PROPHYLAXEdialog

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Ausgabe 2012
PROPHYLAXEdialog
Zeitschrift für Oralprävention in der Praxis
Phänomen Dentinhypersensibilität
Karies bei Vorschulkindern
Mundgesundheit in Pflegeheimen
Relevanz von Abrasionen
Impressum/Inhalt/Editorial
Editorial
Herausgeber (V.i.S.d.P.):
Gebro Pharma GmbH
Bahnhofbichl 13 · 6391 Fieberbrunn
Sehr geehrte Leserin,
sehr geehrter Leser,
GABA International AG
Grabetsmattweg · 4106 Therwil · Schweiz
Medizinisch-wissenschaftliche Abteilung:
Dipl.-Biochem. Bärbel Kiene
in der neuen Ausgabe des
PROPHYLAXEdialogs wird wieder
eine große Bandbreite aktueller
Themen behandelt. Der Bogen
spannt sich von Dentinhypersensibilität über Karies – mit den
Vorschulkinder
Schwerpunkten
und ältere Patienten – bis hin zum Themenbereich
Erosion/Abrasion. Gerade Erosion rückt immer stärker ins
Blickfeld fachlicher Diskussionen.
Internet:
www.gaba.at
Die Meinung der Autoren muss nicht in jedem
Fall der Meinung des Herausgebers entsprechen.
Nachdruck und auszugsweise Veröffentlichung
ist bei Quellenangabe gestattet.
In den Artikeln wird von internationalen Expertinnen
und Experten nicht nur Bekanntes zusammengefasst, es
werden auch neue und innovative Ansätze gezeigt.
Immer wieder Anlass für kontroverse Diskussionen ist
die RDA-Thematik. In dieser Ausgabe (S. 20 ff.) werden
die RDA-Messung und die klinische Relevanz unterschiedlicher RDA-Werte dargestellt sowie das Ergebnis
eines internationalen Workshops in Frankfurt am Main
zusammengefasst. Wir hoffen, dass diese Beiträge zu
einer umfassenderen Betrachtung des Themas „RDAWert“ beitragen.
Argininbicarbonat
(Quelle: Christian Scheibe)
Wir wünschen eine spannende Lektüre und
verbleiben mit freundlichen Grüßen
Inhalt
Das Phänomen Dentinhypersensibilität (DHS) in der
zahnärztlichen Praxis
Teil 1: Definition, Epidemiologie, Ätiologie und
theoretische Grundlagen der DHS
DDr. Ulrike Beier, Innsbruck, Österreich; PD Dr. Christian
R. Gernhardt, Halle-Wittenberg, Deutschland
Kariesepidemiologie – Voraussetzung für die Bestimmung
der Mundgesundheit und Nachweis über die Effektivität
prophylaktischer Maßnahmen
Prof. Dr. Annerose Borutta, Jena, Deutschland
Wie geht man mit der ersten Karies bei Vorschulkindern um?
Dr. Gert Stel, Groningen, Niederlande
Hufeland-Preis ging an Zahnmediziner
Empfehlungen für eine angemessene Mundgesundheitsversorgung bei älteren Menschen im Pflegeheim
Dr. Luc De Visschere, Prof. Dr. Jacques Vanobbergen,
Gent, Belgien
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7
9
11
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Verleihung des ECG-GABA-Preises 2011
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(Zahn-)Gesunde Ernährung – im Fokus: Saures!
Dr. Gerta van Oost, Dormagen, Deutschland
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Relevanz von Abrasionen / Zähneputzen bei Erosionen
Judith von Hinckeldey, Alexandra Tolle, Dr. Nadine Schlüter,
Prof. Dr. Joachim Klimek, Prof. Dr. Carolina Ganß, Gießen,
Deutschland
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Bestimmung der relativen Dentinabrasion (RDA)
Prof. Dr. Thomas Imfeld MBA, Zürich, Schweiz
20
RDA-Werte – Konsequenzen für die tägliche Praxis?
