke Tendenz, der Sicherung den Vorrang gegenüber der Besserung einzuräumen. *) Referat liegt nur als Abstract vor. 15 Universitäre Psychiatrische Kliniken, Basel/Schweiz 48 Referate Forensische Psychiatrie – Identität und Abgrenzung Prof. Dr. Dr. Paul Hoff 16 Sehr verehrte Damen und Herren, liebe Kolleginnen und Kollegen, Das Thema, das mir Frau Dr. Bücken vorgeschlagen hat, ist ein sehr umfassendes: Identität und Abgrenzung dieses Faches. Erwarten Sie nun bitte keine vollständigen oder auch nur mundgerechten Antworten, denn solche gibt es nicht. Was ich versuchen werde, ist gemäss der Agenda (vgl. Abb. 1) zu diskutieren, warum sich in der Psychiatrie generell, aber besonders in der Forensik die Frage nach der Identität schon immer stellte und noch immer in unverminderter, wenn nicht sogar noch ausgeprägterer Deutlichkeit stellt. Abb. 1 Agenda • Warum überhaupt diese Frage? • Historische Vorbemerkung • Brennpunkte: - Nosologie - Quantifizierung - Identität des Faches - „Menschenbild“ • Résumé Diese Frage finden Sie beispielsweise in der Chirurgie oder in der Kinderheilkunde eher nicht, wohl aber in den Fächern Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie. Nach einer kurzen historischen Vorbemerkung, um die ich gebeten worden bin, und die ich auch für essentiell halte, möchte ich im Kern über vier Brennpunkte sprechen, die die forensische Psychiatrie als Fach charakterisieren und auch problematisch machen. Das sind die Brennpunkte Nosologie, also die Frage des psychiatrischen Krankheitsbegriffes, 16 Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich/Schweiz 49 Referate Quantifizierung, also die Messbarmachung des (gesunden wie gestörten) Seelischen, Identität und dann - ein etwas abgenutzter, aber dennoch, wie ich finde, wichtiger Terminus, das „Menschenbild“, welches gleichsam „hinter“ den Theorien steht, die das Fach entwickelt hat - und noch entwickeln wird. Warum nun stellen wir überhaupt diese Fragen? Dazu möchte ich eine allgemeine Bemerkung machen, die die Medizin generell betrifft, aber speziell auch die psychiatrischen Fächer, die sich nämlich, seit es sie gibt, in diesem Spannungsfeld bewegen. Das Spannungsfeld besteht aus dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit einerseits und dem alten Begriff der „Heilkunst“ andererseits. Abb. 2 Die „zwei Gesichter“ der Medizin „Heilkunst“ ? • Subjekt • Individuelles Vorgehen • Reproduzierbarkeit weniger wichtig • Primat des Qualitativen • Enge Vernetzung mit allen Humanwissenschaften „Wissenschaft“ • Objekt • Gesetzmässiges Vorgehen • Reproduzierbarkeit entscheidend • Primat des Quantitativen • Enge Vernetzung mit den Naturwissenschaften, vor allem der Biologie „Wissenschaft und Kunst“ - dieses Spannungsfelds prägt auch und gerade die Psychiatrie allgemein und die forensische Psychiatrie im besonderen. „Wissenschaft“ erhebt Anspruch auf Objektivität, Messbarkeit, Reliabilität. Der ärztlichen „Kunst“ mit ihrem mehr persönlichbiographisch orientierten Zugehen auf Patienten geht es um Individualität - also nicht der Patienten X als Beispiel für die Störung Y, sondern der Patient X als Person, die unter der Störung X leidet. Ich will das aus Zeitgründen nicht vertiefen. Es gibt dazu sehr viel Literatur. Aber es ist dies tatsächlich der große Spannungsbogen, in dem wir uns in unserem Beruf bewegen, ob es uns nun gefällt oder nicht. 50 Referate Abb. 3 Die „forensische Frage“: Einige Marksteine • Frage nach Zurechenbarkeit in den meisten Kulturen präsent • Ärztliche Zuständigkeit systematisch ab Ende 18. Jahrhundert • Enge Verknüpfung mit dem jeweiligen Krankheitsbegriff (z.B. Heinroth vs. Griesinger, Lombroso) Nun ein paar historische Bemerkungen. Zunächst einmal ist die entscheidende Frage, was bedeutet es für die persönliche Zurechenbarkeit von Handlungen, wenn sich jemand auffällig verhält oder von Experten für psychisch krank gehalten wird. Diese Frage ist sehr alt. Kulturhistorisch betrachtet, ist sie sogar deutlich älter als die Psychiatrie selbst. Und es gab Gesellschaften, in denen diese Frage gestellt wurde, ohne dass es eine ausgearbeitete Theorie zu seelischen Erkrankungen gab. Schon immer ist aufgefallen, dass es Personen gibt, die sich in besonderer Weise verhalten und die man rechtlich nicht in gleicher Weise behandeln kann wie Personen ohne derartige Auffälligkeiten. Nicht so alt wie diese Frage hingegen ist die Zuständigkeit der Ärzteschaft. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts (Stichwort: Aufklärung) gab es einen Trend, der sich zunehmend durchsetzte, dass nämlich die medizinische (und nicht die theologische oder philosophische) Fakultät mit der Frage betraut werden soll, wer zurechnungsfähig sei und wer nicht. Ein dritter und letzter Punkt: Ein Blick auf die Geschichte des Faches zeigt mehr als deutlich, wie enorm abhängig die forensische Psychiatrie von theoretischen Vorannahmen der Psychiatrie ist. Insbesondere bezieht sich das auf den Krankheitsbegriff selbst. Dafür seien drei markante Beispiele genannt: • J. C. A. Heinroth und andere Vertreter der sogenannten Psychiatrie der Romantik zu Beginn des 19. Jahrhunderts verstanden „Geisteskrankheit“ als Folge einer individuellen, zum erheblichen Teil moralisch verwerflichen Fehlentwicklung der betreffenden Person. • W. Griesinger stellte Mitte des 19. Jahrhunderts die Weichen für eine empirische, sich den Naturwissenschaften annähernde Psychiatrie: Von nun an steht der Aspekt der Gehirnforschung im Vordergrund, in manchen Zuspitzungen (nicht aber bei Griesinger 51 Referate selbst!) wird das Organ Gehirn die entscheidende Grundlage, um nicht zu sagen: der Motor von Verhalten - auch von delinquentem Verhalten. So wurde natürlich „Geisteskrankheit“ von der biographisch verständlichen Fehlentwicklung zur „Gehirnkrankheit“. • Das dritte Beispiel, C. Lombroso und seine italienische kriminalanthropologische Schule, betrifft die Degenerationslehre: Kriminalität, Verbrechertum, wie man damals sagte, ist ein Zeichen von „Entartung“. Der Begriff ist spätestens seit 1933 schwer belastet, im 19. Jahrhundert aber wird er von vielen Autoren wie selbstverständlich als terminus technicus verwendet. Das Konzept der Degeneration ist nun wieder ein anderer Zugangsweg, auf den ich noch zu sprechen kommen werde. Immer aber - das ist hier entscheidend - ist es der Krankheitsbegriff, der hinter diesen Theorien steht und der sich enorm praxisrelevant auf die Forensik auswirkt. Wir sprechen hier also nicht „nur“ über theoretische Aspekte oder über „philosophische Oberseminarthemen“, sondern über alltagsrelevante Dinge unserer Berufsfelder. Abb. 4 Die „forensische Frage“: Aktuell ein doppeltes Spannungsfeld • Klinische Psychiatrie • Neurobiologie und -psychologie • Rechtliche Vorgaben • Rechtspolitische Vorgaben • Sozialwissenschaften Ich habe einmal versucht, das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen, aufzuzeichnen (s. Abb. 4). Lassen Sie sich bitte nicht verwirren von den vielen Pfeilen, die nur andeuten, wie komplex die Angelegenheit ist: Doppeltes Spannungsfeld deswegen, weil wir innerhalb des „psychowissenschaftlichen“ Bereiches eine enorme Spannung haben. Wer gibt den Ton an bei der psychiatrischen Forschung? Ist es die klinische Psychiatrie oder gar die Psychopathologie? Ist es die Neurobiologie und mit ihr assoziiert die Neuropsychologie? Oder sind es letztlich die Sozialwissenschaften? Dieses Kraftfeld tangiert das Gesamtfach und damit natürlich auch den forensischen Bereich. Aber auch die andere Seite, die rechtliche, hat ihre Spannungen, vor allem zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspolitik. Schon dadurch 52 Referate wird klar, dass man dieses Fach „Forensische Psychiatrie“ niemals als eine abgeschlossene, mundgerecht servierte Wissenschaft wird betrachten können, die klar und unbestritten ist. Ich komme nun zu den eingangs erwähnten vier Kernpunkten, die ich nicht nur aus der psychiatriehistorischen Warte, sondern gerade auch mit Blick auf die Zukunft des Faches für besonders wichtig halte. a) Zunächst zur Nosologie, also zur Krankheitslehre: Grundsätzlich kann man in der Psychiatrie drei verschiedene Herangehensweisen an den so zentralen Begriff „psychische Krankheit“ unterscheiden (vgl. Abb. 5). Abb. 5 „Psychische Krankheit“: Drei Modelle • Naturalistisch Krankheit z.B. Kraepelin, Neurobiologie • Biographisch-individuell z.B. Anthropologische Psychiatrie • Nominalistisch Lebenskrise Störung z.B. Operationale Diagnostik Für diejenigen, die nicht so in die psychiatrische Terminologie eingedacht sind, mag das sehr abstrakt wirken. Im Grunde ist es aber ganz einfach: • Der erste Weg ist der klassisch medizinische, nämlich psychische Krankheiten zu verstehen als „natürliche“, sprich: biologische Einheiten. Man versteht also psychische Krankheit analog zur körperlichen. Wie die Schenkelhalsfraktur oder die Lobärpneumonie, so interpretiert man psychische Erkrankung, die Schizophrenie etwa, als eine biologische Entität, als umschriebene Gehirnkrankheit. Das kann man den naturalistischen Krankheitsbegriff nennen, den man z. B. bei Emil Kraepelin findet, einem für die Geschichte auch der forensischen Psychiatrie sehr wichtigen Autor. • Der zweite Ansatz ist der biographische: Hier versteht man psychische Krankheit als etwas, das im Leben eines Menschen nicht wie der unverständliche und unbeeinflussbare Blitz aus heiterem Himmel eintritt, sondern als eine sich aus Lebenskonflikten oder Persönlichkeitseigenschaften aufbauende Fehlentwicklung, die man verstehen kann. Das 53 Referate ist die klassische Perspektive des Psychotherapeuten, der versucht, Konflikte zu analysieren - als es den Neurose-Begriff noch gab, durfte man das sagen -, und dann gemeinsam mit dem Patienten das Thema weiterzuentwickeln, kurz, ein biographischindividueller Krankheitsbegriff. • Und schliesslich drittens - so halten es die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und ihre US-amerikanische Konkurrenz, das DSM-IV - ist das Vorgehen nominalistisch. Der Nominalismus hat einen bescheideneren Anspruch als der Realismus bzw. Naturalismus: Im Falle der psychiatrischen Diagnostik wird nicht behauptet, dass wir wissen, was seelische Störungen in Wirklichkeit sind, also etwa ob es Gehirnkrankheiten oder seelische Fehlentwicklungen sind. Vielmehr bleibt man auf der deskriptiven und damit der begrifflichen Ebene. Also nicht die Frage, was eine Schizophrenie, eine Depression oder eine Persönlichkeitsstörung wirklich ist, beantwortet dieser nominalistische Ansatz, sondern die Frage, wie man den entsprechenden diagnostischen Begriff (Nomen) sinnvoll einsetzt - und sinnvoll heisst hier in erster Linie: operational definiert und empirisch untermauert. Die ätiologische Debatte, also die Frage nach den Ursache der Störung, bleibt zunächst einmal aussen vor. Der naturalistische Weg spricht von Krankheit, dies ist der klassische medizinische Krankheitsbegriff. Im Falle des biographischen Herangehens spricht man eher von Lebenskrise oder verstehbarer seelischer Fehlentwicklung etwa aufgrund eines ungelösten Konfliktes. Und schliesslich der geradezu technisch anmutende Begriff, den Sie alle aus der ICD-10 kennen, denjenigen der Störung: Gerade weil dieser nominalistische und kriterienorientierte Ansatz bescheidener ist und sich nicht festlegen lassen will, welche Ursachen psychopathologisch auffälliges Verhalten hat, steht er in kritischer Distanz zum engen Krankheitsbegriff und bevorzugt den Begriff der Störung. Störung ist neutral und heisst nur, dass irgend etwas nicht in Ordnung ist (englisch: disorder). Ich möchte Ihnen ein paar Autoren auch im Bild zeigen, um die theoretische Thematik etwas aufzulockern. Als die Psychiatrie begann, sich Ende des 18. Jahrhunderts als eigenständige akademische Disziplin zu etablieren, da entstand auch die forensische Psychiatrie. Nun war für viele führende Autoren von damals, wie zum Beispiel für Philippe Pinel oder Johann Christian Reil, die heute so kontroverse Leib-Seele-Frage noch kein so drängendes Problem. Ihnen war klar, dass das Gehirn eine Rolle spielt bei seelischen Erkrankungen. Aber genauso klar und nicht weiter diskussionsbedürftig war, dass der Mensch eine individuell-seelische, sprich: subjektive, und auch eine soziale Seite hat. Dieser Einheitsaspekt, um nicht zu sagen, diese ganzheitliche Betrachtung, ist später weitgehend verloren gegangen, spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Schlagwort für den zu diesem Zeitpunkt wirksam werdenden Paradigmenwechsel in der Psychiatrie - auch in der Forensik - ist die Forderung, wegzukommen von der vorwiegend naturphilosophisch inspirierten Spekulation und psychiatrische Forschung in erster Linie zu verstehen als ein empirisches Unternehmen, konkret: als Gehirnforschung. Oder, in klassischer Verdichtung: „Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“. Dass Wilhelm Griesinger, von dem diese Botschaft stammt, den Inhalt weitaus differenzierter meinte, als es dem genannten schlichten Satz anzusehen ist, sei hier nur am Rande vermerkt. Einige Jahre nach Griesinger wird Emil Kraepelin die Auffassung populär machen, wonach es in der Psychiatrie „natürliche Krankheitseinheiten“ gibt wie in jedem anderen medizinischen 54 Referate Fach auch: In der inneren Medizin, so die Kernidee, gibt es biologische („natürliche“) Krankheitsentitäten, in der Orthopädie gibt es sie, und in der Psychiatrie eben auch. Viel differenzierter und psychopathologisch orientiert argumentierte Karl Jaspers. Er war der Autor, der die Psychopathologie zu einer wissenschaftlichen Fundierung verholfen hat, ohne sie einem einzigen methodischen Paradigma zu unterwerfen. Psychopathologie war für ihn dabei notwendigerweise mehr als blosse Beschreibung von Einzelsymptomen, nämlich die differenzierte Erfassung dessen, was der Patient oder Proband erlebt, berichtet und im Verhalten ausdrückt. Kurt Schneider, wie Jaspers ein Heidelberger Psychiater, ist deswegen für die forensische Psychiatrie wichtig, weil er schon vor 60 Jahren darauf hingewiesen hat, dass man zwar in der Psychiatrie wohlfeil spekulieren kann, dass man aber allfällige spekulative Vorannahmen aus dem konkreten diagnostischen Prozess - auch und erst recht beim Gutachten - heraushalten soll. Ziel sei die nüchterne und reliable Beschreibung des klinisch Beobachtbaren. Insofern war Kurt Schneider, der im übrigen bei aller methodischen Strenge sehr an Philosophie interessiert war, in der Praxis - und hier auch in seinen forensischen Schriften - ein Vorläufer dessen, was wir heute „operationale Diagnostik“ nennen. Abb. 6 Nosologie Thesen • Theoretische Vorannahmen zum Konzept der psychischen Krankheit sind in der forensischen Psychiatrie mindestens ebenso praxisrelevant wie in der Klinik. • Sie sind und wirken allerdings häufiger implizit als explizit. Zwei Thesen zum Bereich Nosologie (Abb. 6): 1. In der forensischen Psychiatrie sind - vielleicht sogar etwas ausgeprägter als im klinischen Bereich - die scheinbar „nur“ theoretischen Annahmen zum Hintergrund der verwendeten Begriffe von hoher Praxisrelevanz. Hinzu kommt die notwendige Übersetzungsarbeit zwischen der medizinischen und juristischen Sprache, um nicht zu sagen: Welt. 55 Referate Vorannahmen, die wir haben zur psychischen Erkrankung schlechthin, sind niemals selbsterklärend und auch nicht konfliktfrei, wohl aber wichtig für das konkrete tägliche Handeln. 2. Diese Vorannahmen sind häufig mehr implizit als explizit. Fragt man klinisch tätige Psychiater, welchen Krankheitsbegriff sie ihrer Arbeit hinterlegen, so erhält man eher wenig präzise Antworten. In der klinischen und in der forensischen Psychiatrie ist dieses Thema nicht unbedingt als praktisch und wissenschaftlich bedeutsam anerkannt. Abb. 7 Quantifizierung: Wann beginnt „forensische Relevanz“? (I) Drei extreme Antworten • • • Psychose = schuldunfähig Psychose = schuldfähig Agnostizismus b) Nun zum Aspekt der Quantifizierung: Mit welchem Recht und mit welchen wissenschaftlichen Mitteln definieren wir die Schweregrade psychischer Störungen? Konkreter: Wie ist es wissenschaftlich zu begründen, dass eine bestimmte Persönlichkeitsstörung in einem Fall zur Zuerkennung einer verminderten Schuldfähigkeit führt, in einem anderen Fall hingegen nicht? Dazu drei extreme Antworten, um die Eckpunkte der Diskussion zu zeigen und deutlich werden zu lassen, wo wir heute stehen. Antwort 1: „Psychose ist gleich schuldunfähig.“ Wenn also bei einer Person etwa eine Schizophrenie in fachkundiger Weise festgestellt worden ist, so würde das bedeuten, dass diese Person für das, was sie tut, nicht verantwortlich ist. Hier läuft die Quantifizierung allein über die Diagnose, wobei dies natürlich, streng genommen, gar keine Quantifizierung, sondern bloss eine dichotome Kategorisierung ist, eben in krank/schuldunfähig einerseits und gesund/schuldfähig andererseits. Diese Position wird heute in der genannt apodiktischen Art nicht mehr vertreten. Antwort 2: „Psychose ist gleich schuldfähig.“ Dieses andere Extrem wurde vorwiegend im Umfeld der „romantischen Psychiatrie“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts vertreten. J. C. A. 56 Referate Heinroth, den ich im Kontext des psychiatrischen Krankheitsbegriffes bereits erwähnte, ging beispielsweise davon aus, dass das Hineingeraten in eine Psychose nicht nur biographisch verständlich, sondern auch individuell zu verantworten sei, weil er nämlich Psychose zu wesentlichen Teilen verstand als Konsequenz einer „falschen“, sprich mit den gesellschaftlichen (in seinem Fall: christlichen) Grundüberzeugungen kollidierenden Lebensweise. Ergo ist er für die Krankheit in einem bestimmten Sinne selbst verantwortlich und insoweit auch - das allerdings ist ein gewagter und heftig bestrittener Schluss - für im Kontext der Psychose stehendes deliktisches Verhalten. Antwort 3: „Schuldfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit sind keine von der forensischen Psychiatrie zu beurteilenden empirischen Begriffe.“ (Agnostizismus) Diese Konzeption geht davon aus, dass der forensische Psychiater gar wissen könne, ob der Täter oder die Täterin hätte anders handeln können, dass er also die Fragen des Gerichtes - etwa: „Resultierte das inkriminierte Verhalten unmittelbar aus einer psychischen Erkrankung?“, „Konnte die Person sich steuern, hätte er/sie sich auch gegen das Delikt entscheiden können?“ - empirisch nicht zu beantworten seien, sondern eben normativ, also durch das Gericht. Der forensische Psychiater könne einen gründlichen Befund erheben, könne sagen, was ein bestimmter Befund, etwa ein paranoid-halluzinatorisches Zustandsbild, in der Regel für die Handlungsfähigkeit einer Person bedeute. Eine konkrete Antwort auf die in foro entscheidende Frage nach der Schuldfähigkeit einer Person X zum Zeitpunkt Y hingegen könne er nicht geben. Abb. 8 Quantifizierung: Wann beginnt „forensische Relevanz“? (II) Drei praktikable, aber unterschiedliche Antworten • • Forensisch-psychiatrisches Dokumentationssystem (FPDS, N. Nedopil) Psychopathologisches Referenzsystem (H. Sass) • Strukturdynamik (W. Janzarik) In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Diskussion. Aktuell wird von den meisten Autoren die Problematik der Grenzziehung zwischen empirischer Befunderhebung einerseits und normativer Bewertung andererseits zwar anerkannt, jedoch gleichwohl die Kompetenz des forensischen Psychiaters, auch und gerade wenn er sich als empirischer Wissenschaftler versteht, betont. 