Genetik des Rhesus-Blutgruppensystems

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ÜBERSICHT
Genetik des
Rhesus-Blutgruppensystems
Willy A. Flegel
ZUSAMMENFASSUNG
SUMMARY
Einleitung: Rhesus-Blutgruppenantigene sind auf dem
RhD- und dem RhCE-Protein lokalisiert. Rhesus ist das klinisch wichtigste proteinbasierte Blutgruppensystem. Unter
allen 29 bisher beschriebenen Blutgruppensystemen weist
Rhesus die meisten Antigene und die komplexeste Genetik
auf. Die molekulare Genetik wurde in den letzten 15 Jahren
sehr detailliert erarbeitet. Viele serologische Besonderheiten konnten dadurch bestätigt werden, andere wurden
erst mithilfe molekularer Techniken erkannt. Methoden:
Auswertung selektiv ausgewählter Literatur. Ergebnisse:
Das RHD- und das RHCE-Gen sind sich sehr ähnlich. Die
beiden Gene liegen nahe beieinander an der chromosomalen Position 1p36.11. Ein Teil der Komplexität ist bedingt
durch die ungewöhnliche Orientierung beider Gene in
entgegengesetzter Richtung auf diesem Chromosom. Bei
Rhesus kann der molekulare Polymorphismus direkt mit
den Antigenen verglichen werden, die genau untersucht
sind. Diskussion: Rhesus veranschaulicht an einem
plastischen Beispiel wie Genotyp und Phänotyp zusammenhängen und erleichtert das Verständnis vieler zugrunde liegender genereller genetischer Mechanismen. Unter
klinisch-praktischen Gesichtspunkten erlaubt die genetische Diagnostik von Blutgruppenantigenen eine kosteneffiziente Weiterentwicklung der Transfusionsmedizin.
Dtsch Arztebl 2007; 104(10): A 651–7.
THE GENETICS OF THE RHESUS BLOOD
GROUP SYSTEM
Schlüsselwörter: Rhesus, Blutgruppe, molekulare Diagnostik, Transfusion, Schwangerschaft
Key words: rhesus, blood group, molecular diagnostic,
transfusion, pregnancy
R
1990er-Jahre konnte die Inzidenz von hämolytischen
Erkrankungen des Neugeborenen aufgrund von Alloimmunisierungen um mehr als 90 % reduziert werden.
Bis zu 1% der Schwangeren weisen klinisch relevante
antierythrozytäre Antikörper auf (2, e1). Anti-D bleibt
die häufigste Ursache für eine Phototherapie oder Austauschtransfusion bei Neugeborenen (2, e2). D-negative
Schwangere sind deshalb überdurchschnittlich häufig
betroffen.
Die 5 wichtigsten Rhesus-Antigene verursachen
die meisten Alloimmunisierungen nach Bluttransfusionen. Entsprechend den „Richtlinien zur Gewinnung
von Blut und Blutbestandteilen und zur Anwendung
von Blutprodukten“ (Hämotherapie-Richtlinien) (3)
erhalten D-negative Transfusionsempfänger immer
D-negative Erythrozytenpräparate. Seit 2000 werden
Frauen im gebärfähigen Alter und Mädchen kompatibel transfundiert für weitere Rhesus-Antigene wie Antigen C, c, E und e neben dem Antigen K der Kell-Blut-
hesus ist das klinisch wichtigste proteinbasierte
Blutgruppensystem. Bisher sind 49 Antigene
beschrieben. Damit ist es das umfangreichste aller 29
Blutgruppensysteme. Die komplexe genetische Grundlage von Rhesus hat zur Entstehung dieser ungewöhnlich großen Zahl von Antigenen beigetragen. Die Antigene befinden sich auf 2 Rhesus-Proteinen, RhD und
RhCE, und werden durch die Unterschiede in deren
Proteinsequenzen verursacht. Die CD-Nomenklatur bezeichnet sie als CD240D und CD240CE. Die RhesusProteine sind – im Unterschied zu den Proteinen manch
anderer Blutgruppen – nur in den Membranen von
Erythrozyten und deren unmittelbaren Vorläuferzellen
ausgeprägt (1).
Rhesus wird in seiner klinischen Bedeutung nur
vom AB0-Blutgruppensystem übertroffen. Seit Einführung der postpartalen Anti-D-Prophylaxe in den
späten 1960er-Jahren und der kombinierten präund postpartalen Anti-D-Prophylaxe ab Anfang der
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Introduction: Rhesus blood group antigens are expressed
by the RhD and the RhCE proteins. Rhesus is the most important protein based blood group system, clinically. It
comprises the largest number of antigens and the most
complex genetics of all 29 known blood group systems.
