Christiane Lemke . Personlichkeit und Gesellschaft Schriften des Zentralinstituts fUr sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universitat Berlin ehemals Schriften des Instituts flir politische Wissenschaft Band 33 Christiane Lemke Personlichl<eit und Gesellschaft Zur Theorie cler Personlichkeit in cler DDR Westdeutscher Verlag CIP-Kurztitelaufnahme der Oeutschen Bibliothek Lemke, Christiane: Personlichkeit und Gesellschaft: zur Theorie d. Personlichkeit in d. OOR/Christiane Lemke. Opladen: Westdeutscher Verlag, 1980. (Schriften des Zentralinstituts fUr Sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universitat Berlin; Bd. 33) 0188 © 1980 Westdeutscher Verlag GmbH, Opladen Aile Rechte vorbehalten. Auch die fotomechanische Vervielfaitigung des Werkes (Fotokopie, Mikrokopie) oder von Teilen daraus bedarf der vorherigen Zustimmung des Veri ages. ISBN-13: 978-3-531-11517-7 e-ISBN-13: 978-3-322-86063-7 DOl: 10.1007/978-3-322-86063-7 Vorbemerkung Jede Gesellschaft produziert em bestimmtes Verhaltnis der Menschen zueinander und zu ihren Lebensbedingungen. Der Spie!raum ftir die Entfaltung der Personlichkeit variiert je nach der historischen Gesamtsituation und in Abhangigkeit von den unterschiedlichen Gesellschaftssystemen. Die sozialistischen Lander ordnen ihre okonomischen, sozialen und politischen Maanahmen dem Zie! zu, Bedingungen fUr die "allseitig entwickelte, sozialistische Personlichkeit" zu schaffen. An dieses Selbstverstandnis kntipft die vorliegende Studie in erster Linie an. Sie will am Beispiel der DDR zeigen, welche theoretischen Grundlagen dieses Konzept tragen und wie es sich mit der gesellschaftlichen Realitat vermitte!t. Die Brisanz dieser Fragestellung liegt dabei nicht nur in der politisch-programmatischen Bedeutung, die diese Zie!vorstellung fUr die sozialistischen Lander besitzt; es hande!t sich dariiber hinaus zugleich urn einen der Kernbereiche marxistischer Theorie. War urspriinglich an eine primar theoriegeschichtlich orientierte Aufarbeitung des Diskussionsprozesses tiber die sozialistische Personlichkeit gedacht, so zeigte sich im Verlauf der Auseinandersetzung mit dem Material, daa die Forschungen und Theoriebildungen auf diesem Gebiet zugleich zeitgemaaer Ausdruck von Problemen sind, die sich wahrend der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR herausgebildet haben. In ihren Grundztigen muaten daher okonomische, soziale und politische Zusammenhange in die Studie eingehen, urn ihren jeweiligen Einflua auf die Personlichkeitstheorie und -forschung deutlich werden zu lassen. Ihre Anregung erhie!t die Stu die aus der kritisch orientierten Sozialwissenschaft. Deren Ergebnisse tiber die Interdependenz von individuellen und gesellschaftlichen Entwicklungsprozessen fUhrten zu der Frage, welche theoretischen und praktischen Konzepte andere Herrschafts- und Gesellschaftssysteme zu entwickeln in der Lage sind. Die groaztigige finanzielle Forderung des Evangelischen Studienwerks Villigst ermoglichte es, das geplante Forschungsprojekt, das dem Fachbereich Erziehungswissenschaften der Freien Universitat Berlin als Dissertation vorge!egen hat, durchzufUhren. Mein besonderer Dank gilt in diesem Zusammenhang Gudrun Schiek, die das Projekt kontinuierlich und weit tiber das an der Hochschule tibliche Maa wissenschaftlich begleitet und betreut hat und mich immer wieder in dem Anliegen einer kritisch-distanzierten, gleichwohl aber engagierten Auseinandersetzung mit dem Forschungsgegenstand bestarkt hat. Einen aufgeschlossenen und kenntnisreichen Diskussionspartner fand ich auch in Klaus-Dieter Mende. Ftir seine gutachterliche Mtihewaltung bin ich Harald Scholtz verbunden. Ulrich Albrecht und Sebastian Herkommer schulde ich fUr die vor allem in der letzten Phase des Promotionsvorhabens ge!eistete wissenschaftliche und personliche Unterstiitzung aufrichtigen Dank. 6 Vorbemerkung Die in der Studie zum Ausdruck kommende Auffassung, daB sich die Bedeutung der Personlichkeitstheorie und -forschung in der DDR nur vor dem Hintergrund der spezifischen sozialen und politischen Zusammenhange dieser Gesellschaft vollstandig erschlieBt, erfuhr ihre Bestatigung und Bestarkung durch die Hypothesen und Forschungsergebnisse, die der Arbeitsbereich DDR-Forschung und -Archiv des Zentralinstituts fUr sozialwissenschaftliche Forschung der Freien Universitat Berlin unter der wissenschaftlichen Betreuung und Koordination von Hartmut Zimmermann in der Vergangenheit entwickelt hat. 1m Rahmen meiner Tatigkeit in diesem Arbeitsbereich, die ich nach AbschluB des Promotionsprojekts aufnahm, waren mir diese Forschungsergebnisse fur die weitere Oberarbeitung von hohem Nutzen. So ~aben mir die projektbezogenen Diskussionen, wie sie im Arbeitsbereich ublich sind, zahlreiche wertvolle Anregungen und Hinweise zur Vertiefung der Darstellung insbesondere in bezug auf die soziale und politische Entwicklung der DDR gegeben und mich an verschiedenen Punkten zur Prlizisierung der methodischtheoretischen Uberlegungen veranlaBt. Allen an diesen Diskussionen beteiligten wissenschaftlichen Mitarbeitern sei daher fur ihre ausgesprochen konstruktive und anregende Kritik an dieser Stelle nachdriicklich gedankt. Auch allen denjenigen Kolleginnen und Kollegen des Zentralinstituts, die am Gelingen der Studie mitgearbeitet haben, mochte ich hierfUr Dank sagen. So ubernahmen Ursula Bohme und Dorothee Neserke die muhevolle Arbeit, das Manuskript neu zu schreiben. Gisela Weichert und Elisabeth Potulski waren verantwortlich fUr die Materialbescha+'fungen aus dem Archiv; die Kolleginnen und Kollegen der Bibliothek unter der Leitung von Joachim Bartz suchten Materialien heraus und gab en zahlreiche nutzliche Hinweise fur die Erstellung einer leserfreundlichen Bibliographie. Die redaktionelle Bearbeitung und Korrektur des Manuskripts besorgte in umsichtiger und griindlicher Weise Frauke Burian. Die vorliegende Stu die sollte yom Leser in erster Linie als Diskussionsbeitrag verstanden werden, der fUr ein bestimmtes Teilgebiet die komplizierte gesellschaftliche Entwicklung der DDR ein Stuck verstandlicher mach en und zur Weiterarbeit ermuntern will. Die Analyse sozialistischer Lander wird in Zukunft immer weniger darauf verzichten konnen, sich mit diesem Bereich sozialwissenschaftlicher Diskussion auseinanderzusetzen, denn die Personlichkeitstheorie und -forschung als Schnittpunkt sozialer und politischer Probleme in der Beziehung von Individuum und Gesellschaft gewinnt standig an Bedeutung. Die Bereitschaft des Zentralinstituts fUr sozialwissenschaftliche Forschung, die Studie in seiner Schriftenreihe zu veroffentlichen, ermoglicht es, die erzielten Forschungsergebnisse einem breiteren, sozialwissenschaftlich interessierten Leserkreis zuganglich zu machen. Berlin, im Friihjahr 1980 Christiane Lemke Inhalt Vorbemerkung 5 ..... Abkiirzungsverzeichnis 9 Einleitung 1. 