„Maßregelvollzug im Kreuzfeuer – Disput oder Dialog?“

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M i n i st e r i u m f ü r Ju st i z ,
G e su n d h e i t u n d S o z i a l e s
Dokumentation der Fachtagung
„Maßregelvollzug im Kreuzfeuer
– Disput oder Dialog?“
vom 18./19. Mai 2006 in Merzig
INHALT
VORWORTE
Josef Hecken
Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland ................................................. 10
Dr. Volker Heitz
Direktor der Saarländischen Klinik für Forensische Psychiatrie, Merzig...................... 11
I.
ERÖFFNUNGSREDE
Josef Hecken
Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland ................................................. 14
II.
REFERATE
Justizvollzug und Maßregelvollzug – Fehlplatzierung und Kooperation
Prof. Dr. Norbert Konrad, Berlin ................................................................................... 22
Privatisierung im Maßregelvollzug
- Hintergründe, aktueller Stand, Modelle, Risiken und Möglichkeiten
Friedrich Schwerdtfeger, Bremen .................................................................................. 30
Psychisch Kranke im Strafvollzug
Dr. jur. Rolf Grünebaum, Brandenburg ......................................................................... 39
Entwicklungen der Forensischen Psychiatrie in der Schweiz:
Modell für die Nachbarländer?
Prof. Dr. Volker Dittmann, Basel/Schweiz .................................................................... 48
Forensische Psychiatrie – Identität und Abgrenzung
Prof. Dr. Dr. Paul Hoff, Zürich/Schweiz........................................................................ 49
Straf- und Maßregelvollzug
- Probleme und Ergebnisse der Rückfallforschung
Prof. Dr. Rudolf Egg, Wiesbaden .................................................................................. 67
Maßregelvollzug – Rückblick und Vision
Dr. jur. Thomas Wolf, Marburg ..................................................................................... 78
Maßregelvollzug von außen betrachtet
Prof. Dr. Friedemann Pfäfflin, Ulm ............................................................................... 89
REFERENTENVERZEICHNIS........................................................................................... 107
ANHANG
1. Daten und Fakten des saarländischen Maßregelvollzugs................................................ 110
2. Pressemitteilung vom 18. Mai 2006,
Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland............................................ 111
VORWORTE
Vorworte
Mit dieser Tagung knüpft die Saarländische Klinik für Forensische Psychiatrie und das
Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales an den großen Erfolg der Tagung aus dem
Jahre 2004 an.
Maßregelvollzug und Justizvollzug haben „miteinander zu tun“. Gleichwohl sind es jedoch
zwei Arbeitsfelder, die sich unterscheiden, different geprägt und gestaltet sind.
Wer kooperieren will, muss voneinander wissen. Genau hierzu will diese Fachtagung
beitragen: Die Schnittmengen, Berührungspunkte sowie Kooperationsinhalte von
Maßregelvollzug und Justizvollzug ausleuchten. Dabei beschäftigt sich die Tagung auch mit
deren Problemen und Ergebnissen der Rückfallforschung.
Weitere Themen werden der Prozess des Maßregelvollzugs vom Schlusslicht der Psychiatrie
zu einem Wegbereiter kriminaltherapeutischer Interventionen und eine historische
Betrachtung des Faches Forensische Psychiatrie sein.
Da Europa als Ganzes zusammenwächst – auch im Bereich des Maßregelvollzugs komplettieren Erfahrungen aus der Schweiz im Umgang mit Therapie und Sicherung von
psychisch kranken Straftäter das interessante und spannende Programm.
Josef Hecken
Minister für Justiz,
Gesundheit und Soziales
10
Vorworte
Immer häufiger stellt sich in den Maßregel- und Strafvollzugseinrichtungen die Frage, ob der
Untergebrachte in der jeweiligen Einrichtung denn richtig sei. Und immer wieder wird
deutlich, dass solche Fragen dann am besten beantwortet werden, wenn sie aus verschiedenen
Blickwinkeln betrachtet werden.
Im Maßregel- und Strafvollzug als Gutachter und Therapeuten tätige Psychiater und Juristen,
die das der jeweiligen Unterbringung zugrunde liegende Urteil gefällt haben, werden von
unterschiedlichen praktischen Erfahrungen und juristischen Erwägungen erzählen. Im
Mittelpunkt wird eine Standortbestimmung des Maßregelvollzuges heute stehen verbunden
mit einem Austausch über seine Möglichkeiten und was für die forensische Psychiatrie
zukünftig realisierbar bleibt.
Das Saarland als Grenzland ist den Blick über die eigenen Grenzen gewöhnt. Aus den
Erfahrungen unserer Nachbarn wollen wir lernen. Für diese Fachtagung haben wir die
Schweiz gewählt, um auch kritisch den deutschen Maßregelvollzug von außen zu betrachten.
Dr. Volker Heitz
Direktor der Saarländischen
Klinik für Forensische Psychiatrie
11
I. ERÖFFNUNGSREDE
Eröffnungsrede
Josef Hecken 1
Sehr geehrter Herr Bürgermeister,
meine sehr verehrten Damen und Herren,
bevor ich in die Tagesordnung einsteige, glaube ich im Namen aller, die heute hier nach
Merzig gekommen sind, ein Wort des Dankes an die Organisatoren richten zu können. Ich
weiß, sehr geehrter Herr Dr. Heitz, Frau Dr. Bücken, Herr Annen, was Sie in den letzten
Wochen gemeinsam mit der Abteilung des Ministeriums an logistischem, zeitlichem und auch
energetischem Aufwand betrieben haben, um ein anspruchsvolles Programm, um
anspruchsvolle Referenten, um eine vernünftig organisierte Veranstaltung auf die Beine zu
stellen; eine Veranstaltung, die hoffentlich nutzt den Menschen, für die wir Verantwortung
tragen, eine Veranstaltung, die hoffentlich nutzt, um das, was wir beruflich bearbeiten
müssen, ein sensibles Themenfeld auch ein Stück weit richtig in den Blickpunkt der
Öffentlichkeit zu richten, nicht, um unsere eigene persönliche oder politische Wohlfahrt zu
befördern, sondern um rationalere Diskussionen über Dinge, die sich in Forensiken, aber auch
in Justizvollzugsanstalten abspielen, solche rationalere Diskussionen überhaupt erst zu
ermöglichen. Deshalb möchte ich im Namen aller herzlichen Dank sagen, an alle, die sich
krumm gelegt haben, und ich vergesse selbstverständlich auch Herrn Knorst und alle anderen
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter unserer forensischen Klinik hier nicht. Herzlichen Dank.
Sehr geehrte Damen und Herren,
ich möchte nicht in die Einzelthemen der Fachvorträge einsteigen, sondern versuchen, ein
bisschen aus der Sicht eines Sozial-, Gesundheits- und Justizministers Überbau zu geben und
beginne deshalb mit einer ganz banalen Feststellung: Manche sagen, die Feststellungen von
Politikern beschränken sich immer nur auf das Banale. Dem möchte ich aber heute
entgegentreten.
Ich beginne trotzdem mit einer banalen Feststellung, die ich im „stern“ gelesen habe und die
lautet: „Die geschlossene Psychiatrie ist eines der letzten Tabu-Themen unserer Gesellschaft“.
Ich habe gerade in der Pressekonferenz gesagt: Spätestens, nachdem vor einer Woche die
Entzauberung des Bundesnachrichtendienstes begonnen hat, kann man wahrscheinlich sagen,
die geschlossene Psychiatrie ist das letzte Tabu-Thema unserer Gesellschaft.
Diese Aussage ist richtig und weil sie richtig ist, ist sie auch so gefährlich.
Aus Unwissen, aus Halbwissen und aus Vorurteilen entsteht Angst – das weiß jeder.
Diejenigen, die im psychiatrischen Felde arbeiten, mögen es mir verzeihen, wenn ich jetzt
auch wieder mit einer banalen Feststellung komme. Aber ich habe mir überlegt: Wieso habe
ich früher immer Angst gehabt, wenn mir meine Mutter das pädagogisch sicher nicht
wertvolle Erziehungsinstrument des Einsperrens auf der dunklen Kellertreppe angedroht hat?
Ich habe Angst gehabt, weil ich nicht wusste, was auf der Kellertreppe war, vor Dingen, die
man nicht sieht, vor Dingen, die man nicht kennt, vor Dingen, die man nicht erkennt, hat man
Angst. Und aus Angst entsteht – nach meiner politischen Wahrnehmung – in aller Regel ein
sehr, sehr hohes Maß an Irrationalität. Sie wissen es besser als ich, viele Patienten mit
1
Minister für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland
14
Eröffnungsrede
Psychosen leben im Maßregelvollzug und nicht nur dort, in ihrer eigenen Welt, sie halten
Halluzinationen für wahr und die Wahrheit für ein Trugbild. Und ähnlich ist es in vielen
öffentlichen Diskussionen über den Maßregelvollzug und die forensische Psychiatrie.
Ich habe manchmal das Gefühl, als jemand, der eben Forensik von innen kennt, dass man hier
über irgendwelche Trugbilder diskutiert, die mit der Realität, mit der Wahrheit in den
Einrichtungen, auch mit den Patienten, für die wir Verantwortung tragen, sehr häufig
überhaupt nichts oder jedenfalls nicht viel zu tun haben.
Wir haben sowohl im Maßregelvollzug, als auch im Strafvollzug mit gleichen Problemlagen
zu kämpfen. Immer, wenn wir über Forensik reden, über forensische Psychiatrie und auch
über den Strafvollzug gilt es, das legitime Sicherheitsinteresse der Öffentlichkeit im Auge
behalten. Wir müssen auch immer bei unseren politischen Entscheidungen und bei unseren
fachlichen Entscheidungen, die Realität im Auge behalten und müssen dem einzelnen
Patienten gerecht werden. Sehr häufig ist das, was fehlt, mit unseren Aufgabenfeldern
verbunden wird, sehr weit weg von der Realität und deshalb ist es häufig auch völlig
irrational.
„Wegschließen, und zwar für immer!“ - so eine gängige Schlagzeile, die gelegentlich zu lesen
ist, wenn bestimmte Dinge die öffentliche Meinung erschrecken und die Öffentlichkeit auch
zu Recht erschrecken. Ein geflügeltes Wort, ich habe eben gesagt, fast so bekannt, wie die
Aussage „Wir sind Papst“. Solche Aussagen machen der Bevölkerung Angst, man fühlt sich
bedroht, solche Aussagen machen Politikern Angst, man fühlt sich in seinem weiteren
beruflichen Werdegang bedroht, weil man eben weiß, wenn man selber mit einer solchen
Schlagzeile in Verbindung gebracht wird, egal – wie es passiert, egal – was passiert ist.
„Ende der Fahnenstange“ - und solche Aussagen machen auch Ärzten und Therapeuten
Angst, weil sie eben wissen, weil ihnen ein Stück weit auch suggeriert oder vor Augen
geführt wird, welches Risiko mit therapeutischen und mit prognostischen Entscheidungen
immer und notwendig verbunden ist. In dieser öffentlichen Gemengelage, die flach an der
Oberfläche diskutiert wird und wenig auf die Unterschiedlichkeiten in den forensischen
Einrichtungen eingeht, kann eigentlich kein vernünftiger Dialog gedeihen, sondern in einer
solchen Gemengelage kann jetzt im Verhältnis zur Öffentlichkeit, eigentlich nur eine konträre
Frontstellung entstehen.
Das ist schade, denn, Sie wissen es, als Mediziner jedenfalls wieder besser als ich als Jurist,
Voraussetzung für therapeutische Erfolge ist gegenseitiges Vertrauen. Voraussetzung für
politische Erfolge ist auch gegenseitiges Vertrauen. Voraussetzung für vernünftige Arbeit, für
effidenzbasierte Behandlungen, für vernünftige prognostische Beurteilungen ist ebenfalls
Vertrauen.
Und deshalb ist diese Tagung für mich so wichtig. Wichtig auch im Verhältnis zur
Öffentlichkeit. Denn dieses Verhältnis zur Öffentlichkeit und die Bereinigung dieses
Verhältnisses zur Öffentlichkeit ist für mich Voraussetzung dafür, dass wir uns danach
überhaupt mal vernünftig über unser Verhältnis untereinander unterhalten können. Dass wir
nicht immer die Getriebenen sind, die irgendwelchen Entwicklungen hinterherlaufen und die
dann gejagt werden und die dann wieder mit irgendwelchen „Abc-Pflästerchen“ irgendwas
verkleben müssen, sondern die offensiv fachliche Positionen vertreten können. Dieses
15
Eröffnungsrede
Vertrauen zu schaffen, ist jetzt nach draußen gerichtet, ist für mich der Hauptzweck und das
Hauptziel dieser Veranstaltung.
Wir wollen auch auf hohem fachlichen Niveau durch unsere Referenten aufklären über das,
was in Forensiken, aber auch im Justizvollzug geschieht.
Frau Landtagsabgeordnete Rehlinger, wir kennen es, wir beschäftigen uns im
Landtagsausschuss mit der Thematik, wir gehen in die Einrichtungen, aber die Masse der
Bürgerinnen und Bürger kennt es nicht. Wir wollen also das Licht auf der Kellertreppe
anmachen, um es in dieses banale Bild vom Anfang zu übertragen. Wir wollen transparent
machen, wie Behandlung geschieht, wir wollen auch transparent machen, nach welchen
Regeln es geschieht und – das wollen wir auch nicht verschweigen - wir wollen den
Menschen sagen, mit welchen Risiken unsere Arbeit verbunden ist. Es wäre fatal, wenn man
hier von Merzig das Signal in die Öffentlichkeit senden würden, wir haben alles im Griff, wir
behandeln, wir therapieren, und dann irgendwann stellen wir eine Prognose und dann wird
diese Prognose, die wir gestellt haben, der dann eine richterliche Entscheidung folgt, auch mit
100 %-iger Sicherheit in Erfüllung geht.
Jede Prognose, egal, ob gegenüber einem vermeintlich Gesunden abgegeben oder einem
Kranken, ist mit Unsicherheitsfaktoren behaftet und die Frage ist, welche Risiken können wir
in Kauf nehmen, welche Risiken können wir verantworten, welche Risiken wollen wir
verantworten und was können wir der Bevölkerung, abgeleitet von dieser seriösen
Risikoeinschätzung, dann eben noch als verbleibendes Restrisikopotential vernünftig
kommunikativ vermitteln. Das will ich gerne als Landesregierung, das wollen wir gerne als
Landeseinrichtung, eben als öffentlichen Impuls nach draußen bringen, um Irrationalitäten
und Unsicherheiten aus der öffentlichen Diskussion zu entfernen.
Und ich sage es an dieser Stelle nochmals: wir haben es bei den Patientinnen und Patienten,
für die wir Verantwortung tragen, mit einem großen Spektrum von Menschen zu tun, bei
denen sich ernsthaft die Frage a) nach der Therapiewilligkeit, b) nach der Therapiefähigkeit
und daraus abgeleitet dann auch die Frage stellt, ob, zu welchem Zeitpunkt oder ob überhaupt
irgendwann einmal über eine Entlassung nachgedacht werden kann. Wir haben es mit
Patientinnen und Patienten zu tun, bei denen ich jenseits der formaljuristisch anzustellenden
Prüfungen, die selbstverständlich die Gerichte, die unabhängig sind, vorzunehmen haben, bei
denen ich als unbefangener Entscheider und unbefangener Betrachter immer zugunsten des
Sicherungs- und Sicherheitsinteresses der Allgemeinheit Entscheidungen treffen würde.
Entscheidungen, die in dubio zu Ungunsten des Patienten ausfallen würden. Dieser Bereich –
das ist der Bereich, des „Wegschließen und zwar für immer!“ – mit der Forensik gleichgesetzt
wird. Dieser Bereich ist aber der quantitativ kleinere Bereich, der wesentlich kleinere Bereich
der Patienten, der kleinere Anteil der Patienten und Patientinnen, die wir in unseren
Einrichtungen haben. Die Normalen (80 oder 85 % unserer Patientinnen und Patienten) sind
therapiewillig, therapiefähig und ich sage, sie verdienen auch Therapie. Sie verdienen eine
Chance, sie brauchen Hilfe, sie wollen Hilfe, wir können sie nicht einpferchen, nur weil
einige dabei sind, von denen man sagt: „Na ja, die kannst du nicht rauslassen!“ Wir müssen
ihnen ihre Chance geben.
Anwälte müssen mit beiden Bereichen gleichermaßen vertraut sein, wir müssen schaffen,
eben hier über die Grenzen hinweg ein gemeinsames Grundvertrauen erzeugen. Wir haben
16
Eröffnungsrede
das Glück, dass wir im Saarland durch die Zuständigkeit meines Ressorts die Dinge in einem
Geschäftsbereich gebündelt haben. Wir überwinden damit nicht die Sektorengrenze, indem
wir sagen, wir werfen alles in einen Topf, wir arbeiten sauber auf der Basis getrennter
gesetzlicher Grundlagen. Gleichwohl haben wir die Chance, eben bestimmte Problemlagen,
die in beiden Bereichen auftreten, eben auch im Ministerium zusammenzuführen und
gemeinsam und konstruktiv einheitlichen Lösungen zuzuführen.
Ich wünsche mir, dass das, was mit viel Mühe in einer kleinen Abteilung geschehen ist, auch
im Alltagsleben gelingt. Denn wir haben in beiden Bereichen die gleichen
Herausforderungen, und ich greife hier und an dieser Stelle, weil ich das Programm nicht über
Gebühr hier in seinem Fortgang behindern will, nur einen Bereich auf, der beide Bereiche
gleichermaßen betrifft.
Wir hören gleich einen Fachvortrag, einige Gedanken zu möglichen Überlegungen, die es
bundesrepublikweit gibt, über die Frage, ob und in welchem Umfang der Staat staatliche
Hoheitsaufgaben zu privatisieren im Stande sei. Überlegungen, die seit zehn Jahren durch alle
Gazetten
geistern,
die
angefangen
haben
bei
irgendwelchen
öffentlichen
Verkehrsunternehmen, die mittlerweile die allgemeinen Krankenhäuser erreicht haben und die
zwischenzeitlich auch diskutiert werden am Beispiel von Strafvollzugsanstalten und am
Beispiel von forensischen Einrichtungen.
Ich sage Ihnen an dieser Stelle, was ich an anderer Stelle schon im Landtag gesagt habe: wir
sind als Saarland sicher kein finanzstarkes Land, wir sind als Saarland sicher darauf
angewiesen, alle Synergiepotentiale zu nutzen, sind als Saarland sicher auch in der Situation,
dass wir den öffentlich-rechtlichen Overhead nicht weiter ausbauen dürfen, sondern im
Gegenteil versuchen müssen, alle Dinge, die nicht notwendiger Weise auf Rechnung des
Staates ausgeführt werden müssen, an Dritte zu übertragen.
Aber, wir sind im Saarland nicht so finanzschwach, dass wir uns – aus meiner Sicht – eines
elementaren Kernbereichs staatlicher Hoheitsverwaltung entledigen. Wenn wir über
Strafvollzug reden, wenn wir über Forensik reden, dann reden wir über einen Bereich, in den
der Staat wie in keinem anderen Lebensbereich in elementare, grundrechtlich geschützte
Positionen von Einzelpersonen eingreift. Ein solcher Eingriff ist für mich nur dann legitimiert,
wenn er vollzogen wird nicht nur unter einer entfernten Regieverantwortung eines mit
Gewaltmonopol ausgestatteten Staates, sondern in originärer Verantwortung und in originärer
Anwendung staatlicher Hoheitsbefugnisse. Und deshalb halte ich viele der Diskussionen, die
über Vollprivatisierungen geführt werden, für verfassungsrechtlich, verfassungspolitisch für
grenzwertig und deshalb beteilige ich mich an solchen Diskussionen nicht.
Wenn wir irgendwann zu der Auffassung kämen, dass man sagt, man kann Forensiken
privatisieren, dann kann man auch noch die Polizei privatisieren. Denn dann bleibt ja nichts
übrig. Der Eingriff gegenüber einem Strafgefangenen, der Eingriff gegenüber einem Patienten
der Forensik ist weitaus intensiver, als der im klassischen öffentlich-rechtlichen Bereich, im
Polizeirecht gegenüber dem Bürger aussieht, wenn dieser ein bisschen flott gefahren ist oder
falsch geparkt hat oder um eine Bauerlaubnis nachsucht, gegenüber diesem Bürger vollzogen
wird und wenn wir in diesem Bereich hier die Grenzen brechen, ist aus meiner Sicht jedwede
Legitimation für andere staatliche Hoheitsaufgaben auch ein Stück weit nach hinten getreten.
17
Eröffnungsrede
Gleiches gilt für Mischmodelle von Privatisierungen. Für mich ist aber völlig unvorstellbar
und undenkbar, wenn der eigentliche Betrieb der Klinik, in dem zum Beispiel das weitere
Verbleiben eines Patienten ja durchaus von finanziellem Interesse für denjenigen ist, der die
Einrichtung betreibt, einer Privatisierung zugeführt werden soll. Wenn der eigentliche Betrieb
eben von Privaten gesteuert wird und dann nur noch ein staatlicher Oberaufseher mit einem
Wappen in der Einrichtung herumläuft, ist das nicht hinnehmbar. Der Oberaufseher kann
vielleicht formal noch kontrollieren, ob die Leute nicht gequält und menschenwürdig
behandelt werden. Er kann aber nicht kontrollieren, ob Ärzte in irgendeiner Form angehalten
werden, für den Betreiber wirtschaftlich vernünftige Entscheidungen zu treffen und das ist
doch der Eingriff in den Kernbereich dessen, was Würde des Menschen angeht, der gerade in
einer Forensik, in der er zeitlich unbefristet seinen Aufenthalt hat und in der Einzelne darauf
angewiesen ist, dass er sich zumindest darauf verlassen kann, dass die Leute, die Prognosen
über ihn anstellen, das besten Wissens und Gewissens tun und nicht, weil irgendeine
Klinikbetreiber ihnen gesagt hat, „Der ist pflegeleicht, mit dem können wir leicht Geld
verdienen, schau, dass dieser noch ein Jahr hier bleibt oder guckt, dass er rauskommt, weil er
uns hier unseren ganzen Betrieb durcheinander mach“
Das sind aus meiner Sicht Weichenstellungen, bei denen man sehr genau bedenken muss, wie
die Folgewirkungen sind. Deshalb habe ich hier und in diesem Bereich unbeschadet von
möglichen partiellen Öffnungen aus meiner Sicht eine klare Position.
Im „stern“, den ich eben schon einmal zitiert hatte, sagt ein Patient aus einer forensischen
Einrichtung: „Ich fühle mich lebendig begraben.“ Ein tragische Aussage, die dann Realität ist,
Realität wird, wenn man eben „0 8 15“-Vollzug, „0 8 15“-Therapie macht und den einzelnen
Patienten/Gefangenen nicht in seiner Individualität, nicht in seiner persönlichen
Befindlichkeit annimmt und versucht zu helfen, indem wir ihn dort abholen, wo er steht.
Ich weiß, dass das schwer ist. Ein Politmensch, wie ich einer bin, kann sich ja hier vorne
hinstellen und sagen: „Ihr müsst die Leute abholen, wo sie stehen!“ Sie treffen sie morgen
oder übermorgen in ihren Einrichtungen und da ist der eine oder andere dabei, dem man
eigentlich überhaupt nicht begegnen wollte und den dann auch noch dort abzuholen, ist
schwer. Aber wenn wir es nicht tun, mal versuchen, hier „therapie-light“, phlegmatisch
Patienten zu behandeln, Therapiealltag zu gestalten, dann werden wir in zweifacher Hinsicht
versagen. Wir werden erreichen, dass in der öffentlichen Wahrnehmung Forensik nur noch
mit Fehlschlägen, mit Katastrophen, mit Desastern verbunden ist, so dass fachliche Diskurse
überhaupt nicht mehr möglich sein werden, sondern wir uns nur noch auf dem Niveau
„Wegschließen, und zwar für immer!“ unterhalten werden. Wir werden erreichen, dass wir die
öffentliche Sicherheit und das legitime Sicherungsinteresse der Allgemeinheit auch nicht
erfüllen können. Ganz zu schweigen davon, dass wir vielleicht auch den Ansprüchen, die wir
an uns selber stellen, unsere persönliche berufliche Erfüllung und Erfahrungen, nicht gerecht
werden.
Ich wünsche uns allen, dass die kommenden zwei Tage dazu beitragen, Diskussionen zu
versachlichen, von den Kollegen zu hören, dass es bei ihnen auch etwas gibt, worüber man
sich aufregen kann (Das hilft: Geteiltes Leid ist halbes Leid) und ich hoffe, dass es gelingt,
eben auch gemeinsam über die Grenzen der Sektoren hinweg, gemeinsam
Fortentwicklungstendenzen, vielleicht auch Lösungsansätze für das eine oder andere Problem
zu entwickeln. Herr Dr. Heitz hat es gesagt: Beim letzten Mal haben wir über forensische
Nachsorge gesprochen – wir haben sie eingeführt – und es funktioniert zum Wohle der
18
Eröffnungsrede
Patienten und der Einrichtung und wir haben damit einen richtigen Weg gefunden. Einen
Weg, den wir ohne die Erkenntnisse, die wir bei der letzten Tagung hier gewonnen haben, mit
Sicherheit nicht gegangen wären.
In diesem Sinne, zwei erfolgreiche und schöne Tage bei den sachlichen Vorträgen.
Viel Erfolg und Glück Auf
Minister Josef Hecken
19
II. REFERATE
Referate
Justizvollzug und Maßregelvollzug
– Fehlplatzierung und Kooperation
Prof. Dr. Norbert Konrad 2
Zunächst ganz kurz zu den rechtlichen Voraussetzungen, die den meisten von Ihnen bestens
bekannt sind; gleichwohl will ich es als Einleitung noch mal kurz vornehmen.
Es muss natürlich eine Straftat passiert sein, bevor jemand in den 63er-Bereich kommt, aber
der nächste Punkt ist schon problematisch: Die Schuldfähigkeit im Sinne einer erheblichen
Minderung oder Aufhebung muss feststehen, also zumindest eine erhebliche Minderung der
Schuldfähigkeit. Das ist mitunter bei Fehleinweisungen nicht ganz so eindeutig. Es muss eine
längerdauernde Störung vorhanden sein, die die Schuldfähigkeit mindert. Es geht also nicht,
dass etwa die Kombination einer Persönlichkeitsstörung als längerdauernde psychische
Störung mit einer Alkoholintoxikation als vorübergehender psychischer Störung dann als
Unterbringungsgrund dient. Die Auslösetat muss symptomatisch sein für die vorliegende
psychische Störung, künftige Taten müssen mit bestimmter Wahrscheinlichkeit zu erwarten
sein, die auch wieder symptomatisch sein müssen für die psychische Störung und, das ist dann
die juristische Wertung, der Schweregrad künftiger Taten muss erheblich sein, es muss eine
Gefahr für die Allgemeinheit bestehen und die Verhältnismäßigkeit der Maßregelanordnung
muss gegeben sein.
Im 64er-Bereich gibt es auch mehrere Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, nämlich
neben der Straftat muss ein Hang festgestellt sein, wobei es hier durchaus Diskrepanzen gibt
zwischen der Einstellung von Psychiatern und Juristen. Aus meiner Sicht ist der Hang als
Abhängigkeitssyndrom nach ICD-10 zu klassifizieren. Mitunter wird aber in der
Rechtssprechung die Grenze etwas weiter gezogen. So gibt es BGH-Entscheidungen, die
lediglich eine intensive Neigung voraussetzen, immer wieder aufgrund einer bestehenden
psychischen Disposition oder einer durch Übung erworbenen Neigung, Alkohol oder andere
psychotrope Substanzen im Übermaß zu sich zu nehmen. So wird dann der Hang
operationalisiert. Die Auslösetat muss symptomatisch für den Hang; das ist einfach bei
Beschaffungskriminalität, jedenfalls ist es nicht symptomatisch, wenn auch ein nicht im
Übermaß psychotrope Substanzen Konsumierender die Tat in einer ähnlichen Situation, etwa
angesichts eines Lebenskonfliktes oder bei Provokation durch einen Geschädigten verübt
haben könnte oder würde. Es muss ähnlich wie beim § 63 StGB eine negative Legalprognose
bestehen, die Symptomatizität gilt wie bei der Auslösetat, künftige Taten müssen erheblich
sein. Aber im Unterschied zu § 63 StGB muss eine hinreichend konkrete
Behandlungsaussicht bestehen, wie das Bundesverfassungsgericht 1994 festgelegt hat. D. h.
hier spielt das Moment der Behandelbarkeit durchaus eine gewichtige Rolle. Dem
Verhältnismäßigkeitsgesichtspunkten in der Praxis beim 64er kaum Bedeutung zu.
Wie sieht es dann mit der Fehlplatzierung aus, wie würde man das fassen? Es gibt aus meiner
Sicht in dieser Diskussion, die ja seit Jahrzehnten geführt wird, in den ersten Publikationen
2
Krankenhaus der Berliner Vollzugsanstalten
22
Referate
zum Maßregelvollzug in den 30er Jahren war auch schon das Thema Fehleinweisung
verbalisiert worden. Gibt es unterschiedliche Perspektiven? Man kann die juristische
Perspektive anlegen, d. h. schauen, sind denn die eben von mir skizzierten Voraussetzungen
im Einzelnen erfüllt worden. Das habe ich in einer früheren Studie mal gemacht und habe bei
einer Vollerhebung im Lande Berlin festgestellt, dass von nach § 63 StGB Untergebrachten
27 % eigentlich als fehleingewiesen zu gelten haben, da dort die Voraussetzungen, so wie sie
sind, eben nicht bestanden haben. Der hauptsächliche Fehleinweisungstypus war der, dass
eben das Kriterien der sicheren Feststellung einer länger dauernden Störung, die zu einer
erheblichen Verminderung der Schuldfähigkeit führte, gefehlt hat.
Dann, und das ist die Perspektive der Maßregelinstitutionen, wird weniger geschaut, sind
denn die juristischen Kriterien im Einzelnen erfüllt, sondern passt der eigentlich in den
Maßregel, können wir mit ihm was anfangen, d. h. da geht es um die Frage der
therapeutischen Ansprechbarkeit. Wie vorhin ausgeführt, spielt ja die Behandelbarkeit, die
therapeutische Ansprechbarkeit bei den nach § 63 StGB Untergebrachten juristisch gesehen
überhaupt keine Rolle. Das ist irrelevant. Anders beim 64er. Aber in den
Behandlungsinstitutionen, ich war selbst einmal fast drei Jahre Leiter einer 63er-Einrichtung,
ist es durchaus ein Thema. Wird nicht die Institution „missbraucht“ lediglich zur Sicherung,
wenn jemand drin ist, der – jedenfalls zur Zeit – nicht therapeutisch ansprechbar ist. Und dann
gibt es die Perspektive des Strafvollzuges, die sich damit auseinandersetzt (darauf gehe ich
später noch ein), dass es eine erhebliche Zahl von Gefangenen gibt, bei denen doch schwerere
psychische Störungen festzustellen sind und wo sich dann die Justizvollzugsbediensteten
fragen, der gehört doch eigentlich nicht zu uns, was sollen wir denn mit dem machen, wir
haben nicht die ausreichenden therapeutischen Mittel, wo eigentlich eine
Behandlungsindikation gegeben ist, die aber weder im Normalvollzug noch in
Spezialinstitutionen, wie der Sozialtherapeutischen Anstalt, eigentlich bedient werden kann.
Zunächst einmal zum Umfang des Problems. Hier einige Zahlen zur Entwicklung der
Strafgefangenen und der Maßregelvollzugspatienten in Deutschland: Sie sehen, das habe ich
nach fünf Jahresintervallen gegliedert. Im psychiatrischen Maßregelvollzug gab es nach der
Psychiatrie-Enquête, die ja die Schlusslichtposition des Maßregelvollzuges verbalisiert hat,
im Rahmen der Fortentwicklung von Behandlungsstrategien durchaus Tendenzen, die
Belegung zu senken. Das hat sich dann zwischen 1970 und 1980 im damaligen Deutschland,
also den alten Bundesländern, auf 2.500 Patienten eingependelt. Erst nach der Wende gab es
einen Anstieg, der vielleicht bis 1995 noch mit dem Zuwachs mit den neuen Bundesländern
erklärt werden kann, aber danach eben nicht mehr. Danach ist immer noch anhaltend eine
deutliche Steigerung der Belegungszahlen zu vermerken. In den Erziehungsanstalten war
1970 im Grunde die Zahl der nach § 64 StGB Untergebrachten vernachlässigbar, mittlerweile
sind es 20mal soviel wie 1970. Wenn man die Belegung im Strafvollzug anschaut, dann gibt
Schwankungen zwischen 1970 und 1980 bis 1995 entsprechend der Zunahme im
psychiatrischen Maßregelvollzug – auch hier eine gewisse Zunahme, aber dann nach 1995
eine ganz deutliche Belegungszunahme. Gegenübergestellt sieht man die Betten in der
Allgemeinpsychiatrie, wo ganz deutlich nach der Psychiatrie-Enquête, insbesondere Mitte der
70er Jahre im Rahmen der Enthospitalisierung, eine kontinuierliche Abnahme der
aufgestellten Betten erfolgte, die erst in den letzten Jahren in der Tendenz des Abbaus so
langsam zur Ruhe gekommen ist. Die Zahl ist von 2004 (neuere Daten gibt es nicht).
23
Referate
Nun gibt es international die Tendenz, weil diese Abnahme der Belegung in der
Allgemeinpsychiatrie nicht nur ein deutschlandspezifisches Phänomen ist, sondern in der
gesamten Welt zu registrieren ist, Hypothesen zu formulieren, dass letztendlich die Abnahme
der Belegung in der Allgemeinpsychiatrie zu einer Zunahme im Justizvollzug oder im
Maßregelvollzug führt. Sehr häufig wird ein Soziologe namens Penrose zitiert, das
sogenannte Penrose-Law bereits Ende der 30er Jahre formuliert, der etwas verkürzt
ausgedrückt sagte, dass die Zahl der in den totalen Institutionen Untergebrachten eigentlich
immer gleich ist. Wenn die Psychiatrie sehr viele Betten zur Verfügung stellt, dann sinkt die
Zahl im Knast und umgekehrt, wenn die Psychiatrie wenig Betten zur Verfügung stellt, findet
man mehr Leute im Knast. Dass das für Deutschland nicht stimmt, habe ich versucht, Ihnen
darzustellen. Zwischen 1970 und 1990 gibt es nämlich einen Parallelenabbau der Belegung in
der Allgemeinpsychiatrie und im psychiatrischen Maßregelvollzug, ohne dass jetzt im
Justizvollzug, im Strafvollzug eine deutliche Zunahme der Gefangenen zu registrieren ist. Es
stimmt eigentlich auch nicht für die Zeit bis Mitte der 90er Jahre und danach stimmt es schon
deswegen nicht, weil es zu einer so deutlichen Zunahme gekommen ist, dass die Zahl der aus
der Psychiatrie Enthospitalisierten in der Zeit übertroffen wird.
Nun, wenn man mal fragt, im Strafvollzug oder überhaupt im Justizvollzug, wie viel
psychisch Kranke findet man da? Ich habe Ihnen mal zunächst eine Metaanalyse, die 2002 in
„Lancet“ veröffentlicht worden ist, zusammengestellt. Da wurden damals 62 Studien aus 12
wesentlichen Ländern zusammengestellt, insgesamt fast 23.000 Gefangene betrafen,
überwiegend Männer. Da kam heraus, dass etwa 3,7 % eine psychotische Störung hatte, 10 %
eine sogenannte Major depression, 65 % eine Persönlichkeitsstörung. Bei den Frauen war es
im Grunde ähnlich (4 % psychotische Störung, 12 % Major depression, 42 %
Persönlichkeitsstörung) und es wurde die internationale Diskussion über die hohe Prävalenz
psychisch Gestörter im Justizvollzug um folgende Punkte gruppiert, die möglicherweise auch
für Deutschland eine Rolle spielen, nämlich: Zunächst das in den letzten Jahrzehnten im
Rahmen der Enthospitalisierung dann zunehmend psychisch Kranke kriminalisiert werden,
indem sozial abweichendes Verhalten nicht toleriert, sondern zur Anzeige gebracht wird.
Dann ist ein Punkt die Ökonomisierung der Behandlung psychisch Kranker mit dem Abbau
stationärer Langzeiteinrichtungen, zunehmender Verkürzung der Liegedauer und
unzureichender Entlassungsvorbereitung bei gleichzeitig unzureichenden komplementären
Versorgungsstrukturen in der Gemeinde, insbesondere hinsichtlich der Eignung, vor allem als
personenzentrierter Ansatz für die sogenannten young adult chronic psychiatric patients und
die Verfügbarkeit entsprechender Behandlungsmöglichkeiten.
Dann wird international die länderspezifische Rechtslage diskutiert, wo häufig eng gefasst
geltende Kriterien zivilrechtlicher oder öffentlich-rechtlicher Unterbringung ins Feld geführt
werden, die dann den Eindruck einer Sicherungslücke hinterlassen, für deren Schließung
dann, wenn jemand auffällig wird und sich nicht gesetzeskonform verhält, bei eigentlich
bestehender Behandlungsnotwendigkeit, aber wenn sich der Betreffende eben nicht behandeln
lassen will, mangels sonstiger sozialer Kontrolle am ehesten im Maßregel oder im
Justizvollzug in Betracht kommt. Weitere Punkte: In den verschiedenen Ländern werden die
Regelungen zur Schuldfähigkeit bzw. Strafrechtlichen Verantwortlichkeit mitunter
ausgeweitet mit der Konsequenz der Anordnung von Sicherungsmaßnahmen. Für
Deutschland kann man sagen, dass es doch in den letzten Jahrzehnten zu einer zwar nicht
deutlichen, aber doch gewissen Zunahme der Einweisungszahlen in den psychiatrischen
Maßregelvollzug gekommen ist, sicher auch aus der Überlegung heraus, dass jemand aus
24
Referate
Katamnesestudien wusste, dass die Behandlung im Maßregelvollzug, auch wenn diese nicht
unbedingt vergleichbar ist, zu einer geringeren Rückfallbelastung führt, als die Unterbringung
im Justizvollzug.