The molecular genetic basis has been elaborated in detail
over the last 15 years. Some serological characteristics
have been confirmed during this period, where others
have been recognized for the first time, using molecular
genetic techniques. Methods: Selective literature review.
Results: The RHD and the RHCE gene are strongly homologous and located adjacent to one another at chromosome
position 1p36.11. Part of the genetic complexity is explained by the unusual orientation of both genes on chromosome 1 with their tail ends facing each other. In the case
of Rhesus, molecular polymorphisms can be compared
with antigens which have been precisely characterized.
Discussion: Rhesus exemplifies the correlation of genotype
and phenotype, facilitating the understanding of underlying
genetic mechanisms. For clinical purposes, genetic
diagnostics of blood group antigens will improve the cost
effective development of transfusion medicine.
Dtsch Arztebl 2007; 104:(10) A 651-7.
Institut für Klinische
Transfusionsmedizin
und Immungenetik
Ulm und Institut für
Transfusionsmedizin,
Universitätsklinikum
Ulm (Prof. Dr. med.
Flegel)
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gruppe (3). Dieses Vorgehen gilt auch für alle Patienten mit regelmäßigen Transfusionen oder immunhämatologischen Problemen wie anti-erythrozytäre Allound Autoantikörper. Im Fall von Autoantikörpern wird
auf eine Klärung deren genauen Spezifität meist verzichtet. Zwar sind etwa ein Drittel solcher Autoantikörper gegen die Rhesus-Proteine gerichtet, aber es
lassen sich bisher kaum therapeutische Konsequenzen
ableiten (1).
Das Antigen D wurde im Jahr 1939 als erstes RhesusAntigen beschrieben. Im klinischen Jargon bezeichnete
man früher „Antigen D positiv“ als „Rhesusfaktor positiv“. Bereits im Jahr 1946 wurde eine als „Du“ benannte quantitative Variante mit schwach ausgeprägtem
Antigen D entdeckt, die eine klinisch-diagnostische Bedeutung hat und heute „weak D“ genannt wird. Seit
1953 ist bekannt, dass es qualitative Varianten des Antigens D gibt. Obwohl Patienten mit diesen partial-D-Varianten Antigen-D-positiv sind, können sie ein Anti-D
bilden.
GRAFIK 1
Verdoppelung der Rhesus-Gene und Verlust des RHD-Gens. Der ursprüngliche (anzestrale) Zustand ist in Form des RH-Genorts bei der Maus dargestellt. Das einzelne RH-Gen
liegt eng benachbart zu den 3 Genen SMP1, P29-associated protein (P) und NPD014 (N).
Durch ein Verdoppelungsereignis entstand beim Menschen ein zweites RH-Gen, das sich in
umgekehrter Orientierung zwischen N und SMP1 befindet. An den beiden Einfügungspunkten
vor und hinter dem RHD-Gen liegt jeweils ein circa 9 000-Nukleotid- bzw. Basenpaar-(bp)langes
DNA-Segment. Beide DNA-Segmente flankieren so das RHD-Gen und werden als „upstream
Rhesus box“ und „downstream Rhesus box“ bezeichnet. Im RHD-positiven Haplotyp konnte
das RHD-Gen durch eine Rekombination wieder verloren gehen (Grafik 3). Der Maßstab gibt
die ungefähre Länge von 50 000 Nukleotiden in der genomischen DNA wieder.