Annette Schmidt, PD Dr. Christian R. Gernhardt,
Halle-Wittenberg, Deutschland
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Abrasivität von Zahnpasten und ihre klinische Bedeutung
Prof. Dr. Christof Dörfer, Kiel, Deutschland
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Europerio7
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Ausgabe 2012
Dr. Reinhold Unterwurzacher
Scientific Affairs Gebro Pharma
PROPHYLAXEdialog
Dentinhypersensibilität
Das Phänomen Dentinhypersensibilität (DHS)
in der zahnärztlichen Praxis
Teil 1: Definition, Epidemiologie, Ätiologie und theoretische Grundlagen der DHS
DDr. Ulrike Beier, Medizinische Universität Innsbruck, Österreich;
PD Dr. Christian R. Gernhardt, Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Deutschland
Einleitung
Dentinhypersensibilität (DHS) ist ein weit verbreitetes Erkrankungsbild in der zahnärztlichen Praxis. Bis zu
einem Viertel unserer Patienten könnten unter den bisweilen starken Schmerzen, die sich in Folge der DHS
ergeben, leiden. Diese Patienten klagen über temperaturempfindliche Zähne beim Trinken, der Nahrungsaufnahme und der Reinigung der Zähne. In einigen
Fällen kommt es sogar zu Schmerzen bei der Atmung.
Als Ursachen kommen vor allem der so genannte nichtkariogene Zahnhartsubstanzverlust als auch der parodontale Attachmentverlust in Betracht.
Definition
Charakterisiert wird die DHS als „kurzer, starker
Schmerz bei thermischer, evaporativer, taktiler oder
chemisch-osmotischer Reizung von freiliegenden Dentinkanälchen, dessen Entstehung nicht durch andere
Defekte oder Krankheitsmechanismen erklärt werden
kann“ (Addy & Dowell 1986; Orchardson & Collins
1987). Freiliegende Dentinflächen sind somit eine
Grundvoraussetzung für die Entstehung der DHS.
Kariöse Läsionen
Pulpitische Beschwerden
Defekte oder frakturierte Füllungen
Parodontale Erkrankungen
Insuffiziente Passung von laborgefertigten
Restaurationen
Schmelz-Dentin-Frakturen
Risse bei stark restaurierten Zähnen
Schliff-Facetten
Postoperative Schmerzen nach restaurativer
Therapie
Falsch platzierte parapulpäre Stifte
Orofaziale Schmerzen anderer Genese
Tab. 1: Mögliche differenzialdiagnostische Ursachen, die vor
der Diagnose DHS abgeklärt werden müssen
PROPHYLAXEdialog
Ähnliche Symptome können aber auch durch kariöse Läsionen, insuffiziente Restaurationen wie defekte
oder frakturierte Füllungen oder durch mangelhafte
Passung von laborgefertigten Restaurationen (Inlays,
Kronen, Brücken) ausgelöst werden (Porto et al. 2009).
Des weiteren müssen auch pathologische Faktoren
wie Schmelz-Dentin-Frakturen, Risse bei stark restaurierten Zähnen, „Cracked tooth syndrome“, SchliffFacetten, postoperative Beschwerden nach Füllungstechniken oder falsch platzierte parapulpäre Stifte als
Differenzialdiagnose ausgeschlossen werden (siehe
Tab. 1).
Allgemein gilt für die reizinduzierten Symptome der
DHS, dass die Beschwerden zeitlich begrenzt sind
und wieder abklingen, was sie von pulpitischen Beschwerden unterscheidet.
Epidemiologie
Die Angaben zur durchschnittlichen Verbreitung der
DHS in der Bevölkerung variieren stark, sie liegen in
der Fachliteratur bei Angaben zwischen 8 und 57 %
(Dababneh et al. 1999). Bei der isolierten Betrachtung
von Parodontalpatienten wird sogar eine Prävalenz
von 72,5 bis zu 98 % angegeben (Chabanski et al.
1997). Die stark unterschiedlichen Studienbedingungen
bei den zugehörigen Untersuchungen sind hierfür verantwortlich; so werden reine Fragebogenuntersuchungen mit detaillierten klinischen Studien verglichen. Des
weiteren basieren einige Studien auf reinen Fragebogenuntersuchungen ohne klinische Untersuchung
der Patienten. In diesen Fällen kann es natürlich zu
einer Verfälschung der Ergebnisse kommen, weil auch
Antworten von Patienten möglich sind, die eher einer
Differenzialdiagnose zuzuordnen wären (siehe Tab. 1).