Dann ist es so, dass mit der zunehmenden Auseinanderentwicklung der Allgemeinpsychiatrie
und forensischen Psychiatrie international Zurückhaltung existiert, wenn etwa psychisch
kranke Gefangene in eine stationäre Behandlung kommen sollen, dass dann eher
Sicherheitsbedenken geltend gemacht werden in Form unzureichender räumlicher
Sicherheitsbedingungen und fehlende forensisch-psychiatrische Praxiserfahrung des Personals
geltend gemacht werden.
International ist es ein Gesichtspunkt, dass insbesondere schwierige chronisch-psychotische
Patienten, wenn sie eben als nicht behandlungsgeeignet gelten, dann eben auch von den
allgemeinpsychiatrischen Institutionen zunehmend abgelehnt werden. Eine Rolle spielt des
weiteren die Zunahme der Kriminalitätsfurcht, speziell bezogen auf gewalttätiges Verhalten,
das psychisch Kranken zugeschrieben wird und der letzte Punkt, was schon John Gunn „death
of liberalism“ genannt hat in Verbindung mit einem politischen Klima, das die Ressourcen für
psychisch gestörte Rechtsbrecher auf einem niedrigen Niveau hält.
Wie ist es nun in Deutschland? Es gibt wenige Studien in Deutschland, die etwas aussagen
über
die
Prävalenz
psychischer
Störungen,
die
mit
standardisierten
Untersuchungsinstrumenten vorgegangen sind und die eine gemäß Internationalem
Klassifikationssystem ermittelte Diagnose vermitteln.
Ich habe Ihnen zwei Studien zusammengestellt:
Eine betraf Ersatzfreiheitsstrafer, d. h. das sind Gefangene, die zu einer Geldstrafe verurteilt
worden sind, diese aber nicht bezahlen und deswegen ersatzweise in Haft kommen. Sehr
häufig passiert das auf dem Weg des Strafbefehlsverfahrens ohne Hauptverhandlung, d. h. der
Betreffende bekommt irgendwann einen Brief, dass er so und so viel zu zahlen hat. Er könnte
in Beschwerde gehen, aber oft wird der Brief weggeworfen oder nicht beachtet und
irgendwann kommt dann die Freiheitsstrafe auf ihn zu. Im Justizvollzug stellt man dann fest,
er ist eigentlich schwer psychisch krank. Damit meine ich, dass bei dieser Untersuchung
festgestellt worden ist, dass 10 % der Ersatzfreiheitsstrafe an einer psychotischen Störung
leiden. Die häufigste Diagnose war die eines Alkoholmissbrauchs oder einer
Alkoholabhängigkeit. Wenn man nur die Alkoholabhängigen nimmt, sind das in dieser Studie
56 % gewesen, d. h. mehr als die Hälfte der Ersatzfreiheitsstrafen in Berlin waren
Alkoholabhängige, 20 % sind Drogenabhängige; es gab noch depressive Episoden, entweder
als erste oder als rezidivierende 20 %. Das sind allerdings häufig Anpassungsstörungen, d. h.
depressive Syndrome, die im Rahmen der Inhaftierung als Reaktion auf die Veränderung der
Lebenssituation dann auftreten.
Eine weitere Studie hat sich einer repräsentativen Auswahl von Untersuchungsgefangenen
gewidmet. Da war die Prävalenz der Alkoholproblematiken niedriger, dafür viel höher die
Prävalenz an depressiven Episoden: 40%. Jeder, der mal im Justizvollzug konsiliarpsychiatrisch tätig war, weiß, dass es da ganz häufig Anpassungsstörungen gibt und dass sehr
viele Gefangene reaktiv depressiv beeinträchtigt sind und dass dies im Grunde der Alltag des
Knastpsychiaters ist.
25
Referate
Relativ wenige Drogenabhängigen (14 %), auch sind psychotische Störungen weniger in
diesem Bereich (6 %); dann muss man davon ausgehen, dass bei Untersuchungsgefangenen
ja, wenn eine psychotische Störung in Frage steht, häufig – nicht immer – begutachtet wird
und dann im Übergang zum Strafvollzug sich die Zahl der Psychosekranken voraussichtlich
vermindern wird.
Wenn wir dagegen das Diagnosespektrum im psychiatrischen Krankenhaus anschauen, dann
kommen wir natürlich zu einer viel größeren Prävalenz an Psychosekranken, überwiegend
Schizophrenerkrankten, nach den zur Verfügung stehenden Publikationen durfte das zur Zeit
so etwa 35 bis 45 % sein, also deutlich mehr als im Justizvollzug. Hirnorganische Störungen
liegen bei etwa 5-10 %. Wenn man Persönlichkeitsstörungen anschaut – mit oder ohne
Minderbegabung einschließlich sogenannter Sexualdeviationen – dann sind das im
Maßregelklientel häufig 40-50 %, also knapp die Hälfte. Nun darf man nicht vergessen, wenn
man die Gefangenen anguckt, da gibt es eine Studie aus Deutschland in der Arbeitsgruppe
von Prof. Pfäfflin: Bei einer Stichprobe des offenen Vollzugs gibt es auch 50 %
Persönlichkeitsgestörte. Also insoweit wird man schon sagen müssen, dass es zwar im
Maßregelvollzug – insbesondere im63er-Bereich – sicher von einer 100 %-igen Prävalenz an
psychischen Störungen auszugehen ist, dass es aber im Justizvollzug keineswegs so ist, dass
man nur von 5 oder 10 % psychischen Störungen ausgehen muss, sondern dass nach den
aktuellen Studien sicher mehr als die Hälfte der Gefangenen, und zwar auch in Deutschland,
an einer psychischen Störung im Sinne der ICD-10 leidet. In manchen Bereichen
(Ersatzfreiheitsstrafe) kamen wir zu 96 %.
Nun ist es so, dass es im Maßregelvollzug, auch wenn in Deutschland die Zweispurigkeit als
Prinzip gilt -da die eine Spur „Maßregelvollzug“, da die andere Spur „Strafvollzug“- nicht
wenige Patienten gibt, die die Systeme wechseln. Und da gibt es mehrere Möglichkeiten: Es
gibt den Vorwegvollzug – mitunter als teilweisen Vorwegvollzug bei gleichzeitiger
Verhängung von Freiheitsstrafe und Maßregel. Da gibt es mitunter unterschiedliche
Perspektiven, wann das zur Anwendung kommen soll. Aus der Perspektive des
Justizvollzuges ist es häufig so, dass sich die Justizangehörigen fragen, warum jemand, der
doch offensichtlich psychisch gestört ist und eine Maßregel bekommen hat, dieser dann
zunächst in den Knast soll, was soll man eigentlich dort mit ihm machen. Hingegen wird im
Maßregelvollzug überlegt, wann es eigentlich sinnvoll ist, mit einer Behandlung einzusetzen
unter den gegenwärtigen rechtlichen Bedingungen auch der Entlassung.
Dann gibt es die Möglichkeit der Erledigung der Maßregel bei gleichzeitiger Verhängung von
Freiheitsstrafe und Maßregel; das betrifft relativ viele Patienten des 64er Maßregelvollzuges.
Mittlerweile ist ja die Erledigungsquote so an die 50 %; das differiert regional sehr
unterschiedlich. Man würde also sagen, dass zumindest die Hälfte der 64er Patienten beiden
Systemen begegnet sind, sehr häufig auf dem Weg der Erledigung und dann gibt es noch die
Möglichkeit der Vollstreckung der Strafhaft aus anderer Seite. Das betrifft nach früheren
Studien der kriminologischen Zentralstelle in Wiesbaden etwa 37 % der 64er
Maßregelpatienten. Also bei den 63er Patienten kommt es nicht selten zu dem Wechsel der
Systeme, während im 64er Bereich begegnet die Mehrzahl der untergebrachten Patienten im
Vollstreckungsverlauf beiden Systemen.
Das Maßregelziel, § 63 StGB, da geht es um die erfolgreiche Behandlung der psychischen
Erkrankung oder Störung – soweit sie symptomatisch ist für die Straffälligkeit und wenn es zu
einer erfolgreichen Behandlung kommt, resultiert daraus dann die gute Legalprognose, im
64er Bereich die erfolgreiche Suchtbehandlung.
26
Referate
Die Behandlungskonzeption im Maßregelvollzug verkürzt ausgedrückt, ist nicht eine Kopie
der Behandlung in der Allgemeinpsychiatrie. Alle Publikationen, die sich mit Behandlungen
im Maßregelvollzug auseinandersetzen, weisen auf notwendige Modifikationen des
Therapiesettings im Vergleich zu den allgemeinpsychiatrischen Institutionen hin.
Insbesondere sind sozialtherapeutische Bemühungen wichtig, wenn man sich die
Maßregelvollzugsklientel näher anschaut, also z. B. aufgrund der niedrigen schulischen und
beruflichen Qualifikation, vielfach strukturell gestörten familiären Verhältnissen und dann
auch Wechselwirkungseffekten mit Delinquenz und Hafterfahrung. Also es gibt
Überschneidungen in der Klientel, es gibt viele psychisch Gestörte im Justizvollzug.
So stellt sich die Frage, können diese Institutionen nicht miteinander kooperieren? In einer,
mittlerweile einige Jahre alten Studie, die ich zusammen mit meinem Vorgänger, Herrn Dr.
Missoni durchgeführt habe, haben wir die Leiter der Maßregelvollzugseinrichtungen in
Deutschland befragt, inwieweit bei ihnen tatsächlich jetzt Gefangene des Justizvollzugs
behandelt werden. Da hatten sich nach der damaligen Erhebung 17 von 59 Einrichtungen aus
zehn Bundesländern so erklärt, dass sie sich an der stationären und 4 an der ambulanten
Versorgung von Gefangenen in dem jeweiligen Bundesland beteiligen. Das waren in Zahlen
ausgedrückt damals 187 Gefangene und etwa 0,08 % der Summe der Gesamtzahlen der
Gefangenen in dem betreffenden Land, also es war recht niedrig, wenn man die
Prävalenzzahlen anschaut. Wir haben dann diejenigen Leiter der Einrichtungen befragt, die
tatsächlich eine Behandlung von Gefangenen durchführen, ob sie denn meinen, dass der
Maßregelvollzug geeignet ist, für die psychiatrische Behandlung von Gefangenen und
herauskam, dass die entsprechenden Leiter durchaus positiv eingestellt waren für kurz- und
mittelfristige Behandlungen von akuten Psychosen und depressiven Syndromen mit
Pharmakotherapie und Psychotherapie, aber eher negativ für langfristige Behandlungen von
chronischen Psychosen und Persönlichkeitsstörungen sowie für Rehabilitationsmaßnahmen.
Das hat uns allerdings irritiert, denn das ist genau die Klientel, die sich im Maßregelvollzug
befindet, nämlich chronische Psychosen, die langfristig behandelt werden müssen,
Persönlichkeitsstörungen (40-50 %) und eben Patienten, die Rehabilitationsmaßnahmen
erfahren sollen.
Ich sehe durchaus Konvergenzprozesse zwischen Strafvollzug und Maßregelvollzug. Beide
Sanktionsformen sind letztlich unterschiedliche Mittel zur Erreichung desselben Ziels,
nämlich das Ziel künftiger Deliktfreiheit als gemeinsame Schnittmenge. In der Terminologie
des Maßregelvollzuges geht es um Besserung, in der Terminologie des Strafvollzugs um
Resozialisierung gemäß § 2 StrVollzG. Weitere Konvergenzprozesse können wir in
Deutschland daran ablesen, dass – soweit es Neubauten und bauliche Veränderungen gibt -,
sich die äußeren Sicherungsvorkehrungen im Maßregelvollzug dem des Justizvollzuges
annähern. Ich komme aus Berlin und dort ist das Krankenhaus des Maßregelvollzugs in den
letzten Jahren so umgebaut worden, dass es sich vom Äußeren her von einer
Justizvollzugsanstalt nicht mehr unterscheidet, aber sehr wohl von einer
allgemeinpsychiatrischen Institution. Das war vor gut 20 Jahren, als ich als Assistenzarzt dort
gearbeitet habe, ganz anders.
Der dritte Punkt ist, dass es Konvergenzprozesse bei der Maßregelvollzugsgesetzgebung gibt,
wenn man sich die Revisionen der Maßregelvollzugsgesetze in den letzten Jahren anschaut,
dann gibt es zunehmend Tendenzen, die gesetzlichen Regelungen denen des
27
Referate
Strafvollzugsgesetzes anzugleichen und sich wegzubewegen von denen der psychisch
Kranken-Gesetzen der Länder. Insoweit denke ich, dass es gute Gründe gibt dafür, dass
Maßregelvollzug und Justizvollzug enger zusammenarbeiten sollten. Das setzt aber aus
meiner Sicht voraus, wenn man eine echte Kooperation will, dann muss man die Perspektiven
wechseln, d. h. dass man seitens des Justizvollzuges sich mehr identifiziert mit
Therapieverpflichtungen bei bestehender Indikation, auch wenn schon aufgrund der zur
Verfügung stehenden Mittel die Behandlungsmöglichkeiten im Justizvollzug grundsätzlich
schlechter sind als im Maßregelvollzug. Aber auch der Maßregelvollzug sollte aus meiner
Sicht die Perspektive wechseln, nämlich die Einstellung, welche dem Strafvollzug primär als
Entsorgungsinstanz sieht und zwar für unkooperative therapeutisch zur Zeit nicht erreichbare
oder institutionsstörende Patienten betrachtet, wo gerne sozusagen der Strafvollzug negativ
etikettiert als „Mülleimer der forensischen Psychiatrie“ betrachtet wird. Der Justizvollzug
sollte dann bei Suchtkranken nicht als Verwahr- und schlechtere Therapieinstitution, sondern
aus meiner Sicht ein bescheideneres, aber realistisches Ziel als Motivationsinstanz begriffen
werden, die unter Umständen regelhaft die in den Entziehungsanstalten erfolgende, aus Sicht
des Justizvollzugs externe Therapie sinnvoll vorbereitet und in manchen Fällen, z. B. im
Hinblick auf spezielle intramurale Ausbildungschancen bessere Behandlungssettings
bereitstellen kann. Das bezieht sich jetzt insbesondere auf die aktuell nach § 64 StGB
Untergebrachten. Und ich verhehle nicht, dass ich mit meinem Lehrer Wilfried Rasch einer
Meinung bin, dass aus meiner Sicht notwendige gesetzliche Veränderungen darauf
hinauslaufen könnten, den § 64 StGB in der Form, in der er zur Zeit existiert, abzuschaffen.
Aus meiner Sicht sollte die Kooperation in Zukunft so aussehen, dass eine gemeinsame
Planung und Gestaltung der therapeutischen Arbeit mit dem Verurteilten für die Gesamtdauer
der Freiheitsentziehung erfolgt. Entscheidende Grundlage wäre aus meiner Sicht das Ergebnis
einer
für
die
Unterbringungsanordnung
eigentlich
sowieso
erforderlichen
Sachverständigenbegutachtung, die ausreichend Anknüpfungspunkte für die spezielle
Therapieplanung liefern müsste und auf Seiten des Sachverständigen Erfahrung und
Vertrautheit mit der Behandlung psychisch Kranker oder psychischer Gestörter oder
suchtkranker Straftäter voraussetzt. Das ist nicht bei jedem Sachverständigen gegeben. Aus
meiner Sicht und das wäre allerdings nur dann möglich, wenn es durchgreifende gesetzliche
Änderungen gäbe, sollte ein möglichst weisungsunabhängiges Gremium aus Vertretern beider
Bereiche geschaffen werden. Das ist nicht eine originäre Idee von mir, sondern das ist schon
durchaus publiziert worden von einem Juristen, dem Strafvollzugspraktiker Preusker. Dieses
Gremium sollte anstelle der Strafvollstreckungskammer unter Berücksichtigung der
Sicherheitsprobleme und Behandlungsmöglichkeiten der Einrichtung auch die
Vollstreckungsreihenfolge bestimmen und ggf. ändern. Damit sollen dann eher
Behandlungsabbrüche verhindert werden und es soll flexibler auf aktuelle Entwicklungen
reagiert werden können.
Nun zum Schluss auf Gesetzesänderungen, die ich, wenn man mir denn in der Argumentation
folgt, für notwendig erachte. Insgesamt geht es mir um eine verbesserte Durchlässigkeit
zwischen Straf- und Maßregelvollzug während des Vollstreckungsverfahrens. Die Institution
des psychiatrischen Krankenhauses sollte auch für behandlungsbereite und therapeutisch
ansprechbare Inhaftierte geöffnet werden, denen im Erkenntnisverfahren keine zumindest
erheblich verminderte Schuldfähigkeit zuerkannt wurde. Das heißt nicht, um das hier
einzufügen, dass ich den Gedanken teilen würde, wie er zur Zeit im Bundesjustizministerium
diskutiert wird, die Eingangsvoraussetzungen für den § 63 StGB so abzusenken, dass
grundsätzlich auch bei nur nicht ausschließbarer erheblicher Verminderung der
28
Referate
Schuldfähigkeit bereits eine Unterbringung nach § 63 StGB ermöglicht wird. Das wäre eine
einseitige Öffnung des psychiatrischen Krankenhauses und würde vermutlich dazu führen,
dass bei den gegebenen 63.000 Strafgefangenen und – wie Sie gesehen haben – knapp 6.000
in den alten Bundesländern nach § 63 StGB Untergebrachten noch mehr die Belegung im
Maßregelvollzug zunehmen würde. Vielmehr geht es mir um die Flexibilisierung in beiden
Richtungen. Umgekehrt sollte es dem psychiatrischen Krankenhaus ermöglicht werden, z. B.
durch die Entkopplung von verminderter Schuldfähigkeit und Maßregelanordnung, sich nach
einiger Zeit ausreichend intensiver therapeutischer Bemühungen von therapeutisch nicht
ansprechbaren Patienten zu trennen. Entziehungsanstalten sollten auch für behandlungsbereite
und therapeutisch ansprechbare suchtkranke Inhaftierte geöffnet werden -wie Sie gesehen
haben, ist die Prävalenz der Alkoholabhängigkeit allein im Justizvollzug relativ hoch- und im
Gegenzug Patienten, die sich zur Zeit als therapeutisch nicht ansprechbar erwiesen haben,
nach einiger Zeit ausreichend intensiver suchttherapeutischer Bemühungen schneller als
bisher in den Justizvollzug verlegt werden. Mir schwebt insgesamt kein radikaler
Gesetzesänderungsentwurf vor, der etwa die Zweispurigkeit grundsätzlich aufgäbe und
abgekoppelt vom Schuldfähigkeitsprinzip psychisch gestörter Straftäter nur noch in
Abhängigkeit von der mit Sachverständigenhilfe festzustellenden Legal- und
Behandlungsprognose dem einen oder anderen System zuweist. Darüber könnte man auch
reden. Vielmehr sollte man aus meiner Sicht überlegen, ob man angesichts der gegenwärtigen
Situation die Kooperation zwischen Justiz und Maßregelvollzug im Hinblick auf die
psychiatrische Versorgung nicht verzahnen sollte – selbst wenn sich in der praktischen
Ausgestaltung diverse, zu überwindende Probleme, etwa die Amtshilfethematik abzeichne
dürfte. Also mir geht es insgesamt um eine Flexibilisierung der beiden Systeme. Ich denke,
die strikte Zweispurigkeit, die Starre, die in diesem System liegt, die ist nicht mehr zeitgemäß.
29
Referate
Privatisierung im Maßregelvollzug
- Hintergründe, aktueller Stand, Modelle, Risiken und Möglichkeiten
Friedrich Schwerdtfeger 3
„Nachdem wir das Ziel endgültig aus den Augen verloren hatten,
verdoppelten wir unsere Anstrengungen, es zu erreichen.“
Mark Twain
Die deutsche Krankenhauslandschaft befindet sich in einem rasanten Umbruch, einem
Veränderungsprozess, der neben einem allgemeinen Bettenabbau auch durch die Einführung
von DRGs im somatischen Bereich und einen zunehmenden Rückzug der kommunalen
Krankenhausträger bestimmt ist.
Insofern verwundert es nicht, wenn Ulrich Wandschneider - Partner der
Unternehmensberatung Arthur Andersen - den Klinikmarkt in Deutschland für den
„spannendsten in Europa“ hält4.
Trotz erheblicher Fallzahlsteigerungen der Kliniken fand, bei gleichzeitiger Verkürzung der
Verweildauern, in den letzten 15 Jahren ein Bettenabbau um mehr als 20% statt. Dass dieser
noch nicht sein endgültiges Ende erreicht hat, steht zu vermuten.
Gleichzeitig zieht sich die öffentliche Hand zunehmend aus diesem Bereich zurück und
veräußert ihre Kliniken, vorwiegend an Unternehmen der Privatwirtschaft in deren Besitz sich
2003 24% der deutschen Kliniken befanden5. Ein Prozess, der Studien der
Unternehmensberatungen Arthur Anderson und Ernst & Young zufolge in den nächsten 10
Jahren dazu führen wird, dass öffentlich-rechtliche Krankenhausträgerschaft vom Markt
verschwindet6.
Gerade in den letzten Wochen haben sich die großen privaten Klinikbetreiber
Asklepios Kliniken GmbH, HELIOS Kliniken GmbH und die RHÖN-Klinikum AG
unterstützt von dem Gesundheitsökonomen Prof. Günter Neubauer von der Bundeswehr
Universität München dazu entschlossen, zum Sturm auf die Bastion der öffentlich-rechtlichen
Trägerschaft zu blasen7.
Der erhobenen Forderung nach mehr Transparenz im Gesundheitswesen mag man sich noch
anschließen können, die nach einer Einstellung staatlicher Förderung und gleichzeitiger
Zurückhaltung des Bundeskartellamtes bei Zusammenschlüssen von Klinikbetreibern lässt
jedoch eher vermuten, dass hier eher unliebsame Konkurrenten aus dem Bereich der
öffentlich-rechtlichen und freigemeinnützigen Träger aus dem boomenden Geschäft
ferngehalten werden sollen.
3
4
5
6
7
Klinikum Bremen-Ost
Hauschild (2001); Deutscher Klinikmarkt im Übernahmefieber. Infodienst Krankenhäuser Heft 13, S. 40
Der Landkreis 11/2004; Deutsches Ärzteblatt 25/2005
Arthur Anderson (2000); Krankenhaus 2015 - Wege aus dem Paragraphendschungel
Ernst & Young (2005); Gesundheitsversorgung 2020
Pressemitteilung der Fresenius Medical Care bei Presserelations.de
30
Referate
Nur am Rande sei erwähnt, dass die Länder gerade aus Sorge darum, ihre gestalterischen
Einfußmöglichkeiten zu verlieren, dem Gesetzesentwurf zur GKV-Gesundheitsreform im Jahr
2000, der einen Übergang zur monistische Finanzierung durch die Krankenkassen bis 2008
vorsah, nicht zugestimmt haben.
Der eben beschriebene Veränderungsprozess ist auch an den psychiatrischen Kliniken nicht
spurlos vorbeigegangen. Als durchaus erwünschter Bettenabbau der Landeseinrichtungen im
Rahmen der Ergebnisse der Psychiatrie-Enquete, fand seit 1975 neben der Regionalisierung
mit der Integration psychiatrischer Abteilungen in die Allgemeinkrankenhäuser, der
Schaffung von Institutsambulanzen und einer Förderung ambulanter Versorgung durch
komplementäre Einrichtungen eine Veränderung der Psychiatrielandschaft statt, die es
erlaubte, die Verweildauern von damals durchschnittlich 230 auf heute 23 Tage zu verkürzen
und nahezu 50% der psychiatrischen Klinikbetten abzubauen8.
Dass Kliniken in öffentlicher Trägerschaft durchaus rentabel arbeiten können, machten unter
anderem Studien deutlich, die im Zusammenhang mit Privatisierungsgedanken in Hessen,
Niedersachsen und Bayern durchgeführt wurden.
So zeigte eine im Auftrag der bayrischen Staatsregierung von der Unternehmensberatung
PricewaterhouseCoopers durchgeführte Untersuchung für den bayrischen Maßregelvollzug
u. a., dass der geringe Unterschied der Kosten im Wesentlichen auf eine ungünstigere
Alterstruktur des Personals und die Differenz zwischen BAT-Ost und -West zurückzuführen
war.
Für Niedersachsen konnte das Institut für Betriebswirtschaftliche und Arbeitsorientierte
Beratung, das im Auftrag von Ver.di tätig wurde, aufzeigen, dass in den niedersächsischen
Landeskrankenhäusern trotz der Gewinnabschöpfung durch das Land bereits aktuell der
größte Teil der Investitionen aus dem operativen Geschäft getätigt würde, der Weg in eine
„monistische“ Finanzierung somit zumindest umsetzungsnah ist.
Dem hessischen Landeswohlfahrtverband wurde im vergangenen Jahr bescheinigt, dass er
betriebswirtschaftlich arbeitet und gut positioniert ist. Um diese Position zu erhalten,
entschloss man sich dazu, die bisher als Eigenbetriebe geführten Einrichtungen in eine
gGmbH zu überführen.
Dennoch kann man nicht verhehlen, und dies machen auch die eben angesprochenen
Untersuchungen deutlich, dass Kliniken in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft zunehmend
Probleme haben, im freien Spiel der Kräfte zu bestehen.
2004 stammten nur noch 2/3 der Investitionen im Krankenhausbereich aus öffentlichen
Kassen. Der reale Rückzug der Länder aus der dualen Finanzierung, der nach Angaben der
Deutschen Krankenhausgesellschaft zwischen 1991 und 2005 bei einem Minus von fast 26%
lag, hat zu einem erheblichen Investitionsstau in der Größenordnung von 25-50 Mrd. Euro
geführt.9 Während nach Mitteilungen der Krankenhausgesellschaft Nordrhein-Westfalen
(KGNW) der Haushaltsplan des Landes für 2005 noch 255 Mio. Euro für Investitionen im
8
9
DGPPN (2005); URL: http//:idw-online.de/pages/de/news138032
http://www.medizin.de/gesundheit/deutsch/2578.htm
31
Referate
Krankenhausbereich vorsah, wurde er für das Jahr 2006 auf 30. Mio. Euro reduziert. Während
Klinikverbünde in privatwirtschaftlicher Trägerschaft hier sehr viel leichter und meist zu
günstigeren Konditionen andere Finanzierungswege erschließen können, treffen solche
Entscheidungen Häuser in öffentlich-rechtlicher Trägerschaft hart.
Die oft langen Beteiligungs- und Genehmigungswege machen es für Kliniken in öffentlicher
Hand darüber hinaus meist schwer, sich an die schnell ändernde Strukturlandschaft
anzupassen und selbst, wenn der Tarifvertrag für den öffentlichen Dienst erhebliche Abstriche
im Vergleich zum BAT mit sich bringt, ist die Tarifstruktur insgesamt nicht geeignet,
Initiative in ausreichendem Maße zu fördern.
Ob der von vielen Untersuchungen gesehene Widerspruch von politischen Zielen zu
betriebswirtschaftlichen tatsächlich ein Nachteil ist, ist bei Unternehmungen im sozialen
Bereich zu bezweifeln.
Die ehemalige niedersächsische Sozialministerin Ursula von der Leyen machte im Rahmen
einer Haushaltsklausurtagung in Hildesheim im vergangenen Jahr deutlich, dass die Länder
der Schuh aber auch an anderer Stelle drückt. Das Land Niedersachsen sei ohne zusätzliches
Kapital nicht mehr dazu in der Lage, einen verfassungskonformen Haushalt zu Wege zu
bringen und dabei auch noch die erforderlichen Investitionen vor allem im Maßregelvollzug
aufzubringen.
Die hier beklagten Probleme, die aus einem stetigen Anwachsen der Zahl der Untergebrachten
im Maßregelvollzug erwachsen, sind nicht spezifisch niedersächsischer Natur, sondern treffen
alle Bundesländer gleichermaßen. Sie gehen zu einem großen Teil zurück auf ein fachlich
nicht begründetes gestiegenes gesellschaftliches Sicherheitsbedürfnis. Weder ist die Zahl der
von psychisch Kranken begangenen Straftaten in auch nur annähernd vergleichbarem Maße
angestiegen, noch hat der Maßregelvollzug in der Bundesrepublik gravierende Defizite
aufgewiesen, die die in den letzten Jahren erfolgten Restriktionen sachlich begründen
könnten. Vielmehr waren es Einzelfälle, die dazu geführt haben, dass die gesetzlichen
Möglichkeiten, Patienten aus dem Maßregelvollzug zu entlassen, undifferenziert und
drastisch verschlechtert wurden. Lockerungen wurden teilweise aus politischen und nicht
fachlichen Gründen seitens des Trägers für ganze Kliniken zurückgenommen und der
Entlassungsprozess insgesamt verzögert.
Die therapeutischen Bemühungen ersticken unter dem von Medien verbreiteten Bild des
„gefährlichen Irren“. Sukzessive findet so eine Umformung des Maßregelvollzuges hin zu den
Polen Gefängnis und psychiatrisches Dauerwohnheim statt.
Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass die Zahl der im Maßregelvollzug
untergebrachten, sich in den letzten 10 Jahren nahezu verdoppelt hat - sie liegt im
Bundesgebiet heute bei über 10.000 - und die durchschnittliche Verweildauer in den letzten
Jahren dramatisch angestiegen ist. Der Ärztl. Direktor des Niedersächsischen
Landeskrankenhauses Moringen - einer zentralen Einrichtung des Maßregelvollzugs in
Niedersachsen – berichtet davon, dass die dortigen Verweildauern zwischen 1996 und 2003
von durchschnittlich 3,9 auf 6,7 Jahre angestiegen sind.
Eine im Auftrag des Landes Rheinland-Pfalz durchgeführte Untersuchung zur
Kostenbegrenzung im Maßregelvollzug macht dabei deutlich, dass diesbezüglich erhebliche
Unterschiede zwischen den einzelnen Bundesländern bestehen, deren Ursache unklar bleibt.
So schwankt beispielsweise der Anteil der Patienten, die länger als 10 Jahre untergebracht
32
Referate
sind, in den beteiligten Bundesländern zwischen 10 und 34 % und die Verweildauer der im
Jahr 2003 entlassenen Patienten aus dem 63er-Bereich zwischen 44 und 134 Monaten.
Bei einem durchschnittlichen finanziellen Aufwand von 6.500 € je Behandlungsmonat
ergeben sich so Fallkosten zwischen 300.000 und 900.000 €.10
Kammeier, der vor einigen Jahren schon einmal versuchte, das Problem der Fallkosten
anzugehen, machte auf einer Tagung in Andernach im vergangenen Jahr zu Recht darauf
aufmerksam, dass der Eindruck besteht, dass bei den sehr unterschiedlichen Versuchen von
Landesregierungen, dieses Problem in den Griff zu bekommen, eher ein Kurieren an den
Symptomen stattfindet, der erforderliche gesellschaftliche Diskurs jedoch vermieden werde.
Was wir stattdessen erleben ist eine Flucht in die Privatisierung, die mit der Hoffnung
verbunden ist, dadurch die Kosten für den Maßregelvollzug in einem politisch vertretbaren
Rahmen zu halten.
Für eine solche privatwirtschaftliche Orientierung stehen verschiedene Organisations- und
Rechtsformen zur Verfügung, die jeweils unterschiedliche Möglichkeiten eröffnen.
Der Eigenbetrieb als Gestaltungsmöglichkeit eines kommunalen oder Landesunternehmens ist
organisatorisch und finanzwirtschaftlich zwar aus der jeweiligen kommunalen Struktur
ausgegliedert, unterliegt jedoch weiterhin maximaler staatlicher Einflussnahme und ist
aufgrund oft komplizierter Abstimmungs- und Genehmigungswege sowie eingeschränkter
Möglichkeiten zum eigenständigen Agieren in seinen eigenen Innovationsmöglichkeiten
eingeschränkt. Dies führt in der Regel auch dazu, dass er bei der Kapitalaufnahme von
Banken gegenüber privatwirtschaftlich agierenden Unternehmen benachteiligt ist.
Formale
Privatisierung
Formen
Kernpunkte
Public Privat
Partnership
Materielle
Privatisierung
z. B. AöR, GmbH, gGmbH
Betriebsführungsmodell
Betreibermodell
Betriebsüberlassungsmodell
Gemischtwirtschaftliche
Unternehmen
z. B. GmbH, gGmbH, AG
erhebliche öffentliche
Einflussnahme
komplizierte
Abstimmungs- u.
Genehmigungswege
eingeschränkter
Innovationsspielraum
Belastung der
öffentlichen Haushalte
öffentl. Einflussnahme
gesichert
Privatwirtschaftl. Potential
wird genutzt
Finanzhaushalte entlastet
Gemeinsame Partizipation
am Erfolg
öffentl. Einflussnahme
minimiert
Risiken bei der öffentl.
Hand
mögliche
Struktureinbrüche
keine Partizipation des
Landes am Erfolg
Akzeptanzprobleme
Im Rahmen einer formalen Privatisierung werden öffentliche Aufgaben durch ein
Unternehmen in privater Rechtsform, welches jedoch zu 100% der öffentlichen Hand gehört,
übernommen.
10
Jaschke/Oliva (2005); Abschlussbericht „Kostenbegrenzung im Maßregelvollzug in Rheinland-Pfalz.
Ceus consulting/FOGS
33
Referate
Als klassische Rechtsformen sind hier sowohl die Anstalt öffentlichen Rechts (AöR) als auch
GmbH-Formen denkbar. Viele der eben besprochenen Problembereiche, so beispielsweise die
Schwierigkeiten bei der Kreditaufnahme, bestehen auch hier weiter.
Aktuell betreiben die Länden Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz ihre Landeskliniken
einschließlich Maßregelvollzug als AöR.
Sachsen-Anhalt führte seine Landeskliniken der Salus GmbH, einem 100%igen
Landesbetrieb, zu. Wohl aus später noch zu erörternden rechtlichen Überlegungen heraus fand
hierbei auf gleichem Gelände eine Trennung der ehemaligen Landeskliniken in einen
allgemeinen Krankenhausbereich (so genannte Fachkliniken) und den Maßregelvollzug
(Landeskrankenhäuser) statt. Während ersterer nun bei erhaltenem Besitz der Salus GmbH
von der Asklepios GmbH gemanagt wird, übernimmt die Salus GmbH dies für die
Landeskrankenhäuser selbst.
Wir finden hier eine öffentlich-private Partnerschaft (ÖPP), auch Public Privat Partnership
(PPP)11 genannt, bei der der KHG-Bereich im so genannten Betriebsführungsmodell, der
Maßregelvollzug als Organisationsprivatisierung geführt werden.
Sehr viel weiter reicht das Betreibermodell, bei dem das private Unternehmen ein
Infrastrukturprojekt nicht nur auf eigenes Risiko betreibt, sondern auch als Bauherr mit allen
damit verbundenen Risiken errichtet und während des späteren Betriebes durch Gebühren der
Nutzer finanziert. Eine Zwischenform zwischen den eben genannten stellt das
Betriebsüberlassungsmodell dar.
Die sicherlich häufigste Form der PPP außerhalb des Krankenhausbereiches stellen
gemischtwirtschaftliche Unternehmen dar, wie sie beispielsweise dass Land Thüringen für
seine Landeskliniken einschließlich des Maßregelvollzuges gewählt hatte. Mit je einem
Partner für jedes Landeskrankenhaus12 ging das Land eine Partnerschaft ein, bei der es sich
eine Sperrminorität von 25,3% der Anteile sicherte.
Der Vorteil solcher öffentlich-privaten Partnerschaften liegt darin, dass einerseits die
öffentliche Einflussnahme gesichert bleibt, andererseits das privatwirtschaftliche Potential
und Know-how genutzt wird. Die Finanzhaushalte sollen so entlastet werden und beide
Partner partizipieren am Erfolg der Unternehmung.
PPP-Projekte gibt es auch im Bereich des Strafvollzuges. Eines der ersten ist die hessische
Justizvollzugsanstalt Hünfeld gewesen.
In den ersten Überlegungen 1999 war zunächst vorgesehen, bereits Planung und Bau in
private Hände zu geben. Hiervon wurde aus Zeitgründen abgesehen, der später ausgewählte
Partner - die britische Serco GmbH - dann jedoch so früh als möglich zur Erzielung von
Synergieeffekten durch Baugestaltung mit einbezogen. Der hier gefundene
Kooperationspartner zeichnete sich unter anderem dadurch aus, dass er über Erfahrungen im
Betrieb von britischen Strafvollzugsanstalten verfügte.
Alle Bereiche, die nicht in direktem Zusammenhang mit der Wahrnehmung hoheitlicher oder
gravierender sicherheitsrelevanter Aufgaben standen, wurden an Serco übergeben. Hierzu
gehörte nicht nur der gesamte Bereich des Facillitymanagement, die Versorgung der
11
12
Auch Public Social Privat Partnership PSPP
Mühlhausen Caritas/Diakonie, Stadtroda Asklepios GmbH, Hildburghausen Rhön AG
34
Referate
Gefangenen mit Speisen, Kleidung u. ä., sondern auch der Sozialdienst sowie der
psychologische und ärztliche Dienst, die Arbeitstherapie und die Schule. So werden 45% des
Personals als so genannte Verwaltungshelfer von Serco gestellt, während der überwiegende
Teil des Bewachungs- und Kontrollmanagements ebenso wie die Entscheidungskompetenz
weiter in der Hand von Beamten bleibt. Kostenersparnis ca. 15% der Gesamtkosten.
Dass solche Strukturen nicht immer auf Dauer angelegt sind, zeigt die aktuelle Entwicklung
in Thüringen. Das Land hat seine Anteile an den ehemaligen Landeskliniken inzwischen
veräußert, so dass zukünftig in Hildburghausen der erste Maßregelvollzug Deutschlands als
Aktiengesellschaft betrieben wird.
Diese Form des Wandels gilt, wie die Entwicklung in Schleswig-Holstein zeigt, jedoch auch
für die vorher beschriebene Organisationsprivatisierung, die ähnlich wie die Entwicklung in
Hamburg, als Muster für die Privatisierungsbestrebungen der Länder angesehen werden kann.