Genetische Grundlagen
Zur Aufklärung der erblichen Ursachen von Krankheiten muss man die individuellen Unterschiede in der
Erbinformation, also der genetischen Variabilität, kennen sowie die Häufigkeit der Varianten und ihre Verteilung in der Bevölkerung (4). Oft besteht eine enge
Korrelation zwischen dem Genotyp und dem daraus
resultierenden Phänotyp. So kann aus einer Verände-
TABELLE
Repräsentative molekulare Veränderungen in RHD-Allelen und ihre Korrelation mit bestimmten Phänotypen des Antigen D
Klassifizierung
der Antigenveränderung
AntigenD-Phänotyp
Molekulare Basis
Proteinveränderung
Mechanismus*
Repräsentatives Beispiel
Bezeichnung des
Trivialname
RHD-Allels
Neues Rhesusantigen
partial D
qualitativ
verändert
Aminosäureaustausch
auf der Außenseite
Hybridprotein: Proteinsegmentaustausch
auf der Außenseite
Missense-Mutation
RHD(G355S)
DNB
nicht bekannt
Genkonversion
RHD-CE(3–6)-D
DVI Typ 3
BARC
weak D
quantitativ
abgeschwächt
Aminosäureaustausch
in der Membran oder
intrazellulär
Missense-Mutation
RHD(V270G)
weak D Typ 1 nicht bekannt
DEL
quantitativ stark
abgeschwächt
stark verminderte Translation oder Proteinexpression
Missense-Mutation
Mutation an der
Spleißstelle
RHD(M2951) in CDe
RHD(K409K)
entfällt
entfällt
nicht bekannt
D negativ
D negativ
fehlende Proteinexpression
Gen-Deletion
Nonsense-Mutation
Frame-shift-Mutation
modifizierendes Gen
D negativ
entfällt
entfällt
nicht möglich
Hybridprotein:
Proteinsegmentaustausch auf der
Außenseite
Genkonversion
RHD-Deletion
RHD(Y330X)
RHD(488del4)
Defekt des
RHAG-Gens
RHD-CE(4-7)-D
Aminosäureaustausch
auf der Außenseite
Missense-Mutation
an der Aminosäureposition 226 in RHCE
antithetisches
Antigen beim
RhCE-Protein
Ausprägung von
Antigen E oder
Antigen e
RHnull
CdeS
RHCE-Allele:
Ala226 kodiert
Antigen e
Pro226 kodiert
Antigen E
entfällt
E versus e
* siehe Glossar
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GRAFIK 2
Modell der Rhesus-Proteine in der Erythrozytenmembran. Beide Rhesus-Proteine weisen 417 Aminosäuren auf, die durch Kreise symbolisiert sind. Den reifen Proteinen in der Membran fehlt die erste Aminosäure. Eingezeichnet sind in gelb die Aminosäureaustausche zwischen
dem RhD- und dem RhCE-Protein, wobei die 4 für Antigen-C-relevante Aminosäurepositionen in grün und die eine für Antigen E in schwarz
markiert sind. In blau sind alle bekannten einzelnen Aminosäureaustausche für die partial-D-Allele und in rot für die weak-D-Allele gekennzeichnet, unter denen in hellblau und orange die von der Arbeitsgruppe in Ulm identifizierten Mutationen markiert sind.
rung im RHD-Gen auf die Ausprägung des RhD-Proteins in der Erythrozytenmembran geschlossen werden. Aus einem veränderten RhD-Protein kann eine
transfusionsrelevante Änderung der Antigenität folgen, wie sie bei vielen D-Varianten vorliegt.
Molekulare Basis der Rhesus-Allele
1990 gelang der Nachweis des ersten Rhesus-Gens, das
dem RHCE-Gen entspricht. Zwei Jahre später wurde
das RHD-Gen gefunden und ein kompletter Verlust dieses Gens als Ursache des europäischen D-negativen
Phänotyps belegt. Seitdem wurden mehr als 170 Allele
allein beim RHD-Gen nachgewiesen. Noch 15 Jahre
nach der Klonierung des ersten RH-Gens ist das Gebiet
nicht vollständig erschlossen. DNB, das häufigste aller
bisher bekannten partial D in Europa, wurde beispielsweise erst 2002 beschrieben (e3).
Ebenfalls im Jahr 2002 erlaubte der Abgleich zwischen Human- und Säuger-Genom-Projekten die Entstehung der beiden RH-Gene auf dem Chromosom 1
nachzuvollziehen (Grafik 1) (e4). Die meisten Säuger
besitzen nur ein RH-Gen, und dessen Position entspricht dem RHCE-Gen beim Menschen. Das RHDGen entstand durch eine Verdoppelung des ursprünglichen RH-Gens während der Säugerentwicklung. Im
Laufe der Hominiden-Evolution trat eine RHD-Deletion auf (5), sodass heute bei vielen Menschen das
RHD-Gen vollständig fehlt. Dieser Haplotyp (Glossar) ist weltweit die häufigste Ursache von D-negativ.
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Die Rhesus-Allele können nach ihrer molekularen
Basis gruppiert werden. Diese Gruppen zeichnen sich
meist durch Punktmutationen (SNP, „single nucleotide
polymorphisms“) aus, die Missense-Mutationen, Nonsene-Mutationen, Frame-shift-Mutationen oder SpleißStellen-Mutationen verursachen (Glossar). RHD-CE-D
Hybridallele sind oft durch Genkonversion entstanden.