11 15 Entwicklung und Schwerpunkte der Diskussion in der DDR Zur Periodisierung der Diskussion . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.1. 1.2. Der Beginn einer systematischen Diskussion (ab 1958) . . . . . . . . . 1.2.1. Umgestaltung der Produktionsverhaltnisse und der "neue sozialistische Mensch" 1.2.2. Personlichkeitstheorie in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3. Die Personlichkeitstheorie in der Phase des "umfassenden Aufbaus des Sozialismus" (ab 1963) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.1. "Wissenschaftlich-technische Revolution" und allseitig entwickelte Personlichkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.3.2. Bildungssystem und Personlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . . 1.3.3. Das Konzept der Normverinnerlichung und das motivtheoretische Konzept in der Psychologie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1. 3.4. Personlichkeit in der sozialistischen Gesellschaftsformation . . . . . . 1.4. Die Personlichkeitstheorie in der Zeit nach dem VIII. Parteitag der SED (ab 1971) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1.4.1. Sozialistische Personlichkeit als "sozialer Typus" .. . . . 1.4.2. Ideologie und Moral der sozialistischen Personlichkeit . . 1.4.3. Ganzheitliche Ansatze in der Psychologie . . . . . . . . . . 1.4.4. Die Debatte tiber "Marxismus und Theorie der Personlichkeit" von Seve 2. Grundprobleme der personlichkeitstheoretischen Diskussion ... Zur Frage des theoretischen Ausgangspunktes der Personlichkeitstheorie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2. Personlichkeit und Gesellschaft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 2.2.1. Gesellschaftliche Verhaltnisse als Basis der Personlichkeitsentwicklung 2.2.2. Das Verhaltnis von sozialen und biologischen Entwicklungsfaktoren . 2.2.3. Arbeit - Freizeit - Personlichkeitsentwicklung . . . . . . . . . . . . . .. 15 17 18 24 30 33 39 43 49 55 57 61 69 75 83 2.1. 85 92 93 98 104 2.2.4. 2.3. 2.3.1. 2.3.2. Sozialstrukturelle Aspekte der Personlichkeitsentwicklung . . . Personlichkeit und sozialistisches BewuBtsein . . . . . . . . . . . Die These von der BewuBtheit im Sozialismus ..... . . . . . . . . . .. Zum Problem der BewuBtseinsformen in der Gesellschaft 110 112 113 118 3. SchluSbemerkungen 122 Bibliographie 126 Dokumente, Proto kolle, Gesetze Monographien . . . . . . . . Zei tschriftenau fsii tze 126 127 140 Personenregister 151 Sachregister ... 154 Abkiirzungsverzeichnis AdW AfG APW BRD DAW DDR DPZI EOS FDGB FDJ GBI. IfG KPD KPdSU LPG ND NbsPL bss PGH POS RGW SBZ SED SU UdSSR VEB VVB WTR ZK Akademie der Wissenschaften der DDR, ehemals Deutsche Akademie der Wissenschaften (DAW) Akademie der Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED, ehemals Insti tut fUr Gesellschaftswissenschaften (If G) Akademie der Padagogischen Wissenschaften Bundesrepu blik Deu tschland Deutsche Akademie der Wissenschaften Deutsche Demokratische Republik Deutsches Padagogisches Zentralinstitut Erweiterte polytechnische Oberschule Freier Deutscher Gewerkschaftsbund Freie Deu tsche Jugend Gesetzblatt Institut fiir Gesellschaftswissenschaften beim ZK der SED Kommunistische Partei Deutschlands Kommunistische Partei der Sowjetunion Landwirtschaftliche Produktionsgenossenschaft Neues Deutschland Neues okonomisches System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft bkonomisches System des Sozialismus Produktionsgenossenschaft des Handwerks Polytechnische Oberschule Rat fUr Gegenseitige Wirtschaftshilfe Sowjetische Besatzungszone Sozialistische Einheitspartei Deutschlands Sowjetunion Union der Sozialistischen Sowjetrepubliken Volkseigener Betrieb Vereinigung Volkseigener Betriebe Wissenschaftlich-technische Revolution Zentralkomitee Einleitung Die Theorie der Personlichkeit hat in den letzten Jahren in der DDR wie auch in anderen sozialistischen Landern zunehmend an Bedeutung gewonnen. Ihre Ausarbeitung bildet gegenwartig einen der Schwerpunkte innerhalb der Sozialwissenschaften 1 . Das wachsende Interesse an personlichkeitstheoretischen Forschungsproblemen wird damit begrtindet, daG die Entwicklung der Personlichkeit fundamentaler Bestandteil der gesellschaftlichen Umgestaltung sei. Die Theorie der Personlichkeit soll somit die Zusammenhange zwischen Personlichkeitsentwicklung und gesellschaftlichen Prozessen aufdecken. Dabei geht es im Kern gegenwartig darum, eine allgemeine Theorie der Personlichkeit zu entwickeln, die die bisher in den verschiedenen Wissenschaftszweigen vorliegenden Ansatze und Ergebnisse integriert und die als Grundlage weiterer Forschung dienen solI. In der westlichen DDR-Forschung sind die in der DDR unternommenen Versuche, eine Theorie der Personlichkeit zu entwickeln, bisher nicht systematisch untersucht worden. Inhalt und Charakter der personlichkeitstheoretischen Diskussion lassen jedoch den SchluG zu, daG hier ein SelbstverstandigungsprozeG tiber die Problematik der Individualitat in der gesellschaftlichen Transformation stattfindet, so daG dieser Forschungsbereich tiber ein fachspezifisches Interesse