In beiden Fällen erfolgte zunächst die Überführung in eine AöR, die dann dazu diente, die
Betriebe durch „Verschlankung der Strukturen“, attraktiv für privatwirtschaftliche
Interessenten zu machen. Man schuf rechtliche Rahmenbedingungen für eine Beleihung der
Einrichtung hinsichtlich der Durchführung des Maßregelvollzuges, schrieb dann europaweit
aus und veräußerte zu 100% wie Schleswig-Holstein an Ameos und die Damp-Gruppe oder in
Etappen wie Hamburg es mit dem LBK an Asklepios tat.
Aktuelle Rechtsformen der Maßregelvollzugseinrichtungen
Landeseinrichtungen
Niedersachsen,
Saarland,
Sachsen,
Mecklenburg-Vorpommern/Uni-Rostock
Kommunalverbände
Bayern (Bezirkskrankenhäuser),
Hessen (Landeswohlfahrtsverband),
Nordrhein-W. (Landschaftsverbände)
Anstalt öffentlichen Rechts
(AöR)
Baden-Württemberg,
Rheinland-Pfalz
GmbH / gGmbH
Öffentliche
Brandenburg/Eberswalde (MGK);
Bremen (Gesundheit Nord);
Sachsen-Anhalt (Salus)
Private
Asklepios: Thüringen/Stadtroda, Hamburg, Brandenburg/Brandenburg u. Teupitz,
Helios: Berlin-Buch,
Ameos: Schleswig-H./Neustadt;
Damp: Schleswig-H./Schleswig, Mecklenburg-V./Stralsund
Freigemeinnützige
Diakonie/Caritas: Thüringen/Mühlhausen; Mecklenburg-V./Ueckermünde
Aktiengesellschaften
Rhön AG: Thüringen/Hildburghausen
Eine solche materielle Privatisierung führt dazu, dass die öffentliche Einflussnahme auf das
Unternehmen minimiert wird, obwohl die Risiken aufgrund des gesetzlichen
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Referate
Sicherstellungsauftrages weiter bei der öffentlichen Hand liegen. An den insbesondere
wirtschaftlichen Erfolgen der Unternehmen partizipiert das Land nicht mehr.
Akzeptanzprobleme entstehen nicht nur, weil sowohl der Kaufpreis wie die nicht
unerheblichen Gewinnmargen über die Pflegesätze finanziert werden, sondern vor allem
deshalb, weil zu unterstellen ist, dass ein privatwirtschaftliches Unternehmen kein
intrinsisches Interesse an rückläufigen Zuweisungs- und Belegungszahlen hat.
So lässt Axel Paeger, Vorstandsmitglied der Ameos GmbH, keinen Zweifel daran dass jede
Einrichtung der Ameos nach spätestens 6 Monaten eine Umsatzrendite von mindestens 20%
erbringt, ähnliche Größenordnungen weisen die Geschäftsberichte der Rhön AG aus.
Joachim Manz Geschäftsführer der Rhön AG in Hildburghausen, machte 2002 auf einem
Vortrag in Klingenmünster deutlich, dass er im Vergleich zum öffentlich- rechtlichen
Krankenhausbetrieb ein Einsparpotential von bis zu 35% sieht. Betrachtet man seine
Überlegungen hierzu näher, so stellt man fest, dass 5% aus dem Sachkostenbereich und 30%
aus dem Personalkostenbereich stammen. Manz machte auch deutlich, wie das Konzept
aussieht: Der Strukturwandel wird darin bestehen, dass weniger Patienten aufgenommen
werden, die dann jedoch länger bleiben.
Niemand glaubt ernstlich, dass in einer Situation, in der sich bereits die Länder kaum noch
dazu in der Lage sehen, eine auf Entlassung der Patienten orientierte offensive Politik
gegenüber der Öffentlichkeit zu vertreten, ein privater Träger das hierzu erforderliche
Standing haben wird.
Welche Erwartungen in der Öffentlichkeit bestehen, macht die Presse in Regenburg anlässlich
der Privatisierungsgedanken des Landes Bayern deutlich. Sie titelte „Kranke Ganoven in
Privathand ?“ und führte im Kommentar dazu aus „Türmen darf nicht sein“, es müsse
sichergestellt werden, dass nicht - wie jetzt unter staatlicher Aufsicht - die als gefährlich
angesehenen Patienten das Weite suchen können13.
Dies ist keine Einzelmeinung, insofern ist davon auszugehen, dass Maßregelvollzug
insbesondere unter den Bedingungen einer materiellen Privatisierung eine auf ein Null-Risiko
ausgerichtete Wachstumsbranche werden wird.
Während in Schleswig-Holstein die Eintragung der zur Damp-Gruppe gehörenden Fachklinik
Neustadt bezüglich der Eintragung ins Handelsregister unproblematisch verlief, legten sich
die Richter des Amtsgerichtes Schleswig hinsichtlich der Schleswiger Ameos Klinik im
Januar 2005 quer und verweigerten den Eintrag unter Hinweis auf verfassungsrechtliche
Bedenken hinsichtlich einer Beleihung von Einrichtungen in privater Trägerschaft für den
Maßregelvollzug. In dieser Haltung wurde sie durch das Landgericht Schleswig bestätigt,
dass im März 2005 deutlich machte, dass es bei der Beurteilung des Gesellschaftszwecks auch
auf die Frage ankomme, ob die beabsichtigte Übertragung des Maßregelvollzuges auf eine
juristische Person des Privatrechts mit den immanenten Schranken der gesamten
Rechtsordnung , insbesondere auch den verfassungsrechtlichen Prinzipien vereinbar sei. Die
Übertragung der ständigen Ausübung hoheitlicher Befugnisse - hier des Maßregelvollzuges der im Hinblick auf die Freiheitsentziehung mit dem Strafvollzug gleichzusetzen sei und als
13
http://www.zeitung.org/zeitung/797820-145,1,0.html
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Referate
ein Kernbereich hoheitlicher Gewalt betrachtet werden müsse, sei zur Entlastung der
Finanzlage unter Kostengesichtspunkten nicht gerechtfertigt. Rechtfertigungsfähig seien
Eingriffe dieser Art nur als staatliche Gewalt, weil der Staat das rechtsstaatlich unabdingbare
Gewaltmonopol besitzen müsse. Dabei sei auch dem Umstand Rechnung zu tragen, dass die
Gefahr eines Konfliktes zwischen gesetzmäßiger Aufgabenerfüllung und Eigeninteresse bei
dem vom Gewinnstreben motivierten Privaten höher sei, als bei Angestellten des öffentlichen
Dienstes.
Dennoch hob das OLG Schleswig die angefochtene Entscheidung im Oktober 2005 als
rechtsfehlerhaft auf, weil das Landgericht - wie auch das Amtsgericht - den Umfang der ihm
obliegenden Prüfung der Anmeldung verkannt habe. Im Klartext, weil es ihnen nicht
zugestanden hätte, in so weitem Umfang zu prüfen.
Vereinzelt wurde versucht, die hier anklingenden Bedenken hinsichtlich der Wahrnehmung
hoheitlicher Befugnisse dadurch zu relativieren, dass die jeweiligen Klinikleitungen entweder
ganz, wie in Brandenburg, oder mit Stundenkontingenten, wie in Bremen, als Angestellte des
Landes an die jeweiligen Maßregelvollzugseinrichtungen abgeordnet werden und
umfangreiche Einsichtsrechte in die Unternehmensakten erhalten. Andere Länder, wie
beispielsweise Thüringen, behalten sich umfangreiche „externe Supervisionsmöglichkeiten“
vor. Ob diese Form der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben ausreichend ist, muss die
Zukunft zeigen.
Der Richter am Bundesverfassungsgericht Dr. Broß stellte berechtigter Weise die Frage,
wofür ein Staat, der sich soweit aus seinen Kernaufgaben zurückzieht, eigentlich noch da ist.
Es gibt zweifelsohne keinen staatlichen Bereich, in dem die Macht über andere Menschen so
groß ist, wie in der totalen Institution Maßregelvollzug. Es mag sein, dass vor Ort vieles dafür
getan wird, diesen Charakter soweit als möglich zurückzudrängen, dennoch bleibt es dabei,
dass erhebliche Einwirkungsmöglichkeiten auf die freiheitlichen Grundrechte der
Untergebrachten einschließlich ihrer körperlichen Unversehrtheit bestehen. Der sorgsame
Umgang hiermit stellt bereits unter staatlicher Trägerschaft eine schwierige Gradwanderung
dar. Der Gedanke, dies bei einem Minimum an staatlicher Kontrolle und Einflussnahme dem
Zuständigkeitsbereich privater Betreiber zu überlassen, muss erschrecken.
Unter Umständen waren es diese rechtlichen Bedenken, die dazu führten, das sich
Niedersachsen vor kurzem - wenn auch in inkonsequenter Weise - dazu entschlossen hat,
zwar die Landeskrankenhäuser, in denen sich große forensische Abteilungen befinden, zu
verkaufen, die reinen Maßregelvollzugeinrichtungen in Moringen, Brauel und Bad Rehburg
jedoch in Landeshand zu lassen.
Kein Bundesland verfügt augenblicklich im Bereich des Maßregelvollzuges über eine
ausreichend lange und evaluierte Erfahrung mit Modellen von PPP oder materieller
Privatisierung, auch mangelt es, wie gerade die Länderumfrage von Rheinland-Pfalz gezeigt
hat, an validen Daten und geeigneten Kennzahlen, um aussagekräftige Vergleiche hinsichtlich
nachhaltiger positiver Effekte der eingeleiteten Veränderungen anzustellen. Bisher hat dies
jedoch keine Landesregierung gestört, den fragwürdigen Weg in die Privatisierung zu gehen.
In der Vorstellung, dass andere es besser könnten, suchen die Länder ihr Heil in der
Privatisierung.
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Referate
Die Entscheidung über die Rechtsform eines Unternehmen sollte am Ende einer
Entscheidungskette stehen, nachdem zuvor zu erreichende Ziele formuliert, Teilschritte und
Bedingungen der Zielerreichung beschrieben und das Für und Wider der verschiedenen
Rechtsformen abgewogen wurden. Gerade bei der Wahrnehmung hoheitlicher Aufgaben
dürfen wirtschaftliche Erwägungen hier nicht alleinige Grundlage sein der Entscheidung. Um
diesen Weg zu gehen bedarf es sinnvoller Vergleiche zwischen den Institutionen. Hierzu ist es
zwingend erforderlich unter enger Beteiligung der Praktiker aus den Einrichtungen in ein
bundesweites Benchmarking einzusteigen. Erst dann wird man halbwegs verlässliche
Aussagen über die Auswirkungen eines solchen Vorgehens erhalten.
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Referate
Psychisch Kranke im Strafvollzug
Dr. jur. Rolf Grünebaum 14
I.
Allgemeines
Maßregelvollzugskliniken klagen häufig darüber, dass sie die falschen Patienten eingewiesen
bekämen, zum Beispiel, weil die Patienten therapieresistent seien und deshalb im
Justizvollzug besser aufgehoben wären, oder weil in der Hauptverhandlung eine
Fehleinschätzung erfolgt sei, indem etwa die Persönlichkeitsstörung gar keinen
Krankheitswert habe. Umgekehrt wird die gleiche Klage im Justizvollzug geführt:
Zunehmend hätten die Vollzugsanstalten es mit Gefangenen zu tun, die psychische Störungen
aufwiesen, und deshalb in einer JVA fehl am Platze seien. Tatsächlich kann es zu derartigen
vermeintlichen oder tatsächlichen Fehleinweisungen in eine Justizvollzugsanstalt kommen.
II.
Gründe für den Aufenthalt von psychisch Kranken in einer JVA
1. Kein symptomatischer Zusammenhang
Nicht selten werden Angeklagte verurteilt, die bereits eine psychische Erkrankung haben,
ohne dass diese in der gerichtlichen Hauptverhandlung eine Rolle gespielt hat. Das wird
immer dann der Fall sein, wenn die Erkrankung keinen symptomatischen Zusammenhang mit
der Tat aufgewiesen hat, und sich die Frage der Schuldfähigkeit und damit einer
Unterbringung im Maßregelvollzug nach § 63 StGB gar nicht gestellt hat. Begeht
beispielsweise ein Schizophrener außerhalb eines Schubs eine Straftat, kann es durchaus sein,
dass seine strafrechtliche Verantwortlichkeit gar nicht berührt ist, und er deshalb wie ein
gesunder Straftäter zu einer Freiheitsstrafe verurteilt wird, obwohl er als psychisch Kranker
im Justizvollzug als Fehleinweisung empfunden wird. Juristisch ist das aber in Ordnung.
2. Unterlassene Begutachtung im Strafverfahren
Eine andere Fallgruppe besteht darin, dass es zwar eine geistige Erkrankung mit einem
symptomatischen Tatzusammenhang gibt, dies aber einfach übersehen worden ist, etwa weil
der Straftäter sich trotz seiner geistigen Erkrankung unauffällig verhalten hat, und von den am
Verfahren beteiligten Juristen kein Anlass gesehen wurde, die Frage der strafrechtlichen
Verantwortlichkeit sachverständig näher prüfen zu lassen. Dieser Fall wäre rechtlich
fehlerhaft. Stellt sich diese Fehlerhaftigkeit während des Strafvollzugs heraus, weil die
psychische Erkrankung offenbar wird, gibt es grundsätzlich die Möglichkeit der juristischen
Korrektur.
Es handelt sich dann nämlich um eine neue Tatsache im Sinne des § 359 Nr. 5 StPO, die dem
Gericht zum Zeitpunkt des Urteils nicht bekannt war. § 359 Abs. 5 StPO lautet:
14
Leitender Oberstaatsanwalt, Brandenburg
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Referate
"Die Wiederaufnahme eines durch rechtskräftiges Urteil abgeschlossenen Verfahrens
zugunsten des Verurteilten ist zulässig, ..........
5. wenn neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht sind, die allein oder in Verbindung
mit den früher erhobenen Beweisen die Freisprechung des Angeklagten oder in Anwendung
eines milderen Strafgesetzes eine geringere Bestrafung oder eine wesentlich andere
Entscheidung über eine Maßregel der Besserung und Sicherung zu begründen geeignet sind;"
Das ermöglicht es, die Wiederaufnahme des Verfahrens zu betreiben mit dem Ziele eines
Freispruchs wegen Schuldunfähigkeit oder einer geringeren Strafe wegen eingeschränkter
Schuldfähigkeit. In der Praxis sollte man diese Möglichkeit aber nicht überschätzen. In erster
Linie werden es Verteidiger sein, die eine derartige Wiederaufnahme zugunsten des
Verurteilten ins Auge fassen. Das Wiederaufnahmeverfahren ist ein schwieriger und
langwieriger Prozess, der den Verurteilten möglicherweise erst erreichen würde, wenn er gar
kein Interesse mehr daran hat, weil sein Strafende vielleicht vor der Tür steht. Entscheidend
ist aber, dass über allem das Damoklesschwert der Unterbringung nach § 63 StGB steht.
Erreicht der Verteidiger im Wiederaufnahmeverfahren nämlich eine Anwendbarkeit der §§
20, 21 StGB, hat er zu gewärtigen, dass dann möglicherweise zugleich eine unbefristete
Unterbringung im Maßregelvollzug nach § 63 StGB droht. Deshalb wird er es im
Allgemeinen lassen.
3. Fehlerhafte Einweisungsdiagnose
Grundsätzlich besteht die Möglichkeit der Verfahrenswiederaufnahme auch dann, wenn sich
herausstellt, dass das in der Hauptverhandlung erstattete Gutachten falsch war, und der
Gutachter zu Unrecht die volle Verantwortlichkeit des Angeklagten angenommen hat. Auch
dieser theoretische Fall ist praktisch bedeutungslos. Zum einen liegt das daran, dass der
Gutachter nur die medizinischen Anknüpfungstatsachen, also beispielsweise den
Krankheitsbefund zu liefern hat, und die Schlussfolgerungen, ob dies den Tatbestand der §§
20, 21 StGB erfüllt, dem Gericht obliegen. Fehler in diesem Bewertungsbereich sind damit
Rechtsfehler und keine neuen Tatsachen. Rechtsfehler reichen für eine Wiederaufnahme nicht
aus. Aber auch auf der Tatsachenebene, also der Krankheitsdiagnose eröffnet sich dem
Gutachter vor allem bei psychiatrisch/psychologischen Fragen zumeist ein
Beurteilungsspektrum, bei dem es schwierig sein dürfte, eindeutig nachzuweisen, dass die von
dem Gutachter im Erkenntnisverfahren festgestellten Befunde falsch waren.
4. Spätere Erkrankung
Eine bedeutende praktische Fallgruppe wird diejenige sein, in der der Strafgefangene erst in
der JVA psychisch erkrankt, oder sich sein Zustand krankheitswertig verschlimmert.
Erkrankung und Haftsituation stehen oft in einer kausalen Wechselwirkung zueinander: Die
psychische Erkrankung stellt sich in nicht seltenen Fällen als Reaktion auf die Haft dar. Der
Psychiater/Psychologe in der JVA befindet sich damit in einem oft unauflösbaren Dilemma:
Einerseits soll die Behandlung den Gefangenen wieder hafttauglich machen, so dass er am
normalen Vollzugsalltag teilnehmen kann, andererseits ist es gerade dieser Vollzugsalltag, der
den Gefangenen krank macht.
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Referate
5. Abhängigkeitserkrankte
Eine weitere praktisch bedeutende Gruppe bilden nach den Schilderungen von Anstaltsleitern
die Abhängigkeitserkrankten, wobei die Art der Abhängigkeit auch von regionalen
Gegebenheiten bedingt wird. In der JVA Brandenburg z.B. wird die Mehrzahl von
Alkoholabhängigen gestellt. In Frankfurt a.M. bereiten dem Vernehmen nach vor allem die
Drogenabhängigen ein Problem. Die Behandlung von Suchterkrankten in einer JVA stellt
allerdings ein Sonderthema dar, zu dem auch viel gesagt werden könnte. Bei der
strafjuristischen Aufteilung von psychiatrischen Krankenhäusern nach § 63 StGB und
Entziehungsanstalten nach § 64 StGB können Suchterkrankte zwar auch einen Unterfall einer
psychischen Erkrankung darstellen, sie werden aber in ein anderes Raster eingegliedert. Es
sprengte daher den Rahmen dieses Referats, auch darauf eingehen zu wollen.
III.
Probleme und Lösungswege in der Justizvollzugsanstalt
Seien die Gründe wie-auch-immer, aus denen sich psychisch Erkrankte in der
Justizvollzugsanstalt befinden, eines haben alle gemeinsam: Die Haftanstalten werden
hierdurch mit Aufgaben belastet, für die sie nicht vorgesehen sind. Die kranken Gefangenen
befinden sich in für sie nicht konzipierten Einrichtungen, in denen sie nur „suboptimal“
aufgehoben sind. Psychisch Kranke belasten die JVA oft deshalb in besonderer Weise, weil
sie nicht in der Lage sind, den Bedingungen des normalen Vollzugsalltags zu entsprechen.
Namentlich zu nennen sind hier: Verständnis der Hausordnung, Hygienevorschriften,
Anstaltsdisziplin. Die hierauf nicht eingerichtete JVA und das hierfür nicht ausgebildete
Personal reagieren auf krankheitsbedingte Auffälligkeiten und Abweichungen häufig mit
wenig Verständnis. Der Zustand wird oft gar nicht als Erkrankung erkannt, so dass allein
disziplinäre Maßnahmen ergriffen werden, die die Erkrankung dann eher steigern, als das
Problem zu lösen. Damit beginnt ein auf beiden Seiten sich hochschaukelnder Teufelskreis.
Ist in der Justizvollzugsanstalt die Erkrankung zumindest als solche wahrgenommen worden,
muss die JVA in irgendeiner Weise reagieren, weil der Gefangene auch einen Anspruch auf
die Behandlung einer psychischen Erkrankung hat. Dies geschieht im Allgemeinen auf
verschiedenen Wegen:
1. Vollzugseigene Psychiatrie
Zunächst kann die Behandlung durch die vollzugseigene Psychiatrie geschehen. Es gibt
psychiatrische Abteilungen im Justizvollzug sowie einige große Vollzugskrankenhäuser mit
psychiatrischen Abteilungen, durch die sowohl eine stationäre als auch eine ambulante
Behandlung durchgeführt werden kann. Die Qualität, die Aufnahmekapazitäten, die
Behandlungsmöglichkeiten und die Zugangsvoraussetzungen sind allerdings höchst
unterschiedlich.
2. Ambulante Behandlung durch Externe
In vielen Fällen wird man sich auch mit der Heranziehung externer Fachkräfte
(Psychiater/klinischer Psychologe) zur ambulanten Behandlung begnügen müssen. Es besteht
allerdings die Gefahr, dass sich derartige Behandlungen nicht immer an dem Gebot einer für
den Patienten optimalen medizinischen Versorgung ausrichten sondern an den oft kargen
41
Referate
Möglichkeiten, die der Strafvollzug eben gerade hat, auch unter haushalterischen
Gesichtspunkten.
3. Verlegung in ein außervollzugliches Krankenhaus oder Strafunterbrechung
Häufig wird bei dem Erfordernis einer stationären Aufnahme auch an die Verlegung in ein
Krankenhaus außerhalb des Vollzuges gedacht werden müssen. Zu einem derartigen
Krankenhaus außerhalb des Strafvollzugs kann auch eine Maßregelklinik nach § 63 StGB
gehören.
Schließlich wird in einigen Fällen auch eine Strafunterbrechung erwogen werden müssen,
wenn eine Behandlung innerhalb des Vollzugs nicht möglich ist.
IV. Vollstreckungsrechtliche Besonderheiten
Auf die beiden letztgenannten Möglichkeiten (Verlegung in ein außervollzugliches
Krankenhaus - Strafunterbrechung) möchte ich im Folgenden näher eingehen, da sie
begrifflich zu differenzieren sind und einige vollstreckungsrechtliche Besonderheiten
aufweisen.
1. Außervollzugliches Krankenhaus (§ 65 II StVollzG) und Strafunterbrechung (§ 455
StPO) in Konkurrenz
a) Die Rechtsgrundlagen
Die Staatsanwaltschaft als Strafvollstreckungsbehörde kann bei der psychischen Erkrankung
eines Strafgefangenen mit der Frage konfrontiert sein, ob sie die weitere Strafvollstreckung zu
unterbrechen hat. Gesetzlicher Dreh- und Angelpunkt hierfür ist § 455 StPO, dessen Absatz 4
in den maßgeblichen Teilen wie folgt lautet:
„(IV) Die Vollstreckungsbehörde kann die Vollstreckung einer Freiheitsstrafe unterbrechen,
wenn
1. der Verurteilte in Geisteskrankheit verfällt,
2. .......................
3. der Verurteilte sonst schwer erkrankt und die Krankheit in einer Vollzugsanstalt oder
einem Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden kann und zu erwarten ist,
dass die Krankheit voraussichtlich für eine erhebliche Zeit fortbestehen wird. Die
Vollstreckung darf nicht unterbrochen werden, wenn überwiegende Gründe, namentlich die
öffentliche Sicherheit entgegenstehen.“
Vorliegend sind die beiden Fallgruppen der Ziffern 1. und 3. von besonderem Interesse:
Zu Ziff. 1.: Eine Geisteskrankheit im Sinne dieser Vorschrift ist juristisch dann anzunehmen,
wenn die weitere Strafvollstreckung keinen Sinn mehr macht, weil der Verurteilte nach der
Art der psychischen Erkrankung den Sinn der Strafe nicht mehr zu erkennen vermag und für
den Behandlungsvollzug unerreichbar istI. Diese Fallvariante ist bei einigermaßen
gesichertem medizinischen Befund juristisch relativ problemlos. Allerdings kommt immer nur
eine Strafunterbrechung, nicht eine endgültige Beendigung der Strafvollstreckung in Betracht,
so dass in zeitlichen Abständen immer wieder eine Überprüfung erforderlich wird. Zu Ziff. 3.:
Problematischer ist die zweite Fallgruppe, bei der eine Strafunterbrechung deshalb angezeigt
42
Referate
sein kann, weil die psychische Erkrankung des Gefangenen im Vollzug nicht behandelt
werden kann. Der Wortlaut des § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO, in dem von Behandlung „in einer
Vollzugsanstalt oder einem Anstaltskrankenhaus“ die Rede ist, ist insoweit irreführend. § 455
StPO wird nämlich durch den § 65 Abs. 2 StVollzG überlagert, der folgenden Wortlaut hat:
„Kann die Krankheit eines Gefangenen in einer Vollzugsanstalt oder einem
Anstaltskrankenhaus nicht erkannt oder behandelt werden oder ist es nicht möglich, den
Gefangenen rechtzeitig in ein Anstaltskrankenhaus zu verlegen, ist dieser in ein Krankenhaus
außerhalb des Vollzugs zu bringen.“
Die Unterbringung in einem außervollzuglichen Krankenhaus nach dieser Vorschrift obliegt
der Justizvollzugsanstalt im Rahmen ihrer Krankenfürsorgepflicht. Sie stellt keine
Unterbrechung der Strafvollstreckung nach § 455 StPO dar.
b) Strafzeitanrechnung und Kostentragung
Diese Unterscheidung der beiden möglichen Maßnahmen ist in zweierlei Hinsicht wichtig:
– Für den Strafgefangenen bedeutet es: Die Zeit der außervollzuglichen Unterbringung nach
§ 65 Abs. 2 StVollzG wird auf die Strafe angerechnet, die Zeit einer Strafunterbrechung
nach § 455 StPO dagegen nicht.
– Bei einer Behandlung nach § 65 Abs. 2 StVollzG ist der Justizfiskus der Kostenträger. Bei
einer Strafunterbrechung wird der Gefangene aus der Obhut der Justiz entlassen, deren
Kostenträgerschaft damit erlischt. Es erscheint angezeigt, wegen dieses
Konkurrenzverhältnisses der beiden Möglichkeiten – Behandlung außerhalb des Vollzugs
nach § 65 Abs. 2 StVollzG / Strafunterbrechung nach § 455 StPO – zunächst auf die erste
Variante (§ 65 StVollzG) einzugehen.
2. Die Behandlung in einem außervollzuglichen Krankenhaus nach § 65 Abs. 2
StVollzG
a) Der Vorrang dieser Maßnahme
Kann ein psychisch kranker Strafgefangener einschließlich der Möglichkeiten, die ein
Justizvollzugskrankenhaus oder eine –krankenabteilung bietet, nicht ausreichend behandelt
werden, ist er nach § 65 Abs. 2 StVollzG in eine außervollzugliche Krankeneinrichtung zu
verlegen. Dieser Maßnahme gebührt gegenüber einer Strafunterbrechung in jedem Falle der
Vorrang schon deshalb, weil dies im Lichte des Freiheitsgrundrechts die für den Verurteilten
angemessenere Variante istII. Die Zeit im außervollzuglichen Krankenhaus gilt nämlich als
Strafverbüßung und wird auf die Strafzeit angerechnet. Auch soll vermieden werden, dass die
Justiz sich mit einer Strafunterbrechung einfach ihrer sich aus der Krankenfürsorgepflicht
ergebenden Kostentragungspflicht entledigen kann.
b) Zwangs- und Bewachungsmaßnahmen
Aus dem Umstand, dass die Strafvollstreckung auch bei der außervollzuglichen
Unterbringung andauert, folgt, dass der im Krankenhaus befindliche Patient weiterhin den
Status eines Strafgefangenen hat. Das heißt, er kann mit Zwangsmitteln am Verlassen des
Krankenhauses gehindert werden und unterliegt auch sonst allen Beschränkungen des
Strafvollzugsgesetzes. Problematisch ist dabei allerdings, dass ein „normales“ Krankenhaus
keine staatlichen Zwangsbefugnisse hat und deshalb mit eigenem Personal nicht berechtigt ist,
gegen den Patienten Zwang anzuwendenIII. Ist dies erforderlich oder meint die
43
Referate
Justizvollzugsanstalt, den Patienten bewachen zu müssen, muss sie dies mit eigenem Personal
bewerkstelligen. Anders verhält es sich bei der Unterbringung in einem Landeskrankenhaus,
das selbst nach Landesrecht, etwa dem PsychKG, mit eigener staatlicher Zwangsgewalt
ausgestattet ist. In diesem Fall kann die Klinik ihre eigenen Zwangsbefugnisse auch
gegenüber dem untergebrachten Strafgefangenen ausüben. Rechtsgrundlage ist hier die
Amtshilfe nach Art. 35 Abs. 1 GGIV. Bei – was bei psychisch kranken Strafgefangenen nicht
selten der Fall sein wird – für die Allgemeinheit besonders gefährlichen Verurteilten, wird
allerdings der Sicherheitsstandard in einer allgemeinpsychiatrischen Landesklinik oft nicht
ausreichen, so dass nur die Verlegung in eine Maßregelklinik in Betracht kommt, die
ebenfalls ein außervollzugliches Krankenhaus i.S.d. § 65 Abs. 2 StVollzG ist und ihre
Zwangsgewalt aus dem jeweiligen Maßregelvollzugsgesetz ableitetV. Wegen der ohnehin
unzureichenden Platzkapazitäten der Maßregelvollzugskrankenhäuser sollten Verlegungen in
diese Einrichtungen aber auf das unerlässliche Maß beschränkt bleiben. Zu beachten ist in
jedem Fall auch hier, dass sich der Rechtsstatus des kranken Gefangenen nicht ändert. Auf ihn
sind weiterhin die Vorschriften des Strafvollzugsgesetzes und nicht die des PsychKG oder des
Maßregelvollzugs anwendbarVI.
3. Die Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO
Wenn eine Unterbringung in einem auswärtigen Krankenhaus nach § 65 Abs. 2 StVollzG
rechtlich wie eine Behandlung im Vollzug angesehen wird und gegenüber einer
Strafunterbrechung Vorrang genießt, stellt sich die Frage, welche Fälle denn dann noch für
eine Strafunterbrechung nach § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO (Unterbrechung wegen
außervollzuglichen Behandlungserfordernisses) übrig bleiben. § 65 Abs. 2 StVollzG deckt
nämlich insoweit das gesamte tatsächliche Spektrum der Möglichkeiten und Erfordernisse ab.
Die insoweit an sich überflüssige Regelung des § 455 Abs. 4 Nr. 3 StPO erfährt ihre
Daseinsberechtigung allerdings aus Folgendem:
a) Die erhebliche Dauer der Erkrankung als Unterbrechungsvoraussetzung
Die Behandlung nach § 65 Abs. 2 StVollzG wird zwar rechtlich wie eine innervollzugliche
Versorgung bewertet, ist aber tatsächlich – das ist kaum zu bezweifeln – eine
außervollzugliche. Wird ein Gefangener beispielsweise wegen eines schweren psychotischen
Schubes in einem psychiatrischen Krankenhaus behandelt, macht es kaum einen Unterschied,
ob er sich nun auf freiem Fuß befindet und sich dieser Behandlung hätte ebenfalls unterziehen
müssen, oder ob er dies zufällig als Strafgefangener muss. Die Bedingungen des
Krankenhausaufenthalts unterscheiden sich in beiden Fällen kaum. Augenfälliger wird dies
am Beispiel einer somatischen Erkrankung. Jemand, bei dem mehrere schwierige
Herzoperationen mit lang andauernder Bettlägerigkeit erforderlich sind, muss sich dem
stationären Krankenhausaufenthalt in jedem Fall unterwerfen. Das heißt auch der kranke
Strafgefangene findet Bedingungen vor, die er auch in Freiheit vorgefunden hätte. Im
Beispielsfalle des Herzpatienten ist sogar der Unterschied in der Freiheitsbeschränkung,
nämlich der, dass der eine im Krankenhaus bleiben darf, während der andere dies muss, ein
sehr theoretischer. Vor diesem Hintergrund gilt es zu vermeiden, dass sich der Strafgefangene
eine allzu lange Zeit tatsächlich außerhalb des Vollzugs befindet, weil er für den Strafvollzug
dann praktisch nicht mehr erreichbar ist, und die speziellen Zwecke des Strafvollzugs und der
Strafvollstreckung, seien sie präventiv oder repressiv, leerlaufen. Diesem Konflikt zwischen
einer wirkungsvollen Strafvollstreckung einerseits und dem Anspruch des Gefangenen auf
44
Referate
optimale Krankenversorgung andererseits trägt § 45 Abs. 2 StVollstrO dadurch Rechnung,
indem er bestimmt:
„Ist der Zeitpunkt abzusehen, zu dem der Verurteilte voraussichtlich wieder vollzugstauglich
wird, so ist eine Unterbrechung zulässig, wenn der Verurteilte sonst einen unverhältnismäßig
großen Teil der Strafzeit außerhalb der Vollzugsanstalt zubringen würde (§ 461 StPO).“
Vereinfacht ausgedrückt bedeutet das, der Gefangene soll nicht den größten Teil seiner Strafe
mit dem Auskurieren einer Krankheit außerhalb der tatsächlichen Vollzugssphäre abbüßen. In
diesem Sinne dürfte auch § 455 StPO zu verstehen sein, soweit dieser eine Strafunterbrechung
zulässt, wenn „die Krankheit voraussichtlich für eine erhebliche Zeit fortbestehen wird.“ Was
genau dabei als erheblich anzusehen ist, muss der Einzelfallentscheidung überlassen bleiben.
Der vollstreckungsrechtlichen Literatur lässt sich hierzu entnehmen, dass der Gefangene
jedenfalls nicht mehr als die Hälfte seiner Strafe im außervollzuglichen Krankenhaus nach §
65 Abs. 2 StVollzG verbringen soll, ohne dass die Strafe nach § 455 StPO unterbrochen
wirdVII. Ist ein Straftäter beispielsweise zu einer Freiheitsstrafe von zwei Jahren verurteilt
worden und ist abzusehen, dass eine Behandlung in einem außervollzuglichen Krankenhaus
erforderlich wird, die vermutlich über ein Jahr dauert, könnte nach einem Jahr
außervollzuglicher Behandlung die Strafvollstreckung nach § 455 StPO unterbrochen werden.
Das hätte zur Folge, dass dem Gefangenen die Zeit bis zur Unterbrechung, also ein Jahr, auf
die Strafe angerechnet wird, die Behandlungszeit nach der Unterbrechung dagegen nicht. Er
müsste diese Zeit „nachdienen“.
b) Keine Zwangsmaßnahmen während der Strafunterbrechung
Die Strafunterbrechung nach § 455 StPO ist ein förmlicher Akt, der von der
Vollstreckungsbehörde – das ist zumeist die Staatsanwaltschaft – ausdrücklich verfügt sein
muss. Sie kann erst beginnen, wenn der Verurteilte tatsächlich aus der Verfügungsgewalt der
Justiz entlassen worden istVIII. Während der Unterbrechung sind weder von der Justiz noch
von der Krankenanstalt Maßnahmen zulässig, die die Verfügungsgewalt aufrecht erhalten.
Befindet der Verurteilte sich zum Zeitpunkt der Strafunterbrechung bereits nach § 65 Abs. 2
StVollzG in einem außervollzuglichen Krankenhaus, ist er sodann wie ein gewöhnlicher, sich
auf freiem Fuß befindlicher Kranker zu behandeln. Bis zum Zeitpunkt der Unterbrechung
geltende Freiheitsbeschränkungen werden ungültigIX. Hält – wie in einem Fall, über den das
OLG StuttgartX zu befinden hatte – die Klinik ein angeordnetes Ausgangsverbot aufrecht,
begibt sie sich in den Bereich der Freiheitsberaubung. Davon zu unterscheiden ist der Fall,
dass die Vollstreckungsbehörde die Strafunterbrechung mit einer Bedingung oder Auflage
versieht, indem sie dem Verurteilten etwa aufgibt, sich während der Dauer der Behandlung in
einer bestimmten Klinik aufzuhalten oder den Therapieanweisungen des ärztlichen Personals
Folge zu leisten. Zur Überwachung dieser Auflagen kann die Vollstreckungsbehörde das
Krankenhaus um entsprechende Mitteilungen bitten. Es leuchtet ein, dass der Sinn einer
krankheitsbedingten Strafunterbrechung nur so lange fortbesteht, wie der Verurteilte auch
tatsächlich behandlungsbedürftig ist und sich einer stationären Behandlung unterzieht. § 46
Abs. 6 StVollstrO erlegt der Vollstreckungsbehörde denn auch die Pflicht auf, dafür zu
sorgen, dass nach Wiedereintritt der Vollzugstauglichkeit der Strafvollzug fortgesetzt wird. In
diesem – rechtlich zulässigen Rahmen – bewegt sich auch die Aufforderung an die
Krankenanstalt, bei bevorstehender Gesundung des Patienten den vorgesehenen
Entlassungstermin möglichst bald mitzuteilen.
45
Referate
c) Ausschlussgründe für eine Strafunterbrechung
Soweit bisher die Rede davon war, wann und unter welchen Voraussetzungen eine
Strafunterbrechung zu gewähren war, sieht der Gesetzgeber auch Umstände vor, unter denen
auf keinen Fall eine Unterbrechung zu bewilligen ist. § 455 StPO verbietet die
Strafunterbrechung wegen Vollzugsuntauglichkeit, „wenn überwiegende Gründe, namentlich
der öffentlichen Sicherheit, entgegenstehen.“ Als Beispiele werden hier Fluchtgefahr, die
Gefahr der Zeugenbeeinflussung oder die Gefahr weiterer Straftaten genanntXI. Gerade bei der
psychischen Erkrankung eines Gefangenen kann Letzteres auch oder insbesondere in der
Krankheit begründet sein, so dass der mögliche Anlass für die Strafunterbrechung dieselbe
sogleich verbietet. Das bedeutet nun nicht, dass der gefährliche, psychisch kranke Gefangene
unbehandelt bleiben muss, denn nur die Strafunterbrechung nach § 455 StPO wird untersagt,
die Möglichkeit der Verlegung in ein vollzugsfremdes Krankenhaus nach § 65 Abs. 2
StVollzG bleibt hiervon unberührt. Wie bereits dargelegt können und müssen hier – anders als
bei der Strafunterbrechung – entsprechende Sicherheits- und Überwachungsmaßnahmen
vorgenommen werden, um eine Gefährdung der Öffentlichkeit auszuschließen.