Die molekularen Veränderungen und ihre Effekte auf
das Antigen D werden anhand einiger repräsentativer
Beispiele gegenübergestellt (Tabelle). Man kann erkennen, wie der Antigen-D-Phänotyp mit der Art der molekularen Basis korreliert.
Molekulare Basis der Rhesus-Phänotypen
Die beiden Rhesus-Proteine RhD und RhCE sind sehr
ähnlich und unterscheiden sich lediglich an 36 ihrer insgesamt 417 Aminosäurepositionen. Beide Proteine weisen jeweils 12 Segmente auf, die sich durch die Erythrozytenmembran winden, und besitzen 6 extrazelluläre
Proteinschlaufen (Grafik 2). Der aminoterminale Beginn
(NH3) der Aminosäurekette liegt ebenso intrazellulär
wie deren carboxyterminales Ende (COOH).
D negativ
Der klinisch sehr wichtige Unterschied zwischen Rh-positiv und Rh-negativ wird durch die Anwesenheit des RhDProteins in der Erythrozytenmembran (D positiv) oder
durch dessen Abwesenheit (D negativ) bestimmt. Es ist für
Proteine von Erythrozyten und anderen Zellen eher unge-
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oberfläche statt, können einzelne Epitope des Antigens D verloren gehen, bisweilen treten neue Antigene auf. DNB ist das häufigste europäische partial D
(Tabelle).
D-Kategorien bilden eine Untergruppe von partial
D. Die Struktur des Rhesus-Genorts erleichtert die
Entstehung von Genkonversionen (Grafik 4) (7). In
das eine Rhesus-Gen am RHD-Genort werden einige
homologe Exons des Rhesus-Gens vom RHCE-Genort eingefügt. Dabei wird ein Rhesus-Hybridallel gebildet, das ein entsprechendes Hybridprotein exprimiert. So sind die D-Kategorien III bis VI entstanden.
Meist handelt es sich um längerstreckige Veränderungen, die immer auch die Erythrozytenoberfläche betreffen.
GRAFIK 3
Verlust des RHD-Gens. Die „RHD-Deletion“ ereignete sich durch eine Rekombination zwischen einer „upstream Rhesus box“ und einer „downstream Rhesus box“ auf zwei unterschiedlichen Chromosomen. Dies wird als ungleiches „Crossing over“ bezeichnet. Löst man
einen der beiden überkreuzten Chomosomenstränge auf (von A über die Rekombinationsstelle
nach B), so entsteht eine Nukleinsäure am Rhesus-Genort, der das RHD-Gen vollständig fehlt
(C). Dieser Haplotyp (C) hat eine Häufigkeit von circa 41 % in der Bevölkerung. Wenn eine
Person den Haplotyp homozygot trägt (Häufigkeit circa 17 %), ist sie D-negativ.
wöhnlich, dass ein komplettes Protein in der Membran bei
vielen Menschen fehlt. Diese genetische Besonderheit
trägt zur starken Antigenität des RhD-Proteins bei.
Bei der Verdoppelung des ursprünglichen RH-Gens
wurden auch zwei DNA-Segmente gebildet, die „Rhesus box“ genannt werden (Grafik 1) (5). Die RHD-Deletion entstand durch ein ungleiches „Crossing over“
(Grafik 3). Es tritt bei sehr großer Ähnlichkeit (Homologie) zweier DNA-Segmente auf, wie sie bei den Rhesus-box-DNA-Segmenten vorliegt. Der unter Europäern häufigste RHD-negative Haplotyp ist durch eine „hybrid Rhesus box“ charakterisiert. Feine molekulare Unterschiede zwischen den verschiedenen Formen
der „Rhesus box“ werden für die genetische Diagnostik
genutzt.
Molekulare Basis von Varianten des Antigen D
Neben dem Fehlen des RhD-Proteins als häufigste Ursache des D-negativen Phänotyps gibt es eine Reihe unterschiedlicher Veränderungen im RhD-Protein, die das
Antigen D phänotypisch variieren. In Abhängigkeit
vom Phänotyp und ihrer molekularen Basis folgend
werden diese RHD-Allele in partial D, weak D und DEL
eingeteilt.