57 Referate Sie kennen die quantifizierenden Versuche, psychische Auffälligkeit mit Blick auf Schuldfähigkeit und Prognose in Begriffe zu fassen. Das FPDS (forensisch-psychiatrisches Dokumentationssystem; Norbert Nedopil) ist ein solches, heute weit verbreitetes Beispiel. Das von Henning Sass so bezeichnete psychopathologische Referenzsystem betont die klinisch-psychiatrische Erfahrung als Richtschnur - „Referenz“ - für die forensische Beurteilung: Der von einem Beschuldigten angegebene Ausnahmezustand etwa wird in seinen verschiedenen Aspekten verglichen mit analogen Erlebens- und Verhaltensweisen bei psychisch kranken Menschen, denen kein Delikt vorgeworfen wird. Werner Janzarik, Heidelberger Psychiater, hat seine psychopathologische Lehre von der Strukturdynamik, die sehr komplex ist und hier jetzt nicht umfassend dargestellt werden kann, auf die Forensik übertragen. Grundgedanke ist, dass man psychisches Erleben, auch im Kontext eines Deliktes, eben nicht in eine bestimmte Anzahl distinkter messbarer Einheiten („Symptome“) aufgliedern, „atomisieren“ kann, die sodann faktorenanalytisch bearbeitet oder sogar zu gutachterlichen Schlussfolgerungen ausgebaut werden. Deliktisches Verhalten bewegt sich für ihn vielmehr genauso wie die ungestörte oder pathologisch verformte Psyche auf zwei Ebenen, der strukturellen und der dynamischen: Dynamik steht für Affektivität und Emotionalität, Struktur für überdauernde Werthaltung, Persönlichkeit, Lebensplanung. In diesem komplizierten - und schwer messbaren - Netzwerk entsteht auch deliktisches Verhalten. Quantifizierung, ob nun forensisch relevant oder nicht, gelingt für Janzarik nur dann, wenn man sich die Mühe macht, eine entsprechend komplexe und dadurch methodisch aus der Sicht eines strengen Empirismus wieder angreifbare Vorgehensweise zu wählen. Hier wird ohne Frage ein ebenso origineller wie hoher Anspruch formuliert, der bezüglich seiner Tragweite für die forensische Psychiatrie konsequent ausgelotet werden sollte. Abb. 9 Quantifizierung Thesen • Quantifizierung im Bereich psycho(patho)logischer Phänomene ist möglich und sinnvoll. • Sie ersetzt aber weder qualitative Ansätze noch diskreditiert sie Differenzierungen jenseits der operationalisierbaren Merkmale. 58 Referate Auch zur Quantifizierung zwei Thesen (s. Abb. 9): 1. Quantifizierung im Bereich psychologischer und psychopathologischer Phänomene ist möglich und sinnvoll. Diese Aussage ist nicht so banal, wie sie vielleicht klingen mag. Schon Kant hatte kritisch notiert, dass Seelisches, also „Phänomene des inneren Sinnes“, nicht mit den Mitteln der Mathematik, also letztlich durch Zählung und Messung, erfassbar sei. Heute vertreten die meisten Autoren demgegenüber die Auffassung, man könne Erleben und Verhalten eines Menschen sehr wohl in wichtigen Teilen messen. Zu ergänzen ist freilich: Man kann es dann und nur dann valide und reliabel messen, wenn man sich der Grenzen der Methode bewusst bleibt. Und das leitet über zur These 2. 2. Die Quantifizierung bestimmter Aspekte des Seelischen ersetzt nicht die Forschung über qualitative Phänomene. Komplexe und oft sehr relevante Bereiche in der Psychologie und Psychopathologie sind schwer quantifizierbar: Man denke an die subjektive Seite der sogenannten Ich-Störungen bei psychotischen Patienten, an bestimmte Persönlichkeitseigenschaften oder die Arzt-Patienten-Beziehung. Nicht gut oder gar nicht messbar zu sein, bedeutet mit Blick auf psychopathologische Sachverhalte keineswegs, wissenschaftlich irrelevant zu sein. Abb. 10 Identität des Faches (I) Das Spannungsfeld • Deutungskunst? • Ärztliche, also therapeutische Disziplin? • Deskription objektiver, quantifizierter Sachverhalte? • Angewandte Neurobiologie? • Angewandte Sozialwissenschaft? c) Nun zur Identität des Faches. Natürlich entfaltet sich hier wiederum ein beträchtliches Spannungsfeld: Was ist eigentlich und wie versteht sich die forensische Psychiatrie? Sie können im Grunde das „forensische“ auch weglassen, denn auch das Gesamtfach Psychiatrie und Psychotherapie steht seit einiger Zeit vermehrt vor genau diesen Fragen. Betreiben wir Deutungskunst? Sind wir eine ärztliche, also schwerpunktmässig therapeutisch ausgerichtete Disziplin, für die die Schuldfähigkeitsbeurteilung nur ein Nebenweg ist? Geht es um die 59 Referate Deskription objektiver Sachverhalte, so wie der Chirurg sagt, hier ist ein Gallenstein oder hier ist keiner? Oder betreiben wir - und das ist jetzt die modernste Variante, die die Identitätsdiskussion in der Psychiatrie im letzten Jahrzehnt geradezu dramatisch angeheizt hat - im wesentlichen angewandte Neurobiologie mit der Aussicht (und Absicht?), die herkömmliche psychologische und psychopathologische Sprache bald einmal abschaffen zu können, so wie es der „eliminative Materialismus“ schon seit einiger Zeit energisch vorhersagt? Oder sind wir - eine heute im Gegensatz zu den 60er und 70er Jahren des 20. Jahrhunderts nicht besonders populäre Position - eine angewandte Sozialwissenschaft? Weit davon entfernt, Ihnen diese Grundsatzfragen hier umfassend beantworten zu können, möchte ich aber doch zwei Beispiele als Beleg dafür nennen, dass die scheinbar „nur“ theoretischen Fragen sehr praxisrelevant sind. Und zwar geht es um zwei in die falsche Richtung weisende Wege, die im Laufe der Entwicklung unseres Faches eingeschlagen worden sind. Abb. 11 Der falsche Weg: Zwei Beispiele unkritischen Theoriegebrauchs • Vereinnahmung des psychiatrischen Bereiches „von aussen“ - z.B. eliminativer Materialismus • Überdehnung psychiatrischer Theorien „nach aussen“ - z.B. manche Aspekte in Kraepelins forensischen Arbeiten 1. Vereinnahmung „von aussen“: Betrachtet man die Geschichte des Faches, so stellt man fest, dass immer wieder Theorien, die ursprünglich mit psychiatrischen Sachverhalten wenig zu tun haben, den Anspruch auf weitreichende Erklärungen auch des Psychischen erheben. Der soeben schon erwähnte „eliminative Materialismus“ ist ein solches Beispiel: Seine Kernthese ist die völlige Identität materieller und psychischer Phänomene oder, treffender, die eigentliche Nicht-Existenz der psychischen, die er nämlich durch materielle Vorgänge vollständig erklären zu können glaubt mit der Folge der „Eliminierung“ des psychologischen Vokabulars. Es gibt durchaus einflussreiche Autoren, die diese Extremposition trotz aller Kritik weiterhin vertreten. Lässt die (forensische) Psychiatrie derartige Konzepte unbeachtet, so besteht natürlich das Risiko, dass ihr das ureigenste 60 Referate Terrain - die psychisch kranke Person - streitig gemacht und sie selbst zur angewandten naturalistischen Neurowissenschaft wird (Stichwort: „Verhaltensneurobiologie“). 2. Überdehnung „nach aussen“: Es gibt nun ein vergleichbares, wenn auch genau in die entgegengesetzte Richtung weisendes Problem innerhalb des Faches. So etwa haben um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert manche selbstbewusste (forensische) Psychiater, wie etwa Emil Kraepelin, Theorien aufgestellt, die die Aussagekraft, die „Zuständigkeit“ von psychiatrischem Wissen sehr weit in die Gesellschaft, die Politik, in den normativen Bereich schlechthin, ja in die Religion ausdehnten. So betrachtete die Mehrheit der damaligen Autoren delinquentes Verhalten - notabene: Jahrzehnte vor der Machtergreifung der Nationalsozialisten! - als Ausdruck von „Degeneration“ oder „Entartung“. Ein verbreitetes Schlagwort seinerzeit war: Das Verbrechen als soziale Krankheit. Auf diesem Hintergrund nur konsequent, forderte Kraepelin, dass man mit psychiatrischen Argumenten und Sichtweisen direkt auf die Politik Einfluss nehmen müsse, was er selbst auch umfassend - und, aus heutiger Sicht, in problematischer Weise praktizierte. Die vollständige Vereinnahmung von Dissozialität durch die psychiatrische Krankheitslehre ist insoweit ein besonders interessantes Beispiel, als sich die aktuelle Debatte um die „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ mit sehr ähnlichen Fragen beschäftigt und - wie unser kurzer Blick auf die Geschichte lehrt - auch dringend beschäftigen sollte. Abb. 12 Identität des Faches (II) Thesen • Eine selbstbewusste psychiatrische Spezialdisziplin, die ihre notwendigen theoretischen wie praktischen Spannungen nicht leugnet oder nur aushält, sondern kritisch nutzt • Also nicht: „the most self-doubting specialty in medicine“ (Littlewood, 1991) Auch zum Thema Identität zwei Thesen: 1. Die forensische Psychiatrie kann es sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus leisten, Selbstbewusstsein zu zeigen, zu sagen, dass sie eine psychiatrische Spezialdisziplin ist mit einer wachsenden empirischen Grundlage, die eingebettet ist in eine aus dem Fach selbst gespeiste Theoriediskussion. Letzteres macht natürlich nur dann Sinn, wenn diese 61 Referate theoretische Auseinandersetzung nicht nur - mehr nolens als volens - erduldet, sondern aktiv gestaltet und genutzt wird. 2. Die (forensische) Psychiatrie ist dann nicht mehr, wie es der Kollege Littlewood 1991 einmal etwas spöttisch formuliert hat, „the most self-doubting specialty in medicine“ (also die am meisten mit Selbstzweifeln kämpfende medizinische Disziplin), sondern ein zunehmend „erwachsen“ werdendes wissenschaftliches Fach. Abb. 13 „Menschenbild“ (I) Die theoretische Perspektive • Extremer Subjektivismus • Extremer Objektivismus • Zwei Wellen der Naturalisierung mit Rückwirkungen auf die forensische Psychiatrie • “Philosophy of Mind“ & Forensische Psychiatrie d) Abschliessend soll der oft zwar reichlich schillernde, in unserem Kontext aber gleichwohl angemessene Begriff des Menschenbild zur Sprache kommen (s. Abb. 13). Was ist damit gemeint? Für radikal subjektivistische Ansätze steht die individuelle Person im Zentrum der psychiatrischen und auch der forensischen Wissenschaft. Es geht um das Individuum und dessen Geschichte, wohingegen äussere Parameter, wozu man zum Beispiel auch die neurobiologische Ebene zählen kann, zur cura posterior werden. Umgekehrt gibt es, wie schon zweimal erwähnt, den extremen Objektivismus: Hier wird die Person zur nachrangigen Grösse, gleichsam zur „persona non grata“, die hinter einer als streng quantifizierend-objektiv gedachten Neurobiologie zurücktritt bis aufgelöst wird. Nun haben wir zwei solche „naturalistische“ Wellen gehabt in der Geschichte der forensischen Wissenschaft, nämlich die eine am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die andere etwa seit den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts, also im Kontext der Entdeckung neuer psychiatrischer Forschungsmethoden (Stichworte: zerebrale Bildgebung, molekulare Psychiatrie) und spezifisch wirksamer Psychopharmaka. 62 Referate Ich möchte Sie auf einen noch recht neuen, aber bemerkenswerten Begriff aufmerksam machen, auf den Sie in diesem Zusammenhang häufig stossen werden, nämlich den Begriff der „Neurophilosophie“ (s. Abb. 14). Abb. 14 Der Weg zur „Neurophilosophie“ Metaphysikkritische analytische Philosophie + Metaphysikkritische biologische Psychiatrie = Neurophilosophie als neuartige „Koalition“ traditionell eher unverbundener Wissenschaften Damit ist die aktuell sehr einflussreiche, wenn auch auf den ersten Blick eigenartige „Koalition“ zwischen philosophischem und neurobiologischem Diskurs gemeint. Erstaunlich ist dies insofern, als diese beiden Fächer zuvor, von einigen prominenten Ausnahmen abgesehen, im wissenschaftlichen Alltag wenig miteinander zu tun hatten - und wohl auch zu tun haben wollten: Standen sich doch oft Philosophen und Psychiater, gerade die neurobiologisch orientierten unter ihnen, skeptisch, ja misstrauisch gegenüber. Jetzt, im Zeitalter der Gehirnforschung, haben sich beide Seiten stark angenähert und versuchen, wechselseitig voneinander zu profitieren: Die Neurobiologen, um einen aktuellen Anschluss an das althergebrachte Leib-Seele-Problem zu finden und dieses zugleich neu und aus ihrer Sicht zu konstellieren, die Philosophen, um ihre Begrifflichkeit (die im wesentlichen diejenige der „Analytischen Philosophie des Geistes“, der „Analytical Philosophy of Mind“ ist) näher mit der empirischen Ebene zu verknüpfen, vor allem, da diese Ebene von ihrem Selbstverständnis her ja gerade mit dem „Organ des Denkens“ befasst ist. Aus früheren Konkurrenten um die „Deutungshoheit“ des Psychischen könnten - so eine Hoffnung vieler Autoren - auf diese Weise Kooperationspartner werden. Ob diese dann in praxi tatsächlich gleichrangig sind, steht freilich auf einem ganz anderen, hier nicht zu betrachtenden Blatt. Nun gibt es natürlich nicht „die“ Neurophilosophie. Vielmehr handelt es sich um eine recht bunte Mischung von verschiedenen Ansätzen, deren grösster gemeinsamer Nenner allenfalls eine (unter anderem auf Ludwig Wittgenstein zurückgehende) sprachkritische Haltung 63 Referate darstellt: Also nicht die „grosse“ Frage „Was ist Psyche und psychische Krankheit?“ steht zunächst im Mittelpunkt, sondern eher die bescheidenere Variante „Wie sprechen wir über Psyche und psychische Krankheit?“ Daraus wird auch deutlich, dass hier nicht ein einheitliches Menschenbild transportiert wird oder werden soll. Vielmehr sind neurophilosophische Konzepte im Einzelfall mit ganz unterschiedlichen Grundannahmen zur Personalität und Verantwortlichkeit vereinbar. Hierzu existiert mittlerweile eine kaum noch überschaubare Literatur. Abb. 15 „Menschenbild“ (II) Thesen • Empirische Forschung steht nicht im Gegensatz zur Anerkennung fundamentaler humaner Eigenschaften wie Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit. • Dies ist kein Rückfall in „spätromantische“ Vorstellungen, sondern Ausdruck methodenkritischen Respektes vor dem „Forschungsgegenstand“. Meine beiden Thesen zum Thema Menschenbild sind die folgenden: 1. Empirische Forschung mit ihren methodischen Eckpunkten Quantifizierung, Reliabilität und Validität, steht nicht im Gegensatz zur expliziten Anerkennung fundamentaler nichtempirischer Aspekte unseres Menschenbildes. Das klingt jetzt sehr abstrakt, doch meine ich so konkret-praktische Begriffe wie Subjekt, Person, Willensbildung, Verantwortlichkeit, Planung und, nicht zuletzt, Interpersonalität. Die markanten Fortschritte der jüngeren Hirnforschung sind aus meiner Sicht mit Subjektivität und personaler Autonomie durchaus vereinbar - oder, präziser gesagt, sie müssen, wenn man die jeweiligen Erkenntnisgrenzen sieht und akzeptiert, nicht unvereinbar sein. 2. Dies ist nun alles andere als ein Rückfall in spätromantische oder sozialromantische Vorstellungen. Der Umstand, dass bestimmte „Gegenstandsbereiche“ wie etwa die personale Autonomie sich in einem umschriebenen wissenschaftlichen Feld, hier konkret in der Neurobiologie, schlecht oder gar nicht abbilden (oder gar erklären) lassen, bedeutet weder, dass es sie in der menschlichen Lebenswelt (und zu dieser gehört auch die Wissenschaft) nicht gibt noch dass die neurobiologische Methodik defizitär ist. Vielmehr handelt es sich um zwei Ebenen, deren Beziehung zueinander ja gerade in Frage steht und 64 Referate keinesfalls als geklärt betrachtet werden kann. Insoweit gehören diese Fragen ebenso in das 21. Jahrhundert, wie sie in der Antike, in der Aufklärung und im zunächst romantischspekulativen, dann so fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert ihren Platz hatten. Abb. 16 und 17 Forensische Psychiatrie: „Prognoserelevante Faktoren“ • Empirische Forschung • Interdisziplinarität bei gleichzeitiger Nähe zur klinischen Psychiatrie • Aktive Beteiligung an der wissenschaftshistorischen und -theoretischen Debatte • Qualifizierte Weiter- und Fortbildung Forensische Psychiatrie: Quo vadis? • Kein Grund für Untergangsängste • Viele Gründe für intensivere empirische Forschung • Viele Gründe für kritische Selbstreflexion • Viele Gründe für eine intensivere Theoriedebatte 65 Referate Das Resümee meines Beitrages besteht aus zwei Teilen (s. Abb. 16 und 17): 1. Der Blick auf die „Prognose der forensischen Psychiatrie“, hier also für einmal nicht gemeint als Prognose für eine einzelne Person, sondern für das ganze Fach: Zunächst einmal brauchen wir einen weiteren stetigen Ausbau der empirischen Forschung, was nicht nur mit Ideen und Konzepten zu tun hat, sondern schlicht auch mit der Finanzierung. Dann müssen wir uns der Notwendigkeit interdisziplinären Arbeitens stärker bewusst werden, involviert sind medizinische, neurobiologische, psychologische, sozialwissenschaftliche und natürlich juristische Fachleute. Besonders hervorheben möchte ich an dieser Stelle noch einmal die Bedeutung einer aktiven Beteiligung der (forensischen) Psychiatrie an der laufenden wissenschaftstheoretischen Debatte um die Kernfragen des Faches. Und - last, but not least - die hohe Bedeutung einer qualifizierten Weiter- und Fortbildung. Auch hier hat es in den letzten Jahren bemerkenswert positive Entwicklungen gegeben. Und dass es dabei einer stetigen Weiterentwicklung bedarf, muss an dieser Stelle nicht näher ausgeführt und begründet werden. 2. Die (ein wenig prophetische) Frage nach dem „quo vadis“ der forensischen Psychiatrie: Hier sind aus meiner Perspektive keine Gründe erkennbar für Untergangsängste. Das Fach wird weder von „der Hirnforschung“ noch von der Neuropsychologie und auch nicht von den Sozialwissenschaften ernsthaft in Frage gestellt, wohl aber - vor allem von Seiten der Neurobiologie - kritisch angefragt und herausgefordert. Und dies zu Recht, denn schliesslich bedarf es einer produktiven Einordnung der zahlreichen rezenten Erkenntnisse über die Korrelation von neurobiologischen und psycho(patho)logischen Sachverhalten. Neben der schon erwähnten Notwendigkeit für mehr qualifizierte empirische Forschung in der forensischen Psychiatrie besteht auch eine solche für kontinuierliche und konsequente kritische Selbstreflexion. Dies meint zum Beispiel die Analyse der historischen und theoretischen Hintergründe vermeintlich so selbstverständlicher Begriffe wie Psychose oder Persönlichkeitsstörung. Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass dieser recht zügige Durchgang durch eine ganze Reihe von historischen wie aktuellen Brennpunkten unseres Faches Ihre Neugier an diesen Fragen weiter stimuliert hat und freue mich auf Ihre Diskussionsbeiträge. Herzlichen Dank zunächst für Ihre Aufmerksamkeit! Literatur Dieser Vortrag stellt die Weiterentwicklung von Gedanken dar, die in der folgenden Arbeit veröffentlicht worden sind: Hoff P (2005) Perspektiven der forensischen Psychiatrie - eine psychiatriehistorische und aktuelle Bestandsaufnahme. Nervenarzt 76: 1051 - 1061. Aus Platzgründen wird hier kein vollständiges Literaturverzeichnis aufgeführt. Vielmehr sei auf die Literaturangaben der genannten Arbeit verwiesen, die der Autor gerne auf Anfrage zur Verfügung stellt (siehe Referentenverzeichnis). 66 Referate Straf- und Maßregelvollzug - Probleme und Ergebnisse der Rückfallforschung Prof. Dr. Rudolf Egg 17 Meine sehr geehrten Damen und Herren! Zunächst einmal darf ich mich vielmals bedanken für die Einladung zu dieser Fachtagung über „Maßregelvollzug im Kreuzfeuer“. Ich bin sehr gerne nach Merzig gekommen und freue mich, heute bei Ihnen zu sein. Von den Veranstaltern wurde ich gebeten, etwas über das Thema „Straf- und Maßregelvollzug – Probleme und Ergebnisse der Rückfallforschung“ zu sagen. Die Frage nach der Rückfälligkeit von Straftätern wird in der Öffentlichkeit ja immer dann gestellt, wenn über einen spektakulären Einzelfall berichtet wird. Dies ist freilich für eine wissenschaftliche Stellungnahme kein besonders günstiger Zeitpunkt, weil sich ausgehend von Extremfällen kaum etwas über die Rückfälligkeit ganz allgemein sagen lässt. Ein besonders heftig diskutierter Fall ereignete sich im Jahre 1996: Damals verübte in Bayern ein Mann einen Sexualmord an dem kleinen Mädchen Nathalie. Der Täter war bereits im Jahre 1993 wegen eines Sexualdelikts verurteilt worden. Zwei Jahre später wurde er vorzeitig aus dem Strafvollzug auf Bewährung entlassen - mit günstiger Prognose und mit Zustimmung der JVA, obwohl gar keine Therapie durchgeführt worden war. Ein Jahr danach beging er diesen Mord und einige von Ihnen erinnern sich vielleicht noch an die sich daran anschließende z.T. sehr heftige kriminalpolitische Diskussion und an die Forderungen nach mehr Schutz vor gefährlichen Straftätern. Dabei wurde auch die Frage gestellt: „Wie rückfällig sind Sexualstraftäter?“ Und: „Wie rückfällig sind Verbrecher überhaupt?“ Ich will das Ganze hier zunächst einmal rein methodisch betrachten und zurückfragen, was denn das heißen soll: Rückfall. Nun, wenn Sie auf der Straße jemanden fragen: „Was ist denn rückfällig?