V. Zusammenfassung:
Zusammenfassend stelle ich folgendes fest:
1. Die Zahl psychisch erkrankter Gefangener nimmt zu und stellt ein Problem für den
Strafvollzug dar, da die Bedingungen des Strafvollzugs darauf nicht eingerichtet sind.
2. Der psychisch Kranke erfährt intramural eine optimale Versorgung nur dort, wo es
vollzugseigene psychiatrische Abteilungen oder Krankenhäuser gibt.
3. Neben ambulanten Kooperationsmodellen mit außervollzuglichen Krankenhäusern oder
Psychiatern und Psychologen bestehen auch die Möglichkeiten, den Gefangenen nach §
65 Abs. 2 StVollzG in ein außervollzugliches Krankenhaus zu verlegen oder die Strafe
nach § 455 StPO zu unterbrechen.
4. Bei der Verlegung in ein außervollzugliches Krankenhaus nach § 65 Abs. 2 StVollzG
befindet sich der Gefangene juristisch weiterhin im Strafvollzug. Er darf bewacht werden.
Die Krankenhauszeit wird auf die Strafe angerechnet. Der Justizfiskus trägt die Kosten.
5. Ein außervollzugliches Krankenhaus kann auch eine Maßregelklinik sein. Die
Vorschriften des StVollzG gelten aber weiter. Das Maßregelpersonal darf Zwang
anwenden.
6. Bei einer Strafunterbrechung nach § 455 StPO wird der Gefangene vorläufig aus der
Strafhaft entlassen. Zwang darf auf den dann freien Bürger nicht mehr ausgeübt werden.
Ein Krankenhausaufenthalt während der Strafunterbrechung wird nicht auf die Strafe
angerechnet. Der übliche Sozialversicherungsträger trägt die Behandlungskosten.
7. Die Verlegung nach § 65 Abs. 2 StVollzG hat gegenüber der Strafunterbrechung Vorrang.
Eine Strafunterbrechung zum Zwecke einer Krankenhausbehandlung ist nur zulässig,
wenn der Gefangene sonst einen unverhältnismäßig hohen Teil seiner Strafe im
Krankenhaus verbringen würde.
46
Referate
Literatur
I
Pohlmann / Jabel / Wolf, Strafvollstreckungsordnung, 7. Aufl., 1996, S. 439; MeyerGoßner, Strafprozessordnung, 49. Aufl., 2006, § 455 Rdnr. 4; Volckart/Grünebaum,
Maßregelvollzug, 6. Aufl., 2003, S. 220; OLG München, NStZ 1981, S. 240
II
Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 436; vgl. auch OLG Karlsruhe, NStZ 1991, S. 53
III
Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 450
IV
Volckart/Grünebaum, a.a.O., S. 220 f.
V
Volckart/Grünebaum, a.a.O., S. 220 f.
VI
Volckart/Grünebaum, a.a.O., S. 220 f.
VII
Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 440; vgl. auch zur „Erheblichkeit“: Meyer-Goßner,
a.a.O., § 455 Rdnr. 11
VIII
Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 446
IX
Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 452 f.
X
OLG Stuttgart, NStZ 1989, S. 552
XI
Meyer-Goßner, a.a.O., § 455 Rdnr. 12; Pohlmann / Jabel / Wolf, a.a.O., S. 440 f.
47
Referate
Entwicklungen der Forensischen Psychiatrie in der Schweiz:
Modell für die Nachbarländer? *)
Prof. Dr. Volker Dittmann 15
Die Schweiz weist trotz ihrer geringen Größe und Einwohnerzahl (rund 7 Mio.) eine sehr
stark föderalistische Struktur auf, die sich auch auf das Justizsystem auswirkt. Die rechtlichen
Grundlagen hinsichtlich Schuldfähigkeit und Maßnahmenvollzug ähneln denen der
deutschsprachigen Nachbarländer, weisen jedoch einige Spezifika auf. So besteht eine
weitgehende Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Unterbringungs- und
Behandlungsformen. Entscheidend ist, dass forensische Patienten in der „geeigneten“ Anstalt
untergebracht werden. Dies ermöglicht es, strafrechtliche Maßnahmen, insbesondere bei
gefährlichen Dissozialen, auch in Haftanstalten durch die dort tätigen forensischpsychiatrischen Dienste durchzuführen. Nach mehreren gravierenden Zwischenfällen mit
beurlaubten Patienten aus dem Straf- und Maßnahmenvollzug hat sich seit mehr als zehn
Jahren ein strukturiertes einheitliches Vorgehen bei der Prognosebeurteilung für besonders
gefährliche Täter schweizweit etabliert. Seitdem sind Zwischenfälle ausgeblieben.
Gleichwohl ist es einer Bürgerinitiative gelungen, eine knappe Mehrheit der
Wahlberechtigten auf ihre Seite zu bringen und die lebenslange „unwiderrufliche“
Verwahrung für „Sexualstraftäter und andere gefährliche Gewalttäter“ in der Verfassung zu
etablieren, dies trotz einhelliger Ablehnung einer Mehrheit von Bundesregierung, Parlament
und forensischer Psychiatrie. Damit zeigt sich auch in der Schweiz, wie in den
Nachbarländern, eine starke Tendenz, der Sicherung den Vorrang gegenüber der Besserung
einzuräumen.
*) Referat liegt nur als Abstract vor.
15
Universitäre Psychiatrische Kliniken, Basel/Schweiz
48
Referate
Forensische Psychiatrie – Identität und Abgrenzung
Prof. Dr. Dr. Paul Hoff 16
Sehr verehrte Damen und Herren,
liebe Kolleginnen und Kollegen,
Das Thema, das mir Frau Dr. Bücken vorgeschlagen hat, ist ein sehr umfassendes: Identität
und Abgrenzung dieses Faches. Erwarten Sie nun bitte keine vollständigen oder auch nur
mundgerechten Antworten, denn solche gibt es nicht. Was ich versuchen werde, ist gemäss
der Agenda (vgl. Abb. 1) zu diskutieren, warum sich in der Psychiatrie generell, aber
besonders in der Forensik die Frage nach der Identität schon immer stellte und noch immer in
unverminderter, wenn nicht sogar noch ausgeprägterer Deutlichkeit stellt.
Abb. 1
Agenda
• Warum überhaupt diese Frage?
• Historische Vorbemerkung
• Brennpunkte: - Nosologie
- Quantifizierung
- Identität des Faches
- „Menschenbild“
• Résumé
Diese Frage finden Sie beispielsweise in der Chirurgie oder in der Kinderheilkunde eher
nicht, wohl aber in den Fächern Psychiatrie, Psychotherapie und Psychologie. Nach einer
kurzen historischen Vorbemerkung, um die ich gebeten worden bin, und die ich auch für
essentiell halte, möchte ich im Kern über vier Brennpunkte sprechen, die die forensische
Psychiatrie als Fach charakterisieren und auch problematisch machen. Das sind die
Brennpunkte Nosologie, also die Frage des psychiatrischen Krankheitsbegriffes,
16
Psychiatrische Universitätsklinik, Zürich/Schweiz
49
Referate
Quantifizierung, also die Messbarmachung des (gesunden wie gestörten) Seelischen, Identität
und dann - ein etwas abgenutzter, aber dennoch, wie ich finde, wichtiger Terminus, das
„Menschenbild“, welches gleichsam „hinter“ den Theorien steht, die das Fach entwickelt hat
- und noch entwickeln wird.
Warum nun stellen wir überhaupt diese Fragen? Dazu möchte ich eine allgemeine Bemerkung
machen, die die Medizin generell betrifft, aber speziell auch die psychiatrischen Fächer, die
sich nämlich, seit es sie gibt, in diesem Spannungsfeld bewegen. Das Spannungsfeld besteht
aus dem Anspruch auf Wissenschaftlichkeit einerseits und dem alten Begriff der „Heilkunst“
andererseits.
Abb. 2
Die „zwei Gesichter“ der Medizin
„Heilkunst“
?
• Subjekt
• Individuelles Vorgehen
• Reproduzierbarkeit
weniger wichtig
• Primat des Qualitativen
• Enge Vernetzung mit allen
Humanwissenschaften
„Wissenschaft“
• Objekt
• Gesetzmässiges Vorgehen
• Reproduzierbarkeit
entscheidend
• Primat des Quantitativen
• Enge Vernetzung mit den
Naturwissenschaften, vor allem
der Biologie
„Wissenschaft und Kunst“ - dieses Spannungsfelds prägt auch und gerade die Psychiatrie
allgemein und die forensische Psychiatrie im besonderen. „Wissenschaft“ erhebt Anspruch
auf Objektivität, Messbarkeit, Reliabilität. Der ärztlichen „Kunst“ mit ihrem mehr persönlichbiographisch orientierten Zugehen auf Patienten geht es um Individualität - also nicht der
Patienten X als Beispiel für die Störung Y, sondern der Patient X als Person, die unter der
Störung X leidet. Ich will das aus Zeitgründen nicht vertiefen. Es gibt dazu sehr viel Literatur.
Aber es ist dies tatsächlich der große Spannungsbogen, in dem wir uns in unserem Beruf
bewegen, ob es uns nun gefällt oder nicht.
50
Referate
Abb. 3
Die „forensische Frage“:
Einige Marksteine
• Frage nach Zurechenbarkeit in den
meisten Kulturen präsent
• Ärztliche Zuständigkeit systematisch
ab Ende 18. Jahrhundert
• Enge Verknüpfung mit dem jeweiligen
Krankheitsbegriff
(z.B. Heinroth vs. Griesinger, Lombroso)
Nun ein paar historische Bemerkungen. Zunächst einmal ist die entscheidende Frage, was
bedeutet es für die persönliche Zurechenbarkeit von Handlungen, wenn sich jemand auffällig
verhält oder von Experten für psychisch krank gehalten wird. Diese Frage ist sehr alt.
Kulturhistorisch betrachtet, ist sie sogar deutlich älter als die Psychiatrie selbst. Und es gab
Gesellschaften, in denen diese Frage gestellt wurde, ohne dass es eine ausgearbeitete Theorie
zu seelischen Erkrankungen gab. Schon immer ist aufgefallen, dass es Personen gibt, die sich
in besonderer Weise verhalten und die man rechtlich nicht in gleicher Weise behandeln kann
wie Personen ohne derartige Auffälligkeiten.
Nicht so alt wie diese Frage hingegen ist die Zuständigkeit der Ärzteschaft. Gegen Ende des
18. Jahrhunderts (Stichwort: Aufklärung) gab es einen Trend, der sich zunehmend
durchsetzte, dass nämlich die medizinische (und nicht die theologische oder philosophische)
Fakultät mit der Frage betraut werden soll, wer zurechnungsfähig sei und wer nicht.
Ein dritter und letzter Punkt: Ein Blick auf die Geschichte des Faches zeigt mehr als deutlich,
wie enorm abhängig die forensische Psychiatrie von theoretischen Vorannahmen der
Psychiatrie ist. Insbesondere bezieht sich das auf den Krankheitsbegriff selbst. Dafür seien
drei markante Beispiele genannt:
•
J. C. A. Heinroth und andere Vertreter der sogenannten Psychiatrie der Romantik zu
Beginn des 19. Jahrhunderts verstanden „Geisteskrankheit“ als Folge einer individuellen,
zum erheblichen Teil moralisch verwerflichen Fehlentwicklung der betreffenden Person.
•
W. Griesinger stellte Mitte des 19. Jahrhunderts die Weichen für eine empirische, sich den
Naturwissenschaften annähernde Psychiatrie: Von nun an steht der Aspekt der
Gehirnforschung im Vordergrund, in manchen Zuspitzungen (nicht aber bei Griesinger
51
Referate
selbst!) wird das Organ Gehirn die entscheidende Grundlage, um nicht zu sagen: der
Motor von Verhalten - auch von delinquentem Verhalten. So wurde natürlich
„Geisteskrankheit“ von der biographisch verständlichen Fehlentwicklung zur
„Gehirnkrankheit“.
•
Das dritte Beispiel, C. Lombroso und seine italienische kriminalanthropologische Schule,
betrifft die Degenerationslehre: Kriminalität, Verbrechertum, wie man damals sagte, ist
ein Zeichen von „Entartung“. Der Begriff ist spätestens seit 1933 schwer belastet, im 19.
Jahrhundert aber wird er von vielen Autoren wie selbstverständlich als terminus technicus
verwendet. Das Konzept der Degeneration ist nun wieder ein anderer Zugangsweg, auf
den ich noch zu sprechen kommen werde. Immer aber - das ist hier entscheidend - ist es
der Krankheitsbegriff, der hinter diesen Theorien steht und der sich enorm praxisrelevant
auf die Forensik auswirkt. Wir sprechen hier also nicht „nur“ über theoretische Aspekte
oder über „philosophische Oberseminarthemen“, sondern über alltagsrelevante Dinge
unserer Berufsfelder.
Abb. 4
Die „forensische Frage“:
Aktuell ein doppeltes Spannungsfeld
• Klinische Psychiatrie
• Neurobiologie und
-psychologie
• Rechtliche
Vorgaben
• Rechtspolitische
Vorgaben
• Sozialwissenschaften
Ich habe einmal versucht, das Spannungsfeld, in dem wir uns bewegen, aufzuzeichnen (s.
Abb. 4). Lassen Sie sich bitte nicht verwirren von den vielen Pfeilen, die nur andeuten, wie
komplex die Angelegenheit ist: Doppeltes Spannungsfeld deswegen, weil wir innerhalb des
„psychowissenschaftlichen“ Bereiches eine enorme Spannung haben. Wer gibt den Ton an bei
der psychiatrischen Forschung? Ist es die klinische Psychiatrie oder gar die
Psychopathologie? Ist es die Neurobiologie und mit ihr assoziiert die Neuropsychologie?
Oder sind es letztlich die Sozialwissenschaften? Dieses Kraftfeld tangiert das Gesamtfach und
damit natürlich auch den forensischen Bereich. Aber auch die andere Seite, die rechtliche, hat
ihre Spannungen, vor allem zwischen Rechtswissenschaft und Rechtspolitik. Schon dadurch
52
Referate
wird klar, dass man dieses Fach „Forensische Psychiatrie“ niemals als eine abgeschlossene,
mundgerecht servierte Wissenschaft wird betrachten können, die klar und unbestritten ist.
Ich komme nun zu den eingangs erwähnten vier Kernpunkten, die ich nicht nur aus der
psychiatriehistorischen Warte, sondern gerade auch mit Blick auf die Zukunft des Faches für
besonders wichtig halte.
a) Zunächst zur Nosologie, also zur Krankheitslehre: Grundsätzlich kann man in der
Psychiatrie drei verschiedene Herangehensweisen an den so zentralen Begriff „psychische
Krankheit“ unterscheiden (vgl. Abb. 5).
Abb. 5
„Psychische Krankheit“:
Drei Modelle
• Naturalistisch
Krankheit
z.B. Kraepelin, Neurobiologie
• Biographisch-individuell
z.B. Anthropologische Psychiatrie
• Nominalistisch
Lebenskrise
Störung
z.B. Operationale Diagnostik
Für diejenigen, die nicht so in die psychiatrische Terminologie eingedacht sind, mag das sehr
abstrakt wirken. Im Grunde ist es aber ganz einfach:
•
Der erste Weg ist der klassisch medizinische, nämlich psychische Krankheiten zu
verstehen als „natürliche“, sprich: biologische Einheiten. Man versteht also psychische
Krankheit analog zur körperlichen. Wie die Schenkelhalsfraktur oder die
Lobärpneumonie, so interpretiert man psychische Erkrankung, die Schizophrenie etwa, als
eine biologische Entität, als umschriebene Gehirnkrankheit. Das kann man den
naturalistischen Krankheitsbegriff nennen, den man z. B. bei Emil Kraepelin findet, einem
für die Geschichte auch der forensischen Psychiatrie sehr wichtigen Autor.
•
Der zweite Ansatz ist der biographische: Hier versteht man psychische Krankheit als
etwas, das im Leben eines Menschen nicht wie der unverständliche und unbeeinflussbare
Blitz aus heiterem Himmel eintritt, sondern als eine sich aus Lebenskonflikten oder
Persönlichkeitseigenschaften aufbauende Fehlentwicklung, die man verstehen kann. Das
53
Referate
ist die klassische Perspektive des Psychotherapeuten, der versucht, Konflikte zu
analysieren - als es den Neurose-Begriff noch gab, durfte man das sagen -, und dann
gemeinsam mit dem Patienten das Thema weiterzuentwickeln, kurz, ein biographischindividueller Krankheitsbegriff.
•
Und schliesslich drittens - so halten es die ICD-10 der Weltgesundheitsorganisation und
ihre US-amerikanische Konkurrenz, das DSM-IV - ist das Vorgehen nominalistisch. Der
Nominalismus hat einen bescheideneren Anspruch als der Realismus bzw. Naturalismus:
Im Falle der psychiatrischen Diagnostik wird nicht behauptet, dass wir wissen, was
seelische Störungen in Wirklichkeit sind, also etwa ob es Gehirnkrankheiten oder seelische
Fehlentwicklungen sind. Vielmehr bleibt man auf der deskriptiven und damit der
begrifflichen Ebene. Also nicht die Frage, was eine Schizophrenie, eine Depression oder
eine Persönlichkeitsstörung wirklich ist, beantwortet dieser nominalistische Ansatz,
sondern die Frage, wie man den entsprechenden diagnostischen Begriff (Nomen) sinnvoll
einsetzt - und sinnvoll heisst hier in erster Linie: operational definiert und empirisch
untermauert. Die ätiologische Debatte, also die Frage nach den Ursache der Störung,
bleibt zunächst einmal aussen vor.
Der naturalistische Weg spricht von Krankheit, dies ist der klassische medizinische
Krankheitsbegriff. Im Falle des biographischen Herangehens spricht man eher von
Lebenskrise oder verstehbarer seelischer Fehlentwicklung etwa aufgrund eines ungelösten
Konfliktes. Und schliesslich der geradezu technisch anmutende Begriff, den Sie alle aus der
ICD-10 kennen, denjenigen der Störung: Gerade weil dieser nominalistische und
kriterienorientierte Ansatz bescheidener ist und sich nicht festlegen lassen will, welche
Ursachen psychopathologisch auffälliges Verhalten hat, steht er in kritischer Distanz zum
engen Krankheitsbegriff und bevorzugt den Begriff der Störung. Störung ist neutral und heisst
nur, dass irgend etwas nicht in Ordnung ist (englisch: disorder).
Ich möchte Ihnen ein paar Autoren auch im Bild zeigen, um die theoretische Thematik etwas
aufzulockern. Als die Psychiatrie begann, sich Ende des 18. Jahrhunderts als eigenständige
akademische Disziplin zu etablieren, da entstand auch die forensische Psychiatrie. Nun war
für viele führende Autoren von damals, wie zum Beispiel für Philippe Pinel oder Johann
Christian Reil, die heute so kontroverse Leib-Seele-Frage noch kein so drängendes Problem.
Ihnen war klar, dass das Gehirn eine Rolle spielt bei seelischen Erkrankungen. Aber genauso
klar und nicht weiter diskussionsbedürftig war, dass der Mensch eine individuell-seelische,
sprich: subjektive, und auch eine soziale Seite hat.
Dieser Einheitsaspekt, um nicht zu sagen, diese ganzheitliche Betrachtung, ist später
weitgehend verloren gegangen, spätestens Mitte des 19. Jahrhunderts. Das Schlagwort für den
zu diesem Zeitpunkt wirksam werdenden Paradigmenwechsel in der Psychiatrie - auch in der
Forensik - ist die Forderung, wegzukommen von der vorwiegend naturphilosophisch
inspirierten Spekulation und psychiatrische Forschung in erster Linie zu verstehen als ein
empirisches Unternehmen, konkret: als Gehirnforschung. Oder, in klassischer Verdichtung:
„Geisteskrankheiten sind Gehirnkrankheiten“. Dass Wilhelm Griesinger, von dem diese
Botschaft stammt, den Inhalt weitaus differenzierter meinte, als es dem genannten schlichten
Satz anzusehen ist, sei hier nur am Rande vermerkt.
Einige Jahre nach Griesinger wird Emil Kraepelin die Auffassung populär machen, wonach es
in der Psychiatrie „natürliche Krankheitseinheiten“ gibt wie in jedem anderen medizinischen
54
Referate
Fach auch: In der inneren Medizin, so die Kernidee, gibt es biologische („natürliche“)
Krankheitsentitäten, in der Orthopädie gibt es sie, und in der Psychiatrie eben auch.
Viel differenzierter und psychopathologisch orientiert argumentierte Karl Jaspers. Er war der
Autor, der die Psychopathologie zu einer wissenschaftlichen Fundierung verholfen hat, ohne
sie einem einzigen methodischen Paradigma zu unterwerfen. Psychopathologie war für ihn
dabei notwendigerweise mehr als blosse Beschreibung von Einzelsymptomen, nämlich die
differenzierte Erfassung dessen, was der Patient oder Proband erlebt, berichtet und im
Verhalten ausdrückt.
Kurt Schneider, wie Jaspers ein Heidelberger Psychiater, ist deswegen für die forensische
Psychiatrie wichtig, weil er schon vor 60 Jahren darauf hingewiesen hat, dass man zwar in der
Psychiatrie wohlfeil spekulieren kann, dass man aber allfällige spekulative Vorannahmen aus
dem konkreten diagnostischen Prozess - auch und erst recht beim Gutachten - heraushalten
soll. Ziel sei die nüchterne und reliable Beschreibung des klinisch Beobachtbaren. Insofern
war Kurt Schneider, der im übrigen bei aller methodischen Strenge sehr an Philosophie
interessiert war, in der Praxis - und hier auch in seinen forensischen Schriften - ein Vorläufer
dessen, was wir heute „operationale Diagnostik“ nennen.
Abb. 6
Nosologie
Thesen
• Theoretische Vorannahmen zum Konzept
der psychischen Krankheit sind in der
forensischen Psychiatrie mindestens
ebenso praxisrelevant wie in der Klinik.
• Sie sind und wirken allerdings häufiger
implizit als explizit.
Zwei Thesen zum Bereich Nosologie (Abb. 6):
1. In der forensischen Psychiatrie sind - vielleicht sogar etwas ausgeprägter als im klinischen
Bereich - die scheinbar „nur“ theoretischen Annahmen zum Hintergrund der verwendeten
Begriffe von hoher Praxisrelevanz. Hinzu kommt die notwendige Übersetzungsarbeit
zwischen der medizinischen und juristischen Sprache, um nicht zu sagen: Welt.
55
Referate
Vorannahmen, die wir haben zur psychischen Erkrankung schlechthin, sind niemals
selbsterklärend und auch nicht konfliktfrei, wohl aber wichtig für das konkrete tägliche
Handeln.
2. Diese Vorannahmen sind häufig mehr implizit als explizit. Fragt man klinisch tätige
Psychiater, welchen Krankheitsbegriff sie ihrer Arbeit hinterlegen, so erhält man eher
wenig präzise Antworten. In der klinischen und in der forensischen Psychiatrie ist dieses
Thema nicht unbedingt als praktisch und wissenschaftlich bedeutsam anerkannt.
Abb. 7
Quantifizierung:
Wann beginnt „forensische Relevanz“? (I)
Drei extreme Antworten
•
•
•
Psychose = schuldunfähig
Psychose = schuldfähig
Agnostizismus
b) Nun zum Aspekt der Quantifizierung: Mit welchem Recht und mit welchen
wissenschaftlichen Mitteln definieren wir die Schweregrade psychischer Störungen?
Konkreter: Wie ist es wissenschaftlich zu begründen, dass eine bestimmte
Persönlichkeitsstörung in einem Fall zur Zuerkennung einer verminderten Schuldfähigkeit
führt, in einem anderen Fall hingegen nicht? Dazu drei extreme Antworten, um die Eckpunkte
der Diskussion zu zeigen und deutlich werden zu lassen, wo wir heute stehen.
Antwort 1: „Psychose ist gleich schuldunfähig.“ Wenn also bei einer Person etwa eine
Schizophrenie in fachkundiger Weise festgestellt worden ist, so würde das bedeuten, dass
diese Person für das, was sie tut, nicht verantwortlich ist. Hier läuft die Quantifizierung allein
über die Diagnose, wobei dies natürlich, streng genommen, gar keine Quantifizierung,
sondern bloss eine dichotome Kategorisierung ist, eben in krank/schuldunfähig einerseits und
gesund/schuldfähig andererseits. Diese Position wird heute in der genannt apodiktischen Art
nicht mehr vertreten.
Antwort 2: „Psychose ist gleich schuldfähig.“ Dieses andere Extrem wurde vorwiegend im
Umfeld der „romantischen Psychiatrie“ zu Beginn des 19. Jahrhunderts vertreten. J. C. A.
56
Referate
Heinroth, den ich im Kontext des psychiatrischen Krankheitsbegriffes bereits erwähnte, ging
beispielsweise davon aus, dass das Hineingeraten in eine Psychose nicht nur biographisch
verständlich, sondern auch individuell zu verantworten sei, weil er nämlich Psychose zu
wesentlichen Teilen verstand als Konsequenz einer „falschen“, sprich mit den
gesellschaftlichen (in seinem Fall: christlichen) Grundüberzeugungen kollidierenden
Lebensweise. Ergo ist er für die Krankheit in einem bestimmten Sinne selbst verantwortlich
und insoweit auch - das allerdings ist ein gewagter und heftig bestrittener Schluss - für im
Kontext der Psychose stehendes deliktisches Verhalten.
Antwort 3: „Schuldfähigkeit und Zurechnungsfähigkeit sind keine von der forensischen
Psychiatrie zu beurteilenden empirischen Begriffe.“ (Agnostizismus) Diese Konzeption geht
davon aus, dass der forensische Psychiater gar wissen könne, ob der Täter oder die Täterin
hätte anders handeln können, dass er also die Fragen des Gerichtes - etwa: „Resultierte das
inkriminierte Verhalten unmittelbar aus einer psychischen Erkrankung?“, „Konnte die Person
sich steuern, hätte er/sie sich auch gegen das Delikt entscheiden können?“ - empirisch nicht
zu beantworten seien, sondern eben normativ, also durch das Gericht. Der forensische
Psychiater könne einen gründlichen Befund erheben, könne sagen, was ein bestimmter
Befund, etwa ein paranoid-halluzinatorisches Zustandsbild, in der Regel für die
Handlungsfähigkeit einer Person bedeute. Eine konkrete Antwort auf die in foro
entscheidende Frage nach der Schuldfähigkeit einer Person X zum Zeitpunkt Y hingegen
könne er nicht geben.
Abb. 8
Quantifizierung:
Wann beginnt „forensische Relevanz“? (II)
Drei praktikable, aber unterschiedliche
Antworten
•
•
Forensisch-psychiatrisches Dokumentationssystem (FPDS, N. Nedopil)
Psychopathologisches Referenzsystem
(H. Sass)
•
Strukturdynamik (W. Janzarik)
In diesem Spannungsfeld bewegt sich die Diskussion. Aktuell wird von den meisten Autoren
die Problematik der Grenzziehung zwischen empirischer Befunderhebung einerseits und
normativer Bewertung andererseits zwar anerkannt, jedoch gleichwohl die Kompetenz des
forensischen Psychiaters, auch und gerade wenn er sich als empirischer Wissenschaftler
versteht, betont.
57
Referate
Sie kennen die quantifizierenden Versuche, psychische Auffälligkeit mit Blick auf
Schuldfähigkeit und Prognose in Begriffe zu fassen. Das FPDS (forensisch-psychiatrisches
Dokumentationssystem; Norbert Nedopil) ist ein solches, heute weit verbreitetes Beispiel.
Das von Henning Sass so bezeichnete psychopathologische Referenzsystem betont die
klinisch-psychiatrische Erfahrung als Richtschnur - „Referenz“ - für die forensische
Beurteilung: Der von einem Beschuldigten angegebene Ausnahmezustand etwa wird in seinen
verschiedenen Aspekten verglichen mit analogen Erlebens- und Verhaltensweisen bei
psychisch kranken Menschen, denen kein Delikt vorgeworfen wird.
Werner Janzarik, Heidelberger Psychiater, hat seine psychopathologische Lehre von der
Strukturdynamik, die sehr komplex ist und hier jetzt nicht umfassend dargestellt werden kann,
auf die Forensik übertragen. Grundgedanke ist, dass man psychisches Erleben, auch im
Kontext eines Deliktes, eben nicht in eine bestimmte Anzahl distinkter messbarer Einheiten
(„Symptome“) aufgliedern, „atomisieren“ kann, die sodann faktorenanalytisch bearbeitet oder
sogar zu gutachterlichen Schlussfolgerungen ausgebaut werden. Deliktisches Verhalten
bewegt sich für ihn vielmehr genauso wie die ungestörte oder pathologisch verformte Psyche
auf zwei Ebenen, der strukturellen und der dynamischen: Dynamik steht für Affektivität und
Emotionalität, Struktur für überdauernde Werthaltung, Persönlichkeit, Lebensplanung. In
diesem komplizierten - und schwer messbaren - Netzwerk entsteht auch deliktisches
Verhalten. Quantifizierung, ob nun forensisch relevant oder nicht, gelingt für Janzarik nur
dann, wenn man sich die Mühe macht, eine entsprechend komplexe und dadurch methodisch
aus der Sicht eines strengen Empirismus wieder angreifbare Vorgehensweise zu wählen. Hier
wird ohne Frage ein ebenso origineller wie hoher Anspruch formuliert, der bezüglich seiner
Tragweite für die forensische Psychiatrie konsequent ausgelotet werden sollte.
Abb. 9
Quantifizierung
Thesen
• Quantifizierung im Bereich psycho(patho)logischer Phänomene ist
möglich und sinnvoll.
• Sie ersetzt aber weder qualitative
Ansätze noch diskreditiert sie
Differenzierungen jenseits der
operationalisierbaren Merkmale.
58
Referate
Auch zur Quantifizierung zwei Thesen (s. Abb. 9):
1. Quantifizierung im Bereich psychologischer und psychopathologischer Phänomene ist
möglich und sinnvoll. Diese Aussage ist nicht so banal, wie sie vielleicht klingen mag.
Schon Kant hatte kritisch notiert, dass Seelisches, also „Phänomene des inneren Sinnes“,
nicht mit den Mitteln der Mathematik, also letztlich durch Zählung und Messung,
erfassbar sei. Heute vertreten die meisten Autoren demgegenüber die Auffassung, man
könne Erleben und Verhalten eines Menschen sehr wohl in wichtigen Teilen messen. Zu
ergänzen ist freilich: Man kann es dann und nur dann valide und reliabel messen, wenn
man sich der Grenzen der Methode bewusst bleibt. Und das leitet über zur These 2.
2. Die Quantifizierung bestimmter Aspekte des Seelischen ersetzt nicht die Forschung über
qualitative Phänomene. Komplexe und oft sehr relevante Bereiche in der Psychologie und
Psychopathologie sind schwer quantifizierbar: Man denke an die subjektive Seite der
sogenannten
Ich-Störungen
bei
psychotischen
Patienten,
an
bestimmte
Persönlichkeitseigenschaften oder die Arzt-Patienten-Beziehung. Nicht gut oder gar nicht
messbar zu sein, bedeutet mit Blick auf psychopathologische Sachverhalte keineswegs,
wissenschaftlich irrelevant zu sein.
Abb. 10
Identität des Faches (I)
Das Spannungsfeld
• Deutungskunst?
• Ärztliche, also therapeutische Disziplin?
• Deskription objektiver, quantifizierter
Sachverhalte?
• Angewandte Neurobiologie?
• Angewandte Sozialwissenschaft?
c) Nun zur Identität des Faches. Natürlich entfaltet sich hier wiederum ein beträchtliches
Spannungsfeld: Was ist eigentlich und wie versteht sich die forensische Psychiatrie? Sie
können im Grunde das „forensische“ auch weglassen, denn auch das Gesamtfach Psychiatrie
und Psychotherapie steht seit einiger Zeit vermehrt vor genau diesen Fragen. Betreiben wir
Deutungskunst? Sind wir eine ärztliche, also schwerpunktmässig therapeutisch ausgerichtete
Disziplin, für die die Schuldfähigkeitsbeurteilung nur ein Nebenweg ist? Geht es um die
59
Referate
Deskription objektiver Sachverhalte, so wie der Chirurg sagt, hier ist ein Gallenstein oder hier
ist keiner? Oder betreiben wir - und das ist jetzt die modernste Variante, die die
Identitätsdiskussion in der Psychiatrie im letzten Jahrzehnt geradezu dramatisch angeheizt hat
- im wesentlichen angewandte Neurobiologie mit der Aussicht (und Absicht?), die
herkömmliche psychologische und psychopathologische Sprache bald einmal abschaffen zu
können, so wie es der „eliminative Materialismus“ schon seit einiger Zeit energisch
vorhersagt? Oder sind wir - eine heute im Gegensatz zu den 60er und 70er Jahren des 20.
Jahrhunderts nicht besonders populäre Position - eine angewandte Sozialwissenschaft?
Weit davon entfernt, Ihnen diese Grundsatzfragen hier umfassend beantworten zu können,
möchte ich aber doch zwei Beispiele als Beleg dafür nennen, dass die scheinbar „nur“
theoretischen Fragen sehr praxisrelevant sind. Und zwar geht es um zwei in die falsche
Richtung weisende Wege, die im Laufe der Entwicklung unseres Faches eingeschlagen
worden sind.
Abb. 11
Der falsche Weg: Zwei Beispiele
unkritischen Theoriegebrauchs
• Vereinnahmung des psychiatrischen
Bereiches „von aussen“
- z.B. eliminativer Materialismus
• Überdehnung psychiatrischer
Theorien „nach aussen“
- z.B. manche Aspekte in Kraepelins
forensischen Arbeiten
1. Vereinnahmung „von aussen“: Betrachtet man die Geschichte des Faches, so stellt man
fest, dass immer wieder Theorien, die ursprünglich mit psychiatrischen Sachverhalten
wenig zu tun haben, den Anspruch auf weitreichende Erklärungen auch des Psychischen
erheben. Der soeben schon erwähnte „eliminative Materialismus“ ist ein solches Beispiel:
Seine Kernthese ist die völlige Identität materieller und psychischer Phänomene oder,
treffender, die eigentliche Nicht-Existenz der psychischen, die er nämlich durch materielle
Vorgänge vollständig erklären zu können glaubt mit der Folge der „Eliminierung“ des
psychologischen Vokabulars. Es gibt durchaus einflussreiche Autoren, die diese
Extremposition trotz aller Kritik weiterhin vertreten. Lässt die (forensische) Psychiatrie
derartige Konzepte unbeachtet, so besteht natürlich das Risiko, dass ihr das ureigenste
60
Referate
Terrain - die psychisch kranke Person - streitig gemacht und sie selbst zur angewandten
naturalistischen Neurowissenschaft wird (Stichwort: „Verhaltensneurobiologie“).
2. Überdehnung „nach aussen“: Es gibt nun ein vergleichbares, wenn auch genau in die
entgegengesetzte Richtung weisendes Problem innerhalb des Faches. So etwa haben um
die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert manche selbstbewusste (forensische) Psychiater,
wie etwa Emil Kraepelin, Theorien aufgestellt, die die Aussagekraft, die „Zuständigkeit“
von psychiatrischem Wissen sehr weit in die Gesellschaft, die Politik, in den normativen
Bereich schlechthin, ja in die Religion ausdehnten. So betrachtete die Mehrheit der
damaligen Autoren delinquentes Verhalten - notabene: Jahrzehnte vor der
Machtergreifung der Nationalsozialisten! - als Ausdruck von „Degeneration“ oder
„Entartung“. Ein verbreitetes Schlagwort seinerzeit war: Das Verbrechen als soziale
Krankheit. Auf diesem Hintergrund nur konsequent, forderte Kraepelin, dass man mit
psychiatrischen Argumenten und Sichtweisen direkt auf die Politik Einfluss nehmen
müsse, was er selbst auch umfassend - und, aus heutiger Sicht, in problematischer Weise praktizierte. Die vollständige Vereinnahmung von Dissozialität durch die psychiatrische
Krankheitslehre ist insoweit ein besonders interessantes Beispiel, als sich die aktuelle
Debatte um die „antisoziale Persönlichkeitsstörung“ mit sehr ähnlichen Fragen beschäftigt
und - wie unser kurzer Blick auf die Geschichte lehrt - auch dringend beschäftigen sollte.
Abb. 12
Identität des Faches (II)
Thesen
• Eine selbstbewusste psychiatrische Spezialdisziplin, die ihre notwendigen theoretischen
wie praktischen Spannungen nicht leugnet
oder nur aushält, sondern kritisch nutzt
• Also nicht: „the most self-doubting specialty
in medicine“ (Littlewood, 1991)
Auch zum Thema Identität zwei Thesen:
1. Die forensische Psychiatrie kann es sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts durchaus leisten,
Selbstbewusstsein zu zeigen, zu sagen, dass sie eine psychiatrische Spezialdisziplin ist mit
einer wachsenden empirischen Grundlage, die eingebettet ist in eine aus dem Fach selbst
gespeiste Theoriediskussion. Letzteres macht natürlich nur dann Sinn, wenn diese
61
Referate
theoretische Auseinandersetzung nicht nur - mehr nolens als volens - erduldet, sondern
aktiv gestaltet und genutzt wird.
2. Die (forensische) Psychiatrie ist dann nicht mehr, wie es der Kollege Littlewood 1991
einmal etwas spöttisch formuliert hat, „the most self-doubting specialty in medicine“ (also
die am meisten mit Selbstzweifeln kämpfende medizinische Disziplin), sondern ein
zunehmend „erwachsen“ werdendes wissenschaftliches Fach.