Partial D
Das RhD-Protein durchspannt die Erythrozytenmembran mehrfach, sodass nur ein Teil des Proteins an der
Oberfläche exponiert ist (Grafik 2). Findet ein Aminosäureaustausch im RhD-Protein an der Erythrozyten-
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Weak D
Befindet sich eine veränderte Aminosäure in der
Erythrozytenmembran oder intrazellulär, führt dies
meist zu einem weak-D-Phänotyp (Grafik 2) (8). Die
Integration des RhD-Proteins in die Membran wird
behindert. Das Antigen D ist quantitativ abgeschwächt. Meist bleibt es qualitativ unverändert, was
eine Anti-D-Immunisierung ausschließt. Der weak-DTyp-1 ist in Europa am häufigsten (Tabelle).
DEL
Ein besonders schwach ausgeprägtes Antigen D wird
als DEL bezeichnet, früher Del, weil es nur durch Elutionstechniken nachweisbar war. Bei der Elution werden
gebundene Antikörper vom Erythrozyten abgesprengt,
um sie „im Eluat“ nachzuweisen. Die zugrunde liegenden molekularen Veränderungen sind schwerwiegender
als bei weak D, was die Membranintegration stark beeinträchtigt aber nicht ganz verhindert. Alle DEL-Allele sind in Europa selten, aber bis zu 30 % aller anscheinend D-negativen Personen in Ostasien tragen das
DEL-Allel RHD(K409K) (7, 9).
Antigene C/c und E/e
Die klinisch wichtigen Rhesus-Antigene C, c, E und e
sind durch Unterschiede im RhCE-Protein an lediglich 5 Aminosäurepositionen bedingt (Grafik 2). Antigene werden als „antithetisch“ bezeichnet, wenn ein
Protein nur eines der antithetischen Antigene aufweisen kann. Ursache sind Proteinpolymorphismen. Oft
liegen 2 Varianten eines Proteins vor, die sich lediglich an einer Aminosäureposition unterscheiden. Ein
Beispiel sind die Rhesus-Antigene E und e: Alle
RHCE-Allele, die an Position 226 die Aminosäure
Prolin aufweisen, exprimieren Antigen E, solche
RHCE-Allele mit Alanin an dieser Position exprimieren Antigen e (Tabelle) (1). Ähnliche Unterschiede
zwischen 2 RHCE-Allelen bedingen die antithetischen
Antigene C und c. Die Antigen-Paare C/c und E/e sind
jedoch nicht antithetisch zueinander, weil sie unterschiedliche Aminosäurepositionen betreffen. Alle 4
möglichen Kombinationen treten mit unterschiedlichen Häufigkeiten auf (bei Europäern: Ce > ce > cE > CE)
und werden als Haplotypen vererbt.
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Klinische Anwendung
Wie auch sonst in der Medizin muss vor der Durchführung der genetischen Diagnostik klar sein, welchem Ziel sie dienen soll (10). In der transfusionsmedizinischen Patientenversorgung lassen sich die
genetischen Kenntnisse bereits heute bei etlichen klinisch wichtigen Fragestellungen kosteneffizient anwenden. Als Techniken werden Polymerasekettenreaktion-(PCR)basierte Methoden mit Nachweis der
Amplifikationsprodukte im Gel, durch Nukleotidsequenzierung oder durch Hybridisierung auf Biochips
angewendet (11).
Anti-D bei Patienten
Klinische Probleme sind durch einige wenige RHDAllele bedingt. Meist handelt es sich um Personen mit
partial-D- oder einigen wenigen seltenen weak-D-Typen,
die durch normales Antigen D immunisiert werden.
Die D-Kategorie VI (DVI) ist darunter die wichtigste.
Deshalb werden monoklonale Anti-D-Antikörper für
die Typisierung empfohlen, die nicht mit DVI reagieren (12, 13). Dieses Vorgehen ist seit 1996 unverändert in den deutschen Hämotherapie-Richtlinien implementiert. Die Träger von DVI werden daher bewusst „falschnegativ“ typisiert, um eine Transfusion
von D-positivem Blut mit der wahrscheinlichen Folge
einer Anti-D-Immunisierung zu verhindern (14). Nach
der Einführung in Deutschland wurden in die Richtlinien anderer europäischer Länder vergleichbare Vorschriften übernommen.