hinaus fUr die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung grundsatzlich von Bedeutung ist. In der vorliegenden Untersuchung wird die seit einigen J ahren in der DDR geftihrte Diskussion tiber die Theorie der Personlichkeit dargestellt und auf ihre Problemstellungen hin analysiert, urn somit einen Bereich der Sozialwissenschaften zuganglich zu machen, der trotz wachsender Bedeutung in westlichen Forschungen bislang vernachlassigt wurde. Anhand dieses besonderen Bereichs sozialwissenschaftlicher Forschung soll sie zugleich einen Beitrag zum Verstandnis der gesellschaftlichen Entwicklung in der DDR leisten. In diesem Zusammenhang stellt sich die Frage nach der Bedeutung und der Tragweite dieses Forschungsbereichs fUr die Analyse der gesellschaftlichen Entwicklung der DDR; dies vor allem auch deshalb, weil die in der DDR vertretenen Auffassungen tiber Gegenstand und Aufgaben der Personlichkeitstheorie von einer engen Verkntipfung zwischen der individuellen Entwicklung und den gesellschaftlichen Verhaltnissen ausgehen. Die Personlichkeit wird einerseits als Resultat der spezifischen gesellschaftlichen Verhaltnisse verstanden, andererseits gilt die veranderte Personlichkeit als notwendige Bedingung des weiteren gesellschaftlichen 1 Vgl. Zentraler Forschungsplan der marxistisch-leninistischen Gesellschaftswissenschaften der DDR 1976-1980, in: Einheit, 30. Jg. (1975), H. 9, S. 1048 ff. 12 Einleitung Transformationsprozesses 2 • Die Frage ist daher zunachst, auf welche Weise die Personlichkeit als Resultat gesellschaftlicher Entwicklung begriffen und erforscht wird. Analysiert die Theorie der Personlichkeit ihrem materialistischen Anspruch gemliS, der in der Bestimmung des Individuums als "Ensemble der gesellschaftlichen Verhiiltnisse" ausgedriickt ist, reale okonomische, soziale und politische Zusammenhange als Grundlage der Personlichkeitsentwicklung? 1st sie in der Lage, die Probleme und Konfliktfelder offenzulegen, die sich im Transformationsprozeg in der Beziehung zwischen Personlichkeit und Gesellschaft ergeben? Weiterhin stellt sich die Frage, in welcher Weise die PersOnlichkeit als Voraussetzung des gesellschaftlichen Fonschritts bestimmt wird. Stiitzt sich diese Diskussion auf die realen Grundlagen und Entwicklungstendenzen historischer Prozesse oder erhiilt die Theorie der Personlichkeit eine Legitimationsfunktion, die darin besteht, ein Personlichkeitsideal auszuarbeiten und zu propagieren?3 Urn diese Fragen ausreichend beantworten zu konnen, ist es unerlaglich, den gesellschaftlichen Hintergrund dieser Diskussion in die Analyse mit aufzunehmen. Ihn reflektierend, mussen die verschiedenen Ansatze und Problemstellungen aufgearbeitet und auf ihren Erkenntnisgehalt hin uberpriift werden. Als besondere Schwierigkeit erweist sich dabei der interdisziplinare Charakter dieses Forschungsbereichs. So benennt der zentrale Forschungsplan der Gesellschaftswissenschaften personlichkeitstheoretische Problemstellungen insbesondere fur die Wissenschaftszweige Padagogik, Psychologie, Soziologie und Philosophie. Dabei gibt es hinsichtlich der oben 2 "Der Begriff ,PersOnlichkeit' bezieht sich in erster Linie auf die wesensbestimmenden Merkmale des Menschen, auf ihn als tatiges gesellschaftliches Wesen." Alfred Arnold, Was formt die Personlicbkeit? Zur Dialektik von pbilosopbiscben und psycbologiscben Aspekten in der marxistiscb-leninistiscben Personlicbkeitsauffassung, Berlin (DDR) 1976, S. 14 f. "Personlichkeit ist das Individuum in seiner Eigenschaft als Subjekt der Gesellschaft, d.h. der gesellschaftlichen Erkenntnis, der gesellschaftlichen Verhaltnisse und der zwischenmenschlichen Beziehungen." Der Begriff der Personlichkeit und die Entwicklung der sozialistischen PersOnlichkeit in der Arbeiterklasse beim Aufbau der entwickelten soziaIistischen Gesellschaft. Thesen, in: Wissenscbaftlicbe Zeitscbrift der Humboldt-Universitiit Berlin, Ges.-Spracbwiss. Reibe, 26. Jg. (1977), H. 1, S. 141. 3 Ambivalent bleibt die Position der .. Projektgruppe Automation und Qualifikation" zu diesen Fragen, die die Diskussion iiber die sozialistische Personlichkeit vor dem Hintergrund technischer Fortschritte in der Produktion untersucht. Vgl. Thomas Waldhubel/Silke Wenk (Projektgruppe Automation und Qualifikation), Wissenschaftlich-technischer Fortschritt und individuelle Emanzipation. Zur Diskussion urn die ,Sozialistische Personlichkeit' und ihre Entwicklung in der DDR, in: Sozialistiscbe Politik 36,8. Jg. (1976), H. 2, S. 63-85; dies., Technischer Fortschritt, Entwicklung der Personlichkeit und marxistische Theorie. Antwort auf W. Wotschak, Teil 1, in: Sozialistiscbe Politik 40, 9. Jg. (1977), H. 2, S. 82-99, und Teil 2, in: Sozialistiscbe Politik 41, 9.Jg. (1977), H. 3, S. 74-87. Dagegen ist die Position Hankes eindeutig: Die gegenwartige Diskussion iiber die sozialistische Personlichkeit habe fiir die SED primar die Funktion ideologischer Herrschaftslegitimation. Vgl. Irma Hanke, Yom neuen Menschen zur soziaIistischen Personlichkeit. Zum Menschenbild der SED, in: Deutscbland Arcbiv, 9. Jg. (1976), H. 5, S. 492-515. i\hnlich auch die These Waterkamps zur Bedeutung des PersOnlichkeitsbegriffs in der Lehrplandiskussion: Er diene dazu, politisch-ideologische Anspriiche abzusichern. Vgl. Dietmar Waterkamp, Der Stellenwert des Personlichkeitsbegriffs in der Lehrplantheorie der DDR, in: Oskar Anweiler (Hrsg.), Bildungsforscbung und Bildungspolitik in Osteuropa und der DDR. Konferenzmaterialien, Hannover 1975, S. 87-101; ders., Lebrplan· reform in der DDR. Die zebnklassige allgemeinbildende polytecbniscbe Oberscbule 1963 bis 1972, Hannover 1975. Einleitung 13 aufgeworfenen Fragen durchaus Unterschiede in den einzelnen Disziplinen, die sich u.a. auch in der Thematik und in der Anzahl der durchgeflihrten empirischen Untersuchungen widerspiegeln. Letztere sind in die vorliegende Studie dann systematisch aufgenommen, wenn auf sie in der Diskussion liber die Theorie der Personlichkeit explizit