Abb. 13
„Menschenbild“ (I)
Die theoretische Perspektive
• Extremer Subjektivismus
• Extremer Objektivismus
• Zwei Wellen der Naturalisierung mit Rückwirkungen auf die forensische Psychiatrie
• “Philosophy of Mind“ &
Forensische Psychiatrie
d) Abschliessend soll der oft zwar reichlich schillernde, in unserem Kontext aber gleichwohl
angemessene Begriff des Menschenbild zur Sprache kommen (s. Abb. 13). Was ist damit
gemeint? Für radikal subjektivistische Ansätze steht die individuelle Person im Zentrum der
psychiatrischen und auch der forensischen Wissenschaft. Es geht um das Individuum und
dessen Geschichte, wohingegen äussere Parameter, wozu man zum Beispiel auch die
neurobiologische Ebene zählen kann, zur cura posterior werden. Umgekehrt gibt es, wie
schon zweimal erwähnt, den extremen Objektivismus: Hier wird die Person zur nachrangigen
Grösse, gleichsam zur „persona non grata“, die hinter einer als streng quantifizierend-objektiv
gedachten Neurobiologie zurücktritt bis aufgelöst wird. Nun haben wir zwei solche
„naturalistische“ Wellen gehabt in der Geschichte der forensischen Wissenschaft, nämlich die
eine am Ende des 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts und die andere etwa seit den 70er
Jahren des 20. Jahrhunderts, also im Kontext der Entdeckung neuer psychiatrischer
Forschungsmethoden (Stichworte: zerebrale Bildgebung, molekulare Psychiatrie) und
spezifisch wirksamer Psychopharmaka.
62
Referate
Ich möchte Sie auf einen noch recht neuen, aber bemerkenswerten Begriff aufmerksam
machen, auf den Sie in diesem Zusammenhang häufig stossen werden, nämlich den Begriff
der „Neurophilosophie“ (s. Abb. 14).
Abb. 14
Der Weg zur „Neurophilosophie“
Metaphysikkritische analytische Philosophie
+
Metaphysikkritische biologische Psychiatrie
=
Neurophilosophie
als neuartige „Koalition“ traditionell eher
unverbundener Wissenschaften
Damit ist die aktuell sehr einflussreiche, wenn auch auf den ersten Blick eigenartige
„Koalition“ zwischen philosophischem und neurobiologischem Diskurs gemeint. Erstaunlich
ist dies insofern, als diese beiden Fächer zuvor, von einigen prominenten Ausnahmen
abgesehen, im wissenschaftlichen Alltag wenig miteinander zu tun hatten - und wohl auch zu
tun haben wollten: Standen sich doch oft Philosophen und Psychiater, gerade die
neurobiologisch orientierten unter ihnen, skeptisch, ja misstrauisch gegenüber. Jetzt, im
Zeitalter der Gehirnforschung, haben sich beide Seiten stark angenähert und versuchen,
wechselseitig voneinander zu profitieren: Die Neurobiologen, um einen aktuellen Anschluss
an das althergebrachte Leib-Seele-Problem zu finden und dieses zugleich neu und aus ihrer
Sicht zu konstellieren, die Philosophen, um ihre Begrifflichkeit (die im wesentlichen
diejenige der „Analytischen Philosophie des Geistes“, der „Analytical Philosophy of Mind“
ist) näher mit der empirischen Ebene zu verknüpfen, vor allem, da diese Ebene von ihrem
Selbstverständnis her ja gerade mit dem „Organ des Denkens“ befasst ist. Aus früheren
Konkurrenten um die „Deutungshoheit“ des Psychischen könnten - so eine Hoffnung vieler
Autoren - auf diese Weise Kooperationspartner werden. Ob diese dann in praxi tatsächlich
gleichrangig sind, steht freilich auf einem ganz anderen, hier nicht zu betrachtenden Blatt.
Nun gibt es natürlich nicht „die“ Neurophilosophie. Vielmehr handelt es sich um eine recht
bunte Mischung von verschiedenen Ansätzen, deren grösster gemeinsamer Nenner allenfalls
eine (unter anderem auf Ludwig Wittgenstein zurückgehende) sprachkritische Haltung
63
Referate
darstellt: Also nicht die „grosse“ Frage „Was ist Psyche und psychische Krankheit?“ steht
zunächst im Mittelpunkt, sondern eher die bescheidenere Variante „Wie sprechen wir über
Psyche und psychische Krankheit?“ Daraus wird auch deutlich, dass hier nicht ein
einheitliches Menschenbild transportiert wird oder werden soll. Vielmehr sind
neurophilosophische Konzepte im Einzelfall mit ganz unterschiedlichen Grundannahmen zur
Personalität und Verantwortlichkeit vereinbar. Hierzu existiert mittlerweile eine kaum noch
überschaubare Literatur.
Abb. 15
„Menschenbild“ (II)
Thesen
• Empirische Forschung steht nicht im
Gegensatz zur Anerkennung fundamentaler humaner Eigenschaften wie Selbstbestimmung und Verantwortlichkeit.
• Dies ist kein Rückfall in „spätromantische“
Vorstellungen, sondern Ausdruck
methodenkritischen Respektes vor dem
„Forschungsgegenstand“.
Meine beiden Thesen zum Thema Menschenbild sind die folgenden:
1. Empirische Forschung mit ihren methodischen Eckpunkten Quantifizierung, Reliabilität
und Validität, steht nicht im Gegensatz zur expliziten Anerkennung fundamentaler nichtempirischer Aspekte unseres Menschenbildes. Das klingt jetzt sehr abstrakt, doch meine
ich so konkret-praktische Begriffe wie Subjekt, Person, Willensbildung,
Verantwortlichkeit, Planung und, nicht zuletzt, Interpersonalität. Die markanten
Fortschritte der jüngeren Hirnforschung sind aus meiner Sicht mit Subjektivität und
personaler Autonomie durchaus vereinbar - oder, präziser gesagt, sie müssen, wenn man
die jeweiligen Erkenntnisgrenzen sieht und akzeptiert, nicht unvereinbar sein.
2. Dies ist nun alles andere als ein Rückfall in spätromantische oder sozialromantische
Vorstellungen. Der Umstand, dass bestimmte „Gegenstandsbereiche“ wie etwa die
personale Autonomie sich in einem umschriebenen wissenschaftlichen Feld, hier konkret
in der Neurobiologie, schlecht oder gar nicht abbilden (oder gar erklären) lassen, bedeutet
weder, dass es sie in der menschlichen Lebenswelt (und zu dieser gehört auch die
Wissenschaft) nicht gibt noch dass die neurobiologische Methodik defizitär ist. Vielmehr
handelt es sich um zwei Ebenen, deren Beziehung zueinander ja gerade in Frage steht und
64
Referate
keinesfalls als geklärt betrachtet werden kann. Insoweit gehören diese Fragen ebenso in
das 21. Jahrhundert, wie sie in der Antike, in der Aufklärung und im zunächst romantischspekulativen, dann so fortschrittsgläubigen 19. Jahrhundert ihren Platz hatten.
Abb. 16 und 17
Forensische Psychiatrie:
„Prognoserelevante Faktoren“
• Empirische Forschung
• Interdisziplinarität bei gleichzeitiger Nähe
zur klinischen Psychiatrie
• Aktive Beteiligung an der wissenschaftshistorischen und -theoretischen Debatte
• Qualifizierte Weiter- und Fortbildung
Forensische Psychiatrie:
Quo vadis?
• Kein Grund für Untergangsängste
• Viele Gründe für intensivere
empirische Forschung
• Viele Gründe für kritische Selbstreflexion
• Viele Gründe für eine intensivere
Theoriedebatte
65
Referate
Das Resümee meines Beitrages besteht aus zwei Teilen (s. Abb. 16 und 17):
1. Der Blick auf die „Prognose der forensischen Psychiatrie“, hier also für einmal nicht
gemeint als Prognose für eine einzelne Person, sondern für das ganze Fach: Zunächst
einmal brauchen wir einen weiteren stetigen Ausbau der empirischen Forschung, was
nicht nur mit Ideen und Konzepten zu tun hat, sondern schlicht auch mit der Finanzierung.
Dann müssen wir uns der Notwendigkeit interdisziplinären Arbeitens stärker bewusst
werden,
involviert
sind
medizinische,
neurobiologische,
psychologische,
sozialwissenschaftliche und natürlich juristische Fachleute. Besonders hervorheben
möchte ich an dieser Stelle noch einmal die Bedeutung einer aktiven Beteiligung der
(forensischen) Psychiatrie an der laufenden wissenschaftstheoretischen Debatte um die
Kernfragen des Faches. Und - last, but not least - die hohe Bedeutung einer qualifizierten
Weiter- und Fortbildung. Auch hier hat es in den letzten Jahren bemerkenswert positive
Entwicklungen gegeben. Und dass es dabei einer stetigen Weiterentwicklung bedarf, muss
an dieser Stelle nicht näher ausgeführt und begründet werden.
2. Die (ein wenig prophetische) Frage nach dem „quo vadis“ der forensischen Psychiatrie:
Hier sind aus meiner Perspektive keine Gründe erkennbar für Untergangsängste. Das Fach
wird weder von „der Hirnforschung“ noch von der Neuropsychologie und auch nicht von
den Sozialwissenschaften ernsthaft in Frage gestellt, wohl aber - vor allem von Seiten der
Neurobiologie - kritisch angefragt und herausgefordert. Und dies zu Recht, denn
schliesslich bedarf es einer produktiven Einordnung der zahlreichen rezenten Erkenntnisse
über die Korrelation von neurobiologischen und psycho(patho)logischen Sachverhalten.
Neben der schon erwähnten Notwendigkeit für mehr qualifizierte empirische Forschung in
der forensischen Psychiatrie besteht auch eine solche für kontinuierliche und konsequente
kritische Selbstreflexion. Dies meint zum Beispiel die Analyse der historischen und
theoretischen Hintergründe vermeintlich so selbstverständlicher Begriffe wie Psychose
oder Persönlichkeitsstörung.
Meine Damen und Herren, ich hoffe, dass dieser recht zügige Durchgang durch eine ganze
Reihe von historischen wie aktuellen Brennpunkten unseres Faches Ihre Neugier an diesen
Fragen weiter stimuliert hat und freue mich auf Ihre Diskussionsbeiträge. Herzlichen Dank
zunächst für Ihre Aufmerksamkeit!
Literatur
Dieser Vortrag stellt die Weiterentwicklung von Gedanken dar, die in der folgenden Arbeit
veröffentlicht worden sind: Hoff P (2005) Perspektiven der forensischen Psychiatrie - eine
psychiatriehistorische und aktuelle Bestandsaufnahme. Nervenarzt 76: 1051 - 1061. Aus
Platzgründen wird hier kein vollständiges Literaturverzeichnis aufgeführt. Vielmehr sei auf
die Literaturangaben der genannten Arbeit verwiesen, die der Autor gerne auf Anfrage zur
Verfügung stellt (siehe Referentenverzeichnis).
66
Referate
Straf- und Maßregelvollzug
- Probleme und Ergebnisse der Rückfallforschung
Prof. Dr. Rudolf Egg 17
Meine sehr geehrten Damen und Herren!
Zunächst einmal darf ich mich vielmals bedanken für die Einladung zu dieser Fachtagung
über „Maßregelvollzug im Kreuzfeuer“. Ich bin sehr gerne nach Merzig gekommen und freue
mich, heute bei Ihnen zu sein.
Von den Veranstaltern wurde ich gebeten, etwas über das Thema „Straf- und
Maßregelvollzug – Probleme und Ergebnisse der Rückfallforschung“ zu sagen. Die Frage
nach der Rückfälligkeit von Straftätern wird in der Öffentlichkeit ja immer dann gestellt,
wenn über einen spektakulären Einzelfall berichtet wird. Dies ist freilich für eine
wissenschaftliche Stellungnahme kein besonders günstiger Zeitpunkt, weil sich ausgehend
von Extremfällen kaum etwas über die Rückfälligkeit ganz allgemein sagen lässt.
Ein besonders heftig diskutierter Fall ereignete sich im Jahre 1996: Damals verübte in Bayern
ein Mann einen Sexualmord an dem kleinen Mädchen Nathalie. Der Täter war bereits im
Jahre 1993 wegen eines Sexualdelikts verurteilt worden. Zwei Jahre später wurde er vorzeitig
aus dem Strafvollzug auf Bewährung entlassen - mit günstiger Prognose und mit Zustimmung
der JVA, obwohl gar keine Therapie durchgeführt worden war. Ein Jahr danach beging er
diesen Mord und einige von Ihnen erinnern sich vielleicht noch an die sich daran
anschließende z.T. sehr heftige kriminalpolitische Diskussion und an die Forderungen nach
mehr Schutz vor gefährlichen Straftätern. Dabei wurde auch die Frage gestellt: „Wie
rückfällig sind Sexualstraftäter?“ Und: „Wie rückfällig sind Verbrecher überhaupt?“
Ich will das Ganze hier zunächst einmal rein methodisch betrachten und zurückfragen, was
denn das heißen soll: Rückfall. Nun, wenn Sie auf der Straße jemanden fragen: „Was ist denn
rückfällig?“, dann wird er Ihnen vielleicht sagen: „Jede neue Straftat, die jemand begeht, der
schon einmal verurteilt wurde, das ist ein Rückfall“. So weit, so gut. Das Problem dabei ist
nur, dass wir gar nicht genau wissen, ob und welche Straftat oder Straftaten jemand begeht.
Schließlich können wir immer nur einen Teil der verübten Straftaten erfassen. Der Grund
dafür ist, dass es bei jedem Delikt ein so genanntes Dunkelfeld gibt, also Straftaten, die nicht
angezeigt oder nicht entdeckt werden. Über diese Straftaten wissen wir nichts, jedenfalls im
Allgemeinen nichts.
Wie üblich wurde vor einigen Tagen vom Bundesinnenminister wieder einmal die
Polizeiliche Kriminalstatistik des vergangenen Jahres vorgestellt.18 Diese bundesweite
Statistik umfasst die polizeilich registrierten Fälle von Straftaten sowie Angaben zu
17
18
Kriminologische Zentralstelle e. V., Wiesbaden
Siehe auch im Internet: www.bka.de
67
Referate
Tatverdächtigen und Verbrechensopfern. Insgesamt ergaben sich dabei im Vergleich zum
Vorjahr bei den Fallzahlen leichte Rückgänge (-3,6 %) bei manchen Delikten auch deutliche
Rückgänge, z.B. beim Kfz-Diebstahl (-16,9 %) oder beim Handtaschenraub (-16,4 %). Einige
Fallzahlen hatten aber auch eine ansteigende Tendenz, so die gefährliche und schwere
Körperverletzung (+5,3 %). Zu lesen waren dazu sofort auch Kommentare von allen
möglichen Seiten, wobei mir ein Kommentar aus den Reihen der Polizeigewerkschaft
besonders aufgefallen ist. Sinngemäß hieß es da, dass man Straftaten gar nicht richtig
statistisch erfassen könne. Außerdem steige das Dunkelfeld ständig. Da habe ich mich gefragt,
woher denn dieser Sprecher weiß, dass das Dunkelfeld ständig steigt. Dieses ist ja
definitionsgemäß im Dunkeln, man kann darum gar nicht wissen, ob es steigt oder fällt.
Natürlich gibt es gewisse Zugangsmöglichkeiten zum Dunkelfeld, vor allem durch so
genannte Dunkelfeld-Befragungen in der Bevölkerung. Dabei wird für einen bestimmten
Zeitraum, meistens sind es 12 Monate, gefragt, wer Opfer welcher Straftat wurde, ob eine
Anzeige erfolgte etc. Nachdem wir aber in Deutschland – anders als in anderen Ländern –
keine solche regelmäßige Befragung von Personen durchführen, können wir auch über dieses
Dunkelfeld keine verlässlichen Zahlen angeben.
Und selbst wenn wir eine regelmäßige Opferbefragung in Deutschland hätten, wüssten wir
auch nicht hundertprozentig Bescheid. Zum einen gibt es ja sog. opferlose Delikte, z.B. in der
Drogen- und Wirtschaftskriminalität, die über Bevölkerungsumfragen kaum erfassbar sind.
Aber auch bei Delikten mit persönlichen Opfern kann ein Geschädigter oder Verletzter nicht
immer sicher wissen, ob das, was er als Straftat erlebt hat, später, wenn er es angezeigt hätte,
tatsächlich zu einer Verurteilung des Verdächtigen geführt hätte. Außerdem ist es keineswegs
sicher, dass jemand bei einer solchen Befragung etwas angibt, was er vorher nicht der Polizei
gemeldet hat. Man spricht darum auch von dem so genannten doppelten Dunkelfeld, also von
Straftaten, die weder durch Anzeigen noch durch wissenschaftliche Umfragen erfassbar sind.
Jede neue Straftat, das wäre sicher die einfachste Definition für Rückfall, aber die kennen wir
eben nicht oder nicht genau. „Na gut“, werden Sie sagen, „dann meinetwegen jede angezeigte
neue Straftat“. Das wäre doch eine mögliche Definition. Das ist im Prinzip sicher richtig, aber
wenn Sie in die Statistiken von Polizei und Justiz schauen, werden Sie feststellen, dass von
den Personen, die die Polizei als tatverdächtig identifiziert, keineswegs jeder später auch
gerichtlich verurteilt wird. Genau genommen ist dies sogar nur bei einer Minderheit der
Verdächtigen der Fall. Im Jahre 2003 waren es nur etwa drei von zehn Tatverdächtigen, die
später gerichtlich verurteilt wurden. „Wie denn dies?“, werden Sie jetzt vielleicht fragen. Das
hat mehrere Gründe. Zunächst stellt bereits die Staatsanwaltschaft, die von der Polizei einen
Tatverdächtigen geliefert bekommt, in ¼ der Fälle das Ermittlungsverfahren wieder ein –
wegen zu geringem Tatverdacht oder wegen Geringfügigkeit des Delikts. Der Rest – ¾ der
Fälle – ist anklagefähig, doch wird nur etwa die Hälfte tatsächlich angeklagt, bei den anderen
wird von der Erhebung der öffentlichen Klage unter Auflagen oder Weisungen abgesehen.
Dies bedeutet zwar, dass die Angelegenheit für den Betreffenden nicht folgenlos ist, er kann
z.B. zur Schadenswiedergutmachung oder zu einer gemeinnützigen Leistung verpflichtet
werden, aber er wird eben nicht verurteilt und gilt dann auch nicht als vorbestraft.
Diese so genannte Diversion, also die Vermeidung einer Verurteilung in weniger schweren
Fällen, ist rechtspolitisch gewollt und sicher auch sinnvoll. Für die Definition von
Rückfälligkeit eignet sich aber der Bezug auf alle angezeigten Fälle leider nicht oder nur
begrenzt, eben wegen dieses mehrstufigen strafrechtlichen Ausfilterungsprozesses.
68
Referate
Ausgehend von diesen Überlegungen ergibt sich nun als dritte Definitionsmöglichkeit des
Rückfalls die Bezugnahme auf jede neue Verurteilung. Dagegen ließe sich aber einwenden,
dass damit die Gefahr einer Unterschätzung der tatsächlich begangenen neuen Straftaten
verbunden ist. So könnte ja jemand nur deshalb als legalbewährt, also als nicht rückfällig
eingestuft werden, weil ihm eine neue Straftat lediglich nicht hinreichend nachgewiesen
werden konnte. Dieser Nachteil wird freilich durch den großen Vorteil einer juristisch
sauberen, „wasserfesten“ Begrenzung auf gerichtlich geprüfte Tatbestände ausgewogen.
Allerdings könnte selbst diese vergleichsweise enge Definition noch zu weit gefasst sein,
nämlich dann, wenn man unter Rückfall eine Wiederholung gleicher oder ähnlicher Straftaten
wie in der Vergangenheit verstehen möchte. So wird man einen früher wegen Vergewaltigung
oder schweren Raubes Verurteilten, der nach seiner Entlassung wegen eines Ladendiebstahls
verurteilt wird, wohl schwerlich als „rückfällig“ bezeichnen wollen, wenn er ansonsten
straffrei bleibt.
Dies führt uns zu einer vierten Definitionsmöglichkeit: Jede neue Verurteilung wegen einer
einschlägigen, also einer ähnlichen Straftat. Allerdings kommen Sie dann zu einer neuen
Frage, nämlich: „Was soll „einschlägig“ heißen?“. Will man sich dabei strikt am
Straftatenkatalog des Strafgesetzbuches orientieren, soll es eher um kriminologisch verwandte
Deliktsgruppen gehen oder sollen gar klinische Kategorien maßgeblich sein? Wie sich leicht
zeigen lässt, kommt man auf diese Weise zu unterschiedlichen Fallgruppen und somit auch zu
ungleichen Bewertungen des Rückfalls.
Manche Rückfalldefinitionen berücksichtigen auch die Deliktschwere, meist definiert durch
die Art und Höhe der neuerlich verhängten Sanktion. Für den Straf- und Maßvollzug etwa
könnte als „hartes“ Kriterium gelten, von einem Rückfall (im eigentlichen Sinne) nur dann zu
sprechen, wenn die erneute Straftat wieder zu einer stationären Sanktion geführt hat. Da sich
diese Einschränkung auch mit der Beurteilung der zuvor genannten Einschlägigkeit der
Rückfalltat kombinieren lässt, gelangt man leicht zu weiteren Rückfalldefinitionen.
Wie Sie sehen, ist die Beantwortung dieser Definitionsfrage gar nicht so leicht. Und es gibt
sicher noch weitere Möglichkeiten der Eingrenzung. Was man z.B. auch nicht vergessen
sollte, ist der Rückfallzeitraum. Wie lange also soll das Intervall sein von der früheren
Sanktion zu der neuerlichen? So lange wie möglich, würden vermutlich die meisten darauf
antworten. aber ganz so einfach ist das nicht. Zum einen kann man nicht beliebig lange im
Bundeszentralregister nach neuen Verurteilungen suchen, weil es ja gesetzliche
Tilgungsfristen gibt. Insbesondere die leichteren Fälle, bei denen schon nach fünf Jahren eine
Tilgung erfolgt, gehen leicht verloren, wenn man sehr lange Zeiträume berücksichtigen will –
es sei denn, man würde regelmäßig das Register abfragen, aber abgesehen von dem riesigen
Aufwand würde dies auch datenschutzrechtliche Probleme ergeben.
Zum zweiten: Wenn Sie einen sehr langen Zeitraum wählen, ist zu fragen, ob es noch etwas
mit der Qualität des Straf- oder Maßregelvollzuges zu tun, wenn jemand z.B. zehn Jahre nach
der Entlassung wieder ein schweres Delikt begeht. Kann man dann wirklich noch sagen: „Den
hätte man doch besser therapieren müssen!“ Nein, das ist wahrscheinlich eher eine Frage der
Nachsorge oder eine Folge seiner neuen, geänderten Lebensumstände und damit verbundener
Krisen. Über den Erfolg einer stationären Unterbringung lässt nach einem so langen Zeitraum
doch eigentlich nichts mehr zuverlässig aussagen.
69
Referate
Und noch etwas anderes: Die vielen sicher bekannte umfangreiche Studie zur Evaluation von
sozialtherapeutischen Anstalten in Deutschland, die vom Max-Planck-Institut in Freiburg
durch Herrn Ortmann durchgeführt wurde, hat in den 80-er Jahren begonnen und im Jahr
2001 den Abschlussbericht abgeliefert. Zu diesem Zeitpunkt hatte eine der zwei Anstalten,
um die es ging, nämlich die Anstalt in Düren, gar nicht mehr existiert. Die Studie war also
gewissermaßen zu einer historischen Arbeit geworden. Anders gesagt führt die
Berücksichtigung sehr langer Rückfallzeiträume unter Umständen zu Aussagen, die sich auf
therapeutische Konzepte beziehen, die gar nicht mehr bestehen.
Wegen dieser vielfältigen Probleme gehen die meisten Rückfallstudien eher pragmatisch vor:
Man legt z.B. einen Risikozeitraum von drei bis fünf Jahren zu Grunde, bezieht sich
ausschließlich auf neue Verurteilungen und Registereintragungen und kann dann noch
unterscheiden nach neuen und stationären oder neuen und ambulanten Sanktionen sowie nach
einschlägigen oder nicht einschlägigen Delikten. Die Sache ist zwar kompliziert, aber nicht
völlig unlösbar.
In der Kriminologie sind Rechtpflegestatistiken, also Polizei- und Justizstatistiken,
unverzichtbare Bezugsquellen. Leider fehlt dabei eine Rückfallstatistik, die regelmäßig
geführt wird. Denn das, was uns die übrigen Statistiken liefern, ist zwar interessant, sagt aber
über die Rückfälligkeit wenig. Die Polizeiliche Kriminalstatistik (PKS), die jährlich vom
Bundeskriminalamt vorgelegt wird, zeigt uns beispielsweise die Verteilung der registrierten
Straftaten, also: „Welche Delikte werden am häufigsten polizeilich registriert?“ Hier ergibt
sich sehr beständig, dass zum Beispiel Tötungsdelikte nur einen sehr kleinen Anteil an der
Gesamtkriminalität ausmachen. Auch der prozentuale Anteil der Sexualdelikte ist sehr viel
kleiner, als dies die Allgemeinheit befürchtet.
Mit der PKS kann man auch Zeitreihen aufstellen. Für den sexuellen Kindesmissbrauch ergibt
sich dabei etwa, dass die Häufigkeitszahlen, das sind die Fallzahlen relativiert auf 100.000
Einwohner, nicht ständig ansteigen, sondern seit den 1950-er Jahren deutlich zurückgegangen
sind. Über den Grund dafür, ob das etwa an Veränderungen im Dunkelfeld oder am
Anzeigeverhalten liegt, sagt diese Statistik natürlich nichts aus. Bei den sexuellen
Gewaltdelikten ist die Situation ein bisschen anders: Da haben wir zwar auch Rückgänge (seit
1980), doch seit 1997/1998 gibt es einen Anstieg, der aber höchstwahrscheinlich mit
Gesetzesänderungen zu tun hat. Sie alle wissen wahrscheinlich, dass man damals auch die
Vergewaltigung in der Ehe oder die gleichgeschlechtliche Vergewaltigung sanktioniert hat.
Von daher war hier auch mit höheren Fallzahlen zu rechnen. Beim Sexualmord, der ja in der
öffentlichen Diskussion eine besonders große Rolle spielt, zeigen sich übrigens seit den 70er
Jahren deutlich rückläufige Tendenzen. Auch in der allerneuesten Statistik setzte sich dieser
Trend der Vorjahre fort.
Aus der PKS lässt sich auch ersehen, wie sich die Tatverdächtigen nach dem Geschlecht und
dem Alter verteilen. Bei den sexuellen Gewaltdelikten etwa ergibt sich, dass bei den 14-16
und bis 25-jährigen die Belastungszahlen der Tatverdächtigen – also die Zahlen pro 100.000
der jeweiligen Altersgruppe – sehr viel höher sind als bei den über 30-/40- oder gar über 50jährigen.
So interessant solche und ähnliche statistische Angaben auch sein mögen, über den Rückfall
sagen sie uns leider nichts. Wir können zwar indirekt daraus schließen, dass die
70
Referate
Rückfälligkeit nicht so extrem hoch sein kann, wie dies viele befürchten, dass also nicht
immer alles nur schlechter wird. Aber wenn wir etwa wissen wollen, wie rückfällig ist denn
die Gruppe der aus dem Straf- oder Maßregelvollzug Entlassenen, dann erfahren wir aus
diesen Statistiken dazu nichts. Dafür bräuchten wir eine Rückfallstatistik, die regelmäßig
durchgeführt wird. Vor wenigen Jahren hätte ich an dieser Stelle noch sagen müssen, so etwas
gibt es nicht in Deutschland. Jetzt kann ich sagen, es gibt zumindest eine Pilotstudie, die vom
Bundesjustizministerium im Jahr 2003 veröffentlicht wurde und von den Professoren Jehle in
Göttingen und Heinz in Konstanz erstellt wurde. Sie können diese Statistik übrigens kostenlos
aus dem Internet downloaden. „Googlen“ Sie dazu einfach unter den Begriffen
„Rückfallstatistik“ und „BMJ“. Sie gelangen dann zu einer PDF-Datei des
Bundesjustizministeriums.
Was wurde bei dieser Rückfallstatistik gemacht? Wie sind die Forscher vorgegangen? Jehle
und Heinz gingen von dem Bezugsjahr 1994 aus und haben alle Personen in Deutschland, bei
denen in diesem Jahr eine ambulante Sanktion rechtskräftig oder eine stationäre Sanktion
beendet wurde, in die Untersuchungsgruppe einbezogen. Warum diese Unterscheidung –
Rechtskraft und Entlassung? Das musste man machen, damit man einen Zeitraum hat, für den
alle Personen die gleiche oder gleich lange Chance hatten, sich egal zu bewähren oder
rückfällig zu werden. Und das geht eben nur mit einer solchen Aufteilung. Die 1994
rechtskräftig gewordene oder beendete Sanktion nannte man die Bezugsentscheidung.
Als nächstes wurde für die Bestimmung der Rückfälligkeit bzw. der Legalbewährung ein
Beobachtungszeitraum von vier Jahren gewählt. Alle für die Bezugsgruppe bis 1998 erfolgten
Neueintragungen im Bundeszentralregister sind die sog. Folgeentscheidungen. Die
Darstellung der Ergebnisse dieser Statistik erfolgt immer in der gleichen Weise: Im unteren
Teil einer Grafik steht immer die jeweilige Bezugsentscheidung, z.B. Freiheitsstrafe ohne
Bewährung, Freiheitsstrafe mit Bewährung, Jugendstrafe, ohne Jugendstrafe mit Bewährung,
Geldstrafe, sonstige JGG-Entscheidungen. In den Säulen darüber stehen dann die
Folgeentscheidungen: Die dunklen Anteile meinen eine stationäre Folgeentscheidung, die
dunkelgrauen eine ambulante Folgeentscheidung und die hellen keine Folgeentscheidungen.
Dabei ergibt sich z.B. ein besonders günstiges Ergebnis, wenn die Bezugsentscheidung eine
Geldstrafe war – nur 30 % Folgeentscheidungen! Jugendstrafe ohne Bewährung steht dagegen
am schlechtesten da: fast 80 % neue Entscheidungen, über 40 % neue stationäre Sanktionen.
Was man damit natürlich nicht machen darf, ist dies, dass man diese Unterschiede einfach
kausal interpretiert. Damit könnte man nämlich auf die Idee kommen: „Warum denn noch
stationäre Sanktionen verhängen, da ist doch die Rückfälligkeit viel höher als bei den
Geldstrafen.“ Das geht natürlich nicht, denn die Voraussetzung für die Verhängung einer
Geldstrafe ist ja eine ganz andere als die für eine Freiheitsstrafe. Auch die Aussetzung einer
Strafe zur Bewährung, setzt ja (unter anderem) eine günstige Prognose voraus. Wenn nun,
und das zeigt die Studie von Jehle und Heinz, die Legalbewährung bei ausgesetzten
Freiheitsstrafen günstiger ist als bei vollstreckbaren, dann bedeutet dies vor allem, dass diese
Prognose zutreffend war – leider aber auch, dass der Strafvollzug mit seinen begrenzten
Mitteln kaum in der Lage war, daran etwas zu ändern.
Eine andere Grafik von Jehle und Heinz zeigt, dass Folgeentscheidungen, also die
Rückfälligkeit, auch sehr stark von den Delikten abhängen, die in der Bezugsentscheidung
eine Rolle gespielt haben. Die Basisrate des Rückfalls für alle Delikte des gesamten Jahrgangs
71
Referate
1994 betrug rd. 36 %. Für einzelne Deliktsgruppen ergeben sich teils höhere, teils niedrigere
Werte. So ist der Wert bei den gewaltsamen Sexualdelikten mit rd. 40 % etwas höher als der
Grundwert für alle Gruppen. Bei den Tötungsdelikten ist die Rate dagegen niedriger. Dies hat
vermutlich zwei Gründe: Zum einen sind nach Tötungsdelikten meist sehr lange Haftzeiten zu
verbüßen, in denen die Personen älter und damit meist auch weniger gefährlich werden. Zum
anderen finden sich bei Mord und Totschlag viele so genannte „Beziehungsdelikte“, d. h. hier
war das Tötungsdelikt Ausdruck nicht einer dauerhaften Störung oder Gewaltneigung,
sondern Ergebnis einer speziellen, einmaligen lebensbelastenden Situation, die sich dann
später eben nicht mehr wiederholt. Darum gibt es auch keinen Rückfall. Anders ist dies bei
schwerem Diebstahl, Raub und Erpressung. Die hier festgestellten relativ hohen Rückfallraten
hängen vermutlich damit zusammen, dass die in der Vergangenheit gezeigte Kriminalität eher
Ausdruck einer allgemein dissozialen, kriminellen Lebensführung war, die nach der
Entlassung offenbar oft wieder aufgenommen wird. Darum ist hier mit höheren Rückfallraten
zu rechnen.
Ein anderer sehr deutlicher Effekt, den diese Rückfallstatistik zeigt, der aber aus
kriminologischer Sicht nicht sehr überraschend ist, ist die offensichtliche Altersabhängigkeit
des Rückfalls. Also: Je älter jemand bei der Verurteilung oder der Bezugsentscheidung ist,
desto geringer ist die Rückfallrate.
Spannend ist natürlich auch die Frage möglicher Unterschiede zwischen einzelnen
Vollzugsformen. Stellt man einmal die drei stationären Maßregeln, also psychiatrisches
Krankenhaus, Entziehungsanstalt und Sicherungsverwahrung, sowie die Führungsaufsicht als
ambulante Maßregel gegenüber, so zeigen sich besonders hohe Rückfallwerte bei der
Entziehungsanstalt, recht niedrige Raten beim psychiatrischen Krankenhaus. Freuen Sie sich
nicht zu früh darüber, der Nachteil dieser Auflistung ist nämlich, dass Jehle und Heinz nur die
Daten des Bundeszentralregisters zur Verfügung hatten. Daraus lässt sich aber nicht
feststellen, ob jemand tatsächlich im Maßregelvollzug war und wie lange er dort war. Die
Forscher konnten also sozusagen nur feststellen, ob im Urteil § 63 StGB angeordnet wurde.
Wenn der Maßregelvollzug aber nun primär ausgesetzt wurde, was ja möglich ist und
offenbar in nicht wenigen Fällen geschieht, dann war der Betreffende keinen einzigen Tag in
der Maßregelklinik – und das sind womöglich die günstigeren Fälle, die zu diesem Ergebnis
führten. Um zu wissen, wie der Rückfall nach einer Entlassung aus einem psychiatrischen
Krankenhaus aussieht, muss man also genauer nachschauen und neben Registerdaten auch
andere Quellen, insbesondere Strafakten oder Unterlagen der Kliniken, heranziehen.
Damit komme ich zu meinem zweiten Teil, der Rückfallstudie der Kriminologischen
Zentralstelle in Wiesbaden: Diese bundesweit angelegte Studie wurde in den Jahren 1996 bis
2001 durchgeführt. Sie befasste sich mit der Rückfälligkeit von Personen, die im Jahre 1987
wegen einer Sexualstraftat verurteilt worden waren bzw. aus Anlass eines solchen Delikts
eine Maßregelanordnung erhielten. Wir bildeten dazu mehrere Stichproben zu
unterschiedlichen Deliktsgruppen – Kindesmissbrauch, sexuelle Gewalt, sexuelle
Belästigung, Maßregelvollzug, DDR-Urteile usw. Neben Daten des Bundeszentralregisters
werteten wir insgesamt fast 800 Verfahrensakten aus ganz Deutschland aus. Der Fokus der
Studie galt folgenden Fragen: Wer wurde wann und wie oft rückfällig? Wie lassen sich
Rückfällige von Nichtrückfälligen unterscheiden? Welche Rolle spielen unterschiedliche
Deliktsformen und unterschiedliche Sanktionen für den Rückfall? Was sind Risikofaktoren
des Rückfalls?
72
Referate
Wegen der Kürze der Zeit kann ich Ihnen hier nur ein paar wenige Ergebnisse vortragen. Für
weitere Informationen darf ich Sie auf unsere diesbezüglichen Veröffentlichungen hinweisen,
über die Sie unsere Website ausführlich informiert.19
Eine zentrale Aussage der Studie, die man sich auch leicht merken kann, lautet, dass die
Basisrate des Rückfalls für die beiden Hauptgruppen, also sexueller Kindesmissbrauch und
sexuelle Gewaltdelikte, bei einem Risikointervall von sechs Jahren etwa 20 % beträgt.
Rückfall wurde hier wie in der Studie insgesamt definiert als neue, einschlägige Sexualstraftat
mit Verurteilung und Registereintrag Im Beobachtungszeitraum. Wir haben dabei natürlich
peinlich genau darauf geachtet, dass nicht „Äpfel mit Birnen verglichen“ wurden, dass also
alle Probanden die gleiche Chance hatten, in dem von uns gewählten Zeitraum von sechs
Jahren rückfällig zu werden. Haftzeiten, etwa nach Bewährungswiderrufen, wurden
entsprechend berücksichtigt.
Bei denjenigen Personen, die wegen exhibitionistischer Handlungen verurteilt worden waren,
zeigte sich dagegen eine sehr viel höhere Rückfälligkeit von über 55 %. Bei den drei
genannten Deliktsgruppen waren übrigens die im Rückfall begangenen Straftaten den
früheren weitgehend ähnlich. Eine Progredienz, d.h. eine Steigerung der Tatschwere, ergab
sich also nur in seltenen Fällen.
Eine andere Auswertung bezog sich auf die Rückfallgeschwindigkeit, also den Zeitpunkt der
Tatbegehung, gerechnet ab dem Beginn des Risikozeitraums von sechs Jahren. Bei den
Kindesmissbrauchern etwa beging über die Hälfte derjenigen, die rückfällig werden, bereits in
den ersten zwei Jahren das erneute Sexualdelikt. Dies ist an sich nicht überraschend, sondern
entspricht Befunden der allgemeinen Rückfallforschung. Rückfälle ereignen sich – wenn
überhaupt – meist relativ rasch. Eine Besonderheit aber ist, dass bei unserer Stichprobe etliche
Rückfälle erst nach fünf oder sechs Jahren erfolgten. Und ich nehme an, dass wir dann, wenn
wir einen noch längeren Zeitraum hätten prüfen können, auch später noch neue (erste)
Rückfälle festgestellt hätten. Solche verzögerten oder späten Rückfälle sind offenbar bei
Sexualstraftätern eher zu finden als bei anderen Tätergruppen – ein nicht uninteressanter
Befund für Maßnahmen der Nachsorge oder Bewährungshilfe.