“, dann wird er Ihnen vielleicht sagen: „Jede neue Straftat, die jemand begeht, der schon einmal verurteilt wurde, das ist ein Rückfall“. So weit, so gut. Das Problem dabei ist nur, dass wir gar nicht genau wissen, ob und welche Straftat oder Straftaten jemand begeht. Schließlich können wir immer nur einen Teil der verübten Straftaten erfassen. Der Grund dafür ist, dass es bei jedem Delikt ein so genanntes Dunkelfeld gibt, also Straftaten, die nicht angezeigt oder nicht entdeckt werden. Über diese Straftaten wissen wir nichts, jedenfalls im Allgemeinen nichts. Wie üblich wurde vor einigen Tagen vom Bundesinnenminister wieder einmal die Polizeiliche Kriminalstatistik des vergangenen Jahres vorgestellt.18 Diese bundesweite Statistik umfasst die polizeilich registrierten Fälle von Straftaten sowie Angaben zu 17 18 Kriminologische Zentralstelle e. V., Wiesbaden Siehe auch im Internet: www.bka.de 67 Referate Tatverdächtigen und Verbrechensopfern. Insgesamt ergaben sich dabei im Vergleich zum Vorjahr bei den Fallzahlen leichte Rückgänge (-3,6 %) bei manchen Delikten auch deutliche Rückgänge, z.B. beim Kfz-Diebstahl (-16,9 %) oder beim Handtaschenraub (-16,4 %). Einige Fallzahlen hatten aber auch eine ansteigende Tendenz, so die gefährliche und schwere Körperverletzung (+5,3 %). Zu lesen waren dazu sofort auch Kommentare von allen möglichen Seiten, wobei mir ein Kommentar aus den Reihen der Polizeigewerkschaft besonders aufgefallen ist. Sinngemäß hieß es da, dass man Straftaten gar nicht richtig statistisch erfassen könne. Außerdem steige das Dunkelfeld ständig. Da habe ich mich gefragt, woher denn dieser Sprecher weiß, dass das Dunkelfeld ständig steigt. Dieses ist ja definitionsgemäß im Dunkeln, man kann darum gar nicht wissen, ob es steigt oder fällt. Natürlich gibt es gewisse Zugangsmöglichkeiten zum Dunkelfeld, vor allem durch so genannte Dunkelfeld-Befragungen in der Bevölkerung. Dabei wird für einen bestimmten Zeitraum, meistens sind es 12 Monate, gefragt, wer Opfer welcher Straftat wurde, ob eine Anzeige erfolgte etc. Nachdem wir aber in Deutschland – anders als in anderen Ländern – keine solche regelmäßige Befragung von Personen durchführen, können wir auch über dieses Dunkelfeld keine verlässlichen Zahlen angeben. Und selbst wenn wir eine regelmäßige Opferbefragung in Deutschland hätten, wüssten wir auch nicht hundertprozentig Bescheid. Zum einen gibt es ja sog. opferlose Delikte, z.B. in der Drogen- und Wirtschaftskriminalität, die über Bevölkerungsumfragen kaum erfassbar sind. Aber auch bei Delikten mit persönlichen Opfern kann ein Geschädigter oder Verletzter nicht immer sicher wissen, ob das, was er als Straftat erlebt hat, später, wenn er es angezeigt hätte, tatsächlich zu einer Verurteilung des Verdächtigen geführt hätte. Außerdem ist es keineswegs sicher, dass jemand bei einer solchen Befragung etwas angibt, was er vorher nicht der Polizei gemeldet hat. Man spricht darum auch von dem so genannten doppelten Dunkelfeld, also von Straftaten, die weder durch Anzeigen noch durch wissenschaftliche Umfragen erfassbar sind. Jede neue Straftat, das wäre sicher die einfachste Definition für Rückfall, aber die kennen wir eben nicht oder nicht genau. „Na gut“, werden Sie sagen, „dann meinetwegen jede angezeigte neue Straftat“. Das wäre doch eine mögliche Definition. Das ist im Prinzip sicher richtig, aber wenn Sie in die Statistiken von Polizei und Justiz schauen, werden Sie feststellen, dass von den Personen, die die Polizei als tatverdächtig identifiziert, keineswegs jeder später auch gerichtlich verurteilt wird. Genau genommen ist dies sogar nur bei einer Minderheit der Verdächtigen der Fall. Im Jahre 2003 waren es nur etwa drei von zehn Tatverdächtigen, die später gerichtlich verurteilt wurden. „Wie denn dies?“, werden Sie jetzt vielleicht fragen. Das hat mehrere Gründe. Zunächst stellt bereits die Staatsanwaltschaft, die von der Polizei einen Tatverdächtigen geliefert bekommt, in ¼ der Fälle das Ermittlungsverfahren wieder ein – wegen zu geringem Tatverdacht oder wegen Geringfügigkeit des Delikts. Der Rest – ¾ der Fälle – ist anklagefähig, doch wird nur etwa die Hälfte tatsächlich angeklagt, bei den anderen wird von der Erhebung der öffentlichen Klage unter Auflagen oder Weisungen abgesehen. Dies bedeutet zwar, dass die Angelegenheit für den Betreffenden nicht folgenlos ist, er kann z.B. zur Schadenswiedergutmachung oder zu einer gemeinnützigen Leistung verpflichtet werden, aber er wird eben nicht verurteilt und gilt dann auch nicht als vorbestraft. Diese so genannte Diversion, also die Vermeidung einer Verurteilung in weniger schweren Fällen, ist rechtspolitisch gewollt und sicher auch sinnvoll. Für die Definition von Rückfälligkeit eignet sich aber der Bezug auf alle angezeigten Fälle leider nicht oder nur begrenzt, eben wegen dieses mehrstufigen strafrechtlichen Ausfilterungsprozesses. 68 Referate Ausgehend von diesen Überlegungen ergibt sich nun als dritte Definitionsmöglichkeit des Rückfalls die Bezugnahme auf jede neue Verurteilung. Dagegen ließe sich aber einwenden, dass damit die Gefahr einer Unterschätzung der tatsächlich begangenen neuen Straftaten verbunden ist. So könnte ja jemand nur deshalb als legalbewährt, also als nicht rückfällig eingestuft werden, weil ihm eine neue Straftat lediglich nicht hinreichend nachgewiesen werden konnte. Dieser Nachteil wird freilich durch den großen Vorteil einer juristisch sauberen, „wasserfesten“ Begrenzung auf gerichtlich geprüfte Tatbestände ausgewogen. Allerdings könnte selbst diese vergleichsweise enge Definition noch zu weit gefasst sein, nämlich dann, wenn man unter Rückfall eine Wiederholung gleicher oder ähnlicher Straftaten wie in der Vergangenheit verstehen möchte. So wird man einen früher wegen Vergewaltigung oder schweren Raubes Verurteilten, der nach seiner Entlassung wegen eines Ladendiebstahls verurteilt wird, wohl schwerlich als „rückfällig“ bezeichnen wollen, wenn er ansonsten straffrei bleibt. Dies führt uns zu einer vierten Definitionsmöglichkeit: Jede neue Verurteilung wegen einer einschlägigen, also einer ähnlichen Straftat. Allerdings kommen Sie dann zu einer neuen Frage, nämlich: „Was soll „einschlägig“ heißen?“. Will man sich dabei strikt am Straftatenkatalog des Strafgesetzbuches orientieren, soll es eher um kriminologisch verwandte Deliktsgruppen gehen oder sollen gar klinische Kategorien maßgeblich sein? Wie sich leicht zeigen lässt, kommt man auf diese Weise zu unterschiedlichen Fallgruppen und somit auch zu ungleichen Bewertungen des Rückfalls. Manche Rückfalldefinitionen berücksichtigen auch die Deliktschwere, meist definiert durch die Art und Höhe der neuerlich verhängten Sanktion. Für den Straf- und Maßvollzug etwa könnte als „hartes“ Kriterium gelten, von einem Rückfall (im eigentlichen Sinne) nur dann zu sprechen, wenn die erneute Straftat wieder zu einer stationären Sanktion geführt hat. Da sich diese Einschränkung auch mit der Beurteilung der zuvor genannten Einschlägigkeit der Rückfalltat kombinieren lässt, gelangt man leicht zu weiteren Rückfalldefinitionen. Wie Sie sehen, ist die Beantwortung dieser Definitionsfrage gar nicht so leicht. Und es gibt sicher noch weitere Möglichkeiten der Eingrenzung. Was man z.B. auch nicht vergessen sollte, ist der Rückfallzeitraum. Wie lange also soll das Intervall sein von der früheren Sanktion zu der neuerlichen? So lange wie möglich, würden vermutlich die meisten darauf antworten. aber ganz so einfach ist das nicht. Zum einen kann man nicht beliebig lange im Bundeszentralregister nach neuen Verurteilungen suchen, weil es ja gesetzliche Tilgungsfristen gibt. Insbesondere die leichteren Fälle, bei denen schon nach fünf Jahren eine Tilgung erfolgt, gehen leicht verloren, wenn man sehr lange Zeiträume berücksichtigen will – es sei denn, man würde regelmäßig das Register abfragen, aber abgesehen von dem riesigen Aufwand würde dies auch datenschutzrechtliche Probleme ergeben. Zum zweiten: Wenn Sie einen sehr langen Zeitraum wählen, ist zu fragen, ob es noch etwas mit der Qualität des Straf- oder Maßregelvollzuges zu tun, wenn jemand z.B. zehn Jahre nach der Entlassung wieder ein schweres Delikt begeht. Kann man dann wirklich noch sagen: „Den hätte man doch besser therapieren müssen!“ Nein, das ist wahrscheinlich eher eine Frage der Nachsorge oder eine Folge seiner neuen, geänderten Lebensumstände und damit verbundener Krisen. Über den Erfolg einer stationären Unterbringung lässt nach einem so langen Zeitraum doch eigentlich nichts mehr zuverlässig aussagen. 69 Referate Und noch etwas anderes: Die vielen sicher bekannte umfangreiche Studie zur Evaluation von sozialtherapeutischen Anstalten in Deutschland, die vom Max-Planck-Institut in Freiburg durch Herrn Ortmann durchgeführt wurde, hat in den 80-er Jahren begonnen und im Jahr 2001 den Abschlussbericht abgeliefert. Zu diesem Zeitpunkt hatte eine der zwei Anstalten, um die es ging, nämlich die Anstalt in Düren, gar nicht mehr existiert. Die Studie war also gewissermaßen zu einer historischen Arbeit geworden. Anders gesagt führt die Berücksichtigung sehr langer Rückfallzeiträume unter Umständen zu Aussagen, die sich auf therapeutische Konzepte beziehen, die gar nicht mehr bestehen. Wegen dieser vielfältigen Probleme gehen die meisten Rückfallstudien eher pragmatisch vor: Man legt z.B. einen Risikozeitraum von drei bis fünf Jahren zu Grunde, bezieht sich ausschließlich auf neue Verurteilungen und Registereintragungen und kann dann noch unterscheiden nach neuen und stationären oder neuen und ambulanten Sanktionen sowie nach einschlägigen oder nicht einschlägigen Delikten. Die Sache ist zwar kompliziert, aber nicht völlig unlösbar. In der Kriminologie sind Rechtpflegestatistiken, also Polizei- und Justizstatistiken, unverzichtbare Bezugsquellen. Leider fehlt dabei eine Rückfallstatistik, die regelmäßig geführt wird. Denn das, was uns die übrigen Statistiken liefern, ist zwar interessant, sagt aber über die Rückfälligkeit wenig. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die jährlich vom Bundeskriminalamt vorgelegt wird, zeigt uns beispielsweise die Verteilung der registrierten Straftaten, also: „Welche Delikte werden am häufigsten polizeilich registriert?“ Hier ergibt sich sehr beständig, dass zum Beispiel Tötungsdelikte nur einen sehr kleinen Anteil an der Gesamtkriminalität ausmachen. Auch der prozentuale Anteil der Sexualdelikte ist sehr viel kleiner, als dies die Allgemeinheit befürchtet. Mit der PKS kann man auch Zeitreihen aufstellen. Für den sexuellen Kindesmissbrauch ergibt sich dabei etwa, dass die Häufigkeitszahlen, das sind die Fallzahlen relativiert auf 100.000 Einwohner, nicht ständig ansteigen, sondern seit den 1950-er Jahren deutlich zurückgegangen sind. Über den Grund dafür, ob das etwa an Veränderungen im Dunkelfeld oder am Anzeigeverhalten liegt, sagt diese Statistik natürlich nichts aus. Bei den sexuellen Gewaltdelikten ist die Situation ein bisschen anders: Da haben wir zwar auch Rückgänge (seit 1980), doch seit 1997/1998 gibt es einen Anstieg, der aber höchstwahrscheinlich mit Gesetzesänderungen zu tun hat. Sie alle wissen wahrscheinlich, dass man damals auch die Vergewaltigung in der Ehe oder die gleichgeschlechtliche Vergewaltigung sanktioniert hat. Von daher war hier auch mit höheren Fallzahlen zu rechnen. Beim Sexualmord, der ja in der öffentlichen Diskussion eine besonders große Rolle spielt, zeigen sich übrigens seit den 70er Jahren deutlich rückläufige Tendenzen. Auch in der allerneuesten Statistik setzte sich dieser Trend der Vorjahre fort. Aus der PKS lässt sich auch ersehen, wie sich die Tatverdächtigen nach dem Geschlecht und dem Alter verteilen. Bei den sexuellen Gewaltdelikten etwa ergibt sich, dass bei den 14-16 und bis 25-jährigen die Belastungszahlen der Tatverdächtigen – also die Zahlen pro 100.000 der jeweiligen Altersgruppe – sehr viel höher sind als bei den über 30-/40- oder gar über 50jährigen. So interessant solche und ähnliche statistische Angaben auch sein mögen, über den Rückfall sagen sie uns leider nichts. Wir können zwar indirekt daraus schließen, dass die 70 Referate Rückfälligkeit nicht so extrem hoch sein kann, wie dies viele befürchten, dass also nicht immer alles nur schlechter wird. Aber wenn wir etwa wissen wollen, wie rückfällig ist denn die Gruppe der aus dem Straf- oder Maßregelvollzug Entlassenen, dann erfahren wir aus diesen Statistiken dazu nichts. Dafür bräuchten wir eine Rückfallstatistik, die regelmäßig durchgeführt wird. Vor wenigen Jahren hätte ich an dieser Stelle noch sagen müssen, so etwas gibt es nicht in Deutschland. Jetzt kann ich sagen, es gibt zumindest eine Pilotstudie, die vom Bundesjustizministerium im Jahr 2003 veröffentlicht wurde und von den Professoren Jehle in Göttingen und Heinz in Konstanz erstellt wurde. Sie können diese Statistik übrigens kostenlos aus dem Internet downloaden. „Googlen“ Sie dazu einfach unter den Begriffen „Rückfallstatistik“ und „BMJ“. Sie gelangen dann zu einer PDF-Datei des Bundesjustizministeriums. Was wurde bei dieser Rückfallstatistik gemacht? Wie sind die Forscher vorgegangen? Jehle und Heinz gingen von dem Bezugsjahr 1994 aus und haben alle Personen in Deutschland, bei denen in diesem Jahr eine ambulante Sanktion rechtskräftig oder eine stationäre Sanktion beendet wurde, in die Untersuchungsgruppe einbezogen. Warum diese Unterscheidung – Rechtskraft und Entlassung? Das musste man machen, damit man einen Zeitraum hat, für den alle Personen die gleiche oder gleich lange Chance hatten, sich egal zu bewähren oder rückfällig zu werden. Und das geht eben nur mit einer solchen Aufteilung. Die 1994 rechtskräftig gewordene oder beendete Sanktion nannte man die Bezugsentscheidung. Als nächstes wurde für die Bestimmung der Rückfälligkeit bzw. der Legalbewährung ein Beobachtungszeitraum von vier Jahren gewählt. Alle für die Bezugsgruppe bis 1998 erfolgten Neueintragungen im Bundeszentralregister sind die sog. Folgeentscheidungen. Die Darstellung der Ergebnisse dieser Statistik erfolgt immer in der gleichen Weise: Im unteren Teil einer Grafik steht immer die jeweilige Bezugsentscheidung, z.B. Freiheitsstrafe ohne Bewährung, Freiheitsstrafe mit Bewährung, Jugendstrafe, ohne Jugendstrafe mit Bewährung, Geldstrafe, sonstige JGG-Entscheidungen. In den Säulen darüber stehen dann die Folgeentscheidungen: Die dunklen Anteile meinen eine stationäre Folgeentscheidung, die dunkelgrauen eine ambulante Folgeentscheidung und die hellen keine Folgeentscheidungen. Dabei ergibt sich z.B. ein besonders günstiges Ergebnis, wenn die Bezugsentscheidung eine Geldstrafe war – nur 30 % Folgeentscheidungen! Jugendstrafe ohne Bewährung steht dagegen am schlechtesten da: fast 80 % neue Entscheidungen, über 40 % neue stationäre Sanktionen. Was man damit natürlich nicht machen darf, ist dies, dass man diese Unterschiede einfach kausal interpretiert. Damit könnte man nämlich auf die Idee kommen: „Warum denn noch stationäre Sanktionen verhängen, da ist doch die Rückfälligkeit viel höher als bei den Geldstrafen.“ Das geht natürlich nicht, denn die Voraussetzung für die Verhängung einer Geldstrafe ist ja eine ganz andere als die für eine Freiheitsstrafe. Auch die Aussetzung einer Strafe zur Bewährung, setzt ja (unter anderem) eine günstige Prognose voraus. Wenn nun, und das zeigt die Studie von Jehle und Heinz, die Legalbewährung bei ausgesetzten Freiheitsstrafen günstiger ist als bei vollstreckbaren, dann bedeutet dies vor allem, dass diese Prognose zutreffend war – leider aber auch, dass der Strafvollzug mit seinen begrenzten Mitteln kaum in der Lage war, daran etwas zu ändern. Eine andere Grafik von Jehle und Heinz zeigt, dass Folgeentscheidungen, also die Rückfälligkeit, auch sehr stark von den Delikten abhängen, die in der Bezugsentscheidung eine Rolle gespielt haben. Die Basisrate des Rückfalls für alle Delikte des gesamten Jahrgangs 71 Referate 1994 betrug rd. 36 %. Für einzelne Deliktsgruppen ergeben sich teils höhere, teils niedrigere Werte. So ist der Wert bei den gewaltsamen Sexualdelikten mit rd. 40 % etwas höher als der Grundwert für alle Gruppen. Bei den Tötungsdelikten ist die Rate dagegen niedriger. Dies hat vermutlich zwei Gründe: Zum einen sind nach Tötungsdelikten meist sehr lange Haftzeiten zu verbüßen, in denen die Personen älter und damit meist auch weniger gefährlich werden. Zum anderen finden sich bei Mord und Totschlag viele so genannte „Beziehungsdelikte“, d. h. hier war das Tötungsdelikt Ausdruck nicht einer dauerhaften Störung oder Gewaltneigung, sondern Ergebnis einer speziellen, einmaligen lebensbelastenden Situation, die sich dann später eben nicht mehr wiederholt. Darum gibt es auch keinen Rückfall. Anders ist dies bei schwerem Diebstahl, Raub und Erpressung. Die hier festgestellten relativ hohen Rückfallraten hängen vermutlich damit zusammen, dass die in der Vergangenheit gezeigte Kriminalität eher Ausdruck einer allgemein dissozialen, kriminellen Lebensführung war, die nach der Entlassung offenbar oft wieder aufgenommen wird. Darum ist hier mit höheren Rückfallraten zu rechnen. Ein anderer sehr deutlicher Effekt, den diese Rückfallstatistik zeigt, der aber aus kriminologischer Sicht nicht sehr überraschend ist, ist die offensichtliche Altersabhängigkeit des Rückfalls. Also: Je älter jemand bei der Verurteilung oder der Bezugsentscheidung ist, desto geringer ist die Rückfallrate. Spannend ist natürlich auch die Frage möglicher Unterschiede zwischen einzelnen Vollzugsformen. Stellt man einmal die drei stationären Maßregeln, also psychiatrisches Krankenhaus, Entziehungsanstalt und Sicherungsverwahrung, sowie die Führungsaufsicht als ambulante Maßregel gegenüber, so zeigen sich besonders hohe Rückfallwerte bei der Entziehungsanstalt, recht niedrige Raten beim psychiatrischen Krankenhaus. Freuen Sie sich nicht zu früh darüber, der Nachteil dieser Auflistung ist nämlich, dass Jehle und Heinz nur die Daten des Bundeszentralregisters zur Verfügung hatten. Daraus lässt sich aber nicht feststellen, ob jemand tatsächlich im Maßregelvollzug war und wie lange er dort war. Die Forscher konnten also sozusagen nur feststellen, ob im Urteil § 63 StGB angeordnet wurde. Wenn der Maßregelvollzug aber nun primär ausgesetzt wurde, was ja möglich ist und offenbar in nicht wenigen Fällen geschieht, dann war der Betreffende keinen einzigen Tag in der Maßregelklinik – und das sind womöglich die günstigeren Fälle, die zu diesem Ergebnis führten. Um zu wissen, wie der Rückfall nach einer Entlassung aus einem psychiatrischen Krankenhaus aussieht, muss man also genauer nachschauen und neben Registerdaten auch andere Quellen, insbesondere Strafakten oder Unterlagen der Kliniken, heranziehen. Damit komme ich zu meinem zweiten Teil, der Rückfallstudie der Kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden: Diese bundesweit angelegte Studie wurde in den Jahren 1996 bis 2001 durchgeführt. Sie befasste sich mit der Rückfälligkeit von Personen, die im Jahre 1987 wegen einer Sexualstraftat verurteilt worden waren bzw. aus Anlass eines solchen Delikts eine Maßregelanordnung erhielten. Wir bildeten dazu mehrere Stichproben zu unterschiedlichen Deliktsgruppen – Kindesmissbrauch, sexuelle Gewalt, sexuelle Belästigung, Maßregelvollzug, DDR-Urteile usw. Neben Daten des Bundeszentralregisters werteten wir insgesamt fast 800 Verfahrensakten aus ganz Deutschland aus. Der Fokus der Studie galt folgenden Fragen: Wer wurde wann und wie oft rückfällig? Wie lassen sich Rückfällige von Nichtrückfälligen unterscheiden? Welche Rolle spielen unterschiedliche Deliktsformen und unterschiedliche Sanktionen für den Rückfall? Was sind Risikofaktoren des Rückfalls? 