Bezug genommen wird. Eine weitere Schwierigkeit besteht darin, dag der Gegenstandsbereich der Personlichkeitstheorie bislang nicht exakt eingegrenzt und hestimmt ist. Obgleich eine Reihe von gemeinsamen Grundthesen erarbeitet wurde, ist die Entwicklung einer allgemeinen Theorie noch in einem grundsatzlichen KlarungsprozeG begriffen, so daG die Auseinandersetzung mit der Theorie der Personlichkeit wesentlich ihrem Diskussionscharakter Rechnung tragen muG. Dem Selbstverstandnis sozialwissenschaftlicher Forschung in der DDR entsprechend, bildet der Marxismus-Leninismus den methodischen Ausgangs- und Bezugspunkt, eine allgemeine Theorie der Personlichkeit zu entwickeln. Die Analyse der Personlichkeitstheorie schlieGt daher zugleich ein, sich mit dem Versuch einer auf der marxistischen Theorietradition basierenden Personlichkeitstheorie und -forschung auseinanderzusetzen. Allein diese Hinwendung zur Personlichkeitstheorie in der DDR ist bereits als WandlungsprozeG innerhalb des Marxismus-Leninismus zu interpretieren. Wurde in den sechziger Jahren die Berechtigung einer eigenstandigen philosophischen Analyse der Individualitat mit dem Verweis auf den Marxismus-Leninismus entschieden bestritten - dieser erfasse die Problematik von Individuum und Gesellschaft bereits zureichend -, so ist die Philosophie heute dazu aufgefordert, Grundlagen zu schaffen, urn die Beziehung von Individuum und Gesellschaft durch eine allgemeine Personlichkeitstheorie zu erklaren 4 . 1m Vergleich zur westlichen Diskussion liber eine marxistisch fundierte Personlichkeitstheorie lassen sich jedoch wesentliche Unterschiede in der Auseinandersetzung mit dem theoretischen Erbe des als Marxismus-Leninismus bezeichneten wissenschaftlichen Sozialismus feststellen. Der franzosische Kommunist Seve unterstreicht als ein Vertreter der westlichen Diskussion liber eine marxistische Theorie der Personlichkeit die Notwendigkeit, den historisch bedingten Verflachungsprozeg der marxistischen Theorie durch die Auseinandersetzung mit Quellentexten von Marx und Engels zu liberwinden, urn so die Grundlagen zu einer marxistischen Personlichkeitstheorie zu erarbeiten s . Zwar wird die These vom VerfiachungsprozeG des wissenschaftlichen Sozialismus in der DDR nicht geteilt, dennoch ist es von be sonderem Interesse, daG die Untersuchung von Seve weitgehend positiv rezipiert wird. 4 Vgl. zur Diskussion in den sechziger Jahren u.a. Manfred Buhr, Entfremdung - philosophische Anthropologie - Marx' Kritik, in: Deutsche Zeitschrift fur Philosophie, 14. Jg. (1966), H. 7, S. 806-834; Wolfgang Eichhorn I, Das Problem des Menschen im historischen Materialismus, in: ebd., S. 775-805. Die Problematik dieser Argumentation, verbunden mit einer der aktuellen Diskussion entsprechenden neuen Positionsbestimmung, thematisiert Irene Dolling, Individuum und Gesellschaft. Einige methodologische Voraussetzungen der marxistisch-leninistischen Kulturtheorie, in: Deutsche Zeitschrift fur Philosophie, 26. Jg. (1978), H.8, S.970-983. 5 Vgl. Lucien Seve, Marxismus und Theorie der Personlichkeit, 3. Aufl., Frankfurt a. M. 1977. Fine ausfiihrliche Auseinandersetzung mit der Seve-Rezeption in der DDR findet sich in Kap. 1.4.4., unten S. 75 ff. 14 Einleitung In der vorliegenden Arbeit wird die Diskussion iiber die theoretischen Grundlagen der Personlichkeitstheorie untersucht, urn Umfang und Bedeutung des angesprochenen Wandlungsprozesses einschatzen zu konnen. Ziel der Untersuchung ist es, ein bisher nicht systematisch untersuchtes, gleichwohl aber zunehmend wichtiger werden des Forschungsgebiet fiir die westliche Forschung zu erschlieBen und damit einen Beitrag zum Verstandnis gesellschaftlicher Entwicklung der DDR zu leisten. Dieser Aufgabenstellung nahert sich die Arbeit von zwei Seiten. In einem ersten, wissenschaftsgeschichtlichen Teil wird die Entwicklung der personlichkeitstheoretischen Diskussion von ihren Anfangen bis zur Gegenwart verfolgt, da die seit Beginn der siebziger Jahre systematisch gefiihrte Diskussion auf verschiedene Ansatze vorangegangener Jahre zuruckgreift und die Auseinandersetzung mit personlichkeitstheoretischen Forschungsproblemen bis in die fiinfziger Jahre zuruckreicht. In diesem ersten Teil geht es zum einen darum, die Entwicklung der Fragestellungen und der verschiedenen theoretischen Ansatze darzustellen; zum anderen soli aufgezeigt werden, wie diese Wissenschaftsentwicklung mit den gesellschaftspolitischen und sozio-okonomischen Bedingungen verkniipft ist. Diese Darstellung stiitzt sich im wesentlichen auf einschlagige Fachzeitschriften und Monographien. Auch geben Berichte und die Veroffentlichungen von Diskussionsbeitragen im Rahmen wissenschaftlicher Kolloquien und Kongresse aufschluBreiche Informationen. Nicht in der DDR verfaBte Arbeiten zurPersonlichkeitstheoriewurden nur insofern systematisch berucksichtigt, als sich ihr EinfluB auf die personlichkeitstheoretische Diskussion der DDR explizit feststellen lieB. Dies trifft beispielsweise auf die Arbeit des franzosischen Marxisten Seve zu, aber auch auf Beitrage aus der UdSSR, insbesondere aus der Psychologie und der Ethik. Der zweite, kritisch-systematische Teil der Arbeit kniipft in erster Linie an den gegenwartigen DiskussionsprozeB iiber die Ausarbeitung einer allgemeinen integrierenden Personlichkeitstheorie an und versucht, anhand der bisher aufgestellten Grundthesen bestimmte Kernprobleme herauszuarbeiten. 