Bei der Betrachtung unterschiedlicher Studienpopulationen zeigen sich verschiedene Häufigkeiten der
DHS, hingegen ergibt sich bei einheitlichem Studiendesign eine durchschnittliche Prävalenz von 15 % bis
25 % (Flynn et al. 1985; Fischer et al. 1992; Graf & von
Galasse 1977). Das entspricht ungefähr jedem 4. bis
7. Erwachsenen (Dowell & Addy 1983).
Die Anzahl von Patienten mit DHS ist im Alter von
20 bis 40 Jahren am größten, der Höhepunkt ist in der
Literatur gegen Ende des dritten Lebensjahrzehnts angegeben (Addy & Pearce 1994). Ab dem 40. Lebensjahr kommt es aufgrund physiologischer Sekundärdentinbildung zu einer Reduktion der Dentinpermea-
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Dentinhypersensibilität
bilität und somit zur Abnahme der Empfindlichkeit
(Brodowski & Imfeld 2003). Auch Zellzahl, nervliche
Versorgung und Durchblutung der Pulpa nehmen im
Alter immer weiter ab, so dass die Zahnpulpa schmerzunempfindlicher wird (Trowbridge 1986). Frauen sind
im Allgemeinen häufiger betroffen als Männer, was auf
ein gesteigertes Gesundheitsbewusstsein zurückgeführt werden kann (Addy 1990). Der Oberkiefer ist
häufiger betroffen als der Unterkiefer. Dies wird mit der
grazileren vestibulären Knochenstruktur in Verbindung
gebracht, die bei entsprechender Ätiologie schneller
als im Unterkiefer zu Rezessionen führt. Auch ist die
linke Kieferseite häufiger betroffen als die rechte. Als
Erklärung hierfür wird angenommen, dass der Großteil
unserer Patienten Rechtshänder ist und damit beim
Putzen der linken Kieferseite mehr Druck und Zeit aufwendet. Bei der Betrachtung der einzelnen Zähne
wurde festgestellt, dass Eckzähne am häufigsten
betroffen sind, was durch die dominierenden Bukkalflächen begründet wird (Orchardson & Collins 1987;
Brodowski & Imfeld 2003; Addy & Mostafa 1987).
hartsubstanzen (Dentin) unter Anwendung falscher
Putztechniken und abrasiver Zahnpasten. Im Falle des
Zahnschmelzes ist dies meist nur in Kombination mit
erosiven Einflüssen möglich (Abb. 1).
Generell geht man davon aus, dass durch das
gesteigerte Mundgesundheitsbewusstsein und kontinuierliche Prophylaxemaßnahmen die Anzahl von
Patienten mit DHS in den nächsten Jahren noch zunehmen wird (Dababneh 1999).
Die Abrasivität der Schleifstoffe in den Zahnpasten
ist ausschlaggebend für deren Wirkung: die Entfernung
des exogenen Zahnoberhäutchens, welches wiederum
Voraussetzung für die Bakterienanheftung und Verfärbungen ist, aber auch eine mögliche Ursache für auftretende Abrasionen (Levitch et al. 1994). Die heutzutage handelsüblichen Zahnpasten besitzen im Allgemeinen Abrasionswerte, die den kritischen Grenzwert
nach der „British Specification for Toothpastes“ nicht
überschreiten. Aber sowohl die zu intensive Zahnpflege als auch die Kombination einer zu harten Zahnbürste mit einer abrasiven Zahnpasta kann zu einem
Substanzabtrag im zervikalen Bereich führen (Hotz
1985; Barbakow et al. 1989). Besonders horizontale
Bürstbewegungen mit hohem Anpressdruck können im
zervikalen Bereich die Ursache für Zahnhartsubstanzdefekte sein (Gross et al. 1996).
DHS tritt häufig auf:
zwischen dem 20. und 40. Lebensjahr
Höhepunkt Ende des 3. Lebensjahrzehnts
Frauen > Männer
Oberkiefer > Unterkiefer
linke Kieferseite > rechte Kieferseite
an Eckzähnen
Tab. 2: Auftreten der DHS
Ätiologie
Es können einer oder mehrere der folgenden ätiologischen Faktoren bei der Entwicklung der nicht-kariogenen Dentinexposition und damit bei der Freilegung
der Dentintubuli eine Rolle spielen:
W Attrition
W Abrasion
W Erosion
W Abfraktion
W Verlust an Attachment
Attritionen entstehen durch die okklusale Abnutzung bei Zahnkontakt wie Kauen und Bruxismus.