72 Referate Wegen der Kürze der Zeit kann ich Ihnen hier nur ein paar wenige Ergebnisse vortragen. Für weitere Informationen darf ich Sie auf unsere diesbezüglichen Veröffentlichungen hinweisen, über die Sie unsere Website ausführlich informiert.19 Eine zentrale Aussage der Studie, die man sich auch leicht merken kann, lautet, dass die Basisrate des Rückfalls für die beiden Hauptgruppen, also sexueller Kindesmissbrauch und sexuelle Gewaltdelikte, bei einem Risikointervall von sechs Jahren etwa 20 % beträgt. Rückfall wurde hier wie in der Studie insgesamt definiert als neue, einschlägige Sexualstraftat mit Verurteilung und Registereintrag Im Beobachtungszeitraum. Wir haben dabei natürlich peinlich genau darauf geachtet, dass nicht „Äpfel mit Birnen verglichen“ wurden, dass also alle Probanden die gleiche Chance hatten, in dem von uns gewählten Zeitraum von sechs Jahren rückfällig zu werden. Haftzeiten, etwa nach Bewährungswiderrufen, wurden entsprechend berücksichtigt. Bei denjenigen Personen, die wegen exhibitionistischer Handlungen verurteilt worden waren, zeigte sich dagegen eine sehr viel höhere Rückfälligkeit von über 55 %. Bei den drei genannten Deliktsgruppen waren übrigens die im Rückfall begangenen Straftaten den früheren weitgehend ähnlich. Eine Progredienz, d.h. eine Steigerung der Tatschwere, ergab sich also nur in seltenen Fällen. Eine andere Auswertung bezog sich auf die Rückfallgeschwindigkeit, also den Zeitpunkt der Tatbegehung, gerechnet ab dem Beginn des Risikozeitraums von sechs Jahren. Bei den Kindesmissbrauchern etwa beging über die Hälfte derjenigen, die rückfällig werden, bereits in den ersten zwei Jahren das erneute Sexualdelikt. Dies ist an sich nicht überraschend, sondern entspricht Befunden der allgemeinen Rückfallforschung. Rückfälle ereignen sich – wenn überhaupt – meist relativ rasch. Eine Besonderheit aber ist, dass bei unserer Stichprobe etliche Rückfälle erst nach fünf oder sechs Jahren erfolgten. Und ich nehme an, dass wir dann, wenn wir einen noch längeren Zeitraum hätten prüfen können, auch später noch neue (erste) Rückfälle festgestellt hätten. Solche verzögerten oder späten Rückfälle sind offenbar bei Sexualstraftätern eher zu finden als bei anderen Tätergruppen – ein nicht uninteressanter Befund für Maßnahmen der Nachsorge oder Bewährungshilfe. Wir haben bei unserer Studie übrigens auch Rückfälle, die aus dem Vollzug heraus erfolgten, erfasst; bei den Kindesmissbrauchern waren dies 5 % aller Rückfälle. Dabei dürfte es sich Vorfälle im Rahmen von Lockerungen handeln. Bei einer reinen Katamnese-Untersuchung, etwa von ehemaligen Patienten einer Maßregelklinik, würde man solche Fälle normalerweise weglassen, weil die Behandlung ja noch nicht abgeschlossen war. Unsere Studie befasste sich aber mit der Rückfälligkeit bestimmter Tätergruppen, unabhängig von Art und Abschluss einer Behandlung. Deshalb war es notwendig, auch solche Rückfälle, die sich noch während des Vollzuges ereigneten, mit zu erfassen. Eine weitere interessante Aufteilung berücksichtigt das Alter der Straftäter beim ersten Delikt. Ähnlich wie bei der allgemeinen Rückfallstatistik von Jehle und Heinz fanden auch wir eine deutliche Altersabhängigkeit des Rückfalls: diejenigen Sexualstraftäter, die bereits in sehr jungen Jahren sexuell auffällig wurden, hatten eine deutlich höhere 19 www.krimz.de 73 Referate Rückfallwahrscheinlichkeit als jene, die erst im Erwachsenenalter, also ab dem 22. Lebensjahr, Sexualdelikte begangen hatten. Der einschlägige Rückfall bei den jungen Straftätern lag bei knapp 30 %, also deutlich über der erwähnten Basisrate von 20 %. Bei den älteren Sexualstraftätern war die einschlägige Rückfälligkeit mit rd. 16 % nur etwa halb so groß wie die der Jüngeren. Ein anderer aufschlussreicher Punkt ist die Frage der Täter-Opfer-Beziehung. Wir haben dabei zwischen „Innerfamiliären Tätern“, also solchen, deren Opfer aus der eigenen Familie, aus der eigenen sozialen Umgebung kommen, und „Außerfamiliären Tätern“, also Täter mit fremden Opfern, unterschieden. Im ersten Fall lag die Rate des einschlägigen Rückfalls mit knapp 6 % weit unter der Basisrate, in der zweiten Gruppe mit rd. 24 % deutlich höher. Der Grund dürfte sein, dass die pädosexuelle Neigung bei außerfamiliären Tätern ausgeprägter, stärker, dauerhafter ist als bei innerfamiliären. Eine noch höhere Rückfallrate findet sich bei sog. „Hands-Off-Tätern“, also Missbrauchern ohne Körperkontakt zu den Kindern. Dabei handelt es sich überwiegend um Personen, die exhibitionistische Handlungen vor Kindern begehen. Die höhere Rückfallneigung der Exhibitionisten bestätigt sich also auch hier. Natürlich wollten wir auch wissen: Wie sieht der Rückfall nach dem Maßregelvollzug aus? Wir haben hier zunächst alle Fälle „gezogen“, bei denen im Bezugsjahr 1987 aus Anlass eines Sexualdelikts eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet wurde. Insgesamt waren dies damals 140 Personen, von denen wir in 126 Fällen die Akten einsehen konnten, davon 11 Sicherungsverwahrte. Betrachtet man dabei die Fälle der therapeutischen Maßregeln nach §§ 63, 64 StGB, dann ergibt sich das in der Tabelle gezeigte Bild. Tabelle: Rückfall nach Maßregelvollzug gem. §§ 63, 64 StGB Art der Anordnung Einschlägiger Rückfall Einschlägiger Rückfall Gesamtgruppe (N=115) Bereinigte Gruppe (N=71) § 64 StGB 25,0 % ( 6 von 24) 15,0 % ( 3 von 20) § 63 StGB gesamt 29,7 % (27 von 91) 35,3 % (18 von 51) § 63 StGB mit Bewährung 46,1 % (12 von 26) 26,3 % ( 5 von 19) § 63 StGB ohne Bewährung 23,1 % (15 von 65) 40,6 % (13 von 32) Für die Gesamtgruppe, also 115 Fälle, zeigt sich, dass die Rückfälligkeit der – wenigen – 64er Fälle 25% beträgt. Beim psychiatrischen Maßregelvollzug ist die Rückfälligkeit bei den Fällen mit Bewährung, das sind jene Fälle, bei denen das Gericht die Maßregel zwar anordnet, aber deren Vollstreckung zunächst aussetzt, erstaunlicherweise doppelt so groß wie bei den Fällen ohne Bewährung. Wie ist das zu erklären? Die Lösung zeigt die rechte Spalte der Tabelle. Man muss nämlich für einen fairen Vergleich der Rückfallraten gleich große Risikozeiträume wählen. Bei der Gesamtgruppe in der linken Spalte war dies nicht der Fall. Hier waren die 63er Fälle mit Bewährung wesentlich länger in Freiheit als die teilweise sehr lange im Vollzug Einsitzenden ohne Bewährung. Daraus ergibt sich natürlich eine größere 74 Referate Möglichkeit oder ein größeres Risiko für erneute Straftaten. Legt man dagegen einen für alle Personen fixen Zeitraum zu Grunde – hier waren es drei Jahre – dann wandelt sich das Bild. Bei der von uns als „Bereinigte Gruppe“ bezeichneten Stichprobe ist die Rückfälligkeit der Fälle ohne Bewährung deutlich höher (40 %) als bei den Fällen mit Bewährung. Dieser Wert ist freilich recht hoch, vermutlich höher als bei anderen aus dem Maßregelvollzug entlassenen Personen, zumindest legt dies ein Vergleich mit der Rückfallstatistik von Jehle und Heinz nahe. Sexuelle Devianz, die zu einer Unterbringung im psychiatrischen Maßregelvollzug geführt hat, scheint auch bei günstiger Entlassungsprognose – und nur dann ist ja eine Entlassung möglich – mit nicht geringen Rückfallrisiken verbunden zu sein. Dies ist bei den § 64 StGB-Patienten offenbar anders. In diesen Fällen ist Hintergrund des Bezugsdelikts primär eine Suchtproblematik, nicht eine sexuelle Abweichung. Nach unseren Ergebnissen sind die Chancen für eine erfolgreiche Behandlung in solchen Fällen günstiger. Wenn man Rückfallforschung betreibt, gibt es sehr viele Fallen und Stolpersteine, die man beachten muss, um zu klaren Aussagen zu kommen. Es ist darum gut, Statistiken, da man liest, nicht blind zu vertrauen. Man sollte sich zunächst stets fragen: Was ist der eigentliche Hintergrund der Ergebnisse? Was sagen diese Zahlen aus und was nicht? Im letzten Teil meines Vortrages möchte ich noch kurz auf einen anderen Aspekt zu sprechen kommen, nämlich auf die Frage der Behandlung von Sexualstraftätern im Rahmen von Maßregeln der Besserung und Sicherung. Wenn wir heute von Maßregeln sprechen, meinen wir fast ausschließlich das psychiatrische Krankenhaus und die Entziehungsanstalt, bei kriminalpolitischen Diskussionen allerdings noch sehr viel mehr die Sicherungsverwahrung. Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen wurden ja in den letzten Jahren mehrfach verändert bzw. verschärft. Sicherungsverwahrung kann nun auch mit Vorbehalt oder auch erst nachträglich angeordnet werden, wenn im Vollzug neue Tatsachen erkennbar werden, die „auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen“ (§ 66b StGB). Seit einiger Zeit wird auch über einen Gesetzantrag diskutiert, der es zukünftig ermöglichen soll, Sicherungsverwahrung auch schon bei Ersttätern anordnen zu können. Dabei gilt Sicherungsverwahrung eigentlich als ein Mittel der „ultima ratio“, der letzten Vernunft also, wenn alle anderen Maßnahmen versagt haben. Sollte dieses Gesetz tatsächlich kommen, dann bin ich auf die Gutachten und Urteilsbegründungen gespannt. Wie will man bei einem Straftäter bereits bei einem ersten schweren Delikt, dessen Hintergrund auch keine die Schuldfähigkeit vermindernde psychiatrische Störung ist - sonst könnte man ja den § 63 StGB diskutieren und anordnen - zu einer Stellungnahme kommen, die es rechtfertigt, diese schwerste und zeitlich unbestimmte Sanktion anzuordnen? Ich kann mir da kaum Fälle oder Fallkonstellationen vorstellen, aber die gegenwärtige kriminalpolitische Diskussion geht offenbar immer mehr in diese Richtung der Schließung so genannter Sicherheitslücken. In den 60er Jahren gab es einmal den Vorschlag, Sicherungsverwahrung dürfe nur dann angeordnet werden, wenn der Versuch, die Gefährlichkeit eines Täters durch Therapie zu beeinflussen, endgültig als gescheitert anzusehen ist. Davon ist heute nichts mehr zu hören. Und auch nichts mehr zu hören ist von einer Idee, die von 1969 bis 1984 sogar schon einmal im StGB stand, ohne jedoch jemals in Kraft zu treten, nämlich die Anordnung der Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt als dritte therapeutische Maßregel der 75 Referate Besserung und Sicherung (§ 65 StGB). Dabei war diese Regelung inhaltlich gar nicht so schlecht gedacht. Vorgesehen war die Anordnung dieser Maßregel für vier Fallgruppen: • Rückfalltäter mit schweren Persönlichkeitsstörungen, damit waren voll schuldfähige Täter gemeint, die aber eine schwere Störung hatten, • Sexualstraftäter mit ungünstiger Prognose, • jungerwachsene Hangtäter, gemeint waren Personen bis zu 27 Jahren mit zwei Vorstrafen und ungünstiger Prognose, • Personen mit verminderter Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit, dann, wenn die Sozialtherapie günstiger erscheint als das psychiatrische Krankenhaus. Bei dieser vierten Gruppe handelt es sich offenbar genau um jene Gruppe, über die der psychiatrische Maßregelvollzug heute sehr häufig klagt, weil sie mit den Mitteln eines psychiatrischen Krankenhauses weniger gut erreichbar ist als mit denen einer sozialtherapeutischen Institution. Weil die Länder damals aber nicht bereit waren, die für die Umsetzung des Gesetzes erforderlichen sozialtherapeutischen Anstalten zu bauen, zu finanzieren, wurde der § 65 StGB im Jahre 1984 wieder aus dem Gesetz gestrichen. Als kleinen Ersatz für diese Streichung hatte man im Strafvollzugsgesetz einen Paragraph geschaffen, der eine freiwillige Möglichkeit der Verlegung in eine sozialtherapeutische Einrichtung eröffnet (§ 9 StVollzG). Gefangene können danach auf eigenen Wunsch verlegt werden, wenn „die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen“ einer solchen Anstalt zur Resozialisierung angezeigt sind. Allerdings folgt aus dieser Bestimmung kein Anspruch auf eine sozialtherapeutische Behandlung. Ein Gefangener kann also nicht verlangen, dass er verlegt wird und die Länder hatten auch keine Verpflichtung zur Schaffung von sozialtherapeutischen Behandlungsplätzen. Eine Wende brachte erst der zu Beginn meines Vortrages erwähnte Fall „Nathalie“. Die danach entstandene kriminalpolitische Diskussion führte im Jahre 1998 zu einem Gesetzespaket unter der Bezeichnung „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und anderen gefährlichen Straftaten“. Damit wurde ins Strafvollzugsgesetz, und zwar wiederum in § 9 (neuer Abs. 1), zusätzlich zur weiterhin bestehenden Freiwilligkeitslösung der Sozialtherapie – also ein Gefangener kann sich melden und wird bei Eignung und einem vorhandenen Therapieplatz aufgenommen – eine Verpflichtungsmöglichkeit aufgenommen, die 2003 in Kraft trat. Seither sind Sexualstraftäter mit Freiheitsstrafen über zwei Jahren regelmäßig in eine sozialtherapeutische Einrichtung zu verlegen. Dieses Gesetz hat nun die Länder gezwungen, zusätzliche sozialtherapeutische Plätze im Strafvollzug einzurichten. Tatsächlich stieg die Zahl der in sozialtherapeutischen Einrichtungen befindlichen Sexualstraftäter beträchtlich: Von knapp 200 im Jahre 1997, also vor dem neuen Gesetz, auf weit über 1.000 Insassen in diesem Jahr. Die Zahl der Einrichtungen wuchs von 20 auf jetzt 43. Über die Ergebnisse der sozialtherapeutischen Behandlung gibt es verschiedene Evaluationsstudien – schon seit den 80er Jahren. Insgesamt lässt sich ein zwar nicht sehr großer, aber doch beständiger Haupteffekt von etwa 10 bis 13 % feststellen. Dies bedeutet etwa, dass sich die Rückfallwahrscheinlichkeit um ca. 10 Prozentpunkte gegenüber nicht behandelten Tätern reduziert. Das ist zwar nicht überragend hoch, doch die Ergebnisse werden besser, wenn es sich um eine so genannte „angemessene“ Therapie handelt, bei der 76 Referate die für die Behandlung von Straftätern wesentlichen Prinzipien nach Andrews (1990) beachtet werden. Dies sind: „Risiko“ (also: intensivere Behandlung für Täter mit größerem Rückfallrisiko), „Bedürfnisse“ (Behandlung soll an den Ursachen der Straffälligkeit ansetzen) und „Ansprechbarkeit“ (Therapie soll die sich an den individuellen Möglichkeiten der Täter für eine Therapie ausrichten). Eine Steigerung des Erfolgs ergibt sich auch, wenn nach der Entlassung geeignete Nachsorgemaßnahmen zur Verfügung stehen. Auch wenn es unpopulär und überholt erscheinen mag, plädiere ich dafür, dass man die Maßregellösung der Sozialtherapie vielleicht doch einmal wieder ins Blickfeld rückt. Es müsste ja nicht der alte § 65 StGB sein, aber vielleicht eine Regelung, die weniger formal und starr ist als die jetzige Vollzugslösung und die auch dem psychiatrischen Maßregelvollzug die Chance einer Überleitung geeigneter Patienten eröffnet. Dies erscheint mir jedenfalls angemessener und ertragreicher zu sein als immer nur zu überlegen, ob und wie man den Weg der Sicherungsverwahrung, also des bloßen Wegsperrens, weiter ausbauen kann. Mit einer vernünftigen Klassifikation von Behandlungsoptionen, die neben dem psychiatrischen Krankenhaus und der Entziehungsanstalt auch eine richterlich angeordnete Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt im Strafvollzug vorsieht und mit einer entsprechenden Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Behandlungsarten könnten wir aus meiner Sicht den Problemen dieser schwierigen rückfallgefährdeten Personen und letztlich auch unserem Bestreben nach mehr Sicherheit vielleicht eher entsprechen als mit dem einseitigen und starren Blick auf die Frage „Wen können wir denn wann und wie in die Sicherungsverwahrung schicken?“. Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit. 77 Referate Maßregelvollzug – Rückblick und Vision Dr. jur. Thomas Wolf 20 Ich danke für die Einladung und hoffe, dass ich ein paar weitere Aspekte, zum Teil verknüpft mit dem, was schon gesagt wurde, zum Teil vielleicht aber auch etwas Neues, beitragen kann. Der Rückblick, zu dem ich aufgefordert bin, ist für mich auch ein persönlicher Rückblick. Die letzten 25 Jahre in der forensischen Psychiatrie waren sicherlich von ganz enormen Entwicklungen begleitet, und es ist sehr schön, dass das auch die Zeit ist, die ich in der Strafvollstreckungskammer habe verbringen können. Ein kurzer historischer Rückblick – Sie wissen alle, dass unsere Maßregeln über das „Gewohnheitsverbrechergesetz“ von 1933 in unser Gesetzbuch gekommen sind. Sie wissen auch, dass das zwar der Beginn einer finsteren Zeit war, dass das Gesetz aber nicht von den Nationalsozialisten stammt. Diese haben noch das Arbeitshaus dazugeführt und ein paar Vorschriften verschlimmert. Aber die Grundidee beruht auf einer Diskussion, die Ende des 19. Jahrhunderts lebendig geworden war und schließlich dazu geführt hat, dass das sog. duale System, mit dem wir heute noch arbeiten, eingeführt wurde. Dazu werde ich später noch einen bemerkenswerten Gesichtspunkt anführen können. Dieses Gesetz wurde durch das Kontrollratsgesetz außer kraft gesetzt, und es hat dann etwas gedauert, bis wir wieder Maßregeln hatten: Die Wiedereinführung kam 1953, und dann – wie Sie wissen – bekamen wir 1969, die Maßregeln in ihrer heutigen Gestalt. Und als Abschluss dieser Regelung seit 1986 die Einschränkung des vikariierenden Systems, also die Abschaffung der vollständigen Anrechnung von Maßregeln auf Strafe mit vielerlei praktischen Konsequenzen. Danach bleibt immer, wenn Strafe und Maßregel nebeneinander verhängt werden, ein Drittel der Strafe übrig und kann ggf. mit ausgesetzt werden. Ein weiterer ganz wichtiger Gesichtspunkt, der in den 70er, 80er und 90er Jahre nach und nach gekommen ist, ist die Schaffung der Ländergesetze über den Maßregelvollzug – anders als im Strafvollzug eben hier von vorneherein Ländersache -, mit dem schwierigen Ergebnis für alle, dass wir einen uneinheitlichen Rechtszustand haben. Aus meiner Sicht, insbesondere uneinheitlich, was die Mitwirkung der Justiz im Maßregelvollzug anbelangt – das ist sehr verschieden in den einzelnen Ländern geregelt. Ich glaube, Hessen ist das einzige Bundesland, in dem die Strafvollstreckungskammer bereits während der Behandlung eingebunden ist: Wenn ein Urlaub von mehr als drei Tagen gewährt werden soll, dann muss die Strafvollstreckungskammer zustimmen. Das führt dazu, dass wir sehr früh mit dem Maßregelvollzug in die Diskussion, ins Gespräch kommen müssen, wie denn alles weitergehen soll. Wir werden das künftig ja noch als sehr viel schwieriger erleben. Ich gehe mal davon aus, dass die Strafvollzugsgesetze wirklich Ländersache werden, also de jure Ländersache werden, nicht nur tatsächlich, wie das bereits heute schon der Fall ist. 20 Landgericht Marburg 78 Referate Das mag zunächst genügen als „Input“ für historische Entwicklungen. Wesentliche Entwicklung inhaltlicher Art habe ich unter das Stichwort gestellt „Alles wurde besser in der Vergangenheit“ Der Maßregelvollzug ist in den letzten 25 oder 30 Jahren sehr viel professioneller geworden. Wir haben die Einführung des Facharztes für Psychiatrie, wir haben seit einiger Zeit den „Forensischen Psychiater“ der DGPPN mit einer gar nicht so einfach zu erlangenden Zertifizierung (Sie funktioniert nicht immer, es sind auch Leute zertifiziert, bei denen man dies nicht so ohne weiteres nachvollziehen kann, und andere habe dieses Zertifikat nicht, sind aber sicherlich gut im Fach mit dabei). Wir haben inzwischen eine vergleichbare Zertifizierung bei den Psychologen und selbstverständlich sind auch Pfleger, sonstige Therapeuten und Sozialarbeiter im Laufe der letzten Jahre sehr, sehr viel besser ausgebildet, als das noch früher der Fall gewesen war, als ich das anfangs noch erlebt habe. Maßregelvollzug ist sehr viel wissenschaftlicher geworden; es gibt eine exponentielle Steigerung von Veröffentlichungen zu allen Themen, die damit zusammenhängen. Wenn Sie Zeit haben, dann schauen Sie mal unter der Internetadresse der Klinik Haina, die Klinik in Hessen, mit der wir zusammenarbeiten. Sie ist derzeit noch die einzige Klinik in Hessen für den § 63 StGB-Vollzug. Da kann mal sehr schön sehen, wie im Laufe der Zeit die Veröffentlichung von einer oder zwei auf inzwischen 20 oder 30 Veröffentlichungen im Jahr zunahmen. Noch spannender fand ich, auf die Web-Site zum HCR-20 (ist Ihnen sicherlich allen ein Begriff) und hier auf die ständig neu aufgelegten Bibliographie schauen. Es wird Sie schier erschlagen vor neuen Untersuchungen aus der ganzen Welt. Der Maßregelvollzug ist praxisorientierter geworden, natürlich aus unserer Sicht als Richter. Er ist eingebettet in inzwischen sehr deutliche rechtliche und verfassungsrechtliche Vorgaben. Vorreiter war das Bundesverfassungsgericht mit der berühmten Entscheidung zum Spannungsfeld zwischen dem Sicherungsbedürfnis der Öffentlichkeit und dem Freiheitsgrundrecht des Einzelnen im 72. Band. Es ist inzwischen klar, dass das Ziel nicht mehr die Heilung Ihrer Patienten ist (so wünschenswert das im Einzelfall sicher sein mag), sondern