1m Vordergrund stehen hier die Fragen zur wissenschaftlichen Erforschung der Entwicklung von Personlichkeiten als "gesellschaftlich bestimmte" und "bewuBt handelnde" Individuen, und die verschiedenen, zum Teil kontroversen Ansatze und Problemstellungen werden diskutiert. Hier wird auf offene Probleme und Schwierigkeiten aufmerksam zu machen sein. Ein Resiimee sowie Uberlegungen zu weiterfiihrenden Forschungsfragestellungen schlieBen die Arbeit abo 1. Entwicklung uncl Schwerpunkte cler Diskussion in cler DOR 1. Zur Periodisierung der Diskussion Verfolgt man die Diskussion iiber die Personlichkeitstheorie von Anfang an, so zeigt sich, daG sie eng mit den konkreten Problemen verkniipft ist, die sich beim Aufbau und der Gestaltung der DDR-Gesellschaft stellten. Zugang zum Verstandnis der personlichkeitstheoretischen Diskussion kann daher nur gewonnen werden, wenn die okonomische, soziale und politische Entwicklung der DDR in die Untersuchung einbezogen wird. Zwar kann hier keine ausfUhrliche Analyse dieser Zusammenhange gegeben werden, da die thematische Schwerpunktsetzung der Arbeit zwangslaufig Eingrenzungen gebietet. Auch stellt sich die Materiallage zu diesem Thema relativ kompliziert dar, da man bisher noch nicht auf eine zureichende Darstellung der Entwicklungsgeschichte der DDR zUrUckgreifen kann. Das entscheidende methodischtheoretische Problem besteht dabei darin, daG die Frage des Ansatzes fUr eine historisch-systematische Analyse der sozialistischen Lander bisher noch nicht gelost ist. Ihrem Charakter als Transformationsgesellschaft entsprechend, sind in der DDRGesellschaft einerseits noch die Spuren ihrer historischen Genesis vorhanden - einschlieGlich der konkreten nationalen Besonderheiten -, zum anderen aber zugleich die Elemente einer neuen Form der gesellschaftlichen Organisation. Trotz der bestehenden methodischen Probleme der Gesellschaftsanalyse - sie zu losen ist nicht das Ziel der vorliegenden Arbeit - sind die Hauptgrundziige der gesellschaftlichen Entwicklung hier aufgenommen worden;ohne sie ware ein Verstehen der personlichkeitstheoretischen Diskussion nicht moglich 1. Bereits mit dem antifaschistischen und demokratischen Wiederaufbau Deutschlands im Gebiet der SBZ nach 1945 wird ein traditioneller Bestandteil sozialistischer und kommunistischer Politik aufgenommen, namlich das Ziel der allseitigen Entfaltung des Menschen in der Gesellschaft 2 . Eine wirkliche Auseinandersetzung mit den 1 Zur Entwicklung der DDR s. Stefan Doernberg, Kurze Gescbicbte der DDR, 6. tiberarb. AufI., Berlin (DDR) 1973; Hermann Weber, DDR. Grundrifl der Gescbicbte 1945-1976, Hannover 1976. 2 So heiBt es in dem gemeinsamen Aufruf der KPD und SPD zur demokratischen Schulreform vom 18. Oktober 1945 umer Punkt 3: "Aile Bildungsprivilegien einzelner Schichten mtissen fallen. Das Ziel der demokratischen Schulreform ist die Scbaffung eines einbeitlicben Scbulsystems, in dem die geistigen, moralischen und physischen Fahigkeii:en der Jugend allseitig entwickelt, ihr eine hohe Bildung vermittelt und allen Befahigten ohne Rticksicht auf Herkunft, SteHung und Vermogen der Eltern der Weg zu den hochsten Bildungsstatten des Landes freigemacht wird." In: Siegfried Baske/Martha Engelbert: Zwei Jabrzebnte Bildungspolitik in der Sowjetzone Deutscblands. Dokumente, 1. Teil, Heidelberg 1966. In der Verfassung der DDR von 1949 heiBt es in Art. 39, Abs. 1: .J edem Kind muB die Moglichkeit zur allseitigen Entfaltung seiner korperlichen, geistigen und sittlichen Kriifte gegeben werden." 16 Entwicklung und Scbwerpunkte der Diskussion in der DDR damit verbundenen Fragen findet aber erst Ende der fiinfziger Jahre mit der Thematisierung einer Theorie der sozialistischen Personlichkeit statt. In diesem Diskussionsprozeg schlagen sich sowohl die konkreten okonomischen und sozialen Probleme jener Jahre nieder - auf sie wird noch naher einzugehen sein - als auch die yom XX. Parteitag der KPdSU 1956 eingeleitete Entstalinisierung, die auch in der DDR nicht ohne Folgen bleibt. Die Erkenntnis, dag die veranderten Produktionsverhaltnisse nicht automatisch neue Personlichkeiten hervorbringen, diese sich vielmehr in langwierigen Entwicklungsprozessen herausbilden, fiihrte gerade in jenen Jahren zu intensiven Diskussionen iiber die Problematik der gezielten Beeinflussung und Forderung sozialistischen Bewugtseins und Verhaltens. Der V. Parteitag der SED 1958, auf dem Ulbricht die ,,10 Gebote der sozialistischen Moral und Ethik" formulierte, bringt dieses Problem zum Ausdruck und deutet die Richtung an, in der sich die SED eine Losung vorstellt. Von besonderem Gewicht fiir die personlichkeitstheoretische Diskussion erweist sich die wachsende Bedeutung, die die Sozialwissenschaften in den folgenden Jahren, insbesondere aber seit Anfang der sechziger Jahre, erlangen. Vor all em die Psychologie befagt sich mit dem Versuch, eine systematische Theorie der Personlichkeit zu entwickeln. Einen Einschnitt in der sozialen und politischen Entwicklung der DDR bildet die Anfang der sechziger Jahre eingeleitete Wirtschaftsreform, die im "Neuen okonomischen System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" (N(jSPL) ihren Ausdruck findet. In der DDR-Geschichtsschreibung wird dieser Zeitpunkt im allgemeinen als Abschlug der 1949 eingeleiteten "Ubergangsperiode yom Kapitalismus zum Sozialismus" angesehen, und die Jahre nach dem VI. Parteitag der SED 1963 werden als Phase des "umfassenden Aufbaus des Sozialismus" beschrieben. Die mit dem N(jSPL verkniipfte Forcierung der "wissenschaftlich-technischen Revolution" und die spezifische Interpretation des Sozialismus als einer relativ eigenstandigen Gesellschaftsformation setzen neue Akzente innerhalb der personlichkeitstheoretischen Diskussion, so d~ hier von einer zweiten Periode der personlichkeitstheoretischen Diskussion gesprochen werden kann. Die Auseinandersetzung mit der Theorie der Personlichkeit nimmt wahrend dieser Jahre nicht nur veranderte Fragestellungen auf, wie etwa im Bereich der Philosophie oder der Psychologie, sondern es lassen sich insgesamt verstarkt Bemiihungen feststellen, die Entwicklungen der sozialistischen Personlichkeit, ihres Bewugtseins und Verhaltens in der gegebenen Phase der gesellschaftlichen Entwicklung theoretisch und empirisch zu erfassen. Zu Beginn der siebziger Jahre erfahrt die soziale und politische Entwicklung in der DDR erneut einschneidende Veranderungen, die mit dem VIII. Parteitag der SED 1971 eingeleitet werden. Offenbar unter dem Eindruck der Reformbewegungen in der CSSR 1968 und