Freiliegende Zahnhälse sind häufig die Folge von
Abrasionen durch mechanische Abtragung von Zahn-
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Ausgabe 2012
Abb. 1: Freiliegende Dentinoberflächen in Folge abrasiver
Veränderungen
Erste Anzeichen hierfür sind häufig Gingivarezessionen im Eckzahn- und Prämolarenbereich, die aufgrund der schmalen angewachsenen Gingiva sowie
einer nur dünnen bedeckenden Knochenlamelle hierfür
prädestiniert sind (Yaacob & Park 1990). Eine Folge
hiervon ist der Verlust der dünnen Zementschicht über
der entblößten Wurzeloberfläche innerhalb kurzer Zeit
(Mellberg & Sanchez 1986) und die Exposition der
Dentinoberfläche. Abrasionen im interdentalen Bereich
können auch durch den exzessiven Gebrauch von Interdentalbürstchen, Zahnseide oder Zahnhölzern verursacht werden, die sich klinisch als glatte konkave Vertiefung darstellen.
Erosionen werden durch diätetische oder endogene (z.B. Regurgitation von Magensäure) Säuren hervorgerufen (Attin 2006; ten Cate & Imfeld 1996; Attin et al.
2005). Sie zeigen sich als flache unverfärbte Vertiefungen, meist an oralen und vestibulären Zahnflächen.
Dies kann bei entsprechend langer Einwirkungszeit der
ätiologischen Faktoren zur vollständigen Entfernung
des Zahnschmelzes führen, so dass schließlich Dentinoberflächen freiliegen (Abb. 2).
PROPHYLAXEdialog
Dentinhypersensibilität
Des Weiteren können an Zahnersatz befindliche
Klammern oder Prothesenränder Ursachen für freiliegende Wurzeloberflächen sein. Denkbar sind auch
Fenestrierung, Dehiszenz der vestibulären Knochenlamelle und die dadurch bedingte Entstehung von
Gingivarezessionen durch kieferorthopädische Zahnbewegungen.
Theoretische Grundlagen
Abb. 2: Massive erosive Zahnschädigung. Ansicht von
palatinal.
Bei Defekten durch falsche Zahnputztechnik wird ein
zusätzlicher Einfluss von säurehaltigen Nahrungsmitteln
und Getränken auf das Erscheinungsbild angenommen
(Eccles & Jenkins 1974). Zahnhartsubstanzverluste sind
nach Säureeinwirkung ausgeprägter, und die Zahl der
offenen Dentinkanälchen steigt an, wie rasterelektronenmikroskopische Untersuchungen zeigten (Absi et al.
1992).
Abfraktionen (keilförmige Defekte) sind ein häufiger klinischer Befund im zervikalen Bereich bei älteren
Patienten (Brady & Woody 1977; Graehn et al. 1991).
Auch diese Form des nicht-kariösen Zahnhartsubstanzdefekts kann zu freiliegenden Dentinoberflächen und
damit verbundener Hypersensibilität führen. Die ursächlichen Faktoren, die zum Erscheinungsbild des keilförmigen Defekts führen, sind aber bisher noch nicht
vollständig geklärt. Es wird vermutet, dass es durch
okklusale Überbelastungen zu Mikrofrakturen im zervikalen Bereich kommt, die im weiteren Verlauf auch
durch den Einfluss des Zähneputzens zu einem Herauslösen von Zahnhartsubstanz führen (Brady & Woody
1977; Lee & Eakle 1996). Die Prävalenz der keilförmigen Defekte wird mit 5 bis 50 % angegeben, wobei eine
Zunahme der Anzahl mit steigendem Alter zu beobachten ist (Brady & Woody 1977; Graehn et al. 1991).
Klinisch ist der keilförmige Defekt an den vestibulären
Flächen lokalisiert und imponiert durch seine scharfkantige Begrenzung.
Denudierte Dentinoberflächen können auch aus
dem Verlust an parodontalem Attachment resultieren. Da die exponierte Wurzelzementschicht aufgrund
ihrer geringen Säureresistenz schnell verloren geht,
liegt das darunter liegende Dentin frei und ist somit
den schmerzauslösenden Noxen ausgesetzt. Neben der
bereits beschriebenen inadäquaten Durchführung der
Mundhygiene (Zahnputzdefekte) sind auch iatrogene
Ursachen wie Parodontalbehandlungen (Scaling, parodontal-chirurgische Eingriffe etc.), akute oder chronische parodontale Erkrankungen, wie auch Traumata
mögliche Ursachen (Dowell & Addy 1983). Ergebnisse
von Studien mit parodontal behandelten Patienten
konnten eine positive Korrelation zwischen Dentinhypersensibilität und einer durchgeführten Parodontalbehandlung nachweisen (Wallace & Bissada 1990). Die
Prävalenz der Dentinüberempfindlichkeit ist bei Patienten mit parodontaler Problematik deutlich höher als bei
Patienten ohne parodontale Problematik (Chabanski
et al. 1996).