Wir haben bei unserer Studie übrigens auch Rückfälle, die aus dem Vollzug heraus erfolgten,
erfasst; bei den Kindesmissbrauchern waren dies 5 % aller Rückfälle. Dabei dürfte es sich
Vorfälle im Rahmen von Lockerungen handeln. Bei einer reinen Katamnese-Untersuchung,
etwa von ehemaligen Patienten einer Maßregelklinik, würde man solche Fälle normalerweise
weglassen, weil die Behandlung ja noch nicht abgeschlossen war. Unsere Studie befasste sich
aber mit der Rückfälligkeit bestimmter Tätergruppen, unabhängig von Art und Abschluss
einer Behandlung. Deshalb war es notwendig, auch solche Rückfälle, die sich noch während
des Vollzuges ereigneten, mit zu erfassen.
Eine weitere interessante Aufteilung berücksichtigt das Alter der Straftäter beim ersten Delikt.
Ähnlich wie bei der allgemeinen Rückfallstatistik von Jehle und Heinz fanden auch wir eine
deutliche Altersabhängigkeit des Rückfalls: diejenigen Sexualstraftäter, die bereits in sehr
jungen
Jahren
sexuell
auffällig
wurden,
hatten
eine
deutlich
höhere
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www.krimz.de
73
Referate
Rückfallwahrscheinlichkeit als jene, die erst im Erwachsenenalter, also ab dem 22.
Lebensjahr, Sexualdelikte begangen hatten. Der einschlägige Rückfall bei den jungen
Straftätern lag bei knapp 30 %, also deutlich über der erwähnten Basisrate von 20 %. Bei den
älteren Sexualstraftätern war die einschlägige Rückfälligkeit mit rd. 16 % nur etwa halb so
groß wie die der Jüngeren.
Ein anderer aufschlussreicher Punkt ist die Frage der Täter-Opfer-Beziehung. Wir haben
dabei zwischen „Innerfamiliären Tätern“, also solchen, deren Opfer aus der eigenen Familie,
aus der eigenen sozialen Umgebung kommen, und „Außerfamiliären Tätern“, also Täter mit
fremden Opfern, unterschieden. Im ersten Fall lag die Rate des einschlägigen Rückfalls mit
knapp 6 % weit unter der Basisrate, in der zweiten Gruppe mit rd. 24 % deutlich höher. Der
Grund dürfte sein, dass die pädosexuelle Neigung bei außerfamiliären Tätern ausgeprägter,
stärker, dauerhafter ist als bei innerfamiliären. Eine noch höhere Rückfallrate findet sich bei
sog. „Hands-Off-Tätern“, also Missbrauchern ohne Körperkontakt zu den Kindern. Dabei
handelt es sich überwiegend um Personen, die exhibitionistische Handlungen vor Kindern
begehen. Die höhere Rückfallneigung der Exhibitionisten bestätigt sich also auch hier.
Natürlich wollten wir auch wissen: Wie sieht der Rückfall nach dem Maßregelvollzug aus?
Wir haben hier zunächst alle Fälle „gezogen“, bei denen im Bezugsjahr 1987 aus Anlass eines
Sexualdelikts eine Maßregel der Besserung und Sicherung angeordnet wurde. Insgesamt
waren dies damals 140 Personen, von denen wir in 126 Fällen die Akten einsehen konnten,
davon 11 Sicherungsverwahrte. Betrachtet man dabei die Fälle der therapeutischen Maßregeln
nach §§ 63, 64 StGB, dann ergibt sich das in der Tabelle gezeigte Bild.
Tabelle: Rückfall nach Maßregelvollzug gem. §§ 63, 64 StGB
Art der Anordnung
Einschlägiger Rückfall
Einschlägiger Rückfall
Gesamtgruppe (N=115)
Bereinigte Gruppe (N=71)
§ 64 StGB
25,0 % ( 6 von 24)
15,0 % ( 3 von 20)
§ 63 StGB gesamt
29,7 % (27 von 91)
35,3 % (18 von 51)
§ 63 StGB mit Bewährung
46,1 % (12 von 26)
26,3 % ( 5 von 19)
§ 63 StGB ohne Bewährung
23,1 % (15 von 65)
40,6 % (13 von 32)
Für die Gesamtgruppe, also 115 Fälle, zeigt sich, dass die Rückfälligkeit der – wenigen – 64er
Fälle 25% beträgt. Beim psychiatrischen Maßregelvollzug ist die Rückfälligkeit bei den
Fällen mit Bewährung, das sind jene Fälle, bei denen das Gericht die Maßregel zwar
anordnet, aber deren Vollstreckung zunächst aussetzt, erstaunlicherweise doppelt so groß wie
bei den Fällen ohne Bewährung. Wie ist das zu erklären? Die Lösung zeigt die rechte Spalte
der Tabelle. Man muss nämlich für einen fairen Vergleich der Rückfallraten gleich große
Risikozeiträume wählen. Bei der Gesamtgruppe in der linken Spalte war dies nicht der Fall.
Hier waren die 63er Fälle mit Bewährung wesentlich länger in Freiheit als die teilweise sehr
lange im Vollzug Einsitzenden ohne Bewährung. Daraus ergibt sich natürlich eine größere
74
Referate
Möglichkeit oder ein größeres Risiko für erneute Straftaten. Legt man dagegen einen für alle
Personen fixen Zeitraum zu Grunde – hier waren es drei Jahre – dann wandelt sich das Bild.
Bei der von uns als „Bereinigte Gruppe“ bezeichneten Stichprobe ist die Rückfälligkeit der
Fälle ohne Bewährung deutlich höher (40 %) als bei den Fällen mit Bewährung.
Dieser Wert ist freilich recht hoch, vermutlich höher als bei anderen aus dem
Maßregelvollzug entlassenen Personen, zumindest legt dies ein Vergleich mit der
Rückfallstatistik von Jehle und Heinz nahe. Sexuelle Devianz, die zu einer Unterbringung im
psychiatrischen Maßregelvollzug geführt hat, scheint auch bei günstiger Entlassungsprognose
– und nur dann ist ja eine Entlassung möglich – mit nicht geringen Rückfallrisiken verbunden
zu sein. Dies ist bei den § 64 StGB-Patienten offenbar anders. In diesen Fällen ist Hintergrund
des Bezugsdelikts primär eine Suchtproblematik, nicht eine sexuelle Abweichung. Nach
unseren Ergebnissen sind die Chancen für eine erfolgreiche Behandlung in solchen Fällen
günstiger.
Wenn man Rückfallforschung betreibt, gibt es sehr viele Fallen und Stolpersteine, die man
beachten muss, um zu klaren Aussagen zu kommen. Es ist darum gut, Statistiken, da man
liest, nicht blind zu vertrauen. Man sollte sich zunächst stets fragen: Was ist der eigentliche
Hintergrund der Ergebnisse? Was sagen diese Zahlen aus und was nicht?
Im letzten Teil meines Vortrages möchte ich noch kurz auf einen anderen Aspekt zu sprechen
kommen, nämlich auf die Frage der Behandlung von Sexualstraftätern im Rahmen von
Maßregeln der Besserung und Sicherung. Wenn wir heute von Maßregeln sprechen, meinen
wir fast ausschließlich das psychiatrische Krankenhaus und die Entziehungsanstalt, bei
kriminalpolitischen Diskussionen allerdings noch sehr viel mehr die Sicherungsverwahrung.
Die entsprechenden gesetzlichen Regelungen wurden ja in den letzten Jahren mehrfach
verändert bzw. verschärft. Sicherungsverwahrung kann nun auch mit Vorbehalt oder auch erst
nachträglich angeordnet werden, wenn im Vollzug neue Tatsachen erkennbar werden, die
„auf eine erhebliche Gefährlichkeit des Verurteilten für die Allgemeinheit hinweisen“ (§ 66b
StGB). Seit einiger Zeit wird auch über einen Gesetzantrag diskutiert, der es zukünftig
ermöglichen soll, Sicherungsverwahrung auch schon bei Ersttätern anordnen zu können.
Dabei gilt Sicherungsverwahrung eigentlich als ein Mittel der „ultima ratio“, der letzten
Vernunft also, wenn alle anderen Maßnahmen versagt haben. Sollte dieses Gesetz tatsächlich
kommen, dann bin ich auf die Gutachten und Urteilsbegründungen gespannt. Wie will man
bei einem Straftäter bereits bei einem ersten schweren Delikt, dessen Hintergrund auch keine
die Schuldfähigkeit vermindernde psychiatrische Störung ist - sonst könnte man ja den § 63
StGB diskutieren und anordnen - zu einer Stellungnahme kommen, die es rechtfertigt, diese
schwerste und zeitlich unbestimmte Sanktion anzuordnen? Ich kann mir da kaum Fälle oder
Fallkonstellationen vorstellen, aber die gegenwärtige kriminalpolitische Diskussion geht
offenbar immer mehr in diese Richtung der Schließung so genannter Sicherheitslücken.
In den 60er Jahren gab es einmal den Vorschlag, Sicherungsverwahrung dürfe nur dann
angeordnet werden, wenn der Versuch, die Gefährlichkeit eines Täters durch Therapie zu
beeinflussen, endgültig als gescheitert anzusehen ist. Davon ist heute nichts mehr zu hören.
Und auch nichts mehr zu hören ist von einer Idee, die von 1969 bis 1984 sogar schon einmal
im StGB stand, ohne jedoch jemals in Kraft zu treten, nämlich die Anordnung der
Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt als dritte therapeutische Maßregel der
75
Referate
Besserung und Sicherung (§ 65 StGB). Dabei war diese Regelung inhaltlich gar nicht so
schlecht gedacht. Vorgesehen war die Anordnung dieser Maßregel für vier Fallgruppen:
•
Rückfalltäter mit schweren Persönlichkeitsstörungen, damit waren voll schuldfähige
Täter gemeint, die aber eine schwere Störung hatten,
•
Sexualstraftäter mit ungünstiger Prognose,
•
jungerwachsene Hangtäter, gemeint waren Personen bis zu 27 Jahren mit zwei
Vorstrafen und ungünstiger Prognose,
•
Personen mit verminderter Schuldfähigkeit oder Schuldunfähigkeit, dann, wenn die
Sozialtherapie günstiger erscheint als das psychiatrische Krankenhaus.
Bei dieser vierten Gruppe handelt es sich offenbar genau um jene Gruppe, über die der
psychiatrische Maßregelvollzug heute sehr häufig klagt, weil sie mit den Mitteln eines
psychiatrischen Krankenhauses weniger gut erreichbar ist als mit denen einer
sozialtherapeutischen Institution. Weil die Länder damals aber nicht bereit waren, die für die
Umsetzung des Gesetzes erforderlichen sozialtherapeutischen Anstalten zu bauen, zu
finanzieren, wurde der § 65 StGB im Jahre 1984 wieder aus dem Gesetz gestrichen. Als
kleinen Ersatz für diese Streichung hatte man im Strafvollzugsgesetz einen Paragraph
geschaffen, der eine freiwillige Möglichkeit der Verlegung in eine sozialtherapeutische
Einrichtung eröffnet (§ 9 StVollzG). Gefangene können danach auf eigenen Wunsch verlegt
werden, wenn „die besonderen therapeutischen Mittel und sozialen Hilfen“ einer solchen
Anstalt zur Resozialisierung angezeigt sind. Allerdings folgt aus dieser Bestimmung kein
Anspruch auf eine sozialtherapeutische Behandlung. Ein Gefangener kann also nicht
verlangen, dass er verlegt wird und die Länder hatten auch keine Verpflichtung zur Schaffung
von sozialtherapeutischen Behandlungsplätzen.
Eine Wende brachte erst der zu Beginn meines Vortrages erwähnte Fall „Nathalie“. Die
danach entstandene kriminalpolitische Diskussion führte im Jahre 1998 zu einem
Gesetzespaket unter der Bezeichnung „Gesetz zur Bekämpfung von Sexualdelikten und
anderen gefährlichen Straftaten“. Damit wurde ins Strafvollzugsgesetz, und zwar wiederum in
§ 9 (neuer Abs. 1), zusätzlich zur weiterhin bestehenden Freiwilligkeitslösung der
Sozialtherapie – also ein Gefangener kann sich melden und wird bei Eignung und einem
vorhandenen Therapieplatz aufgenommen – eine Verpflichtungsmöglichkeit aufgenommen,
die 2003 in Kraft trat. Seither sind Sexualstraftäter mit Freiheitsstrafen über zwei Jahren
regelmäßig in eine sozialtherapeutische Einrichtung zu verlegen. Dieses Gesetz hat nun die
Länder gezwungen, zusätzliche sozialtherapeutische Plätze im Strafvollzug einzurichten.
Tatsächlich stieg die Zahl der in sozialtherapeutischen Einrichtungen befindlichen
Sexualstraftäter beträchtlich: Von knapp 200 im Jahre 1997, also vor dem neuen Gesetz, auf
weit über 1.000 Insassen in diesem Jahr. Die Zahl der Einrichtungen wuchs von 20 auf jetzt
43.
Über die Ergebnisse der sozialtherapeutischen Behandlung gibt es verschiedene
Evaluationsstudien – schon seit den 80er Jahren. Insgesamt lässt sich ein zwar nicht sehr
großer, aber doch beständiger Haupteffekt von etwa 10 bis 13 % feststellen. Dies bedeutet
etwa, dass sich die Rückfallwahrscheinlichkeit um ca. 10 Prozentpunkte gegenüber nicht
behandelten Tätern reduziert. Das ist zwar nicht überragend hoch, doch die Ergebnisse
werden besser, wenn es sich um eine so genannte „angemessene“ Therapie handelt, bei der
76
Referate
die für die Behandlung von Straftätern wesentlichen Prinzipien nach Andrews (1990) beachtet
werden. Dies sind: „Risiko“ (also: intensivere Behandlung für Täter mit größerem
Rückfallrisiko), „Bedürfnisse“ (Behandlung soll an den Ursachen der Straffälligkeit ansetzen)
und „Ansprechbarkeit“ (Therapie soll die sich an den individuellen Möglichkeiten der Täter
für eine Therapie ausrichten). Eine Steigerung des Erfolgs ergibt sich auch, wenn nach der
Entlassung geeignete Nachsorgemaßnahmen zur Verfügung stehen.
Auch wenn es unpopulär und überholt erscheinen mag, plädiere ich dafür, dass man die
Maßregellösung der Sozialtherapie vielleicht doch einmal wieder ins Blickfeld rückt. Es
müsste ja nicht der alte § 65 StGB sein, aber vielleicht eine Regelung, die weniger formal und
starr ist als die jetzige Vollzugslösung und die auch dem psychiatrischen Maßregelvollzug die
Chance einer Überleitung geeigneter Patienten eröffnet. Dies erscheint mir jedenfalls
angemessener und ertragreicher zu sein als immer nur zu überlegen, ob und wie man den Weg
der Sicherungsverwahrung, also des bloßen Wegsperrens, weiter ausbauen kann.
Mit einer vernünftigen Klassifikation von Behandlungsoptionen, die neben dem
psychiatrischen Krankenhaus und der Entziehungsanstalt auch eine richterlich angeordnete
Unterbringung in einer sozialtherapeutischen Anstalt im Strafvollzug vorsieht und mit einer
entsprechenden Durchlässigkeit zwischen den verschiedenen Behandlungsarten könnten wir
aus meiner Sicht den Problemen dieser schwierigen rückfallgefährdeten Personen und
letztlich auch unserem Bestreben nach mehr Sicherheit vielleicht eher entsprechen als mit
dem einseitigen und starren Blick auf die Frage „Wen können wir denn wann und wie in die
Sicherungsverwahrung schicken?“.
Ich danke Ihnen für Ihre Aufmerksamkeit.
77
Referate
Maßregelvollzug – Rückblick und Vision
Dr. jur. Thomas Wolf 20
Ich danke für die Einladung und hoffe, dass ich ein paar weitere Aspekte, zum Teil verknüpft
mit dem, was schon gesagt wurde, zum Teil vielleicht aber auch etwas Neues, beitragen kann.
Der Rückblick, zu dem ich aufgefordert bin, ist für mich auch ein persönlicher Rückblick. Die
letzten 25 Jahre in der forensischen Psychiatrie waren sicherlich von ganz enormen
Entwicklungen begleitet, und es ist sehr schön, dass das auch die Zeit ist, die ich in der
Strafvollstreckungskammer habe verbringen können.
Ein kurzer historischer Rückblick – Sie wissen alle, dass unsere Maßregeln über das
„Gewohnheitsverbrechergesetz“ von 1933 in unser Gesetzbuch gekommen sind. Sie wissen
auch, dass das zwar der Beginn einer finsteren Zeit war, dass das Gesetz aber nicht von den
Nationalsozialisten stammt. Diese haben noch das Arbeitshaus dazugeführt und ein paar
Vorschriften verschlimmert. Aber die Grundidee beruht auf einer Diskussion, die Ende des
19. Jahrhunderts lebendig geworden war und schließlich dazu geführt hat, dass das sog. duale
System, mit dem wir heute noch arbeiten, eingeführt wurde. Dazu werde ich später noch
einen bemerkenswerten Gesichtspunkt anführen können. Dieses Gesetz wurde durch das
Kontrollratsgesetz außer kraft gesetzt, und es hat dann etwas gedauert, bis wir wieder
Maßregeln hatten: Die Wiedereinführung kam 1953, und dann – wie Sie wissen – bekamen
wir 1969, die Maßregeln in ihrer heutigen Gestalt. Und als Abschluss dieser Regelung seit
1986 die Einschränkung des vikariierenden Systems, also die Abschaffung der vollständigen
Anrechnung von Maßregeln auf Strafe mit vielerlei praktischen Konsequenzen. Danach bleibt
immer, wenn Strafe und Maßregel nebeneinander verhängt werden, ein Drittel der Strafe
übrig und kann ggf. mit ausgesetzt werden.
Ein weiterer ganz wichtiger Gesichtspunkt, der in den 70er, 80er und 90er Jahre nach und
nach gekommen ist, ist die Schaffung der Ländergesetze über den Maßregelvollzug – anders
als im Strafvollzug eben hier von vorneherein Ländersache -, mit dem schwierigen Ergebnis
für alle, dass wir einen uneinheitlichen Rechtszustand haben. Aus meiner Sicht, insbesondere
uneinheitlich, was die Mitwirkung der Justiz im Maßregelvollzug anbelangt – das ist sehr
verschieden in den einzelnen Ländern geregelt. Ich glaube, Hessen ist das einzige
Bundesland, in dem die Strafvollstreckungskammer bereits während der Behandlung
eingebunden ist: Wenn ein Urlaub von mehr als drei Tagen gewährt werden soll, dann muss
die Strafvollstreckungskammer zustimmen. Das führt dazu, dass wir sehr früh mit dem
Maßregelvollzug in die Diskussion, ins Gespräch kommen müssen, wie denn alles
weitergehen soll. Wir werden das künftig ja noch als sehr viel schwieriger erleben. Ich gehe
mal davon aus, dass die Strafvollzugsgesetze wirklich Ländersache werden, also de jure
Ländersache werden, nicht nur tatsächlich, wie das bereits heute schon der Fall ist.
20
Landgericht Marburg
78
Referate
Das mag zunächst genügen als „Input“ für historische Entwicklungen. Wesentliche
Entwicklung inhaltlicher Art habe ich unter das Stichwort gestellt „Alles wurde besser in der
Vergangenheit“
Der Maßregelvollzug ist in den letzten 25 oder 30 Jahren sehr viel professioneller geworden.
Wir haben die Einführung des Facharztes für Psychiatrie, wir haben seit einiger Zeit den
„Forensischen Psychiater“ der DGPPN mit einer gar nicht so einfach zu erlangenden
Zertifizierung (Sie funktioniert nicht immer, es sind auch Leute zertifiziert, bei denen man
dies nicht so ohne weiteres nachvollziehen kann, und andere habe dieses Zertifikat nicht, sind
aber sicherlich gut im Fach mit dabei). Wir haben inzwischen eine vergleichbare
Zertifizierung bei den Psychologen und selbstverständlich sind auch Pfleger, sonstige
Therapeuten und Sozialarbeiter im Laufe der letzten Jahre sehr, sehr viel besser ausgebildet,
als das noch früher der Fall gewesen war, als ich das anfangs noch erlebt habe.
Maßregelvollzug ist sehr viel wissenschaftlicher geworden; es gibt eine exponentielle
Steigerung von Veröffentlichungen zu allen Themen, die damit zusammenhängen. Wenn Sie
Zeit haben, dann schauen Sie mal unter der Internetadresse der Klinik Haina, die Klinik in
Hessen, mit der wir zusammenarbeiten. Sie ist derzeit noch die einzige Klinik in Hessen für
den § 63 StGB-Vollzug. Da kann mal sehr schön sehen, wie im Laufe der Zeit die
Veröffentlichung von einer oder zwei auf inzwischen 20 oder 30 Veröffentlichungen im Jahr
zunahmen. Noch spannender fand ich, auf die Web-Site zum HCR-20 (ist Ihnen sicherlich
allen ein Begriff) und hier auf die ständig neu aufgelegten Bibliographie schauen. Es wird Sie
schier erschlagen vor neuen Untersuchungen aus der ganzen Welt.
Der Maßregelvollzug ist praxisorientierter geworden, natürlich aus unserer Sicht als Richter.
Er ist eingebettet in inzwischen sehr deutliche rechtliche und verfassungsrechtliche Vorgaben.
Vorreiter war das Bundesverfassungsgericht mit der berühmten Entscheidung zum
Spannungsfeld zwischen dem Sicherungsbedürfnis der Öffentlichkeit und dem
Freiheitsgrundrecht des Einzelnen im 72. Band. Es ist inzwischen klar, dass das Ziel nicht
mehr die Heilung Ihrer Patienten ist (so wünschenswert das im Einzelfall sicher sein mag),
sondern dass wir in einem forensischen, einem strafgerichtlichen Zusammenhang stehen und
dass es deshalb nur und ausschließlich darum gehen kann, künftige Straftaten zu vermeiden.
Diese Erkenntnis hat lange gebraucht, bis sie sich durchgesetzt hat. Inzwischen denke ich
aber, ist sie klar und unumstritten. Ich erinnere mich noch an Diskussionen vor 20 Jahren
zwischen den Vertretern dieser beiden Schulen, die gesagt haben, nein, wir müssen
umfassend heilen. Und wenn dann jemand eben zwei oder drei Jahre oder fünf Jahre länger
im Maßregelvollzug bleibt, ist es nicht schlimm, Hauptsache, er ist am Ende ganz gesund.
Und andere gesagt haben, nein, darauf kommt es nicht an, wir müssen ihn sozusagen
funktionsfähig machen, dass er keine Straftaten begeht. Ein wichtiger, um das Wort wieder
aufzugreifen, Paradigmenwechsel.
Der Maßregelvollzug ist sehr viel transparenter geworden. Auch das beruht sicherlich zum
großen Teil mit auf Forderungen, welche die Gerichte an Sie gestellt haben, an den
Maßregelvollzug. Zwar sind regelmäßig nur die Oberlandesgerichte zuständig, der
Bundesgerichtshof als eigentlich oberstes Strafgericht hat da nichts zu sagen, nutzt aber
trotzdem die wenigen Gelegenheiten, die er eigentlich gar nicht, um sich doch zu äußern. Die
Forderung geht dahin, dass der Vollzug und die Behandlung für jedermann, auch für die
Öffentlichkeit, jederzeit nachvollziehbar sein muss.
79
Referate
Der Maßregelvollzug ist, wie Sie selbst wissen, weniger invasiv geworden. Vielleicht einfach
nur zwei Beispiele aus meiner subjektiven Sicht: Ich erinnere mich noch ganz genau und mit
Schrecken an die Zeiten, als die Patienten, ich sag mal flapsig, mit Haldol vollgeknallt waren
und mit all diesen schrecklichen Nebenwirkungen vor einem saßen in den jährlichen
Anhörungen, und wie sehr sich das geändert hat, als vor wenigen Jahren die atypischen
Neuroleptika aufkamen und wir plötzlich denselben Patienten wiedertrafen – völlig klar im
Kopf, praktisch ohne Nebenwirkung, und der dann zu meinem Entsetzen auch noch genau
berichten konnte, wie schlecht es ihm unter Haldol gegangen ist. Da hat sich sicherlich sehr
viel geändert. Ein weiterer Punkt, der heute, glaube ich, kaum noch ein Problem ist: Vor 20
Jahren hatten wir Krankensäle mit 10 oder 15 Betten, also 2 m² Bett und ein bisschen
Nachttisch, und das war's, und wo die Menschenwürde geblieben war, das wusste man damals
sicherlich wirklich nicht mehr. Das ist heute sehr viel anders und besser geworden.
Die Behandlung ist effizienter geworden. Das betrifft die Verweildauer. Verweildauer ist der
euphemistische Begriff für Freiheitsentziehung, oder auch Gefangenschaft. Das hat sich sehr
geändert. Ich habe als Beispiel wieder die Klinik in Haina in der Zeit von 1984 bis 2003
gewählt, in der die Zahl der Patienten um 67 % gestiegen ist. Wichtiger vielleicht noch, dass
die Untergebrachten, die Schwerstdelikte (Mord, Totschlag, Brandstiftung, Vergewaltigung
und sonstige Gewaltdelikte) hatten, um mehr als die Hälfte gestiegen ist, dass sich aber die
Verweildauer von den Zeiten, als ich begonnen hatte, bis heute um weit mehr als die Hälfte
verkürzt hat. Anfangs waren das über zehn Jahre, inzwischen sind wir bei etwa vier Jahren
angelangt.
Gleichzeitig ist das Ganze sicherer geworden für die Bevölkerung, und zwar auf allen Stufen,
was die Rückholung anbelangt, bis hin zu dem als zunehmend genutztes Mittel
Sicherungshaftbefehl als Krisenintervention statt Widerruf, mit guten Erfolgen. Wir haben
weniger Missbrauch von Lockerungen und wir haben eine geringere Rückfallquote insgesamt;
eine viel bessere. Ein Beispiel (auch wieder Haina): Entweichungen, Ausbrüche, Straftaten,
die Aufstellung hier ist nicht immer ganz vollständig, aber man sieht schon von Beginn der
90er Jahre an einen deutlichen Rückgang, und wenn man sich die zweite Hälfte anschaut,
dann sind wir bei Ausbrüchen und bei neuen Straftaten und Entweichungen stark rückläufig.
(hier würde sich jeder Leiter einer Strafvollzugsanstalt sehr darüber freuen, wenn dies bei ihm
so wäre). Wir haben in Haina eine Rückholquote von zur Bewährung Entlassenen 63-er von
etwa 17 %, aber von denen hat praktisch kein Patient eine Straftat begangen, wenn wir ihn
zurückholen, sondern wir erwischen ihn sozusagen rechtzeitig durch eine Ambulanz.
Maßregelvollzug ist sehr viel gesprächsfähiger geworden. Das war ja früher so ein
Geheimfeld mit der Psychiatrie, auch ein von der Öffentlichkeit nicht so sehr beachtetes. Die
Anzahl der Veröffentlichungen, Forschungsvorhaben und Tagungen (wie hier)hat sich enorm
vergrößert. Auch der Austausch mit dem Strafvollzug ist sehr intensiv geworden, die
Zusammenarbeit mit Gesundheits- und Justizministerium ist besser geworden. Es ist ja in den
meisten Ländern nicht so wie hier im Saarland, dass diese beiden unter einem Dach sitzen,
sondern sie haben verschiedene Ministerien. Und wenn sie verschiedene Ministerien haben,
entsteht schnell jede Menge Streit miteinander. Das ist sehr viel besser geworden, bis hin zur
Öffentlichkeitsarbeit.
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Referate
Der Maßregelvollzug hat sich internationalisiert. Sicherlich als wichtigstes aus meiner Sicht
die Vereinheitlichung der Diagnosemöglichkeiten als Gesprächsgrundlage, so wie das Herr
Prof. Hoff vorher gesagt hat. Eine ganz wichtige Sache, dass man einen einheitlichen Begriff
hat. Prof. Hoff hat ja schon schön aufgezeigt, dass wir Übersetzungsprobleme zwischen
Maßregelvollzug und Justiz haben. Das ist schon schlimm genug und schwierig genug, wenn
Ärzte und Juristen miteinander reden müssen. Seit wir aber wenigstens eine einheitliche
Terminologie haben, hat uns das sehr weitergeholfen.
Ein Beispiel für die Internationalisierung, die ich kenne, weil ich bei der Gründung mit dabei
war, ist die International Association For Forensic Mental Health Services, 2001 in
Vancouver gegründet. Letztes Jahr in Stockholm hatten wir 450 Teilnehmer und über 200
Vorträge. Und nicht zu vergessen, die Segnung des Internets. Man nimmt das schon so ganz
selbstverständlich, aber da hat sich sicherlich ebenfalls sehr viel getan.
Insgesamt möchte ich zu diesem kurzen Rückblick sagen, dass der Maßregelvollzug sich vom
Schlusslicht des Elends der Psychiatrie, die älteren - darf ich schon fast sagen -, werden sich
erinnern an die Psychiatrie-Enquête, zum Vorreiter jeglicher kriminaltherapeutischen
Intervention gewandelt hat und ist allenthalben wirklich Vorbild für den Strafvollzug. Vieles
aus dem Maßregelvollzug ist inzwischen dorthin übernommen worden.
Alles ist besser geworden und die Hoffnung ist, dass alles gut wird. Bei diesen Visionen, um
die es bei diesem zweiten Teil geht, will ich die eine oder andere ausdrücklich formulieren.
Manches können Sie aus dem entnehmen, was ich sage, manches sind schöne Visionen, und
manche sind nicht so schöne. Die aktuelle Bestandsaufnahme weist nämlich nach wie vor
fortbestehende und neue Mängel im System und konkreten Vollzug.
Wenn wir das spiegelbildlich zu dem vorherigen nehmen, zunächst Professionalisierung:
Wir brauchen eine Qualifizierung des Personals in allen forensischen Kliniken. Ich habe das
Glück, dass ich mit der Klinik in Haina zusammenarbeiten darf, und da ist die
Professionalisierung sicherlich sehr hoch. Ich weiß aber, dass es in vielen anderen Kliniken in
Deutschland noch großen Nachholbedarf auf allen Ebenen gibt, bis herunter zur Pflegeebene .
Wir müssen den internationalen Austausch verbessern, das ist keine Frage. Immer, wenn
man draußen ist und mitkriegt, was die anderen machen, kommt man sehr viel reicher nach
Hause. Weder haben wir Gäste aus dem Ausland hier, noch gehen viele von uns ins Ausland;
fragen Sie sich, wer von Ihnen schon einmal wenigstens in Holland auf einer Tagung war
oder wenigstens in der Schweiz oder in Österreich gewesen ist, das ist alles sehr selten und
auch sehr im Argen. Aber die Probleme sind natürlich dieselben, die Menschen sind ja auch
überall dieselben.
Wir brauchen eine Qualifizierung der Gutachter; dazu werde ich Ihnen nachher noch mehr
im Einzelnen sagen.
Gutachten zu Diagnose und Prognose: Sie wissen, dass es in der Vergangenheit eine Reihe
von sehr schwerwiegenden Fehlleistungen gegeben hat, die zu öffentlichen Reaktionen und
auch zu fachlichen Reaktionen geführt haben. Es hat sich eine interdisziplinäre Arbeitsgruppe,
bestehend aus forensischen Psychiatern, Psychologen, einer Reihe von Bundesrichtern und
einer Reihe von Richtern, die in der ersten oder zweiten Instanz mit
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Referate
Strafvollstreckungssachen befasst sind, gebildet. Vorläufer war die Entscheidung des
Bundesgerichtshofs zur Aussagepsychologie, die Sie sicher kennen, bei der Prof. Steller
mitgewirkt hat und die eine enorme Wirkung in der Praxis hat. Wir haben praktisch keine
methodischen Probleme mehr bei Glaubwürdigkeitsgutachten, um mal ein Nebenfeld
anzusprechen. Das hat wirklich gewirkt. Es gibt seit letztem Jahr Mindestanforderungen zur
Schuldfähigkeit, die Sie hoffentlich alle, soweit Sie gutachterlich tätig sind, schon ganz und
gar internalisiert haben und mit denen Sie arbeiten. Und es ist derzeit, sozusagen „in
progress“, dieselbe Geschichte zur Prognose im Werden, die im September/Oktober in der
Neuen Zeitung für Strafrecht (NStZ) veröffentlicht werden wird.
Zur Diagnose „Wer kommt in den Maßregelvollzug?“ als wichtiger Teil des Gutachtens. Hier
möchte ich gerne eine Spannung ansprechen, die wir weiterhin haben und die wir noch nicht
gelöst haben. Wir haben ein Problem mit der Rechtssprechung. Nach der Rechtssprechung
des Bundesgerichtshofs ist es ja so, wenn jemand zum Beispiel Merkmale, wie ICD-10: F60
(Persönlichkeitsstörung) erfüllt, das noch lange nicht heißt, dass er eine schwere andere
seelische Abartigkeit hat, und dass, wenn er sie hätte, dies noch lange nicht bedeutet, dass er
dadurch auch in seiner Schuldfähigkeit erheblich beeinträchtigt wäre, sondern das hat nur
Indizcharakter. Umgekehrt sagt die Rechtssprechung auch, wenn jemand keines der Kriterien
von ICD-10 oder DSM erfüllt, kann er trotzdem den § 21 bekommen und er kann trotzdem
auch – manchmal zum Leidwesen der Kliniken – in den § 63 hineingelangen, weil es sich
dabei um normative Entscheidungen handelt. Das ist ja schon mehrfach angesprochen
werden: Die Entscheidung, ob jemand so sehr in seinem sozialen Funktionsniveau gestört ist,
dass er einem „normalen Geistesgestörten“ gleichgestellt ist, ist eine normative Entscheidung,
zu der das Sachverständige nur Hilfestellung geben kann. Das Ganze führt natürlich dazu,
dass es sich zu einem offenen Tor für Fehleinweisungen entwickelt. Eine sehr schwierige
Geschichte, mit der man immer wieder zu tun hat, und die in den Vollzug der Klinik große
Probleme bereit. Ich komme da noch gleich darauf zu sprechen.
Wer kommt aus dem Maßregelvollzug? Für die Prognose zur Entlassung haben wir
inzwischen eine Vielzahl von Verfahren. Das Stichwort war aber: Fehleinweisung: Also, wer
kommt überhaupt in welchen Maßregelvollzug? Wer kommt in die Sicherungsverwahrung,
die ja auch Maßregelvollzug ist, und wer kommt in den § 63? Und wer kommt, wenn sich
eine Fehleinweisung herausstellt, aus dem § 63 heraus – über die neue Möglichkeit (67d Abs.
6 StGB) und dann in die nachträgliche Sicherungsverwahrung, eines der „heißesten
rechtspolitischen Eisen“, die wir haben. Dabei stellt sich vor allem die Frage zur
nachträglichen Sicherungsverwahrung, was sind die so genannten „Nova“, die neuen
Umstände, die dazu führen, dass man in die Sicherungsverwahrung kommen kann. Und das
ist etwas, was auch für Sie wichtig ist, sowohl im 63er als auch im 64er Vollzug, weil diese
neuen Umstände ja auch aus dem Vollzug herauskommen können. Ich habe folgendes
Beispiel herausgesucht: „Störungen des Sozialverhaltens, dissoziale Persönlichkeitsstörung“
im Fall Caroline. Caroline ist das 16-jährige Mädchen, das von einem 29-jährigen Mann
umgebracht worden ist, der aus der siebeneinhalbjährigen Strafhaft wegen Vergewaltigung
entlassen worden war und eine Woche später das Mädchen umgebracht hat. Man hat mich
gerade als Sachverständigen in dem Untersuchungsausschuss des Landtags MecklenburgVorpommern gehört, und wir haben gesehen, der Täter wurde diagnostiziert als 21-jähriger
Täter, der „schwere Störungen des Sozialverhaltens“ aufwies (wie Sie wissen, ist das die
klassische Vorläuferdiagnose zur „Dissozialen Persönlichkeitsstörung“). Diese Störung wurde
ihm denn auch unmittelbar vor der Entlassung attestiert, er wurde als Psychopath bezeichnet
82
Referate
mit einem sehr hohen „score“, und die Frage war natürlich: Ist das ein Novum? Kann man
deshalb gegen jemand eine nachträgliche Sicherungsverwahrung verhängen?
Die derzeitige Rechtssprechung des Bundesgerichtshofs ist: Nein, die bloße Verfestigung
einer bei der Urteilsverkündung schon vorhandenen Persönlichkeitsstörung führt nicht dazu,
dass dies im Rechtssinne als etwas Neues angesehen werden kann. Eine Vorsitzende
Richterin am Bundesgerichtshof, die auch in jenem Ausschuss als Sachverständige
aufgetreten ist, hat - allerdings als persönliche Meinung - gesagt, so eine Entwicklung, die
sogar einen Diagnosewechsel mit sich bringt, kann auch ein solches Novum sein, so dass so
jemand dann am Ende auch in die nachträgliche Sicherungsverwahrung kommen kann. Also
wenn sich die Persönlichkeit so, wie man es erwartet, weiterentwickelt, dann kann das so sein.
Ein ganz spannendes Feld. Besonders schwierig ist die Situation, wenn Sie als
Sachverständiger jemanden in den 64er hineinbegutachten und sagen, der hat ein
Drogenproblem, das kriegen wir hin und deshalb soll das Gericht den 64 anordnen. Dann
macht das Gericht das, aber wenn dann der 64-er schief geht, ist das mit Sicherheit eine
Tatsache, die möglicherweise einen solchen Täter hinterher in die Sicherungsverwahrung
bringen kann, so dass man als Gutachter und als Richter eine besondere Verantwortung in
diesem Punkt hat. Ein ganz neuer Denkkreis, den wir alle noch nicht richtig erfasst haben.
Weiter zur Frage, wer aus dem Maßregelvollzug kommt.
Wir haben inzwischen eine Vielzahl von Verfahren zur Risikoeinschätzung. Fast alle dieser
Prognoseverfahren sind nur für bestimmte, begrenzte Fragestellungen validiert und zulässig.