der Ereignisse in Polen 1970 sowie in Anlehnung an die Direktiven des XXIV. Parteitages der KPdSU 1971, aber auch aufgrund innerer Disproportionen der DDR-Volkswirtschaft beschliegt die SED, die Lebensbedingungen der Bevolkerung gezielter zu fordern. In den folgenden Jahren werden nicht nur bestimmte gewerkschaftliche Rechte erweitert, sondern es wird auch schrittweise ein umfangreiches sozialpolitisches Programm realisiert. Die zunehmende Beriicksichtigung und Forderung der Lebensbedingungen bilden den Kern der "Gestaltung der Der Beginn einer systematiscben Diskussion (ab 1958) 17 entwickelten sozialistischen Gesellschaft", die nach dem VIII. Parteitag angestrebt wird. Offen bar bedingt durch die veranderten gesellschaftlichen Zielsetzungen wird die Ausarbeitung einer Theorie der Personlichkeit etwa seit 1971 zu einer zentralen Frage innerhalb der wissenschaftlichen Diskussion. Dazu la~t sich allgemein feststellen, d~ man sich in den neueren Publikationen darum bemiiht, eine umfassende, marxistisch fundierte Personlichkeitstheorie zu entwickeln, die in der Lage ist, den Zusammenhang von Personlichkeitsentwicklung und den gegebenen gesellschaftlichen Verhaltnissen theoretisch und empirisch zu analysieren; zum anderen ist man bestrebt, den besonderen Charakter dieses Zusammenhangs und seiner Weiterentwicklung beim Obergang von der sozialistischen zur kommunistischen Gesellschaft zu erklaren. Dies kommt nicht nur in der Diskussion iiber die Herausbildung eines bestimmten sozialen Typs der Personlichkeit, sondern auch in der Frage der Entwicklung sozialistischen Bewugtseins zum Ausdruck. Zu letzterem Problem, das von Anbeginn zu den Kernfragen der Personlichkeitstheorie rechnete, haben sich seit Anfang der siebziger Jahre zum Teil sehr kontroverse Positionen herausgeschalt. In die Aus'einandersetzung urn die theoretischen Grundfragen der Personlichkeitstheorie geht gegenwartig nicht nur die Rezeption sowjetischer Arbeiten ein, sondern auch - und dies erscheint von besonderem Interesse - die Arbeit "Marxismus und Theorie der Personlichkeit" des franzosischen Kommunisten Lucien Seve, des sen Einflu~ auf die DDR-Diskussion naher zu analysieren sein wird. Die folgende historische Darstellung der personlichkeitstheoretischen Diskussion ist entsprechend der eben skizzierten Entwicklung in drei Abschnitte gegliedert: 1. der Beginn einer systematischen Diskussion ab 1958; 2. die Personlichkeitstheorie in der Phase des "umfassenden Aufbaus des Sozialismus" ab 1963; 3. die Personlichkeitstheorie in der Zeit nach dem VIII. Parteitag der SED 1971. Die Gliederung des Materials erfolgt anhand zeittypischer Diskussionsschwerpunkte, in denen sich die spezifischen Fragestellungen und ein bestimmter Stand des Problembewu~tseins fUr einen zusammenhangenden Zeitraum widerspiegeln. In dieser Periodisierung ist zweierlei an F orschungsergebnissen eingeschlossen: erstens, dag die reale gesellschaftliche Entwicklung sich zureichend synchron in der Entwicklung der Personlichkeitstheorie ausdriickt, zweitens, dag man - obgleich die personlichkeitstheoretische Diskussion keineswegs geradlinig verlauft, Riickschritte oder Ankniipfungen an altere Diskussionsstandpunkte einschlie~t - fUr bestimmte Zeitriiume typische und durchgangige Problemstellungen aufzuzeigen vermag. 1.2. Der Beginn einer systematischen Diskussion (ab 1958) Der Beginn der personlichkeitstheoretischen Diskussion fallt in die Phase der gesellschaftlichen Entwicklung, die in der DDR im allgemeinen als "Obergangsperiode vom Kapitalismus zum Sozialismus" bezeichnet wird. Diese Obergangsperiode, die 18 Entwicklung und Scbwerpunkte der Diskussion in der DDR den Zeitraum seit der Griindung der DDR bis Anfang der sechziger Jahre umfaBt, beinhaltet vor allem die weitgehende Verstaatlichung der Industriebetriebe, des Handels und der Banken, die Umgestaltung des Bildungswesens sowie die Kollektivierung der Landwirtschaft. Obgleich die Vergesellschaftung ein wesentlicher Schritt in die Richtung war, die Grundlage fur eine sozialistische Gesellschaftsordnung aufzubauen, zeigte sich doch, daB beileibe nicht alle Probleme einer neuen sozialen Organisation der Gesellschaft gelost waren. Es wiirde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, den konfliktreichen Weg des Transformationsprozesses der vierziger und fiinfziger Jahre im einzelnen nachzuzeichnen. Interessant ist jedoch, daB dem Beginn einer breiteren Diskussion iiber die "sozialistische Personlichkeit", eine Zeit vorausgeht, in der -ausgelost durch dievom XX. Parteitag der KPdSU 1956 geforderte Entstalinisierung3 - eine intensive und sehr kontroverse Debatte iiber Inhalte und Ziele der sozialistischen Transformation stattfindet. Auf theoretischer Ebene sind am bekanntesten wohl die seinerzeit heftig kritisierten Vorstellungen des fuhrenden Wirtschaftswissenschaftlers Behrens und seines Mitarbeiters Benary zur Reform des Planungs- und Leistungssystems 4 . Der V. Parteitag der SED 1958 stellt fur die Diskussion iiber die sozialistische Personlichkeit entscheidende Weichen. Fragen der Moral und Ethik, also spezifischer Formen der "sozialistischen BewuBtheit", nehmen nunmehr einen breiten Raum ein. AuBerdem haben die Sozialwissenschaften in den folgenden J ahren ihrer wachsenden Bedeutung entsprechend groBen EinfluB auf die personlichkeitstheoretische Diskussion ausgeiibt. Besondere Aufmerksamkeit verdient hier der DiskussionsprozeB in der Psychologie. Mit zunehmender Bedeutung dieser Disziplin und dem Versuch ihrer grundlegenden Neuorientierung schalt sich die Analyse der Personlichkeit als ihr wesentlicher Gegenstand heraus. Vor all em die Padagogische Psychologie und die Sozialpsychologie, die sich in jenen J ahren als selbstandige Wissenschaftszweige in der Psychologie entwickeln, fordern die Auseinandersetzung mit der Personlichkeitstheorie. 