PROPHYLAXEdialog
Aufbau des Dentins und Smear layer
Das Dentin kann zeitlebens nachgebildet werden
und ist im Gegensatz zum Schmelz ein vitales, weniger
stark mineralisiertes Hartgewebe. Der anorganische
Anteil besteht mit 70 Gewichtsprozent überwiegend
aus Hydroxylapatit, 20 Gewichtsprozent sind organische Anteile, größtenteils kollagene Fasern und
Odontoblastenfortsätze, der restliche Anteil ist Wasser.
Die Zahnpulpa wird vom Dentin umgeben, mit der es
eine funktionelle Einheit bildet. Das Dentin wird koronal
vom Schmelz und im Wurzelbereich von Zement überzogen, der nach Lage und Aufbau koronal in azellulären, fibrillären Zement und weiter apikal und im Bi- bzw.
Trifurkationsbereich in zellulär-fibrillären Zement eingeteilt wird (Schroeder 1987).
Die von der Zahnpulpa zur Peripherie radiär verlaufenden Dentinkanälchen sind charakteristisch für das
Dentin. Unterhalb der Pulpa-Dentin-Grenze liegen die
Odontoblastenzellkörper, die mit ihren Fortsätzen diese
flüssigkeitsgefüllten Dentintubuli zum Teil bis ins
Manteldentin im Bereich der Schmelz-Zement-Grenze
durchziehen. Im Dentinkanal befindet sich noch eine
klare proteinhaltige Flüssigkeit, die auch als Dentinliquor bezeichnet wird, der einem leicht nach außen
gerichteten Druck von ca. 25 bis 30 mm Hg-Säule unterliegt (Mitchem & Gronas 1991). Anzahl und Durchmesser der Dentinkanälchen nehmen von der Pulpa zur
Schmelz-Dentin-Grenze ab (Mjor & Nordahl 1996;
Marshall et al. 1997), wie auch die Anzahl der Tubuli
von koronal nach apikal abnimmt. So befinden sich im
Bereich der Pulpa-Dentin-Grenze ca. 45.000 bis 65.000
pro mm2 mit einem Durchmesser von 2 bis 4 µm, was
einem Anteil der Kanälchen im pulpenumgebenden
Dentin von ca. 80 % entspricht (Mjor 1979; Garberoglio
& Brännström 1976). Bis zur Schmelz-Dentin-Grenze
verringert sich der Durchmesser der Kanälchen auf ca.
1 µm, und die Gesamtanzahl reduziert sich auf 16.000
bis 20.000 pro mm2. Der prozentuale Anteil in diesem
Bereich macht daher nur noch etwa 4 % aus (Marshall
et al. 1997).
Das Dentin entsteht aus der Zahnpapille und ist
entwicklungsgeschichtlich ektodermaler Herkunft. Es
wird während der gesamten Lebensdauer eines Zahns
gebildet. Chronologisch unterscheidet man folgende
Dentinformen:
W Primärdentin ist das Dentin, das bis zum Abschluss
des Wurzelwachstums gebildet wird.
W Sekundärdentin ist das unter physiologischen Bedingungen angelagerte Dentin nach Abschluss des
Wurzelwachstums.
Ausgabe 2012
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Dentinhypersensibilität
W Tertiärdentin wird aufgrund äußerer Einwirkungen
(Attrition, Karies, Präparation, Trauma, Erosion) als
Resultat der Abwehrleistung der Pulpa gebildet
(früher Reizdentin).
Sensibles Dentin zeigt mehr eröffnete und größere
Tubulidurchmesser (Pashley 1992). Aufgrund der Geometrie kommt es bei einer Verdopplung des Tubulusdurchmessers zu einer 16-fachen Verschiebung der
Tubulusflüssigkeit (Garberoglio & Brännström 1976).