Im Gegensatz zu partial D wurde bisher keine
Allo-Anti-D-Immunisierung bei weak-D-Typ 1, -Typ
2 oder -Typ 3 beobachtet (e5). Es ist aus klinischer
Sicht überaus vorteilhaft, dass es sich um die häufigsten weak-D-Allele handelt, die zusammen annähernd 90 % aller weak-D-Typen in Deutschland ausmachen (e6). Diese Patienten können mit D-positivem
Blut transfundiert werden. Damit wird der unnötige
Einsatz von D-negativen Erythrozytenpräparaten bei
diesen Patienten vermieden. Mit diesem Vorgehen
können bis zu 5 % aller D-negativen Erythrozytenpräparate eingespart und völlig problemlos durch
D-positive ersetzt werden (8), um Engpässe in der
Versorgung mit D-negativen Blutpräparaten zu mindern (15).
Schwangere und Anti-D-Prophylaxe
Auch Schwangere mit den häufigen weak-D-Typen 1
bis 3 können D-positiv transfundiert werden und
benötigen dementsprechend keine Anti-D-Prophylaxe. Mit einer einmalig durchgeführten genetischen
Diagnostik können so mehrere Anti-D-Gaben bei
circa 3 500 Schwangeren pro Jahr allein in Deutschland vermieden werden, das entspricht bis zu 5 %
aller D-negativen Schwangerschaften. Dadurch wird
jede mögliche Nebenwirkung dieser – für solche
Schwangere unnötigen – Prophylaxe ausgeschlossen.
Bis zu 5 % aller Anti-D-Injektionen könnten eingespart werden. Die erforderliche einmalige genetische
Diagnostik ist kostengünstiger als mehrere Anti-DGaben. Zur Umsetzung dieses Konzepts müssten auch
die Richtlinien des Bundesausschusses der Ärzte und
Krankenkassen über die ärztliche Betreuung während der Schwangerschaft und nach der Entbindung
(„Mutterschafts-Richtlinien“) (16) angepasst werden.
Dabei würden alle Schwangeren mit seltenen weakD-Typen die erforderliche Prophylaxe erhalten, was
beim aktuellen Stand der Hämotherapie (3) und Mutterschafts-Richtlinien (16) nicht unbedingt gewährleistet ist.
Durch fetale DNA im Plasma des mütterlichen peripheren Blutes kann ein D-positiver Fetus nachgewiesen werden (17). Bei D negativen Feten ist natürlich keine Anti-D-Prophylaxe erforderlich. Dies
könnte circa 40 % der Anti-D-Gaben einsparen, die
bisher während der Schwangerschaft gegeben werden. Diese Technik wurde in europäischen Nachbarländern entwickelt, in denen intensive Bestrebungen
zur Implementierung dieser genetischen Diagnostik
bestehen (18).
GRAFIK 4
Genkonversion als Ursache der D Kategorie VI (DVI). Die beiden RH-Gene liegen in entgegengesetzter Orientierung als sogenanntes
„Cluster“ auf ihrem Chromosom. Wenn sich das Chromosom wie eine Haarnadel konfiguriert, können beide RH-Gene in gleicher Orientierung aneinander lagern. Diese Konfiguration erlaubt eine Genkonversion „in cis“, bei der ein DNA-Segment von einem Gen auf ein anderes Gen übertragen wird. Der mittlere Abschnitt des RHD-Gens (gelb) wird durch den entsprechenden, homologen Abschnitt des RHCEGens (grün) ersetzt (A). Eine solche Genkonversion liegt dem RHD-CE(3-6)-D-Allel zugrunde, das für D-Kategorie VI vom molekularen Typ
3 (DVI Typ 3) kodiert (B). Die Exons 1 bis 10 sind für beide Rhesus-Gene eingezeichnet (C). Wegen der gegenläufigen Richtung liegen die
letzten Exons beider RH-Gene (RHD- und RHCE-Exon 10) am nächsten beieinander. Im RHD-Gen sind die Exons 3 bis 6 durch die homologen Exons des RHCE-Gens ersetzt.
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Pränatal-Diagnostik
Falls man das Antigen D beim Fetus bestimmen muss,
ist die genetische Diagnostik aus Amnionflüssigkeit
oder den Trophoblastenzellen die Methode der ersten
Wahl (11). Eine Punktion der Nabelschnur ausschließlich zur blutgruppenserologischen Testung ist heute
kontraindiziert. Wie erwähnt könnte künftig sogar das
Plasma der Mutter als Untersuchungsmaterial ausreichen.
Kinderwunsch bei Anti-D-Antikörpern
Wenn beim Vater Heterozygotie für die RHD-Deletion nachgewiesen worden ist, beträgt die Chance für
einen Antigen-D-negativen Fetus – und deshalb eine
immunhämatologisch praktisch risikofreie Schwangerschaft – 50 %. Ist der Vater homozygot für das
RHD-Gen, wird der Fetus auf jeden Fall das Antigen
D erben, was die Entscheidungsfindung des Paares
beeinflussen kann.