1.2.1. Umgestaltung der Produktionsverhiiltnisse und der ,neue sozialistische Mensch' Fiir die erste Phase der personlichkeitstheoretischen Diskussion laBt sich generell feststellen, daB zunachst nicht die Schaffung einer allgemeinen, umfassenden Personlichkeitstheorie im Mittelpunkt des Interesses stand, sondern daB - bedingt 3 Vgl. Protokoll der Verbandlungen der 3. Parteikonferenz der Sozialistiscben Einbeitspartei Deutscblands, 2 Bde., Berlin (DDR) 1956. Zum Problem des Stalinismus vgl. auch Roy Medwedew/Robert Havemann/Jochen Steffen u.a., Entstalinisierung. Der XX. Parteitag der KPdSU und seine Foigen, Frankfurt a. M. 1977. 4 Fritz Behrens, Zum Problem der Ausnutzung okonomischer Gesetze in der Obergangsperiode, in: Wirtscbaftswissenscbaft, 3. Sonderheft 1957, S. 105-140; Arne Benary, Zu Grundproblemen der politis chen Okonomie des Sozialismus in der Obergangsperiode, in: ebd., S. 62-94. Das Sonderheft hat auBer den Aufsiitzen der beiden Autoren auch die Meinungen der Kritiker verOffentlicht. Der Beginn einer systematiscben Diskussion (ab 1958) 19 durch die gesellschaftliche Entwicklung - mehrere Probleme zur Personlichkeitsentwicklung thematisiert wurden, deren systematische Verarbeitung zu einer Theorie der Personlichkeit erst ein spateres Resultat ist. Es soil daher in dieser ersten Phase primar untersucht werden, welches die Problemstellungen sind, die zu jener Zeit entwickelt wurden. Ausgangspunkt der Diskussion ist die These, daG sich die materielle Basis der Gesellschaft zwar weitgehend verandert hat, das BewuGtsein und Verhalten groGer Teile der Bevolkerung diesen neuen Bedingungen und Erfordernissen aber nicht entspricht. Daraufhin setzte eine breite Diskussion iiber sozialistisches Verhalten und sozialistisches BewuGtsein ein 5 • Die Beschaftigung mit der "sozialistischen Personlichkeit" hat also ihre Wurzeln in den spezifischen Schwierigkeiten des gesellschaftlichen Transformationsprozesses der DDR. So war die politische Fiihrung sehr darum bemiiht, die Probleme und Auseinandersetzungen der Jahre 1956 und 1957 in den Griff zu bekommen. Zugleich wurden auf dem V. Parteitag der SED 1958 gesellschaftspolitische Zielsetzungen formuliert, die neue und hohere Anforderungen an die Biirger stell ten. Die giinstige Wirtschaftsentwicklung der DDR in den Jahren 1957 und 1958 einerseits, das Aufgreifen der wirtschaftlichen Zielsetzungen der KPdSU andererseits, die Volkswirtschaft der UdSSR an das Niveau der USA heranzufiihren, fiihrten 1958 zum Abbruch des zweiten Fiinfjahrplans von 1956 und zur Verabschiedung eines neuen Siebenjahrplans. Entsprechend den yom V. Parteitag der SED festgelegten Kennziffern fiir die Entwicklung der Volkswirtschaft bis 1965 wurde der Siebenjahrplan (er wurde am 1. Oktober 1959 von der Volkskammer verabschiedet) fiir die Jahre 1959 bis 1965 ausgearbeitet. Er sah als okonomische Hauptaufgabe vor, den Pro-Kopf-Verbrauch an wichtigen Nahrungs- und Konsumgiitern der Bundesrepublik Deutschland (bis 1965) einzuholen. Das sollte den "Sieg des Sozialismus" endgiiltig beweisen. Diese Aufgabe zu losen, wurde - wie schon bei Lenin in Bezug auf die UdSSR 6 - in der Steigerung der Arbeitsproduktivitat gesehen. Aus dieser Zielsetzung heraus erklaren sich die intensiven Diskussionen iiber neue Produktionsmethoden zu jener Zeit, insbesondere iiber die Automatisierung sowie die im betrieblichen Bereich vorgenommenen Veranderungen in der Planung und Leitung und in der Arbeitsorganisation 7 So begannen Ende der fiinfziger Jahre Arbeiter-Neuerer und Angehorige der technischen 5 Vgl. Neues Leben - neue Menscben. Konferenz des Lebrstubls Pbilosopbie des Instituts fiir Gesellscbaftswissenscbaften beim ZK der SED iiber tbeoretiscbe und praktiscbe Probleme der sozialistiscben Moral am 16. und 17. April 1957, Berlin (DDR) 1957; Ober die Entwick· lung sozialistiscber Personlicbkeiten. Protokoll der Etbik·Konferenz des Instituts fiir Pbiloso· pbie .lena vom 19. Dezember 1958, Berlin 1960; Reinhold Miller, Vom Werden des sozia' listiscben Menscben, Berlin (DDR) 1960. 6 "Die Arbeitsproduktivitat ist in letzter Instanz das Allerwichtigste, das Ausschlaggebende fUr den Sieg der neuen Gesellschaftsordnung. Der Kapitalismus hat eine Arbeitsproduktivitat geschaffen, wie sie unter dem Feudalismus unbekannt war. Der Kapitalismus kann endgtiltig besiegt werden und wird dadurch endgUltig besiegt werden, daB der Sozialismus eine neue, weit hahere Arbeitsproduktivitat schafft." Wladimir IIj itsch Lenin, Werke, Bd. 29, Berlin (DDR) 1961, S. 416. 7 Vgl. Hartmut Zimmermann, Politische Aspekte in der Herausbildung, dem Wandel und der Verwendung des Konzepts ,Wissenschaftlich·technische Revolution' in der DDR, in: Deutscb· land Arcbiv, Sonderheft 1976, S. 17-52. 20 Entwicklung und Schwerpunkte der Diskussion in der DDR InteHigenz in den Betrieben in sozialistischen Arbeitsgemeinschaften zusammenzuarbeiten. Auch in den Wirtschafts- und Sozialwissenschaften kam es zu weitreichenden Veranderungen: Empirische Forschungsmethoden fan den nunmehr einen breiten Eingang in die Sozialwissenschaften, und in der Folgezeit bildeten sich neue "sozialistische Leitungswissenschaften" heraus, wie die lngenieurs- und Arbeitspsychologie und die Betriebs- und Industriesoziologie 8 . Es steHte sich jedoch bald heraus, daB die Steigerung der Arbeitsproduktivitat wesentlich komplizierter verlauft und daB das angestrebte volkswirtschaftliche Ziel nicht erreicht werden konnte. Die urspriinglich positive Wirtschaftsentwicklung hielt nicht an, vielmehr verschlechterte sich die wirtschaftliche Situation entscheidend: Die Steigerungsraten der Produktion in lndustrie und Landwirtschaft fielen - so sank die Wachstumsrate des Nationaleinkommens nach 1957 von 8% bis 10% binnen zwei Jahren auf weniger als die Halfte, nach 1960 lag sie sogarunter 3% -, und ein desolater Zustand der zentralen Leitungsgremien der Volkswirtschaft trug ein Ubriges zur Verscharfung der Probleme bei 9 . Die krisenhafte Entwicklung der DDR-Volkswirtschaft, verscharft noch durch die MaBnahmen zur KoHektivierung der Landwirtschaft in den J ahren 1960/ 61, fuhrte 1962 zum Abbruch