dass wir in einem forensischen, einem strafgerichtlichen Zusammenhang stehen und dass es deshalb nur und ausschließlich darum gehen kann, künftige Straftaten zu vermeiden. Diese Erkenntnis hat lange gebraucht, bis sie sich durchgesetzt hat. Inzwischen denke ich aber, ist sie klar und unumstritten. Ich erinnere mich noch an Diskussionen vor 20 Jahren zwischen den Vertretern dieser beiden Schulen, die gesagt haben, nein, wir müssen umfassend heilen. Und wenn dann jemand eben zwei oder drei Jahre oder fünf Jahre länger im Maßregelvollzug bleibt, ist es nicht schlimm, Hauptsache, er ist am Ende ganz gesund. Und andere gesagt haben, nein, darauf kommt es nicht an, wir müssen ihn sozusagen funktionsfähig machen, dass er keine Straftaten begeht. Ein wichtiger, um das Wort wieder aufzugreifen, Paradigmenwechsel. Der Maßregelvollzug ist sehr viel transparenter geworden. Auch das beruht sicherlich zum großen Teil mit auf Forderungen, welche die Gerichte an Sie gestellt haben, an den Maßregelvollzug. Zwar sind regelmäßig nur die Oberlandesgerichte zuständig, der Bundesgerichtshof als eigentlich oberstes Strafgericht hat da nichts zu sagen, nutzt aber trotzdem die wenigen Gelegenheiten, die er eigentlich gar nicht, um sich doch zu äußern. Die Forderung geht dahin, dass der Vollzug und die Behandlung für jedermann, auch für die Öffentlichkeit, jederzeit nachvollziehbar sein muss. 79 Referate Der Maßregelvollzug ist, wie Sie selbst wissen, weniger invasiv geworden. Vielleicht einfach nur zwei Beispiele aus meiner subjektiven Sicht: Ich erinnere mich noch ganz genau und mit Schrecken an die Zeiten, als die Patienten, ich sag mal flapsig, mit Haldol vollgeknallt waren und mit all diesen schrecklichen Nebenwirkungen vor einem saßen in den jährlichen Anhörungen, und wie sehr sich das geändert hat, als vor wenigen Jahren die atypischen Neuroleptika aufkamen und wir plötzlich denselben Patienten wiedertrafen – völlig klar im Kopf, praktisch ohne Nebenwirkung, und der dann zu meinem Entsetzen auch noch genau berichten konnte, wie schlecht es ihm unter Haldol gegangen ist. Da hat sich sicherlich sehr viel geändert. Ein weiterer Punkt, der heute, glaube ich, kaum noch ein Problem ist: Vor 20 Jahren hatten wir Krankensäle mit 10 oder 15 Betten, also 2 m² Bett und ein bisschen Nachttisch, und das war's, und wo die Menschenwürde geblieben war, das wusste man damals sicherlich wirklich nicht mehr. Das ist heute sehr viel anders und besser geworden. Die Behandlung ist effizienter geworden. Das betrifft die Verweildauer. Verweildauer ist der euphemistische Begriff für Freiheitsentziehung, oder auch Gefangenschaft. Das hat sich sehr geändert. Ich habe als Beispiel wieder die Klinik in Haina in der Zeit von 1984 bis 2003 gewählt, in der die Zahl der Patienten um 67 % gestiegen ist. Wichtiger vielleicht noch, dass die Untergebrachten, die Schwerstdelikte (Mord, Totschlag, Brandstiftung, Vergewaltigung und sonstige Gewaltdelikte) hatten, um mehr als die Hälfte gestiegen ist, dass sich aber die Verweildauer von den Zeiten, als ich begonnen hatte, bis heute um weit mehr als die Hälfte verkürzt hat. Anfangs waren das über zehn Jahre, inzwischen sind wir bei etwa vier Jahren angelangt. Gleichzeitig ist das Ganze sicherer geworden für die Bevölkerung, und zwar auf allen Stufen, was die Rückholung anbelangt, bis hin zu dem als zunehmend genutztes Mittel Sicherungshaftbefehl als Krisenintervention statt Widerruf, mit guten Erfolgen. Wir haben weniger Missbrauch von Lockerungen und wir haben eine geringere Rückfallquote insgesamt; eine viel bessere. Ein Beispiel (auch wieder Haina): Entweichungen, Ausbrüche, Straftaten, die Aufstellung hier ist nicht immer ganz vollständig, aber man sieht schon von Beginn der 90er Jahre an einen deutlichen Rückgang, und wenn man sich die zweite Hälfte anschaut, dann sind wir bei Ausbrüchen und bei neuen Straftaten und Entweichungen stark rückläufig. (hier würde sich jeder Leiter einer Strafvollzugsanstalt sehr darüber freuen, wenn dies bei ihm so wäre). Wir haben in Haina eine Rückholquote von zur Bewährung Entlassenen 63-er von etwa 17 %, aber von denen hat praktisch kein Patient eine Straftat begangen, wenn wir ihn zurückholen, sondern wir erwischen ihn sozusagen rechtzeitig durch eine Ambulanz. Maßregelvollzug ist sehr viel gesprächsfähiger geworden. Das war ja früher so ein Geheimfeld mit der Psychiatrie, auch ein von der Öffentlichkeit nicht so sehr beachtetes. Die Anzahl der Veröffentlichungen, Forschungsvorhaben und Tagungen (wie hier)hat sich enorm vergrößert. Auch der Austausch mit dem Strafvollzug ist sehr intensiv geworden, die Zusammenarbeit mit Gesundheits- und Justizministerium ist besser geworden. Es ist ja in den meisten Ländern nicht so wie hier im Saarland, dass diese beiden unter einem Dach sitzen, sondern sie haben verschiedene Ministerien. Und wenn sie verschiedene Ministerien haben, entsteht schnell jede Menge Streit miteinander. Das ist sehr viel besser geworden, bis hin zur Öffentlichkeitsarbeit. 80 Referate Der Maßregelvollzug hat sich internationalisiert. Sicherlich als wichtigstes aus meiner Sicht die Vereinheitlichung der Diagnosemöglichkeiten als Gesprächsgrundlage, so wie das Herr Prof. Hoff vorher gesagt hat. Eine ganz wichtige Sache, dass man einen einheitlichen Begriff hat. Prof. Hoff hat ja schon schön aufgezeigt, dass wir Übersetzungsprobleme zwischen Maßregelvollzug und Justiz haben. Das ist schon schlimm genug und schwierig genug, wenn Ärzte und Juristen miteinander reden müssen. Seit wir aber wenigstens eine einheitliche Terminologie haben, hat uns das sehr weitergeholfen. Ein Beispiel für die Internationalisierung, die ich kenne, weil ich bei der Gründung mit dabei war, ist die International Association For Forensic Mental Health Services, 2001 in Vancouver gegründet. Letztes Jahr in Stockholm hatten wir 450 Teilnehmer und über 200 Vorträge. Und nicht zu vergessen, die Segnung des Internets. Man nimmt das schon so ganz selbstverständlich, aber da hat sich sicherlich ebenfalls sehr viel getan. Insgesamt möchte ich zu diesem kurzen Rückblick sagen, dass der Maßregelvollzug sich vom Schlusslicht des Elends der Psychiatrie, die älteren - darf ich schon fast sagen -, werden sich erinnern an die Psychiatrie-Enquête, zum Vorreiter jeglicher kriminaltherapeutischen Intervention gewandelt hat und ist allenthalben wirklich Vorbild für den Strafvollzug. Vieles aus dem Maßregelvollzug ist inzwischen dorthin übernommen worden. Alles ist besser geworden und die Hoffnung ist, dass alles gut wird. Bei diesen Visionen, um die es bei diesem zweiten Teil geht, will ich die eine oder andere ausdrücklich formulieren. Manches können Sie aus dem entnehmen, was ich sage, manches sind schöne Visionen, und manche sind nicht so schöne. Die aktuelle Bestandsaufnahme weist nämlich nach wie vor fortbestehende und neue Mängel im System und konkreten Vollzug. Wenn wir das spiegelbildlich zu dem vorherigen nehmen, zunächst Professionalisierung: Wir brauchen eine Qualifizierung des Personals in allen forensischen Kliniken. Ich habe das Glück, dass ich mit der Klinik in Haina zusammenarbeiten darf, und da ist die Professionalisierung sicherlich sehr hoch. Ich weiß aber, dass es in vielen anderen Kliniken in Deutschland noch großen Nachholbedarf auf allen Ebenen gibt, bis herunter zur Pflegeebene . Wir müssen den internationalen Austausch verbessern, das ist keine Frage. Immer, wenn man draußen ist und mitkriegt, was die anderen machen, kommt man sehr viel reicher nach Hause. Weder haben wir Gäste aus dem Ausland hier, noch gehen viele von uns ins Ausland; fragen Sie sich, wer von Ihnen schon einmal wenigstens in Holland auf einer Tagung war oder wenigstens in der Schweiz oder in Österreich gewesen ist, das ist alles sehr selten und auch sehr im Argen. Aber die Probleme sind natürlich dieselben, die Menschen sind ja auch überall dieselben. Wir brauchen eine Qualifizierung der Gutachter; dazu werde ich Ihnen nachher noch mehr im Einzelnen sagen. Gutachten zu Diagnose und Prognose: Sie wissen, dass es in der Vergangenheit eine Reihe von sehr schwerwiegenden Fehlleistungen gegeben hat, die zu öffentlichen Reaktionen und auch zu fachlichen Reaktionen geführt haben. Es hat sich eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe, bestehend aus forensischen Psychiatern, Psychologen, einer Reihe von Bundesrichtern und einer Reihe von Richtern, die in der ersten oder zweiten Instanz mit 81 Referate Strafvollstreckungssachen befasst sind, gebildet. Vorläufer war die Entscheidung des Bundesgerichtshofs zur Aussagepsychologie, die Sie sicher kennen, bei der Prof. Steller mitgewirkt hat und die eine enorme Wirkung in der Praxis hat. Wir haben praktisch keine methodischen Probleme mehr bei Glaubwürdigkeitsgutachten, um mal ein Nebenfeld anzusprechen. Das hat wirklich gewirkt. Es gibt seit letztem Jahr Mindestanforderungen zur Schuldfähigkeit, die Sie hoffentlich alle, soweit Sie gutachterlich tätig sind, schon ganz und gar internalisiert haben und mit denen Sie arbeiten. Und es ist derzeit, sozusagen „in progress“, dieselbe Geschichte zur Prognose im Werden, die im September/Oktober in der Neuen Zeitung für Strafrecht (NStZ) veröffentlicht werden wird. Zur Diagnose „Wer kommt in den Maßregelvollzug?“ als wichtiger Teil des Gutachtens. Hier möchte ich gerne eine Spannung ansprechen, die wir weiterhin haben und die wir noch nicht gelöst haben. Wir haben ein Problem mit der Rechtssprechung. Nach der Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs ist es ja so, wenn jemand zum Beispiel Merkmale, wie ICD-10: F60 (Persönlichkeitsstörung) erfüllt, das noch lange nicht heißt, dass er eine schwere andere seelische Abartigkeit hat, und dass, wenn er sie hätte, dies noch lange nicht bedeutet, dass er dadurch auch in seiner Schuldfähigkeit erheblich beeinträchtigt wäre, sondern das hat nur Indizcharakter. Umgekehrt sagt die Rechtssprechung auch, wenn jemand keines der Kriterien von ICD-10 oder DSM erfüllt, kann er trotzdem den § 21 bekommen und er kann trotzdem auch – manchmal zum Leidwesen der Kliniken – in den § 63 hineingelangen, weil es sich dabei um normative Entscheidungen handelt. Das ist ja schon mehrfach angesprochen werden: Die Entscheidung, ob jemand so sehr in seinem sozialen Funktionsniveau gestört ist, dass er einem „normalen Geistesgestörten“ gleichgestellt ist, ist eine normative Entscheidung, zu der das Sachverständige nur Hilfestellung geben kann. Das Ganze führt natürlich dazu, dass es sich zu einem offenen Tor für Fehleinweisungen entwickelt. Eine sehr schwierige Geschichte, mit der man immer wieder zu tun hat, und die in den Vollzug der Klinik große Probleme bereit. Ich komme da noch gleich darauf zu sprechen. Wer kommt aus dem Maßregelvollzug? Für die Prognose zur Entlassung haben wir inzwischen eine Vielzahl von Verfahren. Das Stichwort war aber: Fehleinweisung: Also, wer kommt überhaupt in welchen Maßregelvollzug? Wer kommt in die Sicherungsverwahrung, die ja auch Maßregelvollzug ist, und wer kommt in den § 63? Und wer kommt, wenn sich eine Fehleinweisung herausstellt, aus dem § 63 heraus – über die neue Möglichkeit (67d Abs. 6 StGB) und dann in die nachträgliche Sicherungsverwahrung, eines der „heißesten rechtspolitischen Eisen“, die wir haben. Dabei stellt sich vor allem die Frage zur nachträglichen Sicherungsverwahrung, was sind die so genannten „Nova“, die neuen Umstände, die dazu führen, dass man in die Sicherungsverwahrung kommen kann. Und das ist etwas, was auch für Sie wichtig ist, sowohl im 63er als auch im 64er Vollzug, weil diese neuen Umstände ja auch aus dem Vollzug herauskommen können. Ich habe folgendes Beispiel herausgesucht: „Störungen des Sozialverhaltens, dissoziale Persönlichkeitsstörung“ im Fall Caroline. Caroline ist das 16-jährige Mädchen, das von einem 29-jährigen Mann umgebracht worden ist, der aus der siebeneinhalbjährigen Strafhaft wegen Vergewaltigung entlassen worden war und eine Woche später das Mädchen umgebracht hat. Man hat mich gerade als Sachverständigen in dem Untersuchungsausschuss des Landtags MecklenburgVorpommern gehört, und wir haben gesehen, der Täter wurde diagnostiziert als 21-jähriger Täter, der „schwere Störungen des Sozialverhaltens“ aufwies (wie Sie wissen, ist das die klassische Vorläuferdiagnose zur „Dissozialen Persönlichkeitsstörung“). Diese Störung wurde ihm denn auch unmittelbar vor der Entlassung attestiert, er wurde als Psychopath bezeichnet 82 Referate mit einem sehr hohen „score“, und die Frage war natürlich: Ist das ein Novum? Kann man deshalb gegen jemand eine nachträgliche Sicherungsverwahrung verhängen? Die derzeitige Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs ist: Nein, die bloße Verfestigung einer bei der Urteilsverkündung schon vorhandenen Persönlichkeitsstörung führt nicht dazu, dass dies im Rechtssinne als etwas Neues angesehen werden kann. Eine Vorsitzende Richterin am Bundesgerichtshof, die auch in jenem Ausschuss als Sachverständige aufgetreten ist, hat - allerdings als persönliche Meinung - gesagt, so eine Entwicklung, die sogar einen Diagnosewechsel mit sich bringt, kann auch ein solches Novum sein, so dass so jemand dann am Ende auch in die nachträgliche Sicherungsverwahrung kommen kann. Also wenn sich die Persönlichkeit so, wie man es erwartet, weiterentwickelt, dann kann das so sein. Ein ganz spannendes Feld. Besonders schwierig ist die Situation, wenn Sie als Sachverständiger jemanden in den 64er hineinbegutachten und sagen, der hat ein Drogenproblem, das kriegen wir hin und deshalb soll das Gericht den 64 anordnen. Dann macht das Gericht das, aber wenn dann der 64-er schief geht, ist das mit Sicherheit eine Tatsache, die möglicherweise einen solchen Täter hinterher in die Sicherungsverwahrung bringen kann, so dass man als Gutachter und als Richter eine besondere Verantwortung in diesem Punkt hat. Ein ganz neuer Denkkreis, den wir alle noch nicht richtig erfasst haben. Weiter zur Frage, wer aus dem Maßregelvollzug kommt. Wir haben inzwischen eine Vielzahl von Verfahren zur Risikoeinschätzung. Fast alle dieser Prognoseverfahren sind nur für bestimmte, begrenzte Fragestellungen validiert und zulässig. Die Praxis zeigt, dass diese genauen Beschränkungen nicht wahrgenommen werden, sondern irgend einer dieser Tests genommen wird und dann wird irgend etwas gemacht. Noch schlimmer ist es bei Sexualdelikten: Wenn Sie jemanden mit einem Verfahren prognostizieren, das für sexuelle Gewalttaten bestimmt ist, bei dem es sich aber um einen gewaltlosen Pädophilen handelt, Sie also z.B. zum Beispiel den SVR anwenden, dann sind Sie einfach falsch, und dann kann das Ergebnis auch nichts nutzen oder eine Checkliste, die abzuarbeiten ist, kann nichts nutzen, hinterlässt offene Posten. Darauf müssen wir sicherlich immer sehr genau achten. Die Frage ist sogar, was sind sie denn überhaupt wert, diese ganzen Verfahren. Und hier möchte ich gerne einfach mal zeigen, was Herr David Freedmann im Jahr 2001 gesagt hat, der sich da viel umgetan hat: Wenn man mal vom HCR-20, also einem hochvalidierten Instrument und dort davon ausgeht, dass es sehr viele Falsch-Positive gibt, also Leute, die als gefährlich bezeichnet werden, es aber gar nicht sind, dann soll man diesen Test in forensisch-klinischer Umgebung nicht verwenden, wenn Entscheidungen über das Leben oder über die Freiheit anstehen. Und noch deutlicher “The PCL-R may be, as its proponents argue, the strongest in a field of weaklings, but it is by no means reliable and valid in the prediction of future dangerousness.” Danach ist der HSR-20 also lediglich der Stärkste in einem Feld von Schwächlingen, ; also man kann eigentlich mit dem Ding nichts anfangen? Und das für einen der Tests oder Prognoseverfahren, die anerkanntermaßen hochvalidiert sind. Schwierige Frage, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen. Einer der Lösungen ist, das ist ja schon gestern angesprochen worden von Herrn Dittmann , dass man diese ganzen Verfahren nicht benutzt, um Punkte zu vergeben und darauf eine Entscheidung zu stützen, sondern dass man sie benutzt, um nichts zu vergessen, um eine Checkliste zu haben, an der man sich abarbeitet und die alle wesentlichen Punkte enthält. Wenn Sie so wollen, ist dies eine der Visionen, dass das aufhört, Punkte zu zählen und zu sagen, der hat 30 Punkte auf 83 Referate dem PCL, keine Chance, oder umgekehrt, der hat nur 8 Punkte, der kann raus, aber vielleicht sind ja die entscheidende Dinge falsch gesehen. Wir haben noch eine Reihe von Dingen, die wir weiter dort zu klären haben, die immer durcheinander gehen, einfache Begriffe, was ist Risiko, was betrachten wir an Art des Rückfalls. Betrachten wir die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der neuen Tat, die Häufigkeit, welches Risiko wollen wir betrachten, das Ausmaß des Schadens, das einer anstellt, die Geschwindigkeit, also der Zeitraum, bis die neue Tat möglicherweise auftritt, oder die Dauer der Gefährlichkeit oder die Abhängigkeit vom Lebenszusammenhang. Wenn Sie sich die Begriffe ansehen, dann wird, glaube ich, klar, wie noch nicht genau genug wir mit dem Begriff umgehen. Genauso mit dem Begriff, was ist gefährlich, was ist ein gefährlicher Straftäter, was ist gefährliche Tat. Ich darf mal auf mich und auf die „Kriminologische Zentralstelle Wiesbaden e.V.