Über Jahrzehnte war die Unterscheidung von RHDheterozygot und RHD-homozygot unmöglich, weil
serologische Methoden ungeeignet sind. Erst die genetische Diagnostik der „hybrid Rhesus box“ hat die
Möglichkeiten grundsätzlich erweitert (5). Dazu muss
der D-positive Vater lediglich mit geeigneter genetischer Diagnostik auf die RHD-Deletion untersucht
werden.
Indikationen bei bestimmten Krankheiten
Die genetische Diagnostik gilt als gesichert indiziert
zur verlässlichen Blutgruppenbestimmung bei Patienten nach Transfusion und mit auto- oder alloimmunhämatologischen Anämien, wenn die serologischen
Standardmethoden versagen. Zwar können transfundierte Leukozyten unter Umständen jahrelang persistieren; die übliche genetische Diagnostik wird dadurch nicht beeinträchtigt.
Blutspender
Mit genetischer Diagnostik für das RHD-Gen werden
unter vermeintlich D-negativen Spendern etliche
Blutspender mit weak-D- oder DEL-Bluten aufgedeckt, um diese Blute nur noch D-positiven Patienten
zu transfundieren (e5). Ohne genetische Diagnostik
werden immer wieder D-negative Transfusionsempfänger durch das Antigen D solcher Blutspenden immunisiert, wie in aktuellen Veröffentlichungen dokumentiert ist (19–22).
Bisher als D-negativ verkannte Spender, deren
Erythrozyten einen D-/D+-Chimärismus aufweisen,
können ebenso sicher entdeckt werden. Ein lebenslanger Chimärismus kann bei Zwillingsschwangerschaften mit gemeinsamem Blutkreislauf auftreten. Jede
Transfusion solcher Blutspenden kann eine Anti-DImmunisierung bewirken, weil sie jeweils mehrere
Milliliter Erythrozyten mit völlig normalem D-positiven Phänotyp enthalten. Diese Beimengung von
D-positivem Blut kann man mit keiner serologischen
Routinemethode sondern ausschließlich mit genetischer Diagnostik nachweisen (7, 22). Jede Anti-D-Im-
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munisierung hat zumindest bei Frauen im gebärfähigen Alter und Mädchen eine erhebliche klinische Bedeutung. Ein Morbus hämolyticus neonatorum durch
Anti-D wäre im Fall D-positiver Schwangerschaften
wahrscheinlich.
Funktion der Rhesus-Proteine
Für die meisten Blutgruppenproteine ist eine Funktion
bekannt. Peter Agre fand beim Reinigen menschlicher
Rhesus-Proteine das Wassertransporterprotein (23);
dafür erhielt der amerikanische Arzt den Nobelpreis
für Chemie 2003. Trotz intensiver Bemühungen wurde für die RhD- und RhCE-Proteine bislang keine
Funktion nachgewiesen. Das im Erythrozyten vorhandene Rhesus-Homolog „Rhesus-assoziiertes Antigen
(RhAG)“ kann Ammonium-Ionen transportieren (24),
was sich aber für die Rhesus-Proteine selbst nicht bestätigte. Eine mögliche Funktion für den Gasaustausch von CO2 und sogar O2 wird diskutiert. Viele
Kenntnisse zu Rhesus-Allelen werden erst durch die
klinische Anwendung der genetischen Diagnostik gewonnen, die so zur Klärung der Funktion beitragen
könnte.
Die wissenschaftliche Bearbeitung von Rhesus (e7)
und anderen Blutgruppen kann man aus Sicht der
Grundlagenforschung, zu der die Transfusionsmedizin wie bisher beitragen wird, nicht als unergiebig
oder gar als abgeschlossen einstufen.
Ausblick
Die genetische Diagnostik bei Blutgruppen wird
etwa seit dem Jahr 2000 in der klinischen Transfusionsmedizin angewendet (25, e8). Am Beispiel der
Schwangerenbetreuung zeigt sich, wie die genetische
Blutgruppendiagnostik die Versorgungsqualität erhöht, indem sie potenzielle Nebenwirkungen vermeiden hilft und gleichzeitig Kosten einsparen kann. Mit
einer solch vorteilhaften Kombination kann man nicht
bei allen Anwendungen rechnen und man muss in einem gewissem Umfang bereit sein, zunächst zusätzliche Kosten für eine Optimierung der Versorgung
durch genetische Blutgruppendiagnostik in Kauf zu
nehmen.