Die Praxis zeigt, dass diese genauen Beschränkungen nicht wahrgenommen werden, sondern
irgend einer dieser Tests genommen wird und dann wird irgend etwas gemacht. Noch
schlimmer ist es bei Sexualdelikten: Wenn Sie jemanden mit einem Verfahren
prognostizieren, das für sexuelle Gewalttaten bestimmt ist, bei dem es sich aber um einen
gewaltlosen Pädophilen handelt, Sie also z.B. zum Beispiel den SVR anwenden, dann sind
Sie einfach falsch, und dann kann das Ergebnis auch nichts nutzen oder eine Checkliste, die
abzuarbeiten ist, kann nichts nutzen, hinterlässt offene Posten. Darauf müssen wir sicherlich
immer sehr genau achten. Die Frage ist sogar, was sind sie denn überhaupt wert, diese ganzen
Verfahren. Und hier möchte ich gerne einfach mal zeigen, was Herr David Freedmann im
Jahr 2001 gesagt hat, der sich da viel umgetan hat: Wenn man mal vom HCR-20, also einem
hochvalidierten Instrument und dort davon ausgeht, dass es sehr viele Falsch-Positive gibt,
also Leute, die als gefährlich bezeichnet werden, es aber gar nicht sind, dann soll man diesen
Test in forensisch-klinischer Umgebung nicht verwenden, wenn Entscheidungen über das
Leben oder über die Freiheit anstehen. Und noch deutlicher “The PCL-R may be, as its
proponents argue, the strongest in a field of weaklings, but it is by no means reliable and valid
in the prediction of future dangerousness.” Danach ist der HSR-20 also lediglich der Stärkste
in einem Feld von Schwächlingen, ; also man kann eigentlich mit dem Ding nichts anfangen?
Und das für einen der Tests oder Prognoseverfahren, die anerkanntermaßen hochvalidiert
sind.
Schwierige Frage, aber wir müssen uns damit auseinandersetzen. Einer der Lösungen ist, das
ist ja schon gestern angesprochen worden von Herrn Dittmann , dass man diese ganzen
Verfahren nicht benutzt, um Punkte zu vergeben und darauf eine Entscheidung zu stützen,
sondern dass man sie benutzt, um nichts zu vergessen, um eine Checkliste zu haben, an der
man sich abarbeitet und die alle wesentlichen Punkte enthält. Wenn Sie so wollen, ist dies
eine der Visionen, dass das aufhört, Punkte zu zählen und zu sagen, der hat 30 Punkte auf
83
Referate
dem PCL, keine Chance, oder umgekehrt, der hat nur 8 Punkte, der kann raus, aber vielleicht
sind ja die entscheidende Dinge falsch gesehen.
Wir haben noch eine Reihe von Dingen, die wir weiter dort zu klären haben, die immer
durcheinander gehen, einfache Begriffe, was ist Risiko, was betrachten wir an Art des
Rückfalls. Betrachten wir die Wahrscheinlichkeit des Eintritts der neuen Tat, die Häufigkeit,
welches Risiko wollen wir betrachten, das Ausmaß des Schadens, das einer anstellt, die
Geschwindigkeit, also der Zeitraum, bis die neue Tat möglicherweise auftritt, oder die Dauer
der Gefährlichkeit oder die Abhängigkeit vom Lebenszusammenhang. Wenn Sie sich die
Begriffe ansehen, dann wird, glaube ich, klar, wie noch nicht genau genug wir mit dem
Begriff umgehen. Genauso mit dem Begriff, was ist gefährlich, was ist ein gefährlicher
Straftäter, was ist gefährliche Tat. Ich darf mal auf mich und auf die „Kriminologische
Zentralstelle Wiesbaden e.V.“ verweisen. Von dort gibt es eine Veröffentlichung , in der ich
das mal ausführlich habe darstellen können. Hier nur so viel: Wir haben ein Gesetz über
gefährliche Sexualstraftäter und andere gefährliche Straftäter. Der Gesetzgeber hat nicht
definiert, was „gefährlich ist. Der Begriff ist ein Phantom ohne wirkliche Bedeutung in der
Praxis. Die normativen Maßstäbe im Umgang mit gefährlichen Tätern liegen dogmatisch im
Dunkeln und sind apokryph, und Sie können sie einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht
zugänglich machen. Sie sind im Kopf der entscheidenden Personen, also insbesondere der
Richter, aber auch natürlich von Ihnen, wenn Sie jemanden als gefährlich bezeichnen.
Schriftliche Begründungen geben da nicht viel her.
Zu dem „Gefährlichen“ sollte man schon noch das folgende sagen, auch wenn es einen
kleinen Moment wegführt; Sie können es auch als positive Vision begreifen, dass sich so
etwas irgendwann ändert: Gefährlich ist, wer von den Massenmedien so bezeichnet wird.
Regierung, Parlament und auch Gerichte reagieren weniger auf sachliche Notwendigkeiten,
sondern eher auf von zentralen Massenmedien willkürlich, sachfremd und eigennützig
hervorgerufenes Sicherheitsbedürfnis. Das haben Sie ja auch zum Teil objektiviert an den
Statistiken von Herrn Egg gesehen, die zeigen, dass das alles mit dem vielen schrecklichen
Taten so gar nicht stimmt.
Machen wir weiter mit positiverem Dingen: Behandlungsansätze. Undogmatisch müssen Sie
behandeln, Streitereien zwischen Psychologen, Psychiatern, zwischen Psychoanalytikern,
möglicherweise noch Sozialwissenschaftlern, sollten der Vergangenheit angehören. Da kann
man nicht sagen, ich habe die Profession und deshalb weiß ich es besser. So kommen wir
nicht weiter. Wir müssen multimodal herangehen mit vielen Möglichkeiten, alles was wir
haben. Wir müssen uns immer fragen, was braucht der Täter konkret, wo hat er Defizite, wo
müssen wir ansetzen und wie kommen wir weiter. Wie gesagt, es muss interdisziplinär und
nicht dogmatisch vorgehen.
Ein ganz anderes Feld „Pharmakologie“ ist schon angesprochen worden. Ich habe selbst ja
diese Entwicklung miterlebt, wie aus der Schizophrenie (ich sage mal, ein bisschen verfacht
aus meiner Sicht), wie diese Krankheit entzaubert wurde, von irgendeiner kryptischen
geistigen Entität und zu einer Stoffwechselerkrankung heruntergestuft wurde Wenn die
Medikamente genommen werden und im Übrigen Compliance besteht und keine dissozialen
Störungen und andere Co-Morbidität, dann geht das wunderbar, dann geht das so, verzeihen
Sie mir das Schlagwort, wie wenn jemand Zucker hat, der nimmt sein Insulin, und das
Problem ist erledigt. Und wenn jemand sein Risperdal oder Zyprexa nimmt und sonst keine
84
Referate
Probleme hat, dann geht es ganz vergleichbar. Die spannende Frage ist die, ob wir hier
weitere Fortschritte bekommen werden. Im Bereich der Sucht gibt es Forschungen, die mir
bekannt sind, von Prof. Nussbaum aus der USA, der sagte, er bekomme das ganz ähnlich mit
pharmakologischen Mitteln hin. Zur Zeit ist er darüber am forschen, ob darüber auch die
Psychopathie auf medikamentöse Weise zu behandeln ist. Andere sagen, dass sie die
Pädophilie in fünf bis acht Jahren als Krankheit so pharmakologisch im Griff haben, dass man
sie durch Medikamentengabe beherrschen kann. Ganz spannend, wenn Sie die Psychopathen
nehmen, von denen viele Kliniken sagen, das seien keine forensischen Patienten, die gehören
nicht zu uns. Wenn es aber dazu kommt, dass jemand die Medizin dafür findet, sage ich mal
vereinfacht, dann ist ein Psychopath plötzlich wieder ein Kranker, denn Medizin darf ja nur
ein Arzt verabreichen. Der Krankheitsbegriff ist ja vorher bereits problematisiert worden.
Wie gehen wir mit den um, die wir derzeit als Nichtbehandelbare bezeichnen. Da haben wir
die Gruppe der Psychopathen, eben schon benannt. Und wir haben den schönen Begriff der
„Long-Stay Unit“, wo sie hinkommen sollen, wenn sie denn nun mal im Maßregelvollzug
gelandet sind, auch in der Sicherungsverwahrung. Was machen wir mit denen: wegpacken in
halbwegs menschenwürdige Unterbringungsformen? Die Holländer haben uns vorgemacht,
wie so etwas aussehen könnte. Das ist ganz spannend; auch die Probleme, die es da dann neu
auftreten. Große Frage ist natürlich, wie ist jemand von dort wieder zurückzuholen, wenn er
erst einmal abgeschoben ist als Unbehandelbarer auf so eine Station, wie kriege ich ihn
wieder zurück, kümmere ich mich überhaupt noch darum, ob es vielleicht doch noch eine
Therapieform gibt, wird an der Entwicklung gearbeitet oder ist er ein für alle Mal weg. Solche
Stationen bewirken mit Sicherheit eine Sogwirkung, dass man sagt, den packen wir weg, der
ist uns zu mühevoll. Große Fragen!!
Eine auf einer anderen Ebene liegende Frage: Sollen wir die Unterbringung nach § 64 StGB
beibehalten oder sollen wir das System nach § 35 BtMG ausrichten und auf die Freiwilligkeit
zur Therapie abstellen. Ich bin der Meinung, man sollte das tun, weil die Zwangstherapie auf
dieser Ebene nicht viel Wirkung gezeigt hat.
Einen Schritt tiefer in der Argumentation und den Gedanken: Haben wir Grenzen in unserem
derzeitigen dualen System? Dieses duale System beruht – wie ich anfangs gesagt habe – auf
einem Widerspruch oder ein Spannung zwischen dem Schuldgrundsatz, den das
Bundesverfassungsgericht für alle Straftaten ganz hoch verankert hat, nämlich in Artikel 1
GG, in der „Menschenwürde“. Dagegen steht ein reines Maßnahmerecht – auch das ist vorher
ja schon angeklungen in Vorträgen, wenn Sie so wollen, steht Ideologie gegen Nützlichkeit,
und wenn Sie es historisch festmachen, dann haben Sie die Ideologie bei dem heute schon
erwähnten Emanuel Kant verankert, der wirklich über eineinhalb Jahrhunderte durchwirkt und
diese Dinge in unseren Köpfen und in unseren Gesetzen festgezurrt hat, und dem steht der
Gedanke Nützlichkeit entgegen. Insbesondere bei der Durchlässigkeit der einzelnen
Maßregeln wird dies relevant, weil, wenn jemand keine Schuld hat, dann kann er nicht etwas
kommen, was dem Strafvollzug gleich ist, und wenn jemand eine Strafe hat und keinen 63er
oder 64er, dann kann er schwer in psychiatrische Behandlung kommen. Da haben wir große
Probleme, die wir gerne gelöst hätten.
Ob die Schweiz ein Vorbild ist, können Sie sich jetzt selbst ein Bild machen, an Hand dessen,
was Herr Dittmann am Vortag gesagt hat. Kanada hat ein vergleichbares System, da kann
man unter - engen Voraussetzungen - als „dangerous offender“ (gefährlicher Verbrecher)
85
Referate
bezeichnet werden mit einer Mindeststrafe von neun Jahren belegt werden, und auch dort
dann wird erst danach geschaut, in welche Anstalt jemand kommt und wo man am besten mit
ihm arbeiten kann.
Nachsorgeambulanz - eine wichtige Frage. Die Forensische Fachambulanz Hessen ist mein
täglicher Umgang, eine außerordentlich erfolgreiche Veranstaltung. Und wenn Sie sich
informieren wollen, müssen Sie unbedingt das Buch von Roland Freese lesen, der auch ein
schönes Schlagwort mit reinbringt. Es heißt „Ambulante Versorgung psychisch kranker
Straftäter“, also die ambulante Behandlung mit begleitenden strafähnlichen Maßnahmen, die
uns davor bewahren sollen, die Leute gleich wieder mit Sicherungshaftbefehl oder Widerruf
in den geschlossenen Vollzug zu führen, sondern mit niederschwelligeren Strafmaßnahmen
oder strafähnlichen Sanktionen, wie es in den USA mit dem sog. „assertiv community
treatment“ zum Teil sehr gut funktioniert. Man muss halt schauen, wie man das hierher
bekommt, aber man muss sich ziemlich bewegen – auch dogmatisch bewegen.
In diesem Zusammenhang mit der Nachsorgeambulanz möchte ich ganz kurz den
Gesetzentwurf, der im Moment aktuell ist (vom 05.04.2006), mit Reformen der
Führungsaufsicht ansprechen. Da werden uns eine ganze Menge neue Sachen helfen.
Kontaktverbote werden wir haben, die Ambulanzweisung wird eingeführt werden, zum Teil
auch strafbewährt. Die Strafbarkeit von Weisungsverstößen wird erhöht von einem auf drei
Jahre, der Vorführungsbefehl wird kommen zur Wiederherstellung des Kontakts, die
stationäre Krisenintervention statt eines Sicherungshaftbefehls wird kommen und die
Erweiterung der unbefristeten Führungsaufsicht auf solche Patienten, die sagen, wenn die fünf
Jahre Führungsaufsicht vorbei sind, nehme ich keine Medikamente mehr, und wir wissen
genau, dass sie dann gefährlich werden. Das ist ganz wichtig für das Aussetzungswagnis, das
wir eingehen können, und für das, was Sie als Gutachter oder Behandler vorbereiten bzw.
vorschlagen können. Ein paar offene Fragen dazu bleiben natürlich: Wir haben immer wieder
das Problem des Konflikts, dass Weisungen gesetzlich bestimmt sein müssen, damit sie auch
„widerrufsfest“ sind. Die Ambulanz möchte gerne Autonomie in ihrer ärztlichen Behandlung
haben, und es ist gar so nicht einfach, das juristisch auszupendeln. Ungeklärt nach wie vor
und in Zukunft, wenn die Ambulanzweisung dann als gesetzliche Weisung vorhanden sein
wird, ist das Verhältnis zwischen Gericht, Führungsaufsichtsstelle, Bewährungshilfe und
Ambulanz. Das wird ja nicht einfacher, wenn noch jemand dabei ist, aber wir wissen es halt
einfach noch nicht. Wir haben in diesem Zusammenhang noch ein ganz anderes Problem:
Informationelle Selbstbestimmung. Das Grundrecht wurde vom Bundesverfassungsgericht
sehr hoch gehängt. Wir müssen es beachten, haben aber ein Problem, wenn die Behandler
oder Überwacher miteinander kommunizieren sollen und müssen.
Was wir weiter wollen, müssen haben wollen, uns als Vision vorstellen, ist die
Qualifizierung aller Beteiligten. Und ich darf mal bei meinem Stand anfangen.
Auf einer Tagung in Wustrau, an der junge Richter teilgenommen haben, habe ich aufgeführt,
was soll ein Richter an Sachverstand erwerben soll: Er soll sich ständig fortbilden, er soll
Kenntnisse anderer abrufen, er soll eine offene Kommunikation pflegen, interdisziplinär
denken und handeln, er soll Teamarbeit leisten, er soll flexibel sein und schnell reagieren, er
soll kreativ sein, Arbeitsmittel und –wege außerhalb der positiv-rechtlichen Wege(natürlich
nichts Ungesetzliches), er soll englisch können und er soll seine nichtrichterlichen
Fähigkeiten ausbauen. Das ruft immer großes Erstaunen hervor: „Das haben wir alles nicht
gelernt und nicht studiert“. Aber ich glaube, in der Strafvollstreckung ist es unbedingt
86
Referate
notwendig. Natürlich müssen auch Staatsanwälte in dieser Weise ausgebildet sein, es ist ganz
schlecht, wenn ein Staatsanwalt nur einmal im Jahr einen schwierigen Vollstreckungsfall
sieht. Gut ausgebildete Verteidiger, das wäre ebenfalls wünschenswert. Die anderen in den
Diensten sollen sich natürlich auch weiter qualifizieren. Ich darf hier noch einmal auf die
Qualifikation aller beteiligten in Helferkonferenzen und Runden Tischen zurückkommen. Das
Stattfinden der Helferkonferenzen, auch für unseren forensischen Bereich, ist in dem
Gesetzesentwurf der Bundesregierung zur Führungsaufsicht ausdrücklich so gefordert.
Ein ganz anderes Thema: Es geht was schief, das ist unvermeidbar. Es gibt keine Chance,
Fehlschläge wirklich zu 100 % zu vermeiden. Jeder, der das fordert, ist nicht von dieser Welt.
Das wissen wir alle, dass es schief geht. Wir müssen aber für kritische Situationen ins Detail
gehen und zunächst möglichst abgesprochene Notfallpläne parat haben. Das beginnt innerhalb
der Klinik, sollte sich aber fortsetzen über Notfallkontakte zu Bewährungshelfern und auch
zum Gericht. Wir haben das in Hessen, in Marburg und Haina, so einrichten können, dass wir
zum Beispiel auf die Meldung der Ambulanz („Ein Patient bereitet uns Schwierigkeiten. Der
hat getobt im Heim. Das Heim will ihn rauswerfen!“) zwischen 30 und 60 Minuten den
Sicherungshaftbefehl in der Klinik haben und auch die Festnahme veranlassen können. Per EMail und allen anderen Möglichkeiten geht das sehr schnell; dann kann man auch vorher
größere Risiken eingehen, wenn man sie in kritischen Situationen so schnell wieder
eingrenzen kann. Das ist eine ganz wichtige Sache. Dazu gehört ferner immer eine positive
und nach vorne gehende Öffentlichkeitsarbeit. Wenn Sie mal irgendwo eine neue Klinik
bauen wollen, dann werden Sie merken, wie schwierig es ist, die Öffentlichkeit zu gewinnen,
weniger die Politiker als die Öffentlichkeit, die örtliche zu gewinnen, das zu unterstützen. Das
ist Extremfall Öffentlichkeitsarbeit, aber ich denke, man muss sie es beständig und dauernd
pflegen.
Ein besonderes Problem, das ich kurz noch ansprechen will und muss, ist die Haftung der
Therapeuten. Es gibt ein Urteil vom BGH, das werden Sie im Zweifel kennen. Ich lese Ihnen
vor: „Die Anordnung der Unterbringung verpflichtet die Vollzugsanstalt, die Öffentlichkeit
vor Straftaten zu schützen. Wenn die Möglichkeit besteht, dass der Verurteilte
Vollzugslockerungen aufgrund seiner Neigung zu Straftaten missbraucht, widerspricht eine
unbeaufsichtigten Lockerung dem Gesetz und ist subjektiv pflichtwidrig. Eine falsche
Prognose ist pflichtwidrig, wenn sie auf unvollständigen Tatsachen oder auf unrichtiger
Bewertung der festgestellten Tatsachen beruht. Die Einhaltung der psychiatrischen Kunst
muss vom Gericht überprüft werden“. Die Lösung des BGH aus dieser strengen Haftung: „Ist
eine Lockerung therapeutisch begründet, entspricht sie den Regeln der psychiatrischen Kunst
und ist ein prognostischer Beurteilungsspielraum eröffnet. Er kann zu mehreren
gleichermaßen als rechtlich vertretbar zu wertenden Entscheidungen führen“. Schön, dass es
das gibt, dass wir das dürfen. Aber die Frage ist natürlich, wann bewege ich mich auf
therapeutisch begründeten Gebiet und wann entsprechen die Regeln dem derzeitigen Stand
der Wissenschaft. In dem konkreten Fall des BGH, das werden Sie wissen, hat der Patient
Lockerungen bekommen und während der Lockerungen sehr schwere Straftaten begangen.
Diejenigen, welche die Lockerungen bewilligt haben, sind am Ende wegen fahrlässiger
Tötung bestraft worden. Das ist sicherlich ein schwieriges Problem. Eigentlich müssen auch
die Richter in die Haftung genommen werden, denn wenn ich ein schlechtes Gutachten oder
eine falsche Prognoseempfehlung einfach „abkupfere“ und übernehme, dann weiß ich nicht so
ganz genau, warum die Richter nicht „mit im Boot“ sein sollen.
87
Referate
Lassen Sie mich zum Schluss ein paar Visionen zusammenfassen:
1. Die Sanktionen strafbaren Verhaltens werden entscheidend danach bestimmt, welche
Maßnahmen bei dem konkreten Täter erfolgversprechend ist; insofern sollte der
Schuldgrundsatz im Verhältnismäßigkeitsgrundsatz aufgehen. Natürlich kann man nicht
jeden einsperren, das ist ganz klar. Aber man braucht vielleicht nicht dieses schwierige
Konstrukt der Schuld, was sowieso nicht wirklich trägt.
2. Alle Sanktionen sind durchlässig, jederzeitiger Wechsel und Rückwechsel ist möglich.
3. Es nimmt ein umfassender, kritischer, umfassender und offener Dialog Platz zwischen
allen, die in die Behandlung von Straftätern eingebunden , und die Juristen sind dabei
zunächst nur gleichberechtigte Partner – natürlich kommen wir nicht drum herum, das ist
Grundgesetz – und dazu stehe ich – dass am Ende die Gerichte sagen müssen, wer
rauskommt und wer nicht, also über Freiheit oder Unfreiheit entscheiden müssen. Aber
zunächst, in dem Erkenntnisprozess dazu, sollen sie sich nur als Gleichrangige beteiligen.
4. Es werden flächendeckend professionelle forensische Ambulanzen eingerichtet mit klaren
rechtlichen Vorgaben und mit den gebotenen sächlichen und personellen Mitteln
ausgestattet.
5. Die Behandlung von fehlerhaft eingewiesenen Tätern ist eindeutig geregelt, so das wir
nicht jahrelang darum Rechtsstreite führen müssen, sondern dass jeder im Vorhinein
möglichst klar weiß, was damit passiert.
6. Für mich persönlich ist es eine Vision, dass die Behandlung in der Entziehungsanstalt die
Freiwilligkeit des Verurteilten voraussetzt und dass die Zwangseinweisung nicht
stattfinden soll, weil sie ohnehin jetzt schon zu über 50 % zum Abbruch führt und auch
bei dem Rest sehr schwierig ist bzw. die Personen dann ohnehin freiwillig dabei sind.
7. Und angeknüpft an das Letztgesagte: Die Haftung von Behandlern für Straftaten ihrer
Probanden wird eindeutig geregelt. Diese Regelung darf nicht dazu führen, dass keiner
mehr ein Risiko eingeht oder vernünftige neue Regeln nicht mehr erprobt werden aus
Furcht vor Strafe.
88
Referate
Maßregelvollzug von außen betrachtet
Prof. Dr. Friedemann Pfäfflin 21
Einleitung
Die meisten Redner dieser Tagung kommen nicht direkt aus dem Maßregelvollzug. Wer von
außen kommt – das ist ein häufiger Einwand – kann nicht wirklich mitreden, denn er erfährt
nicht genug von den alltäglichen Abläufen, ist den institutionellen Zwängen nicht in gleichem
Maße ausgesetzt wie ein ständiger Mitarbeiter und letztlich mit der Klinik nicht identifiziert.
Allenfalls kann er wie ein zölibatärer katholischer Priester über die Ehe sprechen, die er doch
nur aus Beichtgesprächen kennt, aus Trau-, Tauf- und schließlich Trauergesprächen. Soviel
Einblick er auch über solche Gespräche in die Ehe haben mag, den Alltag der Ehe hat er
selbst nicht erfahren.
Der Einwand ist aber nur begrenzt stichhaltig, denn er lässt sich auch auf die fest angestellten
Mitarbeiter des Maßregelvollzugs beziehen. Immerhin können sie nach Dienstschluss die
Klinik verlassen, in ihrer Freizeit ihren weiteren Interessen nachgehen und in den Ferien in
den Urlaub fahren. Auch können sie sich unter Umständen auf eine andere Stelle bewerben.
Im eigentlichen Sinne könnten dann nur die Langzeitpatienten des Maßregelvollzugs ein
gültiges Urteil abgeben. Nun hat der einzelne Langzeitpatient auch nur eine beschränkte
Perspektive, die meist schon an den Türen der Station, auf der er sich aufhält, endelt. Zwar
lernt er das Stationspersonal kennen, vielleicht auch noch dasjenige der Beschäftigungs- und
der Arbeitstherapie sowie seine Mitpatienten, aber inwieweit dieser Ausschnitt etwas über die
Klinik insgesamt, in der er untergebracht ist, aussagt, kann ihm über lange Zeit verborgen
bleiben. Und erst recht fehlt ihm der Überblick über die Entwicklung des Maßregelvollzugs
generell. Betriebsangehörigkeit birgt in sich die Gefahr der Betriebsblindheit.
Der Blick von außen ist dem gegenüber unbefangener, kann es zumindest sein, wenn er auch
nicht vorurteils- oder urteilsfrei ist. Meiner ist jedenfalls nicht urteilsfrei und womöglich auch
nicht
vorurteilsfrei,
wenn
ich
die
verschiedenen
Eindrücke
aus
Maßregelvollzugseinrichtungen, die ich besucht habe, in der Erinnerung an mir vorbeiziehen
lasse. Er ist geprägt von vielen konkreten Erfahrungen, von Begegnungen in
Maßregelvollzugseinrichtungen in 14 Bundesländern und weiteren im Ausland, von denen ich
hier nur wenige Beispiele nennen werde. Anregen ließ ich mich durch eine Arbeit von Herrn
Professor Nedopil (2004) über das Selbstverständnis des forensischen Psychiaters, abgedruckt
in der Festschrift für Herrn Professor Tondorf, in der er sich mit der Tendenz der klinischen
Psychiatrie auseinandersetzt, die forensische Psychiatrie ganz auszugrenzen. Nur wenige
Exponenten der klinischen Psychiatrie verfügen über so umfangreiche forensische
Erfahrungen, wie sie im Beitrag von Herrn Professor Hoff anklangen, und es gibt viele
klinische Psychiater, die mit der Forensik gar nichts zu tun haben wollen.
21
Sektion Forensische Psychotherapie, Universitätsklinikum Ulm
89
Referate
Ich werde mich auf drei Themenbereiche konzentrieren, die einiges von dem, was Herr Dr.
Wolf angesprochen hat, erneut aufgreifen, nämlich (1.) die Entwicklung vom Verwahrvollzug
zum therapeutischen Vollzug; (2.) die Entwicklung vom wissenschaftlichen Brachland zur
wissenschaftlichen Goldgrube und (3.) die Entwicklung vom Schlechtachten und Gutachten.
Vom Verwahrvollzug zum therapeutischen Vollzug
Hauptsächlich werde ich dabei auf den Maßregelvollzug eingehen, zum Teil aber auch auf
den Strafvollzug, und mich dabei auf Fragestellungen der Psychotherapieforschung
konzentrieren sowie insbesondere die Frage, inwieweit Ergebnisse der allgemeinen
Psychotherapieforschung in die Praxis des Maßregelvollzugs Eingang gefunden haben.
Die allgemeine Psychotherapieforschung durchlief mehrere Phasen, die sich vereinfachend
dahingehend zusammenfassen lassen, dass in der Anfangsphase Rechtfertigungsargumente im
Vordergrund standen, später dagegen differentielle Indikationsfragen und Prozessvariablen
untersucht wurden. In der Rechtfertigungsphase ging es um die Klärung der Frage, ob
Psychotherapie überhaupt wirksam ist, d.h., ob tatsächlich Symptomreduktion bewirkt wurde.
Wichtig waren vor allem Vergleiche des Zustandes beziehungsweise Verhaltens von
Patienten vor Beginn und nach Ende der Behandlung (Prä-Post-Vergleich). Das entspricht der
Fragestellung im Maßregelvollzug nach Rückfallvermeidung oder wenigstens -reduktion.
Was konkret in der Psychotherapie gemacht wurde, um diese Ziele zu erreichen, wurde
damals noch nicht untersucht. Psychotherapie und analog der Maßregelvollzug entsprachen
der „black box“, in die ein Patient eingeschleust wurde und aus der er geheilt oder wenigstens
gebessert herauskommen sollte, wobei die Wirkfaktoren dieser Veränderung im Dunkeln
blieben.
In späteren Forschungsphasen wurden vielfältige weitere Fragen untersucht, zum Beispiel,
was bei wem unter welchen Bedingungen und in welcher Dosierung welches Ergebnis
bewirkt. Dabei wurde ein umfangreiches Detailwissen erarbeitet, das in den jeweils
aktualisierten Neuauflagen der „Bibel“ der Psychotherapieforscher, dem Handbook of
Psychotherapy and Behavior Change zusammengefasst ist (Bergin & Garfield 1971, 1978,
1986, 1994; Lambert 2004). Schlägt man dort nach, stellt man mit Verwunderung fest, dass
sich über forensische Psychotherapie in den ersten vier Auflagen überhaupt nichts findet,
noch nicht einmal das Stichwort. In der jüngsten Ausgabe (Lambert 2004) wird in einem
Artikel über die psychotherapeutische Behandlung Jugendlicher nebenbei auch eine
Untersuchung aus dem Jugendstrafvollzug erwähnt, aber der forensischen Psychotherapie
wird noch immer kein eigenes Kapitel gewidmet. Man kann daran ablesen, dass sich die
allgemeine Psychotherapieforschung völlig unabhängig vom Maßregelvollzug entwickelte.
Entsprechend lässt sich umgekehrt schließen, dass sich die im Maßregelvollzug angewandten
Therapien unabhängig von der allgemeinen Psychotherapieforschung entwickelt haben.
In der allgemeinen Psychotherapie sind manualisierte Psychotherapien inzwischen zu einer
Art Goldstandard geworden. Darunter versteht man standardisierte Psychotherapieverfahren,
in denen einzelne Behandlungsschritte und oft auch einzelne Behandlungsstunden genau
vorstrukturiert sind und entsprechend einem Fahrplan, Handbuch bzw. Manual durchgeführt
werden sollen. Überprüft man die verschiedenen Auflagen des Handbook of Psychotherapy
90
Referate
and Behavior Change auf Angaben zu manualisierten Psychotherapieverfahren, findet sich
Folgendes: In der ersten Auflage aus dem Jahr 1971 wird der Begriff manualized treatment
noch gar nicht erwähnt. In der zweiten Auflage aus dem Jahr 1994 gibt es 34 längere
Passagen, in denen er diskutiert wird. In der vierten Auflage aus dem Jahr 2004 gibt es nur
noch 17 längere Passagen darüber, weil Manualisierung nämlich inzwischen zu einer Art
Goldstandard für wissenschaftliche Untersuchungen von Psychotherapien geworden ist, ohne
die man glaubt, keine wissenschaftlich fundierte Aussage über Therapie mehr machen zu
können. Die Amerikanische Psychiatrische Vereinigung und auch die Amerikanische
Psychologische Vereinigung hatten Anfang der 1990er Jahre darauf gedrängt, nur noch
manualisierte Therapien in wissenschaftlichen Auswertungen zu berücksichtigen.
Was spricht für die Manualisierung von Therapien? Man kann erstens die Therapieziele und
das Vorgehen operationalisieren. Zweitens eignen sich solche Verfahren für die gleichmäßige
Ausbildung von Therapeuten. Drittens lässt sich bei Anwendung von Therapiemanualen
überprüfen, ob Therapeuten auch jeweils wirklich dasselbe machen (Überprüfung der
Anwendungsintegrität). Damit werden schließlich viertens die Voraussetzungen für eine
wissenschaftliche Auswertung und Überprüfung der Wirksamkeit geschaffen.
Angewandt wurden manualisierte Therapieprogramme erstmals schon Ende der 1950er und
Anfang der 1960er Jahre in der Behandlung sexueller Funktionsstörungen, zum Beispiel von
Masters & Johnson, später auch bei Ess-, Angst- und Panikstörungen und bei Depressionen.
In den 1980er Jahren publizierten Luborsky sowie Strupp Auswertungen manualisierter
psychodynamischer Kurztherapien. Schließlich fanden sie auch in der Behandlung von
Straftätern Anwendung.
Vorläufer manualisierter Programme in der Straftäterbehandlung waren die einfachen
Verhaltenstherapieprogramme (Aversionsprogramme), die Sie vermutlich aus der Literatur
kennen, bei denen man zum Beispiel einem pädophilen Mann Bilder von Kindern vorlegte
und maß, ob unter dieser Bedingung dessen Penisvolumen zunahm. War dies der Fall, wurde
ein unangenehmer Reiz gesetzt, zum Beispiel ein Geruchsreiz (Ammoniak) oder ein dosierter
elektrischer Schlag, um ihm die sexuelle Erregung beim Anblick eines Kindes
abzugewöhnen. Wir wissen heute, dass diese Behandlungen kontraproduktiv sind und eher
schaden.
Dann kamen einzelne kognitiv-behaviorale Module hinzu, mit denen auch positive Verstärker
für sozial akzeptables Verhalten konditioniert werden sollten. Inzwischen gibt es eine Reihe
etablierter umfangreicher Programme für die Straftäterbehandlung, auf die im Folgenden
etwas näher eingegangen werden soll.
91
Referate
Tab. 1: Manualisierte Psychotherapieprogramme für Straftäter
Relapse Prevention (RP)
Reasoning & Rehabilitation (R&R)
Sex Offender Treatment Program (SOTP)
Behandlungsprogramm für Sexualtäter (BPS)
Dialektisch Behaviorale Therapie (DBT)
Transference Focused Psychotherapy (TFP)
Mentalized-Based Treatment (MBT)
Ausgangspunkt für die Rückfallpräventionsbehandlung (Relapse Prevention, RP), entwickelt
in den 1980er Jahren von Marlatt, war die stationäre Suchtbehandlung mit ihren wenig
anhaltenden Erfolgen. Zwar war es gelungen, die Patienten während der stationären
Behandlung zur Abstinenz zu bewegen, doch wurden bis zu 80 % bald nach der Entlassung
wieder rückfällig. Daraus ergab sich die Notwendigkeit, ein Programm zur Nachbehandlung
zu entwickeln, in dem der Rückfallzyklus bearbeitet wurde (Abb. 1).
Abb. 1: Klassischer Rückfallzyklus: Der Weg in die Hochrisikosituation
92
Referate
Abb. 2: Klassicher Rückfallzyklus: Von der Hochrisikosituation zum Rückfall
Im Jahr 1983 wurde das Modell von Pithers auf die Sexualstraftäterbehandlung übertragen
und zunehmend erweitert.
Abb. 3: Anwendung auf
Sexualstraftäterbehandlung
93
Referate
In der Folge setzten sich RP-Programme im US-amerikanischen Gefängniswesen durch und
wurden fast zu einer Industrie. Neben den Arbeiten von Pithers (1990) wurden insbesondere
jene von Laws (1989) in Florida bekannt. Anfangs waren RP-Programme reine
Nachsorgeprogramme nach unterschiedlichen anderen Basisprogrammen, später wurden sie
ausgeweitet zu eigenständigen Therapieprogrammen und vielfach modifiziert, insgesamt aber
erstaunlich wenig evaluiert (Pfäfflin 1995). Modifikationen beziehungsweise einzelne Module
finden sich in den Abbildungen 4 und 5.
Abb. 4: Beispiel aus RP-Programm
94
Referate
Abb. 5: Weiteres Beispiel aus RP-Programm
Bevor man ein Programm zur Aufrechterhaltung des Behandlungserfolgs herausbringt, also
ein Rückfallpräventionsprogramm, sollte man allerdings zunächst eine Vorstellung davon
haben, wie das Behandlungsbasisprogramm aussieht. Das war in den Anfängen der
Rückfallprävention kaum der Fall. Rückfallpräventionsprogramme haben sich in so
vielfältiger Weise entwickelt, dass sie nur schwer über Institutsgrenzen hinaus zu evaluieren
waren. Über lange Zeit fehlten systematische Untersuchungen über den spezifischen Beitrag
einzelner Elemente zum Behandlungserfolg. Erst ab etwa Mitte der 1990er Jahre begannen
Hudson und Ward in Neuseeland damit einzelne Module näher zu untersuchen.
95
Referate
Spezifische kognitiv-behaviorale Programme für Sexualstraftäter wurden vor allem von
William Marshall und seinen Mitarbeitern in Kanada entwickelt, ohne dass die Autoren gleich
ein manualisiertes Programm mit eigenem Markennamen verkaufen wollten, wie dies sonst
meist der Fall ist. Sie beschrieben, was sie in der Therapie anboten, und sie verbreiteten ihre
Erkenntnisse durch umfangreiche Vortragstätigkeit und Schulungen sowie viele
Publikationen. Sie differenzierten die Ihnen bereits geläufigen Unterscheidungen nach
Risikogruppen (risk) und fokussierten auf die je spezifischen Bedürfnisse einzelner Gruppen
von Straftätern sowie einzelner Patienten (needs) und deren Ansprechbarkeit (responsitivity).
Und schließlich differenzierten sie deliktspezifische Therapieziele (offense specific targets) –
wie zum Beispiel die Bearbeitung von Verleugnung und Spaltung, Rationalisierung,
Bagatellisierung, die Entwicklung von Empathie mit dem Opfer, Einstellungen und
Werthaltungen – von weiteren Therapiezielen, die nur einen indirekten Bezug (offense related
targets) zu deliktischem Verhalten haben, wie zum Beispiel Abstinenz von Alkohol- und
Drogenmissbrauch, Ärger-Management, social skills training, assertiveness training. Letztere
betreffen allgemeine Risikofaktoren. Was damals neu war, nämlich die Beachtung der
Ressourcen der Klienten und der ihnen als Personen zu zollende Respekt, sind seit Marshalls
und den Arbeiten seiner Mitarbeiter zu wichtigen Pfeilern der Behandlung geworden, und sie
kontrastieren deutlich zu den alten verhaltenstherapeutischen Aversionsprogrammen.