“ verweisen. Von dort gibt es eine Veröffentlichung , in der ich das mal ausführlich habe darstellen können. Hier nur so viel: Wir haben ein Gesetz über gefährliche Sexualstraftäter und andere gefährliche Straftäter. Der Gesetzgeber hat nicht definiert, was „gefährlich ist. Der Begriff ist ein Phantom ohne wirkliche Bedeutung in der Praxis. Die normativen Maßstäbe im Umgang mit gefährlichen Tätern liegen dogmatisch im Dunkeln und sind apokryph, und Sie können sie einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht zugänglich machen. Sie sind im Kopf der entscheidenden Personen, also insbesondere der Richter, aber auch natürlich von Ihnen, wenn Sie jemanden als gefährlich bezeichnen. Schriftliche Begründungen geben da nicht viel her. Zu dem „Gefährlichen“ sollte man schon noch das folgende sagen, auch wenn es einen kleinen Moment wegführt; Sie können es auch als positive Vision begreifen, dass sich so etwas irgendwann ändert: Gefährlich ist, wer von den Massenmedien so bezeichnet wird. Regierung, Parlament und auch Gerichte reagieren weniger auf sachliche Notwendigkeiten, sondern eher auf von zentralen Massenmedien willkürlich, sachfremd und eigennützig hervorgerufenes Sicherheitsbedürfnis. Das haben Sie ja auch zum Teil objektiviert an den Statistiken von Herrn Egg gesehen, die zeigen, dass das alles mit dem vielen schrecklichen Taten so gar nicht stimmt. Machen wir weiter mit positiverem Dingen: Behandlungsansätze. Undogmatisch müssen Sie behandeln, Streitereien zwischen Psychologen, Psychiatern, zwischen Psychoanalytikern, möglicherweise noch Sozialwissenschaftlern, sollten der Vergangenheit angehören. Da kann man nicht sagen, ich habe die Profession und deshalb weiß ich es besser. So kommen wir nicht weiter. Wir müssen multimodal herangehen mit vielen Möglichkeiten, alles was wir haben. Wir müssen uns immer fragen, was braucht der Täter konkret, wo hat er Defizite, wo müssen wir ansetzen und wie kommen wir weiter. Wie gesagt, es muss interdisziplinär und nicht dogmatisch vorgehen. Ein ganz anderes Feld „Pharmakologie“ ist schon angesprochen worden. Ich habe selbst ja diese Entwicklung miterlebt, wie aus der Schizophrenie (ich sage mal, ein bisschen verfacht aus meiner Sicht), wie diese Krankheit entzaubert wurde, von irgendeiner kryptischen geistigen Entität und zu einer Stoffwechselerkrankung heruntergestuft wurde Wenn die Medikamente genommen werden und im Übrigen Compliance besteht und keine dissozialen Störungen und andere Co-Morbidität, dann geht das wunderbar, dann geht das so, verzeihen Sie mir das Schlagwort, wie wenn jemand Zucker hat, der nimmt sein Insulin, und das Problem ist erledigt. Und wenn jemand sein Risperdal oder Zyprexa nimmt und sonst keine 84 Referate Probleme hat, dann geht es ganz vergleichbar. Die spannende Frage ist die, ob wir hier weitere Fortschritte bekommen werden. Im Bereich der Sucht gibt es Forschungen, die mir bekannt sind, von Prof. Nussbaum aus der USA, der sagte, er bekomme das ganz ähnlich mit pharmakologischen Mitteln hin. Zur Zeit ist er darüber am forschen, ob darüber auch die Psychopathie auf medikamentöse Weise zu behandeln ist. Andere sagen, dass sie die Pädophilie in fünf bis acht Jahren als Krankheit so pharmakologisch im Griff haben, dass man sie durch Medikamentengabe beherrschen kann. Ganz spannend, wenn Sie die Psychopathen nehmen, von denen viele Kliniken sagen, das seien keine forensischen Patienten, die gehören nicht zu uns. Wenn es aber dazu kommt, dass jemand die Medizin dafür findet, sage ich mal vereinfacht, dann ist ein Psychopath plötzlich wieder ein Kranker, denn Medizin darf ja nur ein Arzt verabreichen. Der Krankheitsbegriff ist ja vorher bereits problematisiert worden. Wie gehen wir mit den um, die wir derzeit als Nichtbehandelbare bezeichnen. Da haben wir die Gruppe der Psychopathen, eben schon benannt. Und wir haben den schönen Begriff der „Long-Stay Unit“, wo sie hinkommen sollen, wenn sie denn nun mal im Maßregelvollzug gelandet sind, auch in der Sicherungsverwahrung. Was machen wir mit denen: wegpacken in halbwegs menschenwürdige Unterbringungsformen? Die Holländer haben uns vorgemacht, wie so etwas aussehen könnte. Das ist ganz spannend; auch die Probleme, die es da dann neu auftreten. Große Frage ist natürlich, wie ist jemand von dort wieder zurückzuholen, wenn er erst einmal abgeschoben ist als Unbehandelbarer auf so eine Station, wie kriege ich ihn wieder zurück, kümmere ich mich überhaupt noch darum, ob es vielleicht doch noch eine Therapieform gibt, wird an der Entwicklung gearbeitet oder ist er ein für alle Mal weg. Solche Stationen bewirken mit Sicherheit eine Sogwirkung, dass man sagt, den packen wir weg, der ist uns zu mühevoll. Große Fragen!! Eine auf einer anderen Ebene liegende Frage: Sollen wir die Unterbringung nach § 64 StGB beibehalten oder sollen wir das System nach § 35 BtMG ausrichten und auf die Freiwilligkeit zur Therapie abstellen. Ich bin der Meinung, man sollte das tun, weil die Zwangstherapie auf dieser Ebene nicht viel Wirkung gezeigt hat. Einen Schritt tiefer in der Argumentation und den Gedanken: Haben wir Grenzen in unserem derzeitigen dualen System? Dieses duale System beruht – wie ich anfangs gesagt habe – auf einem Widerspruch oder ein Spannung zwischen dem Schuldgrundsatz, den das Bundesverfassungsgericht für alle Straftaten ganz hoch verankert hat, nämlich in Artikel 1 GG, in der „Menschenwürde“. Dagegen steht ein reines Maßnahmerecht – auch das ist vorher ja schon angeklungen in Vorträgen, wenn Sie so wollen, steht Ideologie gegen Nützlichkeit, und wenn Sie es historisch festmachen, dann haben Sie die Ideologie bei dem heute schon erwähnten Emanuel Kant verankert, der wirklich über eineinhalb Jahrhunderte durchwirkt und diese Dinge in unseren Köpfen und in unseren Gesetzen festgezurrt hat, und dem steht der Gedanke Nützlichkeit entgegen. Insbesondere bei der Durchlässigkeit der einzelnen Maßregeln wird dies relevant, weil, wenn jemand keine Schuld hat, dann kann er nicht etwas kommen, was dem Strafvollzug gleich ist, und wenn jemand eine Strafe hat und keinen 63er oder 64er, dann kann er schwer in psychiatrische Behandlung kommen. Da haben wir große Probleme, die wir gerne gelöst hätten. Ob die Schweiz ein Vorbild ist, können Sie sich jetzt selbst ein Bild machen, an Hand dessen, was Herr Dittmann am Vortag gesagt hat. Kanada hat ein vergleichbares System, da kann man unter - engen Voraussetzungen - als „dangerous offender“ (gefährlicher Verbrecher) 85 Referate bezeichnet werden mit einer Mindeststrafe von neun Jahren belegt werden, und auch dort dann wird erst danach geschaut, in welche Anstalt jemand kommt und wo man am besten mit ihm arbeiten kann. Nachsorgeambulanz - eine wichtige Frage. Die Forensische Fachambulanz Hessen ist mein täglicher Umgang, eine außerordentlich erfolgreiche Veranstaltung. Und wenn Sie sich informieren wollen, müssen Sie unbedingt das Buch von Roland Freese lesen, der auch ein schönes Schlagwort mit reinbringt. Es heißt „Ambulante Versorgung psychisch kranker Straftäter“, also die ambulante Behandlung mit begleitenden strafähnlichen Maßnahmen, die uns davor bewahren sollen, die Leute gleich wieder mit Sicherungshaftbefehl oder Widerruf in den geschlossenen Vollzug zu führen, sondern mit niederschwelligeren Strafmaßnahmen oder strafähnlichen Sanktionen, wie es in den USA mit dem sog. „assertiv community treatment“ zum Teil sehr gut funktioniert. Man muss halt schauen, wie man das hierher bekommt, aber man muss sich ziemlich bewegen – auch dogmatisch bewegen. In diesem Zusammenhang mit der Nachsorgeambulanz möchte ich ganz kurz den Gesetzentwurf, der im Moment aktuell ist (vom 05.04.2006), mit Reformen der Führungsaufsicht ansprechen. Da werden uns eine ganze Menge neue Sachen helfen. Kontaktverbote werden wir haben, die Ambulanzweisung wird eingeführt werden, zum Teil auch strafbewährt. Die Strafbarkeit von Weisungsverstößen wird erhöht von einem auf drei Jahre, der Vorführungsbefehl wird kommen zur Wiederherstellung des Kontakts, die stationäre Krisenintervention statt eines Sicherungshaftbefehls wird kommen und die Erweiterung der unbefristeten Führungsaufsicht auf solche Patienten, die sagen, wenn die fünf Jahre Führungsaufsicht vorbei sind, nehme ich keine Medikamente mehr, und wir wissen genau, dass sie dann gefährlich werden. Das ist ganz wichtig für das Aussetzungswagnis, das wir eingehen können, und für das, was Sie als Gutachter oder Behandler vorbereiten bzw. vorschlagen können. Ein paar offene Fragen dazu bleiben natürlich: Wir haben immer wieder das Problem des Konflikts, dass Weisungen gesetzlich bestimmt sein müssen, damit sie auch „widerrufsfest“ sind. Die Ambulanz möchte gerne Autonomie in ihrer ärztlichen Behandlung haben, und es ist gar so nicht einfach, das juristisch auszupendeln. Ungeklärt nach wie vor und in Zukunft, wenn die Ambulanzweisung dann als gesetzliche Weisung vorhanden sein wird, ist das Verhältnis zwischen Gericht, Führungsaufsichtsstelle, Bewährungshilfe und Ambulanz. Das wird ja nicht einfacher, wenn noch jemand dabei ist, aber wir wissen es halt einfach noch nicht. Wir haben in diesem Zusammenhang noch ein ganz anderes Problem: Informationelle Selbstbestimmung. Das Grundrecht wurde vom Bundesverfassungsgericht sehr hoch gehängt. Wir müssen es beachten, haben aber ein Problem, wenn die Behandler oder Überwacher miteinander kommunizieren sollen und müssen. Was wir weiter wollen, müssen haben wollen, uns als Vision vorstellen, ist die Qualifizierung aller Beteiligten. Und ich darf mal bei meinem Stand anfangen. Auf einer Tagung in Wustrau, an der junge Richter teilgenommen haben, habe ich aufgeführt, was soll ein Richter an Sachverstand erwerben soll: Er soll sich ständig fortbilden, er soll Kenntnisse anderer abrufen, er soll eine offene Kommunikation pflegen, interdisziplinär denken und handeln, er soll Teamarbeit leisten, er soll flexibel sein und schnell reagieren, er soll kreativ sein, Arbeitsmittel und –wege außerhalb der positiv-rechtlichen Wege(natürlich nichts Ungesetzliches), er soll englisch können und er soll seine nichtrichterlichen Fähigkeiten ausbauen. Das ruft immer großes Erstaunen hervor: „Das haben wir alles nicht gelernt und nicht studiert“. Aber ich glaube, in der Strafvollstreckung ist es unbedingt 86 Referate notwendig. Natürlich müssen auch Staatsanwälte in dieser Weise ausgebildet sein, es ist ganz schlecht, wenn ein Staatsanwalt nur einmal im Jahr einen schwierigen Vollstreckungsfall sieht. Gut ausgebildete Verteidiger, das wäre ebenfalls wünschenswert. Die anderen in den Diensten sollen sich natürlich auch weiter qualifizieren. Ich darf hier noch einmal auf die Qualifikation aller beteiligten in Helferkonferenzen und Runden Tischen zurückkommen. Das Stattfinden der Helferkonferenzen, auch für unseren forensischen Bereich, ist in dem Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Führungsaufsicht ausdrücklich so gefordert. Ein ganz anderes Thema: Es geht was schief, das ist unvermeidbar. Es gibt keine Chance, Fehlschläge wirklich zu 100 % zu vermeiden. Jeder, der das fordert, ist nicht von dieser Welt. Das wissen wir alle, dass es schief geht. Wir müssen aber für kritische Situationen ins Detail gehen und zunächst möglichst abgesprochene Notfallpläne parat haben. Das beginnt innerhalb der Klinik, sollte sich aber fortsetzen über Notfallkontakte zu Bewährungshelfern und auch zum Gericht. Wir haben das in Hessen, in Marburg und Haina, so einrichten können, dass wir zum Beispiel auf die Meldung der Ambulanz („Ein Patient bereitet uns Schwierigkeiten. Der hat getobt im Heim. Das Heim will ihn rauswerfen!“) zwischen 30 und 60 Minuten den Sicherungshaftbefehl in der Klinik haben und auch die Festnahme veranlassen können. Per EMail und allen anderen Möglichkeiten geht das sehr schnell; dann kann man auch vorher größere Risiken eingehen, wenn man sie in kritischen Situationen so schnell wieder eingrenzen kann. Das ist eine ganz wichtige Sache. Dazu gehört ferner immer eine positive und nach vorne gehende Öffentlichkeitsarbeit. Wenn Sie mal irgendwo eine neue Klinik bauen wollen, dann werden Sie merken, wie schwierig es ist, die Öffentlichkeit zu gewinnen, weniger die Politiker als die Öffentlichkeit, die örtliche zu gewinnen, das zu unterstützen. Das ist Extremfall Öffentlichkeitsarbeit, aber ich denke, man muss sie es beständig und dauernd pflegen. Ein besonderes Problem, das ich kurz noch ansprechen will und muss, ist die Haftung der Therapeuten. Es gibt ein Urteil vom BGH, das werden Sie im Zweifel kennen. Ich lese Ihnen vor: „Die Anordnung der Unterbringung verpflichtet die Vollzugsanstalt, die Öffentlichkeit vor Straftaten zu schützen. Wenn die Möglichkeit besteht, dass der Verurteilte Vollzugslockerungen aufgrund seiner Neigung zu Straftaten missbraucht, widerspricht eine unbeaufsichtigten Lockerung dem Gesetz und ist subjektiv pflichtwidrig. Eine falsche Prognose ist pflichtwidrig, wenn sie auf unvollständigen Tatsachen oder auf unrichtiger Bewertung der festgestellten Tatsachen beruht. Die Einhaltung der psychiatrischen Kunst muss vom Gericht überprüft werden“. Die Lösung des BGH aus dieser strengen Haftung: „Ist eine Lockerung therapeutisch begründet, entspricht sie den Regeln der psychiatrischen Kunst und ist ein prognostischer Beurteilungsspielraum eröffnet. Er kann zu mehreren gleichermaßen als rechtlich vertretbar zu wertenden Entscheidungen führen“. Schön, dass es das gibt, dass wir das dürfen. Aber die Frage ist natürlich, wann bewege ich mich auf therapeutisch begründeten Gebiet und wann entsprechen die Regeln dem derzeitigen Stand der Wissenschaft. In dem konkreten Fall des BGH, das werden Sie wissen, hat der Patient Lockerungen bekommen und während der Lockerungen sehr schwere Straftaten begangen. Diejenigen, welche die Lockerungen bewilligt haben, sind am Ende wegen fahrlässiger Tötung bestraft worden. Das ist sicherlich ein schwieriges Problem. Eigentlich müssen auch die Richter in die Haftung genommen werden, denn wenn ich ein schlechtes Gutachten oder eine falsche Prognoseempfehlung einfach „abkupfere“ und übernehme, dann weiß ich nicht so ganz genau, warum die Richter nicht „mit im Boot“ sein sollen. 87 Referate Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Visionen zusammenfassen: 1. Die Sanktionen strafbaren Verhaltens werden entscheidend danach bestimmt, welche Maßnahmen bei dem konkreten Täter erfolgversprechend ist; insofern sollte der Schuldgrundsatz im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aufgehen. Natürlich kann man nicht jeden einsperren, das ist ganz klar. Aber man braucht vielleicht nicht dieses schwierige Konstrukt der Schuld, was sowieso nicht wirklich trägt. 2. Alle Sanktionen sind durchlässig, jederzeitiger Wechsel und Rückwechsel ist möglich. 3. Es nimmt ein umfassender, kritischer, umfassender und offener Dialog Platz zwischen allen, die in die Behandlung von Straftätern eingebunden , und die Juristen sind dabei zunächst nur gleichberechtigte Partner – natürlich kommen wir nicht drum herum, das ist Grundgesetz – und dazu stehe ich – dass am Ende die Gerichte sagen müssen, wer rauskommt und wer nicht, also über Freiheit oder Unfreiheit entscheiden müssen. Aber zunächst, in dem Erkenntnisprozess dazu, sollen sie sich nur als Gleichrangige beteiligen. 4. Es werden flächendeckend professionelle forensische Ambulanzen eingerichtet mit klaren rechtlichen Vorgaben und mit den gebotenen sächlichen und personellen Mitteln ausgestattet. 5. Die Behandlung von fehlerhaft eingewiesenen Tätern ist eindeutig geregelt, so das wir nicht jahrelang darum Rechtsstreite führen müssen, sondern dass jeder im Vorhinein möglichst klar weiß, was damit passiert. 6. Für mich persönlich ist es eine Vision, dass die Behandlung in der Entziehungsanstalt die Freiwilligkeit des Verurteilten voraussetzt und dass die Zwangseinweisung nicht stattfinden soll, weil sie ohnehin jetzt schon zu über 50 % zum Abbruch führt und auch bei dem Rest sehr schwierig ist bzw. die Personen dann ohnehin freiwillig dabei sind. 7. Und angeknüpft an das Letztgesagte: Die Haftung von Behandlern für Straftaten ihrer Probanden wird eindeutig geregelt. Diese Regelung darf nicht dazu führen, dass keiner mehr ein Risiko eingeht oder vernünftige neue Regeln nicht mehr erprobt werden aus Furcht vor Strafe. 88 Referate Maßregelvollzug von außen betrachtet Prof. Dr. Friedemann Pfäfflin 21 Einleitung Die meisten Redner dieser Tagung kommen nicht direkt aus dem Maßregelvollzug. Wer von außen kommt – das ist ein häufiger Einwand – kann nicht wirklich mitreden, denn er erfährt nicht genug von den alltäglichen Abläufen, ist den institutionellen Zwängen nicht in gleichem Maße ausgesetzt wie ein ständiger Mitarbeiter und letztlich mit der Klinik nicht identifiziert. Allenfalls kann er wie ein zölibatärer katholischer Priester über die Ehe sprechen, die er doch nur aus Beichtgesprächen kennt, aus Trau-, Tauf- und schließlich Trauergesprächen. Soviel Einblick er auch über solche Gespräche in die Ehe haben mag, den Alltag der Ehe hat er selbst nicht erfahren. Der Einwand ist aber nur begrenzt stichhaltig, denn er lässt sich auch auf die fest angestellten Mitarbeiter des Maßregelvollzugs beziehen. Immerhin können sie nach Dienstschluss die Klinik verlassen, in ihrer Freizeit ihren weiteren Interessen nachgehen und in den Ferien in den Urlaub fahren. Auch können sie sich unter Umständen auf eine andere Stelle bewerben. Im eigentlichen Sinne könnten dann nur die Langzeitpatienten des Maßregelvollzugs ein gültiges Urteil abgeben. Nun hat der einzelne Langzeitpatient auch nur eine beschränkte Perspektive, die meist schon an den Türen der Station, auf der er sich aufhält, endelt. Zwar lernt er das Stationspersonal kennen, vielleicht auch noch dasjenige der Beschäftigungs- und der Arbeitstherapie sowie seine Mitpatienten, aber inwieweit dieser Ausschnitt etwas über die Klinik insgesamt, in der er untergebracht ist, aussagt, kann ihm über lange Zeit verborgen bleiben. Und erst recht fehlt ihm der Überblick über die Entwicklung des Maßregelvollzugs generell. Betriebsangehörigkeit birgt in sich die Gefahr der Betriebsblindheit. Der Blick von außen ist dem gegenüber unbefangener, kann es zumindest sein, wenn er auch nicht vorurteils- oder urteilsfrei ist. Meiner ist jedenfalls nicht urteilsfrei und womöglich auch nicht vorurteilsfrei, wenn ich die verschiedenen Eindrücke aus Maßregelvollzugseinrichtungen, die ich besucht habe, in der Erinnerung an mir vorbeiziehen lasse. Er ist geprägt von vielen konkreten Erfahrungen, von Begegnungen in Maßregelvollzugseinrichtungen in 14 Bundesländern und weiteren im Ausland, von denen ich hier nur wenige Beispiele nennen werde. Anregen ließ ich mich durch eine Arbeit von Herrn Professor Nedopil (2004) über das Selbstverständnis des forensischen Psychiaters, abgedruckt in der Festschrift für Herrn Professor Tondorf, in der er sich mit der Tendenz der klinischen Psychiatrie auseinandersetzt, die forensische Psychiatrie ganz auszugrenzen. Nur wenige Exponenten der klinischen Psychiatrie verfügen über so umfangreiche forensische Erfahrungen, wie sie im Beitrag von Herrn Professor Hoff anklangen, und es gibt viele klinische Psychiater, die mit der Forensik gar nichts zu tun haben wollen. 21 Sektion Forensische Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm 89 Referate Ich werde mich auf drei Themenbereiche konzentrieren, die einiges von dem, was Herr Dr. Wolf angesprochen hat, erneut aufgreifen, nämlich (1.) die Entwicklung vom Verwahrvollzug zum therapeutischen Vollzug; (2.) die Entwicklung vom wissenschaftlichen Brachland zur wissenschaftlichen Goldgrube und (3.) die Entwicklung vom Schlechtachten und Gutachten. Vom Verwahrvollzug zum therapeutischen Vollzug Hauptsächlich werde ich dabei auf den Maßregelvollzug eingehen, zum Teil aber auch auf den Strafvollzug, und mich dabei auf Fragestellungen der Psychotherapieforschung konzentrieren sowie insbesondere die Frage, inwieweit Ergebnisse der allgemeinen Psychotherapieforschung in die Praxis des Maßregelvollzugs Eingang gefunden haben. Die allgemeine Psychotherapieforschung durchlief mehrere Phasen, die sich vereinfachend dahingehend zusammenfassen lassen, dass in der Anfangsphase Rechtfertigungsargumente im Vordergrund standen, später dagegen differentielle Indikationsfragen und Prozessvariablen untersucht wurden. In der Rechtfertigungsphase ging es um die Klärung der Frage, ob Psychotherapie überhaupt wirksam ist, d.h., ob tatsächlich Symptomreduktion bewirkt wurde. Wichtig waren vor allem Vergleiche des Zustandes beziehungsweise Verhaltens von Patienten vor Beginn und nach Ende der Behandlung (Prä-Post-Vergleich). Das entspricht der Fragestellung im Maßregelvollzug nach Rückfallvermeidung oder wenigstens -reduktion. Was konkret in der Psychotherapie gemacht wurde, um diese Ziele zu erreichen, wurde damals noch nicht untersucht. Psychotherapie und analog der Maßregelvollzug entsprachen der „black box“, in die ein Patient eingeschleust wurde und aus der er geheilt oder wenigstens gebessert herauskommen sollte, wobei die Wirkfaktoren dieser Veränderung im Dunkeln blieben. In späteren Forschungsphasen wurden vielfältige weitere Fragen untersucht, zum Beispiel, was bei wem unter welchen Bedingungen und in welcher Dosierung welches Ergebnis bewirkt. Dabei wurde ein umfangreiches Detailwissen erarbeitet, das in den jeweils aktualisierten Neuauflagen der „Bibel“ der Psychotherapieforscher, dem Handbook of Psychotherapy and Behavior Change zusammengefasst ist (Bergin & Garfield 1971, 1978, 1986, 1994; Lambert 2004). Schlägt man dort nach, stellt man mit Verwunderung fest, dass sich über forensische Psychotherapie in den ersten vier Auflagen überhaupt nichts findet, noch nicht einmal das Stichwort. In der jüngsten Ausgabe (Lambert 2004) wird in einem Artikel über die psychotherapeutische Behandlung Jugendlicher nebenbei auch eine Untersuchung aus dem Jugendstrafvollzug erwähnt, aber der forensischen Psychotherapie wird noch immer kein eigenes Kapitel gewidmet. Man kann daran ablesen, dass sich die allgemeine Psychotherapieforschung völlig unabhängig vom Maßregelvollzug entwickelte. Entsprechend lässt sich umgekehrt schließen, dass sich die im Maßregelvollzug angewandten Therapien unabhängig von der allgemeinen Psychotherapieforschung entwickelt haben. In der allgemeinen Psychotherapie sind manualisierte Psychotherapien inzwischen zu einer Art Goldstandard geworden. Darunter versteht man standardisierte Psychotherapieverfahren, in denen einzelne Behandlungsschritte und oft auch einzelne Behandlungsstunden genau vorstrukturiert sind und entsprechend einem Fahrplan, Handbuch bzw. Manual durchgeführt werden sollen. Überprüft man die verschiedenen Auflagen des Handbook of Psychotherapy 90 Referate and Behavior Change auf Angaben zu manualisierten Psychotherapieverfahren, findet sich Folgendes: In der ersten Auflage aus dem Jahr 1971 wird der Begriff manualized treatment noch gar nicht erwähnt. In der zweiten Auflage aus dem Jahr 1994 gibt es 34 längere Passagen, in denen er diskutiert wird. In der vierten Auflage aus dem Jahr 2004 gibt es nur noch 17 längere Passagen darüber, weil Manualisierung nämlich inzwischen zu einer Art Goldstandard für wissenschaftliche Untersuchungen von Psychotherapien geworden ist, ohne die man glaubt, keine wissenschaftlich fundierte Aussage über Therapie mehr machen zu können. Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung und auch die Amerikanische Psychologische Vereinigung hatten Anfang der 1990er Jahre darauf gedrängt, nur noch manualisierte Therapien in wissenschaftlichen Auswertungen zu berücksichtigen. Was spricht für die Manualisierung von Therapien? Man kann erstens die Therapieziele und das Vorgehen operationalisieren. Zweitens eignen sich solche Verfahren für die gleichmäßige Ausbildung von Therapeuten. Drittens lässt sich bei Anwendung von Therapiemanualen überprüfen, ob Therapeuten auch jeweils wirklich dasselbe machen (Überprüfung der Anwendungsintegrität). Damit werden schließlich viertens die Voraussetzungen für eine wissenschaftliche Auswertung und Überprüfung der Wirksamkeit geschaffen. Angewandt wurden manualisierte Therapieprogramme erstmals schon Ende der 1950er und Anfang der 1960er Jahre in der Behandlung sexueller Funktionsstörungen, zum Beispiel von Masters & Johnson, später auch bei Ess-, Angst- und Panikstörungen und bei Depressionen. In den 1980er Jahren publizierten Luborsky sowie Strupp Auswertungen manualisierter psychodynamischer Kurztherapien. Schließlich fanden sie auch in der Behandlung von Straftätern Anwendung. Vorläufer manualisierter Programme in der Straftäterbehandlung waren die einfachen Verhaltenstherapieprogramme (Aversionsprogramme), die Sie vermutlich aus der Literatur kennen, bei denen man zum Beispiel einem pädophilen Mann Bilder von Kindern vorlegte und maß, ob unter dieser Bedingung dessen Penisvolumen zunahm. War dies der Fall, wurde ein unangenehmer Reiz gesetzt, zum Beispiel ein Geruchsreiz (Ammoniak) oder ein dosierter elektrischer Schlag, um ihm die sexuelle Erregung beim Anblick eines Kindes abzugewöhnen. Wir wissen heute, dass diese Behandlungen kontraproduktiv sind und eher schaden. Dann kamen einzelne kognitiv-behaviorale Module hinzu, mit denen auch positive Verstärker für sozial akzeptables Verhalten konditioniert werden sollten. Inzwischen gibt es eine Reihe etablierter umfangreicher Programme für die Straftäterbehandlung, auf die im Folgenden etwas näher eingegangen werden soll. 91 Referate Tab. 1: Manualisierte Psychotherapieprogramme für Straftäter Relapse Prevention (RP) Reasoning & Rehabilitation (R&R) Sex Offender Treatment Program (SOTP) Behandlungsprogramm für Sexualtäter (BPS) Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT) Transference Focused Psychotherapy (TFP) Mentalized-Based Treatment (MBT) Ausgangspunkt für die Rückfallpräventionsbehandlung (Relapse Prevention, RP), entwickelt in den 1980er Jahren von Marlatt, war die stationäre Suchtbehandlung mit ihren wenig anhaltenden Erfolgen. Zwar war es gelungen, die Patienten während der stationären Behandlung zur Abstinenz zu bewegen, doch wurden bis zu 80 % bald nach der Entlassung wieder rückfällig. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, ein Programm zur Nachbehandlung zu entwickeln, in dem der Rückfallzyklus bearbeitet wurde (Abb. 1). Abb. 1: Klassischer Rückfallzyklus: Der Weg in die Hochrisikosituation 92 Referate Abb. 2: Klassicher Rückfallzyklus: Von der Hochrisikosituation zum Rückfall Im Jahr 1983 wurde das Modell von Pithers auf die Sexualstraftäterbehandlung übertragen und zunehmend erweitert. Abb. 3: Anwendung auf Sexualstraftäterbehandlung 93 Referate In der Folge setzten sich RP-Programme im US-amerikanischen Gefängniswesen durch und wurden fast zu einer Industrie. Neben den Arbeiten von Pithers (1990) wurden insbesondere jene von Laws (1989) in Florida bekannt. Anfangs waren RP-Programme reine Nachsorgeprogramme nach unterschiedlichen anderen Basisprogrammen, später wurden sie ausgeweitet zu eigenständigen Therapieprogrammen und vielfach modifiziert, insgesamt aber erstaunlich wenig evaluiert (Pfäfflin 1995). Modifikationen beziehungsweise einzelne Module finden sich in den Abbildungen 4 und 5. Abb. 4: Beispiel aus RP-Programm 94 Referate Abb. 5: Weiteres Beispiel aus RP-Programm Bevor man ein Programm zur Aufrechterhaltung des Behandlungserfolgs herausbringt, also ein Rückfallpräventionsprogramm, sollte man allerdings zunächst eine Vorstellung davon haben, wie das Behandlungsbasisprogramm aussieht. Das war in den Anfängen der Rückfallprävention kaum der Fall. Rückfallpräventionsprogramme haben sich in so vielfältiger Weise entwickelt, dass sie nur schwer über Institutsgrenzen hinaus zu evaluieren waren. Über lange Zeit fehlten systematische Untersuchungen über den spezifischen Beitrag einzelner Elemente zum Behandlungserfolg. Erst ab etwa Mitte der 1990er Jahre begannen Hudson und Ward in Neuseeland damit einzelne Module näher zu untersuchen. 95 Referate Spezifische kognitiv-behaviorale Programme für Sexualstraftäter wurden vor allem von William Marshall und seinen Mitarbeitern in Kanada entwickelt, ohne dass die Autoren gleich ein manualisiertes Programm mit eigenem Markennamen verkaufen wollten, wie dies sonst meist der Fall ist. Sie beschrieben, was sie in der Therapie anboten, und sie verbreiteten ihre Erkenntnisse durch umfangreiche Vortragstätigkeit und Schulungen sowie viele Publikationen. Sie differenzierten die Ihnen bereits geläufigen Unterscheidungen nach Risikogruppen (risk) und fokussierten auf die je spezifischen Bedürfnisse einzelner Gruppen von Straftätern sowie einzelner Patienten (needs) und deren Ansprechbarkeit (responsitivity). Und schließlich differenzierten sie deliktspezifische Therapieziele (offense specific targets) – wie zum Beispiel die Bearbeitung von Verleugnung und Spaltung, Rationalisierung, Bagatellisierung, die Entwicklung von Empathie mit dem Opfer, Einstellungen und Werthaltungen – von weiteren Therapiezielen, die nur einen indirekten Bezug (offense related targets) zu deliktischem Verhalten haben, wie zum Beispiel Abstinenz von Alkohol- und Drogenmissbrauch, Ärger-Management, social skills training, assertiveness training. Letztere betreffen allgemeine Risikofaktoren. Was damals neu war, nämlich die Beachtung der Ressourcen der Klienten und der ihnen als Personen zu zollende Respekt, sind seit Marshalls und den Arbeiten seiner Mitarbeiter zu wichtigen Pfeilern der Behandlung geworden, und sie kontrastieren deutlich zu den alten verhaltenstherapeutischen Aversionsprogrammen. Ein weiteres manualisiertes Programm ist das Reasoning and Rehabilitation-Programme (R&R), entwickelt von Ross und Mitarbeitern in Kanada, in Deutschland über den Hessischen Maßregelvollzug in Haina inzwischen an mehreren Stellen eingeführt. Es ist ein bezüglich Delikten unspezifisches Programm für Straftäter, das sich im kanadischen Strafvollzug sehr bewährt hat. Die Teilnehmer lernen ganz generell Probleme zu lösen, üben soziale Fertigkeiten ein, lernen, ihre Emotionen differenziert wahrzunehmen und auszuhalten, und sie üben sich in kreativem Denken und kritischem Urteilen. In der Januar-Ausgabe der Zeitschrift Psychology, Crime and Law publizierten Tong u. Farrington eine umfangreiche internationale Metaanalyse, in der vier Studien aus Kanada, acht aus den USA, zwölf aus dem Vereinigten Königreich und eine aus Schweden evaluiert wurden. Danach wurden Teilnehmer des R&RProgramms um 14 % weniger rückfällig als Teilnehmer von Kontrollgruppen. Interessanterweise sind diese Ergebnisse schlechter als jene einer früheren Metaanalyse, in die nur sieben Studien einbezogen worden waren und in der die Erfolgsrate im Vergleich zu nicht mit diesem Programm behandelten Kontrollpersonen um 26 % höher gelegen hatte. Was man daran sehen kann, ist, dass alle Behandlungsprogramme, wenn sie erst einmal verbreitet und irgendwie zur Routine werden und der anfängliche missionarische Eifer wegfällt, auch an Wirksamkeit verlieren können. Oder sie werden eben nicht in der entsprechend erwarteten Behandlungsintegrität oder ohne genaue Beachtung von Indikationskriterien angewandt. Das Sex Offender Treatment Programme (SOTP) wurde für den englischen Strafvollzug entwickelt und inzwischen ebenfalls in deutsche Einrichtungen des Straf- und Maßregelvollzugs übernommen. Die Klienten werden nach Risikogruppen ausgewählt, und auch beim Personal erfolgt eine Auswahl. Neben diplomierten Psychologen werden auch andere Bedienstete des Vollzugspersonals geschult und als Therapeuten eingesetzt. In diesem Programm legt man größten Wert darauf, dass die Programmintegrität gewahrt wird, d. h. dass die Anwender tatsächlich auch das anwenden, was das Programm vorsieht, weshalb alle Sitzungen auf Video aufgezeichnet und in Supervisionen besprochen werden. 96 Referate Abb. 6: Stundenplan des SOTP-Basisprogramms Der Stundenplan des Basisprogramms von 2000 (der allerdings immer wieder aktualisiert wird) umfasst ein Curriculum von insgesamt 85 Sitzungen (Abb. 6). Das nach Lehrplan zu absolvierende Stundenkontingent wirkt relativ starr, doch gibt es für spezielle Gruppen, zum Beispiel Minderbegabte, Modifikationen. Auch werden inzwischen Slow-open-Gruppen angeboten, da nicht in jeder Einrichtung gewährleistet ist, dass die Teilnehmer über ein volles Curriculum konstant bleiben. Für einzelne Teilnehmer braucht man mehr Stunden und spätere Aufwärmsitzungen, man braucht für manche ein noch längeres Programm oder Aufwärmsitzungen, um nur einige Varianten zu nennen. Eindrucksvoll ist, dass dieses 97 Referate Programm hochintensiv mit bis zu drei Doppelstunden oder mehr in der Woche durchgeführt wird. Damit wird einer Erkenntnis der allgemeinen Psychotherapieforschung Rechnung getragen, dass die Anwendungsdosis tatsächlich auch etwas Wesentliches zum Therapieerfolg beiträgt. Das Behandlungsprogramm für Sexualtäter (BPS), entwickelt im niedersächsischen sozialtherapeutischen Justizvollzug und inzwischen auch in den allgemeinen Strafvollzug anderer Bundesländer sowie in einzelne Maßregelvollzugskliniken exportiert, enthält viele Elemente aus dem SOPT, den RPs, dem R&R, den kognitiv-behavioralen Programmen, wie sie von Marshall und Mitarbeitern entwickelt wurden, scheint aber insgesamt vom Zeitaufwand her weniger intensiv, was sicher mit den im Vergleich zum Maßregelvollzug geringeren finanziellen und personellen therapeutischen Ressourcen des Strafvollzugs zu tun hat. Darüber hinausgehend gibt es manualisierte Programme, die primär nicht für das forensische Setting entwickelt wurden, die inzwischen aber auch im forensischen Kontext zur Anwendung kommen. Hierzu zählt erstens die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach Marsha Linehan, die primär für präsuizidale Borderline-Patientinnen entwickelt wurde. Sie zielt auf Verhaltensänderung über die Entwicklung und das Ausprobieren und Bewerten von Handlungsalternativen. Behandlungstechnisch geht es um das Verstärken positiven Verhaltens, aversive Beantwortung negativen Verhaltens, kognitive Umstrukturierung sowie das Training psychosozialer Fertigkeiten in der Gruppe. Meines Wissens wurde sie im Rahmen des Maßregelvollzugs erstmals in Haina angewandt, wobei sich vor allem bezüglich der aversiven Beantwortung negativen Verhaltens behandlungstechnisch große Probleme ergaben, die Modifikationen erforderten. In einem Beitrag im International Journal of Forensic Mental Health berichteten Berzins u. Trestman im Jahr 2004 über gute Erfahrungen mit diesem Programm in sechs forensischen Einrichtungen in den USA. Meine Arbeitsgruppe hat vor kurzem eine Implementationsstudie mit DBT in einer rheinischen Maßregelvollzugsklinik abgeschlossen. Die übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference Focused Psychotherapy, TFP) nach Clarkin und Mitarbeitern wurde ebenfalls für Borderline-Patienten sowie für Patienten mit narzisstischen und dissozialen Persönlichkeitsstörungen entwickelt und dann auch im forensischen Feld erprobt. Im Kontrast zu allen anderen bisher genannten manualisierten Programmen steht hier nicht die Gruppentherapie im Zentrum, sondern Einzeltherapie, was im Maßregelvollzug schwierig sein kann. Obwohl anders formuliert, unterscheiden sich die Behandlungsziele nicht grundsätzlich von jenen der anderen Programme. Für die TFP werden sie folgendermaßen formuliert: Strukturelle Veränderung, um maladaptive Verhaltensweisen, die zu affektiven Störungen und zu Beeinträchtigungen interpersoneller Beziehungen führen, zu korrigieren. Behandlungstechnisch liegt der Akzent auf Klärung, Konfrontation, Interpretation und Deutung unbewusster Objektbeziehungen, die sich in Übertragung und Gegenübertragung manifestieren. Im Unterschied zu den anderen Programmen ist die TFP im Stundenplan weniger festgelegt und zeitlich offener, so dass man sich abwechselnd immer wieder in die verschiedenen Ebenen begeben kann. Inhaltlich sind die Zielhierarchien der beiden Programme DBT und TFP durchaus ähnlich. Am Anfang geht es um die Bewältigung von Eigen- und Fremdgefährdung, d.h. um Suizidalität, suizidale Drohungen, Parasuizidalität und (vitale) Gefährdung anderer. Im Weiteren geht es um die Bewältigung affektiver und kognitiver Konfliktsituationen. Zunächst werden die gefährlichsten Situationen bearbeitet, bis 98 Referate dann in die gesünderen Bereiche vorgestoßen werden kann, wie dies an der vergleichenden Zielhierarchie von DBT und TFP ablesbar ist (Abb. 7). Abb. 7: Vergleichende Zielhierarchie von TFP und DBT Zu nennen ist schließlich das Mentalization-Based Treatment (MTB) nach Bateman u. Fonagy. Entwickelt in England, ist es meines Wissens bisher in der Forensik in Deutschland noch nicht angekommen. Es basiert auf der Bindungstheorie und versucht jene Mentalisierungsprozesse bei Straftätern nachzuholen, die sie in ihrer Entwicklung früher nicht durchgemacht haben. Dazu gehören zum Beispiel die Fähigkeit zu symbolisieren, eine Vorstellung von sich als Person und auch von anderen und damit Empathie zu entwickeln. Die genannten manualisierten Programme werden im deutschsprachigen Raum in verschiedenen Einrichtungen des Maßregel- und/oder Strafvollzugs angewandt. Rückfallprävention in der klassischen amerikanischen Form erscheint überholt, aber Modifikationen werden in der Nachsorge vielerorts durchgeführt, so, wie bereits erwähnt, zum Beispiel im hessischen Maßregelvollzug. Dieser war auch führend bei der Einführung von R&R sowie DBT. SOTP wurde zuerst von der Abteilung für Sexualforschung und Forensik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf im sozialtherapeutischen Kontext des Hamburger Justizvollzugs eingeführt und gleichzeitig psychodynamisch erweitert. Das BPS hatte seinen Ausgangspunkt in der Sozialtherapeutischen Anstalt Lingen und wird inzwischen im Justiz- und Maßregelvollzug angeboten. DBT und TFP werden in mehreren Maßregelvollzugskliniken durchgeführt, TFP auch im Forensisch-Therapeutischen Zentrum Wien (FTZW), dessen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen inzwischen großenteils darin geschult sind. Die Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm hat in den zurückliegenden drei Jahren in zwei Maßregelvollzugskliniken Nordrhein-Westfalens ein Projekt zur Implementation von TFP und DBT durchgeführt. Geplant war zunächst, beide Programme in 99 Referate beiden Kliniken mit Parallelgruppen einzuführen, doch hätte dies eine Überforderung der Mitarbeiter bedeutet, die sich gleichzeitig auf zwei unterschiedliche neue Arbeitsstile hätten einstellen müssen. Deshalb entschied sich je eine Klinik für je eines der Verfahren. Eindrucksvoll war, wie sehr die Mitarbeiter von den Schulungen und Supervisionen profitierten, anfangs sogar mehr als die Patienten. Für viele der Mitarbeiter war neu, in einem Ausmaß wie nie zuvor in die therapeutischen Prozesse einbezogen zu werden. Die Patienten wurden in sechsmonatigen Abständen mit Fragebogen befragt und testpsychologisch untersucht, und die absoluten und dimensionalen Werte für Persönlichkeitsstörungen und eine ganze Reihe anderer Symptome reduzierten sich deutlich. Zum Abschluss dieses Abschnitts kann man fragen, was für und was gegen die Anwendung manualisierter Behandlungsprogramme spricht. Jene Punkte, die dafür sprechen, wurden bereits oben aufgeführt. Dagegen könnte sprechen, dass solche Programme oft unflexibel sind, wenn man sie genau nach Stundenplan durchführt; dass sie technizistisch und schulmeisterlich angewandt werden können, durchgepaukt, ohne sich wirklich auf die momentane Verfassung von Mitarbeitern und Patienten einzustellen. Die Anwendung von Programmen kann ermüdend sein, ähnlich dem, wenn ein Grundschullehrer jahraus jahrein den ABC-Schützen das Einmaleins und das Alphabet beibringen muss. Er weiß, wie es geht, aber von Jahr zu Jahr immer dasselbe anzuwenden, hat etwas Ermüdendes, es fehlt sozusagen der für Therapien ganz zentrale Aspekt, dass immer etwas Neues passieren muss. Neu für den Patienten, aber auch für den Therapeuten, damit beide in ihrer Aufmerksamkeit nicht ermüden. Im Schwerpunktheft der Zeitschrift Recht & Psychiatrie über Sexualstraftäterbehandlung (22. Jahrgang, 2004, Heft 2) kann man nachlesen, dass neben den manualisierten Therapieprogrammen auch nicht-manualisierte Therapien durchaus wichtig bleiben und wirksam sind, zum Beispiel auch psychodynamische Einzeltherapie im ambulanten Setting. Es ist ein Heft mit vielen Beiträgen über die Sexualstraftäterbehandlung im Einzel- ebenso wie im Gruppensetting, im Setting des Justiz- ebenso wie des Maßregelvollzugs und im ambulanten Setting, kognitiv-behavioral ebenso wie psychodynamisch. Erwähnenswert an diesem Heft ist auch, wie schwierig es war, dafür geeignete Beiträge zu finden, weil man kaum Therapeuten findet, die über ihre erfolgreiche Behandlungen berichten mögen. Sie haben nämlich häufig Angst, der Nachuntersuchungszeitraum sei vielleicht nicht lang genug, und der Patient könnte doch noch einmal rückfällig werden. Erfolgreiche Behandlungen, die statistisch ja weit häufiger sind als gescheiterte, werden weit seltener publiziert. Das ist ein großes Problem des Maßregelvollzugs. Herr Dr. Wolf hat ein sehr positives Bild von der Entwicklung des Maßregelvollzugs vom Verwahrvollzug zum therapeutischen Vollzug gezeichnet. Nun ist die Frage: Hat diese Entwicklung tatsächlich stattgefunden? Zunächst ist wichtig festzuhalten, dass im deutschen Maßregelvollzug inzwischen erheblich mehr therapiert wird, als dies noch vor 28 Jahren der Fall war, als Herr Professor Leygraf seine Bestandsaufnahme des westdeutschen und Westberliner Maßregelvollzugs vorlegte. Es gibt allerdings auch Einwände gegen die These, der Maßregelvollzug habe sich zum therapeutischen Vollzug verändert. Wir haben mehr als doppelt so viele Patienten, als zurzeit von Herrn Leygrafs Untersuchungen (seine Datenerhebung war 1984 abgeschlossen). Dabei ist die Vergrößerung des Landes durch die Wiedervereinigung bereits berücksichtigt. Des Weiteren haben wir doppelt so lange Aufenthaltsdauern, wobei es regional erhebliche Unterschiede gibt. Es gibt Kliniken, in denen 100 Referate sich die Liegezeiten verdoppelt und verdreifacht haben. Es gibt Maßregelvollzugskliniken ohne Lockerungen im nahen Umfeld, die schon unter dieser Bedingung gebaut worden sind, und wir haben uns mit den Longstay-Units abgefunden. Laut den einleitenden Worten Ihres Ministers sind 15-20 % der Patienten auf Dauer Longstay-Patienten. Er hat dies positiv (und anders herum) formuliert: 80-85 % der Maßregelpatienten seien therapiefähig und könnten sich verändern. Berücksichtigt man jene, die darin nicht eingeschlossen sind, heißt dies, dass man sich auf 15-20 % eingestellt hat, die Longstay-Patienten werden. Therapiefähigkeit ist im Übrigen nach Professor Rasch, dem früheren Lehrstuhlinhaber für Forensische Psychiatrie an der Freien Universität Berlin, und nach Privatdozent Dahle, der heute noch an dieser Einrichtung arbeitet, keine Klienteneigenschaft, sondern eine Eigenschaft der Einrichtung, die Therapie anbieten soll. Wir haben vom Herrn Minister auch gehört, dass im Zweifelsfall Sicherung vor Besserung Vorrang habe. Nimmt man all diese Punkte zusammen, kann man dann immer noch behaupten, der Maßregelvollzug habe sich vom Verwahr- zum Behandlungsvollzug verändert? Und wenn wir tatsächlich mehr behandeln, heißt dies auch, dass dabei mehr herauskommt? Mehr als doppelt so viele Patienten, doppelt so lange Aufenthaltsdauer, keine Lockerungen, LongstayUnits? Spricht all dies für erfolgreicheren Behandlungsvollzug? Das will ich einfach hier als Frage stehen lassen. Ich will Ihnen dazu einen Fall schildern: Der Patient befindet sich wegen pädosexueller Handlungen seit über 20 Jahren im Freiheitsentzug. Zunächst absolvierte er im Vorwegvollzug die vom Gericht verhängte Freiheitsstrafe von weniger als vier Jahren. Seither befindet er sich nach § 63 im Maßregelvollzug. Ich habe ihn im vergangenen Jahr in Bezug auf seine Gefährlichkeitsprognose und eventuelle Vollzugslockerungen begutachtet; insgesamt lagen mir sieben ausführliche psychiatrische Vorgutachten sowie die jährlichen Stellungnahmen nach § 67e StGB aus der Maßregelvollzugsklinik, in der er untergebracht ist, vor. Gestützt auf diese Stellungnahmen stellte sich der Verlauf als nicht einfach linear dar. Es gab Zeiten, in denen der Proband deutliche Fortschritte gemacht hatte, und andere Phasen, in denen über Rückschritte oder Stagnation der Behandlung berichtet wurde. In einer dieser Stellungnahmen aus der Klinik, die man auch als „Prognosegutachten“ werten kann, heißt es: „Die gestellten Diagnosen und die prognostisch ungünstige Einschätzung, des [17 Jahre zurückliegenden] Einweisungsgutachtens konnten im Verlauf der Unterbringung in der hiesigen Klinik bestätigt werden.