Neben einer besseren Patientenversorgung kann
man so auch Techniken entwickeln (11), die außerhalb
des deutschen Gesundheitswesens nachgefragt werden. Europäische transfusionsmedizinische Einrichtungen haben auf dem Gebiet der molekularen Blutgruppendiagnostik und -anwendung eine führende
Stellung und werden durch ihre Forschungsarbeit
auch künftig zu einer stetigen Verbesserung der Patientenversorgung beitragen.
Interessenkonflikt
Prof. Flegel und der DRK-Blutspendendienst Baden-Württemberg-Hessen
gGmbH halten Patente oder Patentanträge zu Nukleotidsequenzen und deren
molekulardiagnostische Nutzung für weak D, die Rhesus box, die RHD-Deletion
und einige DEL-Allele. Er berät Ortho-Clinical Diagnostics und erhielt EU-Projektförderung (BloodGen-Konsortium).
Manuskriptdaten
eingereicht: 11. 1. 2006, revidierte Fassung angenommen: 1. 9. 2006
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⏐ Jg. 104⏐
⏐ Heft 10⏐
⏐ 9. März 2007
Deutsches Ärzteblatt⏐
Glossar
Gebräuchliche Begriffe
für Variabilität im Genom (4, 6)
> SNP („single nucleotide polymorphism“)
Punktmutation (einzelner Nukleotid-Polymorphismus) Variabilität einer
Nukleotidsequenz infolge der Änderung eines einzelnen Nukleotids
> Allel
Ausprägungsform einer kodierenden Nukleotidsequenz (Exon eines Gens)
oder einer nichtkodierenden Nukleotidsequenz (Intron eines Gens), die in
zwei oder mehr Varianten vorliegen; Unterscheidung häufig durch ein SNP
> Genotyp
Paar von Allelen oder Varianten einer Nukleotidsequenz, das eine Person
an einer homologen Stelle seines Chromosomenpaares besitzt
> Haplotyp
Kombination von Allelen oder Varianten einer Nukleotidsequenz, die
auf demselben Chromosom eng beieinander liegen und meist zusammen
vererbt werden
> Missense-Mutation
Aminosäure-Austausch in einem Protein verursacht durch ein SNP;
er kann die Funktion oder Antigenität eines Proteins verändern
> Nonsense-Mutation
Stop-Kodon, verursacht durch ein SNP; es führt zum vorzeitigen
Abbruch der Aminosäure-Kette mit Verlust der Funktion oder Expression
eines Proteins
> Stille Mutation („silent mutation“)
SNP ohne Veränderung einer Aminosäure; Protein unverändert; kann
trotzdem mit klinisch relevantem Phänotyp assoziiert sein und diagnostisch
genutzt werden
> Frame-shift-Mutation
Verlust oder Einfügung von einem oder zwei Nukleotiden; verändert
den Leserahmen bei der Proteinsynthese; führt zum vorzeitigen Abbruch
(selten zur Verlängerung) der Aminosäurekette mit Verlust der Funktion oder
Expression eines Proteins
> Mutation einer Spleiß-Stelle („splice site mutation“)
SNP im Bereich einer Spleiß-Stelle (Übergang vom Exon zum Intron eines
Gens), verursacht Fehl-Spleißen einer Boten-RNA (mRNA – messenger
RNA) und Überspringen eines Exons, was die Aminosäure-Kette verändert;
führt zum Verlust der Funktion oder der Expression eines Proteins
> Genkonversion
ein nichtreziproker Austausch zwischen 2 sehr ähnlichen
(homologen) Genen, bei dem eine bestimmte Nukleotidsequenz eines
Gens auf demselben Chromosom („in cis“) durch die Sequenz des anderen
Gens ersetzt wird
Anschrift des Verfassers
Prof. Dr. med. Willy A. Flegel
Institut für Transfusionsmedizin
Universitätsklinikum Ulm
Helmholtzstraße 10
89081 Ulm
E-Mail: [email protected]
@
Mit „e“ gekennzeichnete Literatur:
www.aerzteblatt.de/lit1007
The English version of this article is available online:
www.aerzteblatt.de/english
A 657
MEDIZIN
ÜBERSICHT
Genetik des
Rhesus-Blutgruppensystems
Willy A. Flegel
LITERATUR INTERNET
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