Ein weiteres manualisiertes Programm ist das Reasoning and Rehabilitation-Programme
(R&R), entwickelt von Ross und Mitarbeitern in Kanada, in Deutschland über den Hessischen
Maßregelvollzug in Haina inzwischen an mehreren Stellen eingeführt. Es ist ein bezüglich
Delikten unspezifisches Programm für Straftäter, das sich im kanadischen Strafvollzug sehr
bewährt hat. Die Teilnehmer lernen ganz generell Probleme zu lösen, üben soziale
Fertigkeiten ein, lernen, ihre Emotionen differenziert wahrzunehmen und auszuhalten, und sie
üben sich in kreativem Denken und kritischem Urteilen. In der Januar-Ausgabe der Zeitschrift
Psychology, Crime and Law publizierten Tong u. Farrington eine umfangreiche internationale
Metaanalyse, in der vier Studien aus Kanada, acht aus den USA, zwölf aus dem Vereinigten
Königreich und eine aus Schweden evaluiert wurden. Danach wurden Teilnehmer des R&RProgramms um 14 % weniger rückfällig als Teilnehmer von Kontrollgruppen.
Interessanterweise sind diese Ergebnisse schlechter als jene einer früheren Metaanalyse, in die
nur sieben Studien einbezogen worden waren und in der die Erfolgsrate im Vergleich zu nicht
mit diesem Programm behandelten Kontrollpersonen um 26 % höher gelegen hatte. Was man
daran sehen kann, ist, dass alle Behandlungsprogramme, wenn sie erst einmal verbreitet und
irgendwie zur Routine werden und der anfängliche missionarische Eifer wegfällt, auch an
Wirksamkeit verlieren können. Oder sie werden eben nicht in der entsprechend erwarteten
Behandlungsintegrität oder ohne genaue Beachtung von Indikationskriterien angewandt.
Das Sex Offender Treatment Programme (SOTP) wurde für den englischen Strafvollzug
entwickelt und inzwischen ebenfalls in deutsche Einrichtungen des Straf- und
Maßregelvollzugs übernommen. Die Klienten werden nach Risikogruppen ausgewählt, und
auch beim Personal erfolgt eine Auswahl. Neben diplomierten Psychologen werden auch
andere Bedienstete des Vollzugspersonals geschult und als Therapeuten eingesetzt. In diesem
Programm legt man größten Wert darauf, dass die Programmintegrität gewahrt wird, d. h.
dass die Anwender tatsächlich auch das anwenden, was das Programm vorsieht, weshalb alle
Sitzungen auf Video aufgezeichnet und in Supervisionen besprochen werden.
96
Referate
Abb. 6: Stundenplan des SOTP-Basisprogramms
Der Stundenplan des Basisprogramms von 2000 (der allerdings immer wieder aktualisiert
wird) umfasst ein Curriculum von insgesamt 85 Sitzungen (Abb. 6). Das nach Lehrplan zu
absolvierende Stundenkontingent wirkt relativ starr, doch gibt es für spezielle Gruppen, zum
Beispiel Minderbegabte, Modifikationen. Auch werden inzwischen Slow-open-Gruppen
angeboten, da nicht in jeder Einrichtung gewährleistet ist, dass die Teilnehmer über ein volles
Curriculum konstant bleiben. Für einzelne Teilnehmer braucht man mehr Stunden und spätere
Aufwärmsitzungen, man braucht für manche ein noch längeres Programm oder
Aufwärmsitzungen, um nur einige Varianten zu nennen. Eindrucksvoll ist, dass dieses
97
Referate
Programm hochintensiv mit bis zu drei Doppelstunden oder mehr in der Woche durchgeführt
wird. Damit wird einer Erkenntnis der allgemeinen Psychotherapieforschung Rechnung
getragen, dass die Anwendungsdosis tatsächlich auch etwas Wesentliches zum Therapieerfolg
beiträgt.
Das Behandlungsprogramm für Sexualtäter (BPS), entwickelt im niedersächsischen
sozialtherapeutischen Justizvollzug und inzwischen auch in den allgemeinen Strafvollzug
anderer Bundesländer sowie in einzelne Maßregelvollzugskliniken exportiert, enthält viele
Elemente aus dem SOPT, den RPs, dem R&R, den kognitiv-behavioralen Programmen, wie
sie von Marshall und Mitarbeitern entwickelt wurden, scheint aber insgesamt vom
Zeitaufwand her weniger intensiv, was sicher mit den im Vergleich zum Maßregelvollzug
geringeren finanziellen und personellen therapeutischen Ressourcen des Strafvollzugs zu tun
hat.
Darüber hinausgehend gibt es manualisierte Programme, die primär nicht für das forensische
Setting entwickelt wurden, die inzwischen aber auch im forensischen Kontext zur
Anwendung kommen. Hierzu zählt erstens die Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT) nach
Marsha Linehan, die primär für präsuizidale Borderline-Patientinnen entwickelt wurde. Sie
zielt auf Verhaltensänderung über die Entwicklung und das Ausprobieren und Bewerten von
Handlungsalternativen. Behandlungstechnisch geht es um das Verstärken positiven
Verhaltens, aversive Beantwortung negativen Verhaltens, kognitive Umstrukturierung sowie
das Training psychosozialer Fertigkeiten in der Gruppe. Meines Wissens wurde sie im
Rahmen des Maßregelvollzugs erstmals in Haina angewandt, wobei sich vor allem bezüglich
der aversiven Beantwortung negativen Verhaltens behandlungstechnisch große Probleme
ergaben, die Modifikationen erforderten. In einem Beitrag im International Journal of
Forensic Mental Health berichteten Berzins u. Trestman im Jahr 2004 über gute Erfahrungen
mit diesem Programm in sechs forensischen Einrichtungen in den USA. Meine Arbeitsgruppe
hat vor kurzem eine Implementationsstudie mit DBT in einer rheinischen
Maßregelvollzugsklinik abgeschlossen.
Die übertragungsfokussierte Psychotherapie (Transference Focused Psychotherapy, TFP)
nach Clarkin und Mitarbeitern wurde ebenfalls für Borderline-Patienten sowie für Patienten
mit narzisstischen und dissozialen Persönlichkeitsstörungen entwickelt und dann auch im
forensischen Feld erprobt. Im Kontrast zu allen anderen bisher genannten manualisierten
Programmen steht hier nicht die Gruppentherapie im Zentrum, sondern Einzeltherapie, was
im Maßregelvollzug schwierig sein kann. Obwohl anders formuliert, unterscheiden sich die
Behandlungsziele nicht grundsätzlich von jenen der anderen Programme. Für die TFP werden
sie folgendermaßen formuliert: Strukturelle Veränderung, um maladaptive Verhaltensweisen,
die zu affektiven Störungen und zu Beeinträchtigungen interpersoneller Beziehungen führen,
zu korrigieren. Behandlungstechnisch liegt der Akzent auf Klärung, Konfrontation,
Interpretation und Deutung unbewusster Objektbeziehungen, die sich in Übertragung und
Gegenübertragung manifestieren. Im Unterschied zu den anderen Programmen ist die TFP im
Stundenplan weniger festgelegt und zeitlich offener, so dass man sich abwechselnd immer
wieder in die verschiedenen Ebenen begeben kann. Inhaltlich sind die Zielhierarchien der
beiden Programme DBT und TFP durchaus ähnlich. Am Anfang geht es um die Bewältigung
von Eigen- und Fremdgefährdung, d.h. um Suizidalität, suizidale Drohungen, Parasuizidalität
und (vitale) Gefährdung anderer. Im Weiteren geht es um die Bewältigung affektiver und
kognitiver Konfliktsituationen. Zunächst werden die gefährlichsten Situationen bearbeitet, bis
98
Referate
dann in die gesünderen Bereiche vorgestoßen werden kann, wie dies an der vergleichenden
Zielhierarchie von DBT und TFP ablesbar ist (Abb. 7).
Abb. 7: Vergleichende Zielhierarchie von TFP und DBT
Zu nennen ist schließlich das Mentalization-Based Treatment (MTB) nach Bateman u.
Fonagy. Entwickelt in England, ist es meines Wissens bisher in der Forensik in Deutschland
noch nicht angekommen. Es basiert auf der Bindungstheorie und versucht jene
Mentalisierungsprozesse bei Straftätern nachzuholen, die sie in ihrer Entwicklung früher nicht
durchgemacht haben. Dazu gehören zum Beispiel die Fähigkeit zu symbolisieren, eine
Vorstellung von sich als Person und auch von anderen und damit Empathie zu entwickeln.
Die genannten manualisierten Programme werden im deutschsprachigen Raum in
verschiedenen Einrichtungen des Maßregel- und/oder Strafvollzugs angewandt.
Rückfallprävention in der klassischen amerikanischen Form erscheint überholt, aber
Modifikationen werden in der Nachsorge vielerorts durchgeführt, so, wie bereits erwähnt,
zum Beispiel im hessischen Maßregelvollzug. Dieser war auch führend bei der Einführung
von R&R sowie DBT. SOTP wurde zuerst von der Abteilung für Sexualforschung und
Forensik des Universitätsklinikums Hamburg-Eppendorf im sozialtherapeutischen Kontext
des Hamburger Justizvollzugs eingeführt und gleichzeitig psychodynamisch erweitert. Das
BPS hatte seinen Ausgangspunkt in der Sozialtherapeutischen Anstalt Lingen und wird
inzwischen im Justiz- und Maßregelvollzug angeboten. DBT und TFP werden in mehreren
Maßregelvollzugskliniken durchgeführt, TFP auch im Forensisch-Therapeutischen Zentrum
Wien (FTZW), dessen Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen inzwischen großenteils darin geschult
sind.
Die Sektion Forensische Psychotherapie der Universität Ulm hat in den zurückliegenden drei
Jahren in zwei Maßregelvollzugskliniken Nordrhein-Westfalens ein Projekt zur
Implementation von TFP und DBT durchgeführt. Geplant war zunächst, beide Programme in
99
Referate
beiden Kliniken mit Parallelgruppen einzuführen, doch hätte dies eine Überforderung der
Mitarbeiter bedeutet, die sich gleichzeitig auf zwei unterschiedliche neue Arbeitsstile hätten
einstellen müssen. Deshalb entschied sich je eine Klinik für je eines der Verfahren.
Eindrucksvoll war, wie sehr die Mitarbeiter von den Schulungen und Supervisionen
profitierten, anfangs sogar mehr als die Patienten. Für viele der Mitarbeiter war neu, in einem
Ausmaß wie nie zuvor in die therapeutischen Prozesse einbezogen zu werden. Die Patienten
wurden in sechsmonatigen Abständen mit Fragebogen befragt und testpsychologisch
untersucht, und die absoluten und dimensionalen Werte für Persönlichkeitsstörungen und eine
ganze Reihe anderer Symptome reduzierten sich deutlich.
Zum Abschluss dieses Abschnitts kann man fragen, was für und was gegen die Anwendung
manualisierter Behandlungsprogramme spricht. Jene Punkte, die dafür sprechen, wurden
bereits oben aufgeführt. Dagegen könnte sprechen, dass solche Programme oft unflexibel
sind, wenn man sie genau nach Stundenplan durchführt; dass sie technizistisch und
schulmeisterlich angewandt werden können, durchgepaukt, ohne sich wirklich auf die
momentane Verfassung von Mitarbeitern und Patienten einzustellen. Die Anwendung von
Programmen kann ermüdend sein, ähnlich dem, wenn ein Grundschullehrer jahraus jahrein
den ABC-Schützen das Einmaleins und das Alphabet beibringen muss. Er weiß, wie es geht,
aber von Jahr zu Jahr immer dasselbe anzuwenden, hat etwas Ermüdendes, es fehlt sozusagen
der für Therapien ganz zentrale Aspekt, dass immer etwas Neues passieren muss. Neu für den
Patienten, aber auch für den Therapeuten, damit beide in ihrer Aufmerksamkeit nicht
ermüden.
Im Schwerpunktheft der Zeitschrift Recht & Psychiatrie über Sexualstraftäterbehandlung (22.
Jahrgang, 2004, Heft 2) kann man nachlesen, dass neben den manualisierten
Therapieprogrammen auch nicht-manualisierte Therapien durchaus wichtig bleiben und
wirksam sind, zum Beispiel auch psychodynamische Einzeltherapie im ambulanten Setting.
Es ist ein Heft mit vielen Beiträgen über die Sexualstraftäterbehandlung im Einzel- ebenso
wie im Gruppensetting, im Setting des Justiz- ebenso wie des Maßregelvollzugs und im
ambulanten Setting, kognitiv-behavioral ebenso wie psychodynamisch. Erwähnenswert an
diesem Heft ist auch, wie schwierig es war, dafür geeignete Beiträge zu finden, weil man
kaum Therapeuten findet, die über ihre erfolgreiche Behandlungen berichten mögen. Sie
haben nämlich häufig Angst, der Nachuntersuchungszeitraum sei vielleicht nicht lang genug,
und der Patient könnte doch noch einmal rückfällig werden. Erfolgreiche Behandlungen, die
statistisch ja weit häufiger sind als gescheiterte, werden weit seltener publiziert. Das ist ein
großes Problem des Maßregelvollzugs.
Herr Dr. Wolf hat ein sehr positives Bild von der Entwicklung des Maßregelvollzugs vom
Verwahrvollzug zum therapeutischen Vollzug gezeichnet. Nun ist die Frage: Hat diese
Entwicklung tatsächlich stattgefunden? Zunächst ist wichtig festzuhalten, dass im deutschen
Maßregelvollzug inzwischen erheblich mehr therapiert wird, als dies noch vor 28 Jahren der
Fall war, als Herr Professor Leygraf seine Bestandsaufnahme des westdeutschen und
Westberliner Maßregelvollzugs vorlegte. Es gibt allerdings auch Einwände gegen die These,
der Maßregelvollzug habe sich zum therapeutischen Vollzug verändert. Wir haben mehr als
doppelt so viele Patienten, als zurzeit von Herrn Leygrafs Untersuchungen (seine
Datenerhebung war 1984 abgeschlossen). Dabei ist die Vergrößerung des Landes durch die
Wiedervereinigung bereits berücksichtigt. Des Weiteren haben wir doppelt so lange
Aufenthaltsdauern, wobei es regional erhebliche Unterschiede gibt. Es gibt Kliniken, in denen
100
Referate
sich die Liegezeiten verdoppelt und verdreifacht haben. Es gibt Maßregelvollzugskliniken
ohne Lockerungen im nahen Umfeld, die schon unter dieser Bedingung gebaut worden sind,
und wir haben uns mit den Longstay-Units abgefunden. Laut den einleitenden Worten Ihres
Ministers sind 15-20 % der Patienten auf Dauer Longstay-Patienten. Er hat dies positiv (und
anders herum) formuliert: 80-85 % der Maßregelpatienten seien therapiefähig und könnten
sich verändern. Berücksichtigt man jene, die darin nicht eingeschlossen sind, heißt dies, dass
man sich auf 15-20 % eingestellt hat, die Longstay-Patienten werden.
Therapiefähigkeit ist im Übrigen nach Professor Rasch, dem früheren Lehrstuhlinhaber für
Forensische Psychiatrie an der Freien Universität Berlin, und nach Privatdozent Dahle, der
heute noch an dieser Einrichtung arbeitet, keine Klienteneigenschaft, sondern eine
Eigenschaft der Einrichtung, die Therapie anbieten soll. Wir haben vom Herrn Minister auch
gehört, dass im Zweifelsfall Sicherung vor Besserung Vorrang habe.
Nimmt man all diese Punkte zusammen, kann man dann immer noch behaupten, der
Maßregelvollzug habe sich vom Verwahr- zum Behandlungsvollzug verändert? Und wenn
wir tatsächlich mehr behandeln, heißt dies auch, dass dabei mehr herauskommt? Mehr als
doppelt so viele Patienten, doppelt so lange Aufenthaltsdauer, keine Lockerungen, LongstayUnits? Spricht all dies für erfolgreicheren Behandlungsvollzug? Das will ich einfach hier als
Frage stehen lassen.
Ich will Ihnen dazu einen Fall schildern: Der Patient befindet sich wegen pädosexueller
Handlungen seit über 20 Jahren im Freiheitsentzug. Zunächst absolvierte er im
Vorwegvollzug die vom Gericht verhängte Freiheitsstrafe von weniger als vier Jahren. Seither
befindet er sich nach § 63 im Maßregelvollzug. Ich habe ihn im vergangenen Jahr in Bezug
auf seine Gefährlichkeitsprognose und eventuelle Vollzugslockerungen begutachtet;
insgesamt lagen mir sieben ausführliche psychiatrische Vorgutachten sowie die jährlichen
Stellungnahmen nach § 67e StGB aus der Maßregelvollzugsklinik, in der er untergebracht ist,
vor. Gestützt auf diese Stellungnahmen stellte sich der Verlauf als nicht einfach linear dar. Es
gab Zeiten, in denen der Proband deutliche Fortschritte gemacht hatte, und andere Phasen, in
denen über Rückschritte oder Stagnation der Behandlung berichtet wurde. In einer dieser
Stellungnahmen aus der Klinik, die man auch als „Prognosegutachten“ werten kann, heißt es:
„Die gestellten Diagnosen und die prognostisch ungünstige Einschätzung, des [17 Jahre
zurückliegenden] Einweisungsgutachtens konnten im Verlauf der Unterbringung in der
hiesigen Klinik bestätigt werden.“ Aus meiner Sicht markiert die Formulierung „bestätigt
werden“ den Tiefpunkt des deutschen Maßregelvollzugs eher als einen Wandel zum
Behandlungsvollzug. Und zwar deshalb, weil es nicht Aufgabe von Maßregelvollzugskliniken
ist, ungünstige Prognosen zu verifizieren oder zu bestätigen, sondern die Voraussetzungen für
deren Falsifizierung zu schaffen.
Inzwischen habe ich auch die Anhörung bei der zuständigen Strafvollstreckungskammer
miterlebt, und ich muss sagen, das war ziemlich entsetzlich. Es war im März d. J. und
erinnerte mich an alles das, was ich früher in meinen Forschungen über das Dritte Reich und
über Erbgesundheitsgerichte gelesen hatte, als die Erbgesundheitsgerichte in den Kliniken
tagten und Sterilisationsbeschlüsse erließen. Die Strafvollstreckungskammer saß mit ihren
drei Mitgliedern in einem großen Richterzimmer, während die Patienten, ihre Anwälte und
Gutachter in einem kleinen Flur ohne Sitzgelegenheit standen und warteten. Es wurden immer
drei Patienten zur Viertelstunde bestellt, so dass man also in einer Stunde leicht zehn Fälle
101
Referate
durch hatte. Bei dem von mir begutachteten Patienten hatte Herr Professor Nedopil schon drei
Jahre zuvor ein hervorragendes Gutachten geschrieben, in dem er sagte, der Mann müsse
gelockert werden, denn er zeige bereits Hospitalisierungserscheinungen. Das war auch mein
Eindruck, und ich habe in meinem ausführlichen Gutachten die bisherigen
Behandlungsfortschritte detailliert dargestellt. Die Strafvollstreckungskammer war aber
ausschließlich an der Beantwortung der Frage interessiert: Ist er nun gefährlich oder nicht?
Jede meiner Antworten, die weiter ausholte und den Gesamtverlauf thematisierte, wurde vom
Vorsitzenden sofort abgeschnitten. Die Kammer wollte keine differenzierte Antwort, sondern
ein kurzes Ja oder Nein. Das war so deprimierend, dass ich daran dachte, meinen Beruf
aufzugeben. Sollen sich doch andere einer solchen Farce stellen.
Vom wissenschaftlichen Brachland zur wissenschaftlichen Goldgrube
Zur Prüfung dieser zweiten These habe ich zusammengestellt, wie positiv sich die
Forensische Psychiatrie und Psychotherapie in den zurückliegenden dreißig Jahren entwickelt
hat, abzulesen an Zeitschriften- und Buchbeiträgen, an nationalen und internationalen
Kongressen, an Fortbildungen und schließlich an der Höhe eingeworbener Drittmittel zu
Forschungszwecken. Weil Herr Dr. Wolf dazu bereits viele Ausführungen gemacht hat, kann
ich diesen Abschnitt überspringen.
Nicht überspringen dagegen kann ich die Frage, ob es Einwände gegen die These gibt, der
Maßregelvollzug habe sich vom wissenschaftlichen Brachland zur Goldgrube entwickelt.
Haben wir vielleicht doch nicht so viel erreicht? Nein, es gibt keine Einwände, der
Maßregelvollzug ist eine Wachstumsbranche geworden, das Wort habe ich von Herrn
Professor Nedopil übernommen. Tatsächlich interessieren sich jetzt schon private Träger für
den Maßregelvollzug, und einige Maßregelvollzugskliniken werden bereits in privater
Trägerschaft geführt. Es sollte hellhörig machen, wenn die private Wirtschaft plötzlich den
Maßregelvollzug übernehmen will. Aus einer Maßregelvollzugsklinik in den neuen
Bundesländern weiß ich, dass dort 50 % Überbelegung herrscht; statt 210 Planbetten sind dort
307 Patienten untergebracht, u. a. aus wirtschaftlichen Gründen, offensichtlich eine
Goldgrube.
Aus Zentren für Psychiatrie in Baden-Württemberg weiß ich, dass die
Maßregelvollzugseinheiten mancherorts der finanziell stabilste Teil sind. In diesen Tagen
findet in Nordrhein-Westfalen eine Tagung statt mit der bemerkenswerten Frage
„Maßregelvollzug: Psychiatrie der Zukunft?“ als Hauptüberschrift. Die allgemeinen
Psychiatrien werden immer kleiner, weil immer mehr Patienten ambulant behandelt werden.
Im Kontrast dazu ist der Maßregelvollzug die Wachstumsbranche, in Zukunft womöglich der
einzige Ort, an dem Langzeitverläufe psychiatrischer Krankheiten zu studieren sind. Als im
Maßregelvollzug und in der Forensischen Psychiatrie und Psychotherapie Beschäftigter mag
man sich über solche Entwicklungen womöglich freuen, doch ist dieser Freude kritisch die
Frage entgegenzuhalten, ob dies alles wirklich der Verbesserung der Behandlungsaussichten
der Maßregelpatienten dient.
Zu bedenken ist schließlich eine Entwicklung in den kognitiven Neurowissenschaften. So
anregend manche ihrer Befunde sein mögen, so kritisch wird man dem in jüngster Zeit immer
lauter wertenden Geltungsanspruch dieses Forschungszweigs entgegentreten müssen, wenn es
102
Referate
darum geht, die menschliche Freiheit zu definieren. Exemplarisch formuliert ist dieser
Anspruch in der Überschrift eines Aufsatzes von Herrn Professor Wolf Singer: „Wir sollten
aufhören, von Freiheit zu sprechen.“ Zur Kritik dieses Anspruchs kann hier auf den Vortrag
von Herrn Professor Hoff verwiesen werden.
Vom Schlechtachten zum Gutachten
Zur letzten These genügen kurze Ausführungen. Der Schwerpunkt „Forensische Psychiatrie“
ist mittlerweile von den Landesärztekammern eingeführt worden, zuletzt im Mai d. J. von der
Landesärztekammer Baden-Württemberg. Außer der Qualifikation in Fragen forensischpsychiatrischer Gutachten setzt er Qualifikation in der Arbeit im Maßregelvollzug voraus.
Vermutlich wird die Einführung des Schwerpunkts zu weiterer Qualifikation der Forensischen
Psychiatrie führen. Ich kenne zwei Klinikchefs von Maßregelvollzugskliniken, die beide die
von der DGPPN bereits früher definierte Qualifikation, die mehr voraussetzt, als was die
Ärztekammern verlangen, nicht zuerkannt bekamen. Einer von ihnen schreibt zwar keine
brillanten Gutachten, aber seine Klinik funktioniert hervorragend einschließlich der
Zusammenarbeit mit den zuständigen Strafvollstreckungskammern. In seiner Klinik sind zur
Zeit zehn Betten frei, weil er primär an der Rehabilitation der Patienten interessiert ist, so früh
wie möglich mit gut abgesicherten Lockerungen beginnt, deshalb keine überlangen
Aufenthaltsdauern und keine Überbelegung hat. Atmosphärisch eine wunderbar arbeitende
Klinik, ungeachtet dessen, dass man manche der aus der Klinik stammenden Gutachten unter
formalen Gesichtspunkten kritisieren mag. Der andere schreibt exzellente Gutachten, aber er
benutzt jene aktuarischen Einschätzinstrumente nicht, die heute erwartet werden. Es erscheint
ihm überflüssig, da er bei seinen ausführlichen Explorationen ohnehin all jene Fragen
berücksichtigt, die in den standardisierten Instrumenten vorkommen. Die Zahlenwerte
interessieren ihn nicht, wohl aber die Inhalte. Von der DGPPN bekam er die Bezeichnung
„Forensische Psychiatrie“ nicht, weil seine Gutachten als formal ungenügend eingestuft
wurden.
Gibt es tatsächlich die Wende vom Schlechtachten zum Gutachten? Gibt es da auch eine
Wende? Wenn ich in den vergangenen Jahren Prognosegutachten über Patienten aus
Maßregelvollzugskliniken erstellte, handelte es sich meist um Patienten, die schon lange
untergebracht waren und über die bereits drei oder vier sehr ausführliche Vorgutachten
vorlagen. Die meisten dieser Gutachten waren formal hervorragend, was die Prognosen betraf
dagegen besonders schlecht. Ich halte nicht viel von Gutachterschelte, weil ich bei einem
meiner ersten Gutachten, erstellt lange bevor es die ICD-10 gab und die Diagnose der
emotional instabilen Persönlichkeitsstörung vom Borderline-Typ, selbst einer solchen, mir
ungerechtfertigt erscheinenden Kritik ausgesetzt war. In dem Gutachten hatte ich eine
Borderline-Störung beschrieben und diagnostiziert. Noch vor der Hauptverhandlung wurde
mein Gutachten vom Staatsanwalt einem anderen Forensiker übergeben, der dem Gericht
dann eine lange Stellungnahme über den „Unsinn Borderline-Störung“ in die Hand spielte,
und bei der Hauptverhandlung wurde ich deswegen richtig vorgeführt. Andere auf diese
Weise anzugreifen und zu versuchen, sie bloßzustellen, finde ich im Prinzip unangemessen.
Kürzlich habe ich mich aber dazu entschlossen, in einem eigenen Gutachten über ein
Vorgutachten zu urteilen, nämlich dass es sich „allenfalls als Negativ-Beispiel für die
Weiterbildung von Forensischen Psychiatern eignet“, mit der Begründung, in dem Gutachten
103
Referate
würden zwar alle zur Verfügung stehenden Messinstrumente angewandt und darauf gestützt
die negativste Prognose gestellt, dem Patienten werde aber keine Luft mehr zum Atmen
gelassen. Nach meinem Dafürhalten muss ein Gutachten etwas zur Verbesserung der
Prognose beitragen, sonst kann man es sich sparen. Es genügt nicht, eine Diagnose und
Prognose zu stellen. Es müssen sowohl dem Patienten als auch der Klinik, in der er behandelt
wird, und schließlich dem Gericht Wege aufgezeigt werden, wie sich die Prognose verbessern
lässt.
Im Jahr 1978 publizierte ich eine empirische Auswertung von weit über 900 Gerichtsakten
aus Sexualstrafverfahren aus dem OLG-Bereich Hamburg einschließlich der darin enthaltenen
psychiatrischen Gutachten. In einem der Gutachten fand sich eine schöne Fehlleistung: „Auf
Ersuchen des Oberstaatsanwalts beim Landgericht Hamburg erstatte ich über die
Zurechnungsfähigkeit und als gefährlicher Gewohnheitsverbrecher das folgende
psychiatrische Gutachten über ……“ Dieses Zitat fällt mir immer wieder ein, wenn ich eines
jener „perfekten“ Gutachten lese, die im Wesentlichen der Absicherung von Gutachtern
dienen, indem sie eine möglichst ungünstige Gefährlichkeitsprognose stellen, aber nichts zu
deren Verbesserung beitragen. Bei der Vorbereitung des Beitrags für diese Tagung hatte ich
nicht erwartet, dass Sie, Herr Dr. Wolf, ein so optimistisches Bild über den Maßregelvollzug
verbreiten würden, sonst hätte ich vielleicht noch mehr Pessimistisches dagegengehalten.
Aber ich will auch noch was Positives sagen. Im Maßregelvollzug kann sich tatsächlich nur
etwas ändern, wenn die Mitarbeiter des Maßregelvollzugs stolz auf die Einrichtung sind, in
der sie arbeiten, und stolz auf die Arbeit, die sie machen. Sie sollen nicht in der Defensive
bleiben, sich verstecken und sagen, ‚wir machen hier die schlimme Arbeit, und wir verstehen
ja, dass die Politiker und die Öffentlichkeit immer mehr Sicherheit wollen’. Sie sollen
vielmehr offensiv vertreten, dass sie die weit überwiegende Zahl ihrer Patienten, die aus der
allgemeinen Bevölkerung kommen, erfolgreich behandeln. Ohne Maßregelvollzug wäre es
um die öffentliche Sicherheit viel schlechter bestellt.
Abschließend lade ich Sie alle ein zum 9. Kongress der International Association for the
Treatment of Sexual Offenders, der vom 6.-9. September 2006 im Hauptgebäude der
Universität Hamburg stattfinden wird (infos unter: http://www.iatso.org/).
104
REFERENTENVERZEICHNIS
Prof. Dr. Volker Dittmann
♦ Leitender Arzt für Forensische Psychiatrie
Universitäre Psychiatrische Kliniken Basel
Wilhelm Klein-Straße 27
CH-4025 Basel
Tel:
+41-61-325-5231
[email protected]
Prof. Dr. Rudolf Egg
♦ Direktor der Kriminologischen
Zentralstelle e. V.
Viktoriastraße 35
65189 Wiesbaden
Tel:
+490611/15758-0
Fax:
+490611/15758-10
[email protected]
Prof. Norbert Konrad
♦ Institut für Forensische Psychiatrie
Charité – Universitätsmedizin
Campus Benjamin Franklin
Limonenstraße 27
12203 Berlin
Tel:
+49-30-8445-1413 oder
+49-30-90144515/-16
norbert.konrad@charité.de
Prof. Dr. Friedemann Pfäfflin
♦ Sektion Forensische Psychotherapie
Universitätsklinikum Ulm
Am Hochsträß 8
89089 Ulm
Tel:
+49-731-500 25670
[email protected]
Dr. Rolf Grünebaum
♦ Leitender Oberstaatsanwalt
Kirchhofstraße 1 - 2
14776 Brandenburg an der Havel
Tel:
+ 49-3381-295 200
Fax:
+ 49-3381-295 210
[email protected]
Friedrich Schwertfeger
♦ Chefarzt der Klinik für forensische
Psychiatrie und Psychotherapie
Klinikum Bremen -Ost gGmbH
Züricher Straße 40
28325 Bremen
Tel:
+49-0421-408 2776
Fax:
+49-0421-408 1807
Friedrich.Schwerdtfeger@ klinikumbremen-ost.de
Josef Hecken
♦ Minister für Justiz,
Gesundheit und Soziales
Franz-Josef-Röder-Straße 23
66119 Saarbrücken
Tel:
+ 49-681-501 3333
Fax:
+ 49-681-501 3641
[email protected]
www.justiz-soziales.saarland.de
Dr. jur. Thomas Wolf
Prof. Dr. med. Dr. phil. Paul Hoff
♦ Chefarzt und stv. klinischer Direktor
Psychiatrische Universitätsklinik Zürich
Klinik für soziale Psychiatrie
Allgemeinpsychiatrie Zürich West
Lenggstrasse 31 – Postfach 1931
CH-8032 Zürich
Tel:
+41-44-384-2676
Fax:
+41-44-384-2506
[email protected]
www.pukzh.ch
♦ Vorsitzender Richter
am Landgericht Marburg
Universitätsstraße 48
35037 Marburg
Tel:
+49-6421/290141
[email protected]
107
ANHANG
Anhang
Daten und Fakten
des saarländischen Maßregelvollzugs 22
■ Im Maßregelvollzug werden Straftäter untergebracht, die wegen psychischer Erkrankung
oder Suchtstoffabhängigkeit zum Zeitpunkt der Tat schuldunfähig oder vermindert
schuldfähig waren. Die Maßregel verhängt das Strafgericht.
■ Auftrag des Maßregelvollzugs ist es, die Bevölkerung vor weiteren erheblichen
rechtswidrigen Taten zu schützen. Daher werden die sicherheitsrelevanten Anlagen der
SKFP ständig aktualisiert und optimiert.
Gleichermaßen entscheidend für den wirksamen Schutz der Allgemeinheit ist die
Sicherung und Optimierung einer qualitativ hochwertigen Therapie. Damit leistet der
Maßregelvollzug einen wesentlichen Beitrag zur Sicherheit der Bevölkerung.
■ In Deutschland gibt es ca. 80 Einrichtungen des Maßregelvollzuges mit rd. 9.000
Patienten. Im Saarland werden alle Patienten in der „Saarländischen Klinik für
Forensische Psychiatrie“ (SKFP) in Merzig behandelt und betreut.
■ Wie im gesamten Bundesgebiet so ist auch im Saarland die Zahl der Patienten in den
letzten Jahren rapide angestiegen. Gab es Anfang der 90’er Jahre noch 50 Patienten im
Maßregelvollzug, so war im Sommer des letzten Jahres mit über 170 Patienten ein
historischer Höchststand erreicht. Seit einigen Monaten ist jedoch ein Rückgang der
Patientenzahl zu verzeichnen. Gegenwärtig sind 160 Patienten in der SKFP in sieben
Abteilungen untergebracht. In dem Zusammenhang generell von einer Trendwende zu
sprechen, wäre verfrüht.
■ Die Patienten kommen aus allen Berufsgruppen und Bevölkerungsschichten. Es befinden
sich jedoch deutlich mehr Männer als Frauen im Maßregelvollzug. Die meisten Patienten
sind zwischen 26 und 50 Jahre alt.
■ Die mit Abstand häufigste Anlasstat für die Unterbringung in der SKFP ist
Körperverletzung. Daneben kommen u. a. auch Delikte wie Sachbeschädigung,
Freiheitsberaubung, Tötungs- oder Sexualdelikte, Brandstiftung, Vermögensdelikte vor.
■ Die häufigsten Krankheitsbilder der Patienten sind Psychosen unterschiedlichster
Ausprägung, gefolgt von Persönlichkeitsstörungen. Die Reintegration in die Gesellschaft
bedarf einer unterschiedlich langen Therapiezeit, im Durchschnitt 5 Jahre. Bei manchen
Patienten besteht jedoch keine Aussicht auf eine erfolgreiche Therapie, so dass kaum
Entlassungsperspektiven entwickelt werden können.
■ Vor ihrer Entlassung durchlaufen die Patienten verschiedene Lockerungsstufen wie u. a.
Ausführung, Frei- und Ausgang sowie Probewohnen zur Feststellung des Therapieerfolgs.
Nach bedingter Entlassung werden die Patientinnen und Patienten während einer
fünfjährigen Bewährungsphase durch die forensisch-psychiatrische Nachsorge betreut.
22
Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland
Saarländische Klinik für Forensische Psychiatrie
110
Anhang
Pressemitteilung
Ministerium für Justiz, Gesundheit und Soziales, Saarland
18. Mai 2006
Justiz- und Gesundheitsminister Josef Hecken:
Maßregelvollzug und Justizvollzug müssen kooperieren, weil sie viel miteinander
zu tun haben und gemeinsame Verantwortung tragen
Im Saarland derzeit 160 Patienten in der SKFP untergebracht
„Wer zusammenarbeiten will, muss voneinander wissen. Deshalb ist es wichtig, dass beide
Vollzugsarten nicht interessenlos nebeneinander herlaufen, sondern die jeweiligen
Besonderheiten in den Focus genommen werden“, so Justiz- und Gesundheitsminister Josef
Hecken anlässlich der Internationalen Fachtagung „Maßregelvollzug im Kreuzfeuer – Disput
oder Dialog“ Ministeriums für Justiz, Gesundheit und Soziales und der Saarländischen Klinik
für Forensische Psychiatrie (SKFP), an der über 150 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus
Deutschland, der Schweiz, Luxemburg und Frankreich teilnahmen.
„Maßregel- und Justizvollzug sind zwar zwei Arbeitsfelder, die sich unterscheiden, different
geprägt und gestaltet sind. Trotzdem ist es wichtig und richtig, dass im Rahmen der
Fachtagung Experten aus der Psychiatrie und der Jurisprudenz zusammenfinden, um die
Schnittmengen beider Fachbereiche auszuleuchten und ihre unterschiedlichen Standpunkte
auszutauschen. Es steht außer Frage“, so Minister Hecken, „dass alle an den Maßregel- und
Justizvollzug gerichteten Aufgaben und Erwartungen nur im Verbund zu erfüllen sind.
Dem Maßregelvollzug komme hierbei die besondere Aufgabe zu, den Spagat zwischen
therapeutischem Anspruch und der gleichzeitigen Beachtung des Schutzes der Öffentlichkeit
zu leisten. Die Behandlung von Straftätern im Maßregelvollzug ist einerseits Mittel zum
Zweck der Sicherheit der Gesellschaft, denn nur von erfolgreich therapierten Patienten ist
keine Gefahr zu erwarten. Andererseits hat aber in unserer Rechtsordnung auch der Täter
Anspruch darauf, mit Hilfe geeigneter therapeutischer Möglichkeiten eine Chance zur
Wiedereingliederung in die Gesellschaft eingeräumt zu bekommen. Bei jeder Entscheidung
über Entlassung, Lockerung und Widerruf einer Lockerung kann dieser Konflikt virulent
werden.
Selbstverständlich sei es richtig, dass Therapie und Sicherheit korrespondieren. Aber die
Sicherheit der Bevölkerung und des betreuenden Personals dürften zu keinem Zeitpunkt außer
Acht geraten. Im Zweifelsfall muss für die Sicherheitsinteressen der Öffentlichkeit
entschieden werden“, betonte Minister Hecken.
Weitere Themen der Fachtagung werden u. a. der Prozess des Maßregelvollzugs vom
Schlusslicht der Psychiatrie zu einem Wegbereiter kriminaltherapeutischer Interventionen,
eine historische Betrachtung des Faches Forensische Psychiatrie sowie Probleme und
Ergebnisse der Rückfallforschung sein. Da Europa als Ganzes zusammenwachse –auch im
Bereich des Maßregelvollzugs– komplettieren Erfahrungen aus der Schweiz im Umgang mit
Therapie und Sicherung von psychisch kranken Straftätern das interessante und spannende
Programm.
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