“ Aus meiner Sicht markiert die Formulierung „bestätigt werden“ den Tiefpunkt des deutschen Maßregelvollzugs eher als einen Wandel zum Behandlungsvollzug. Und zwar deshalb, weil es nicht Aufgabe von Maßregelvollzugskliniken ist, ungünstige Prognosen zu verifizieren oder zu bestätigen, sondern die Voraussetzungen für deren Falsifizierung zu schaffen. Inzwischen habe ich auch die Anhörung bei der zuständigen Strafvollstreckungskammer miterlebt, und ich muss sagen, das war ziemlich entsetzlich. Es war im März d. J. und erinnerte mich an alles das, was ich früher in meinen Forschungen über das Dritte Reich und über Erbgesundheitsgerichte gelesen hatte, als die Erbgesundheitsgerichte in den Kliniken tagten und Sterilisationsbeschlüsse erließen. Die Strafvollstreckungskammer saß mit ihren drei Mitgliedern in einem großen Richterzimmer, während die Patienten, ihre Anwälte und Gutachter in einem kleinen Flur ohne Sitzgelegenheit standen und warteten. Es wurden immer drei Patienten zur Viertelstunde bestellt, so dass man also in einer Stunde leicht zehn Fälle 101 Referate durch hatte. Bei dem von mir begutachteten Patienten hatte Herr Professor Nedopil schon drei Jahre zuvor ein hervorragendes Gutachten geschrieben, in dem er sagte, der Mann müsse gelockert werden, denn er zeige bereits Hospitalisierungserscheinungen. Das war auch mein Eindruck, und ich habe in meinem ausführlichen Gutachten die bisherigen Behandlungsfortschritte detailliert dargestellt. Die Strafvollstreckungskammer war aber ausschließlich an der Beantwortung der Frage interessiert: Ist er nun gefährlich oder nicht? Jede meiner Antworten, die weiter ausholte und den Gesamtverlauf thematisierte, wurde vom Vorsitzenden sofort abgeschnitten. Die Kammer wollte keine differenzierte Antwort, sondern ein kurzes Ja oder Nein. Das war so deprimierend, dass ich daran dachte, meinen Beruf aufzugeben. Sollen sich doch andere einer solchen Farce stellen. Vom wissenschaftlichen Brachland zur wissenschaftlichen Goldgrube Zur Prüfung dieser zweiten These habe ich zusammengestellt, wie positiv sich die Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in den zurückliegenden dreißig Jahren entwickelt hat, abzulesen an Zeitschriften- und Buchbeiträgen, an nationalen und internationalen Kongressen, an Fortbildungen und schließlich an der Höhe eingeworbener Drittmittel zu Forschungszwecken. Weil Herr Dr. Wolf dazu bereits viele Ausführungen gemacht hat, kann ich diesen Abschnitt überspringen. Nicht überspringen dagegen kann ich die Frage, ob es Einwände gegen die These gibt, der Maßregelvollzug habe sich vom wissenschaftlichen Brachland zur Goldgrube entwickelt. Haben wir vielleicht doch nicht so viel erreicht? Nein, es gibt keine Einwände, der Maßregelvollzug ist eine Wachstumsbranche geworden, das Wort habe ich von Herrn Professor Nedopil übernommen. Tatsächlich interessieren sich jetzt schon private Träger für den Maßregelvollzug, und einige Maßregelvollzugskliniken werden bereits in privater Trägerschaft geführt. Es sollte hellhörig machen, wenn die private Wirtschaft plötzlich den Maßregelvollzug übernehmen will. Aus einer Maßregelvollzugsklinik in den neuen Bundesländern weiß ich, dass dort 50 % Überbelegung herrscht; statt 210 Planbetten sind dort 307 Patienten untergebracht, u. a. aus wirtschaftlichen Gründen, offensichtlich eine Goldgrube. Aus Zentren für Psychiatrie in Baden-Württemberg weiß ich, dass die Maßregelvollzugseinheiten mancherorts der finanziell stabilste Teil sind. In diesen Tagen findet in Nordrhein-Westfalen eine Tagung statt mit der bemerkenswerten Frage „Maßregelvollzug: Psychiatrie der Zukunft?“ als Hauptüberschrift. Die allgemeinen Psychiatrien werden immer kleiner, weil immer mehr Patienten ambulant behandelt werden. Im Kontrast dazu ist der Maßregelvollzug die Wachstumsbranche, in Zukunft womöglich der einzige Ort, an dem Langzeitverläufe psychiatrischer Krankheiten zu studieren sind. Als im Maßregelvollzug und in der Forensischen Psychiatrie und Psychotherapie Beschäftigter mag man sich über solche Entwicklungen womöglich freuen, doch ist dieser Freude kritisch die Frage entgegenzuhalten, ob dies alles wirklich der Verbesserung der Behandlungsaussichten der Maßregelpatienten dient. Zu bedenken ist schließlich eine Entwicklung in den kognitiven Neurowissenschaften. So anregend manche ihrer Befunde sein mögen, so kritisch wird man dem in jüngster Zeit immer lauter wertenden Geltungsanspruch dieses Forschungszweigs entgegentreten müssen, wenn es 102 Referate darum geht, die menschliche Freiheit zu definieren. Exemplarisch formuliert ist dieser Anspruch in der Überschrift eines Aufsatzes von Herrn Professor Wolf Singer: „Wir sollten aufhören, von Freiheit zu sprechen.“ Zur Kritik dieses Anspruchs kann hier auf den Vortrag von Herrn Professor Hoff verwiesen werden. Vom Schlechtachten zum Gutachten Zur letzten These genügen kurze Ausführungen. Der Schwerpunkt „Forensische Psychiatrie“ ist mittlerweile von den Landesärztekammern eingeführt worden, zuletzt im Mai d. J. von der Landesärztekammer Baden-Württemberg. Außer der Qualifikation in Fragen forensischpsychiatrischer Gutachten setzt er Qualifikation in der Arbeit im Maßregelvollzug voraus. Vermutlich wird die Einführung des Schwerpunkts zu weiterer Qualifikation der Forensischen Psychiatrie führen. Ich kenne zwei Klinikchefs von Maßregelvollzugskliniken, die beide die von der DGPPN bereits früher definierte Qualifikation, die mehr voraussetzt, als was die Ärztekammern verlangen, nicht zuerkannt bekamen. Einer von ihnen schreibt zwar keine brillanten Gutachten, aber seine Klinik funktioniert hervorragend einschließlich der Zusammenarbeit mit den zuständigen Strafvollstreckungskammern. In seiner Klinik sind zur Zeit zehn Betten frei, weil er primär an der Rehabilitation der Patienten interessiert ist, so früh wie möglich mit gut abgesicherten Lockerungen beginnt, deshalb keine überlangen Aufenthaltsdauern und keine Überbelegung hat. Atmosphärisch eine wunderbar arbeitende Klinik, ungeachtet dessen, dass man manche der aus der Klinik stammenden Gutachten unter formalen Gesichtspunkten kritisieren mag. Der andere schreibt exzellente Gutachten, aber er benutzt jene aktuarischen Einschätzinstrumente nicht, die heute erwartet werden. Es erscheint ihm überflüssig, da er bei seinen ausführlichen Explorationen ohnehin all jene Fragen berücksichtigt, die in den standardisierten Instrumenten vorkommen. Die Zahlenwerte interessieren ihn nicht, wohl aber die Inhalte. Von der DGPPN bekam er die Bezeichnung „Forensische Psychiatrie“ nicht, weil seine Gutachten als formal ungenügend eingestuft wurden. Gibt es tatsächlich die Wende vom Schlechtachten zum Gutachten? Gibt es da auch eine Wende? Wenn ich in den vergangenen Jahren Prognosegutachten über Patienten aus Maßregelvollzugskliniken erstellte, handelte es sich meist um Patienten, die schon lange untergebracht waren und über die bereits drei oder vier sehr ausführliche Vorgutachten vorlagen. Die meisten dieser Gutachten waren formal hervorragend, was die Prognosen betraf dagegen besonders schlecht. Ich halte nicht viel von Gutachterschelte, weil ich bei einem meiner ersten Gutachten, erstellt lange bevor es die ICD-10 gab und die Diagnose der emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, selbst einer solchen, mir ungerechtfertigt erscheinenden Kritik ausgesetzt war. In dem Gutachten hatte ich eine Borderline-Störung beschrieben und diagnostiziert. Noch vor der Hauptverhandlung wurde mein Gutachten vom Staatsanwalt einem anderen Forensiker übergeben, der dem Gericht dann eine lange Stellungnahme über den „Unsinn Borderline-Störung“ in die Hand spielte, und bei der Hauptverhandlung wurde ich deswegen richtig vorgeführt. Andere auf diese Weise anzugreifen und zu versuchen, sie bloßzustellen, finde ich im Prinzip unangemessen. Kürzlich habe ich mich aber dazu entschlossen, in einem eigenen Gutachten über ein Vorgutachten zu urteilen, nämlich dass es sich „allenfalls als Negativ-Beispiel für die Weiterbildung von Forensischen Psychiatern eignet“, mit der Begründung, in dem Gutachten 103 Referate würden zwar alle zur Verfügung stehenden Messinstrumente angewandt und darauf gestützt die negativste Prognose gestellt, dem Patienten werde aber keine Luft mehr zum Atmen gelassen. Nach meinem Dafürhalten muss ein Gutachten etwas zur Verbesserung der Prognose beitragen, sonst kann man es sich sparen. Es genügt nicht, eine Diagnose und Prognose zu stellen. Es müssen sowohl dem Patienten als auch der Klinik, in der er behandelt wird, und schließlich dem Gericht Wege aufgezeigt werden, wie sich die Prognose verbessern lässt. Im Jahr 1978 publizierte ich eine empirische Auswertung von weit über 900 Gerichtsakten aus Sexualstrafverfahren aus dem OLG-Bereich Hamburg einschließlich der darin enthaltenen psychiatrischen Gutachten. In einem der Gutachten fand sich eine schöne Fehlleistung: „Auf Ersuchen des Oberstaatsanwalts beim Landgericht Hamburg erstatte ich über die Zurechnungsfähigkeit und als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher das folgende psychiatrische Gutachten über ……“ Dieses Zitat fällt mir immer wieder ein, wenn ich eines jener „perfekten“ Gutachten lese, die im Wesentlichen der Absicherung von Gutachtern dienen, indem sie eine möglichst ungünstige Gefährlichkeitsprognose stellen, aber nichts zu deren Verbesserung beitragen. Bei der Vorbereitung des Beitrags für diese Tagung hatte ich nicht erwartet, dass Sie, Herr Dr. Wolf, ein so optimistisches Bild über den Maßregelvollzug verbreiten würden, sonst hätte ich vielleicht noch mehr Pessimistisches dagegengehalten. Aber ich will auch noch was Positives sagen. Im Maßregelvollzug kann sich tatsächlich nur etwas ändern, wenn die Mitarbeiter des Maßregelvollzugs stolz auf die Einrichtung sind, in der sie arbeiten, und stolz auf die Arbeit, die sie machen. Sie sollen nicht in der Defensive bleiben, sich verstecken und sagen, ‚wir machen hier die schlimme Arbeit, und wir verstehen ja, dass die Politiker und die Öffentlichkeit immer mehr Sicherheit wollen’. Sie sollen vielmehr offensiv vertreten, dass sie die weit überwiegende Zahl ihrer Patienten, die aus der allgemeinen Bevölkerung kommen, erfolgreich behandeln. Ohne Maßregelvollzug wäre es um die öffentliche Sicherheit viel schlechter bestellt. Abschließend lade ich Sie alle ein zum 9. Kongress der International Association for the Treatment of Sexual Offenders, der vom 6.-9. September 2006 im Hauptgebäude der Universität Hamburg stattfinden wird (infos unter: http://www.iatso.org/). 104 REFERENTENVERZEICHNIS Prof. Dr. Volker Dittmann ♦ Leitender Arzt für Forensische Psychiatrie Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel Wilhelm Klein-Straße 27 CH-4025 Basel Tel: +41-61-325-5231 [email protected] Prof. Dr. Rudolf Egg ♦ Direktor der Kriminologischen Zentralstelle e. V. Viktoriastraße 35 65189 Wiesbaden Tel: +490611/15758-0 Fax: +490611/15758-10 [email protected] Prof. Norbert Konrad ♦ Institut für Forensische Psychiatrie Charité – Universitätsmedizin Campus Benjamin Franklin Limonenstraße 27 12203 Berlin Tel: +49-30-8445-1413 oder +49-30-90144515/-16 norbert.konrad@charité.de Prof. Dr. Friedemann Pfäfflin ♦ Sektion Forensische Psychotherapie Universitätsklinikum Ulm Am Hochsträß 8 89089 Ulm Tel: +49-731-500 25670 [email protected] Dr. Rolf Grünebaum ♦ Leitender Oberstaatsanwalt Kirchhofstraße 1 - 2 14776 Brandenburg an der Havel Tel: + 49-3381-295 200 Fax: + 49-3381-295 210 [email protected] Friedrich Schwertfeger ♦ Chefarzt der Klinik für forensische Psychiatrie und Psychotherapie Klinikum Bremen -Ost gGmbH Züricher Straße 40 28325 Bremen Tel: +49-0421-408 2776 Fax: +49-0421-408 1807 Friedrich.Schwerdtfeger@ klinikumbremen-ost.de Josef Hecken ♦ Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales Franz-Josef-Röder-Straße 23 66119 Saarbrücken Tel: + 49-681-501 3333 Fax: + 49-681-501 3641 [email protected] www.justiz-soziales.saarland.de Dr. jur. Thomas Wolf Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff ♦ Chefarzt und stv. klinischer Direktor Psychiatrische Universitätsklinik Zürich Klinik für soziale Psychiatrie Allgemeinpsychiatrie Zürich West Lenggstrasse 31 – Postfach 1931 CH-8032 Zürich Tel: +41-44-384-2676 Fax: +41-44-384-2506 [email protected] www.pukzh.ch ♦ Vorsitzender Richter am Landgericht Marburg Universitätsstraße 48 35037 Marburg Tel: +49-6421/290141 [email protected] 107 ANHANG Anhang Daten und Fakten des saarländischen Maßregelvollzugs 22 ■ Im Maßregelvollzug werden Straftäter untergebracht, die wegen psychischer Erkrankung oder Suchtstoffabhängigkeit zum Zeitpunkt der Tat schuldunfähig oder vermindert schuldfähig waren. Die Maßregel verhängt das Strafgericht. ■ Auftrag des Maßregelvollzugs ist es, die Bevölkerung vor weiteren erheblichen rechtswidrigen Taten zu schützen. Daher werden die sicherheitsrelevanten Anlagen der SKFP ständig aktualisiert und optimiert. Gleichermaßen entscheidend für den wirksamen Schutz der Allgemeinheit ist die Sicherung und Optimierung einer qualitativ hochwertigen Therapie. Damit leistet der Maßregelvollzug einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit der Bevölkerung. ■ In Deutschland gibt es ca. 80 Einrichtungen des Maßregelvollzuges mit rd. 9.000 Patienten. Im Saarland werden alle Patienten in der „Saarländischen Klinik für Forensische Psychiatrie“ (SKFP) in Merzig behandelt und betreut. ■ Wie im gesamten Bundesgebiet so ist auch im Saarland die Zahl der Patienten in den letzten Jahren rapide angestiegen. Gab es Anfang der 90’er Jahre noch 50 Patienten im Maßregelvollzug, so war im Sommer des letzten Jahres mit über 170 Patienten ein historischer Höchststand erreicht. Seit einigen Monaten ist jedoch ein Rückgang der Patientenzahl zu verzeichnen. Gegenwärtig sind 160 Patienten in der SKFP in sieben Abteilungen untergebracht. In dem Zusammenhang generell von einer Trendwende zu sprechen, wäre verfrüht. ■ Die Patienten kommen aus allen Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten. Es befinden sich jedoch deutlich mehr Männer als Frauen im Maßregelvollzug. Die meisten Patienten sind zwischen 26 und 50 Jahre alt. ■ Die mit Abstand häufigste Anlasstat für die Unterbringung in der SKFP ist Körperverletzung. Daneben kommen u. a. auch Delikte wie Sachbeschädigung, Freiheitsberaubung, Tötungs- oder Sexualdelikte, Brandstiftung, Vermögensdelikte vor. ■ Die häufigsten Krankheitsbilder der Patienten sind Psychosen unterschiedlichster Ausprägung, gefolgt von Persönlichkeitsstörungen. Die Reintegration in die Gesellschaft bedarf einer unterschiedlich langen Therapiezeit, im Durchschnitt 5 Jahre. Bei manchen Patienten besteht jedoch keine Aussicht auf eine erfolgreiche Therapie, so dass kaum Entlassungsperspektiven entwickelt werden können. ■ Vor ihrer Entlassung durchlaufen die Patienten verschiedene Lockerungsstufen wie u. a. Ausführung, Frei- und Ausgang sowie Probewohnen zur Feststellung des Therapieerfolgs. Nach bedingter Entlassung werden die Patientinnen und Patienten während einer fünfjährigen Bewährungsphase durch die forensisch-psychiatrische Nachsorge betreut. 22 Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland Saarländische Klinik für Forensische Psychiatrie 110 Anhang Pressemitteilung Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland 18. Mai 2006 Justiz- und Gesundheitsminister Josef Hecken: Maßregelvollzug und Justizvollzug müssen kooperieren, weil sie viel miteinander zu tun haben und gemeinsame Verantwortung tragen Im Saarland derzeit 160 Patienten in der SKFP untergebracht „Wer zusammenarbeiten will, muss voneinander wissen. Deshalb ist es wichtig, dass beide Vollzugsarten nicht interessenlos nebeneinander herlaufen, sondern die jeweiligen Besonderheiten in den Focus genommen werden“, so Justiz- und Gesundheitsminister Josef Hecken anlässlich der Internationalen Fachtagung „Maßregelvollzug im Kreuzfeuer – Disput oder Dialog“ Ministeriums für Justiz, Gesundheit und Soziales und der Saarländischen Klinik für Forensische Psychiatrie (SKFP), an der über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus Deutschland, der Schweiz, Luxemburg und Frankreich teilnahmen. „Maßregel- und Justizvollzug sind zwar zwei Arbeitsfelder, die sich unterscheiden, different geprägt und gestaltet sind. Trotzdem ist es wichtig und richtig, dass im Rahmen der Fachtagung Experten aus der Psychiatrie und der Jurisprudenz zusammenfinden, um die Schnittmengen beider Fachbereiche auszuleuchten und ihre unterschiedlichen Standpunkte auszutauschen. Es steht außer Frage“, so Minister Hecken, „dass alle an den Maßregel- und Justizvollzug gerichteten Aufgaben und Erwartungen nur im Verbund zu erfüllen sind. Dem Maßregelvollzug komme hierbei die besondere Aufgabe zu, den Spagat zwischen therapeutischem Anspruch und der gleichzeitigen Beachtung des Schutzes der Öffentlichkeit zu leisten. Die Behandlung von Straftätern im Maßregelvollzug ist einerseits Mittel zum Zweck der Sicherheit der Gesellschaft, denn nur von erfolgreich therapierten Patienten ist keine Gefahr zu erwarten. Andererseits hat aber in unserer Rechtsordnung auch der Täter Anspruch darauf, mit Hilfe geeigneter therapeutischer Möglichkeiten eine Chance zur Wiedereingliederung in die Gesellschaft eingeräumt zu bekommen. Bei jeder Entscheidung über Entlassung, Lockerung und Widerruf einer Lockerung kann dieser Konflikt virulent werden. Selbstverständlich sei es richtig, dass Therapie und Sicherheit korrespondieren. Aber die Sicherheit der Bevölkerung und des betreuenden Personals dürften zu keinem Zeitpunkt außer Acht geraten. Im Zweifelsfall muss für die Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit entschieden werden“, betonte Minister Hecken. Weitere Themen der Fachtagung werden u. a. der Prozess des Maßregelvollzugs vom Schlusslicht der Psychiatrie zu einem Wegbereiter kriminaltherapeutischer Interventionen, eine historische Betrachtung des Faches Forensische Psychiatrie sowie Probleme und Ergebnisse der Rückfallforschung sein. Da Europa als Ganzes zusammenwachse –auch im Bereich des Maßregelvollzugs– komplettieren Erfahrungen aus der Schweiz im Umgang mit Therapie und Sicherung von psychisch kranken Straftätern das interessante und spannende Programm. 111