des Siebenjahrplans und zu einer grundlegenden Reform der Planung und Leitung der Volkswirtschaft. Die SED war bemuht, mit Hilfe einer veranderten Entscheidungsstruktur neue Problem16sungen zu entwickeln, ein ProzeB, aus dem 1963 das "Neue okonomische System der Planung und Leitung der Volkswirtschaft" hervorging. Kernpunkt der Auseinandersetzung mit der sozialistischen Personlichkeit ist in diesen Jahren die Frage des sozialistischen BewuBtseins. Entsprechend der "Diskrepanzthese", d. h. der konstatierten Differenz zwischen der erreichten Veranderung der Produktionsverhaltnisse und dem BewuBtsein des Menschen, wird die Frage der BewuBtseinsformen als entscheidendes Moment fur die soziale und politische Entwicklung der DDR aufgenommen und diskutiert.lnsbesondere wird den nach Auffassung der DDR-Theoretiker in nicht unbedeutendem MaBe noch bestimmenden tradierten bzw. "kleinburgerlichen" BewuBtseinsformen groBe Aufmerksamkeit gewidmet. Diese lassen sich auch nicht allein aus dem "zersetzenden EinfluB des Klassengegners" erklaren - eine in der DDR bis heute gangige Argumentation, die auf die Systemauseinandersetzung und die Tatsache der "gespaltenen Nation" Bezug nimmt -, vielmehr wird zugestanden, daB in der DDR selbst noch materielle Ursachen fur 8 Hellmuth Giinter Biitow, Zur Entwicklung der Soziologie und Sozialpsychologie in der DDR, in: Wissenschaft und Gesellschaft in der DDR, hrsg. u. eingel. von Peter Christian Ludz, Miinchen 1971, S. 166-186; Ursula Koch, Burgerliche und sozialistische Forschungsmethoden? Zur Rezeption empirischer Sozia1forschung in der DDR, Frankfurta.M.lNew York 1976; Susanne Schunter-Kleemann, Zur Geschichte der Debatten um den Klassencharakter von Soziologie und Sozialpsychologie in der DDR und Kritik ihrer Anwendung im Industriebetrieb, Berlin, Freie Universitat, FB Politische Wissenschaft, Diss. 1975. 9 Vgl. hierzu Gerd-Jan Krol, Die Wirtschaftsreform in der DDR und ihre Ursachen. Erfahrungen mit der administrativen Steuerungskonzeption (Schriften zur Kooperationsforschung), Tiibingen 1972, S. 50 ff.; Ernst Richert, Macht ohne Mandat. Der Staatsapparat in der sowjetischen Besatzungszone Deutschlands (Schriften des Instituts fur Politische Wissenschaft, Bd. 11),2. iiberarb. Aufl., Koln/Opladen 1963, S. 143 f. Der Beginn einer systematiscben Diskussion (ab 1958) 21 diese Bewu~tseinsformen bestehen. Analysiert man die vorliegende Literatur, so sich feststellen, da~ die Veranderung des Bewu~tseins und die Herausbildung "sozialistischen Bewu~tseins" primar als Resultat eines gezielten ideologischen Erziehungsprozesses verstanden wird. Diese Auffassung basiert in erster Linie auf der Leninschen These, da~ die Werktatigen von sich aus kein revolutionares Bewu~t­ sein entwickeln, sondern erst durch systematische ideologische Arbeit der Partei iiber ihr trade-unionistisches Bewu~tsein hinaus ein revolutionares Bewu~tsein erlangen konnen. So hei~t es bei Miller ganz im Sinne dieser These: "Die alten Vorstellungen .,. werden auch nicht auf einmal und vor allem nicht spontan, im Selbstlauf iiberwunden, sondern nur durch systematische Erziehungsarbeit ... Die Partei mu~ die sozialistische Ideologie in die Massen hineintragen, die Werktatigen an der Leitung des gesellschaftlichen Geschehens beteiligen und so das sozialistische Bewu~tsein in ihnen entwickeln. ,,10 Die Bedeutung der ideologischen Erziehungsarbeit fiir die Bewu~tseinsentwicklung wird zwar wesentlich erganzt gesehen durch aktive Teilnahme der Werktatigen an Planungs- und Leitungsprozessen, die Moglichkeit eines , ,spontanen" Entstehens von Klassenbewu~tsein jedoch ausdriicklich zuriickgewiesen; basisdemokratische Ansatze und Modelle werden daher scharf kritisiert. la~t Die ideologische Erziehung mi~t der Herausbildung einer neuen - sozialistischen - Moral gro~e Bedeutung bei. Auf dem V. Parteitag der SED 1958 tragt Ulbricht die ,,10 Gebote der sozialistischen Moral und Ethik" vor, die auch Eingang in das Parteiprogramm der SED von 1963 findenlI. Die Begriindung eines neuen Wissenschaftszweiges, der Ethik, die bis in die heutige Zeit in der DDR - und im iibrigen auch in der UdSSR - eine bedeutende Rolle spielt, geht auf diese Jahre zuriick. In der Diskussion iiber Moral und Ethik faJIt der eindeutig normsetzende Charakter auf; es geht nicht urn die Analyse des Zusammenhangs von konkreten sozialen Verhaltnissen und bestimmten Bewu~tseinsformen, sondern vielmehr urn eine praskrip- 10 Miller, Vom Werden des sozialistiscben Menscben, S. 75. 11 ,,1. Du sollst Dich stets fiir die internationa!e Solidaritat der Arbeiterklasse und aller Werktatigen sowie fiir die unverbriichliche Verbundenheit aller sozialistischer Lander einsetzen. 2. Du sollst Dein Vaterland lieben und stets bereit sein, Deine ganze Kraft und Fahigkeit fiir die Verteidigung der Arbeiter- und Bauern-Macht einzusetzen. 3. Du sollst helfen, die Ausbeutung des Menschen durch den Menschen zu beseitigen. 4. Du sollst gute Taten fiir den Sozialismus vollbringen, denn der Sozialismus fiihrt zu einem besseren Leben fiir aile Werktatigen. 5. Du sollst beim Aufbau des Sozialismus im Geiste der gegenseitigen Hilfe und der kameradschaftiichen Zusammenarbeit handeln, das Kollektiv achten und seine Kritik beherzigen. 6. Du sollst das Volkseigentum schiitzen und mehren. 7. Du sollst stets nach Verbesserung Deiner Leistungen streben, sparsam sein und die sozialistische Arbeitsdisziplin festigen. 8. Du sollst Deine Kinder im Geiste des Friedens und des Sozialismus zu allseitig gebildeten, charakterfesten und korperlich gestahlten Menschen erziehen. 9. Du sollst sauber und anstandig !eben und Deine Familie achten. 10. Du sollst Solidaritat mit den urn ihre nationa!e Befreiung kampfenden und den ihre nationa!e Unabhangigkeit verteidigenden Volkern iiben." Programm der Sozialistischen Einheitspartei Deutschlands, in: Protokoll der Verbandlungen des VI. Parteitages der Sozialistiscben Einbeitspartei Deutscblands, Berlin (DDR) 1963, Bd. IV, S. 375 f.