Die Smear layer entsteht nach mechanischer Bearbeitung des Dentins mit Hand- oder rotierenden
Instrumenten und ist eine Hydroxylapatitkristalle und
partiell denaturiertes Kollagen enthaltende Schleifstaub-/Schmierschicht (Pashley 1984; 1992). Die
Schichtstärke der Schmierschicht wird mit 1 bis zu 5 µm
angegeben. Die Smear layer verbindet sich mit dem
darunterliegenden Dentin so fest, dass ein Abwischen
oder Absprühen mit Wasserspray nicht möglich ist
(Brännström 1984; Pashley et al. 1993). Die in die
Dentinkanälchen eindringende Schmierschicht wird
folglich als so genannte „smear plugs“, die eine durchschnittliche Länge von 1 bis 2 µm aufweisen, bezeichnet. Sie können auch über 10 µm tief in die Kanälchen
hineinragen (Heymann & Bayne 1993; Pashley 1990).
Sie funktionieren als biologischer Wundverband, da sie
auf diese Weise den Flüssigkeitsfluss in den Dentintubuli reduzieren, was zu einer Reduktion der Permeabilität von bis zu 86 % führt und die Pulpa vor externen
Reizen schützt (Pashley 1992). Dieser biologische
Schutz ist leider nur zeitlich begrenzt vorhanden, weil
die Smear layer nicht säure- und hydrolysestabil ist
(Nakabayashi & Bonding 1996).
Theorien der Reizleitung im Dentin
Es existieren drei anerkannte Theorien zur Reizleitung im Dentin, die sich in der Annahme der Art des
Rezeptors unterscheiden:
W Hydrodynamische Theorie nach Brännström
(Brännström 1963)
W Direkte Konduktionstheorie
(Byers & Dong 1983; La Fleche et al. 1985)
W Transduktionstheorie
(Byers & Dong 1983)
Allen Theorien der Reizleitung im Dentin ist gemeinsam, dass sie sich auf eine laminare Strömung
innerhalb der Dentinkanälchen als Teil des Übertragungsmechanismus stützen. Die daraus resultierende
Erregung der Nervendigungen und Weiterleitung ins
ZNS mit der Empfindung Schmerz konnte aber bis
heute nicht eindeutig geklärt werden (Addy & West
1994; Gillam 1995). Bei einer ausgelösten Schmerzempfindung erfolgt als lokale Antwort eine Hyperämie
der Zahnpulpa (Mehrdurchblutung bis 30 %) (Andersen
et al. 1994), die bis zu einer halben Stunde anhalten
kann (Edwall et al. 1987). Als Schutzmechanismus, ausgelöst durch die Extravasation, wird der Auswärtsstrom
der Tubulusflüssigkeit in den Dentinkanälchen erhöht.
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Ausgabe 2012
Die populärste Theorie ist die hydrodynamische
Theorie nach Brännström (1963; 1986; Brännström &
Astrom 1972; Brännström et al. 1969). Thermische und
osmotische Reize bewirken eine Änderung der Flüssigkeitsströmung in den Dentinkanälchen und erzeugen
somit eine Hydrodynamik innerhalb der Dentintubuli.
Durch die Hydrodynamik kommt es zu einer Bewegung
der Odontoblastenfortsätze und Erregung der sie
umgebenden freien Nervendigungen. Unter physiologischen Bedingungen ist ein langsamer Auswärtsfluss
des Dentinliquors in den Dentintubuli zu verzeichnen
(Mitchem & Gronas 1991), da in der Pulpahöhle ein
erhöhter Druck herrscht. Kälte kontrahiert die Tubulusflüssigkeit und erzeugt somit einen erhöhten Auswärtsstrom, der Schmerzen zur Folge hat. Hitze hingegen
erzeugt einen zur Pulpa gerichteten Flüssigkeitsstrom
und löst meist nur schwache oder kaum wahrnehmbare
Schmerzen aus.
Die direkte Konduktionstheorie geht von einer
direkten Nervstimulation innerhalb der Dentinkanälchen aus. Nervenfasern werden durch die hydrodynamischen Veränderungen selbst oder auch durch
mechanische Irritationen erregt. Odontoblasten sind in
diesem Modell weitgehend unbeteiligt. Die Theorie
wird gestützt durch den Nachweis von Nervenfasern
unter der Schmelz-Dentin-Grenze mit der Hilfe von Softfixierung (Byers & Dong 1983; La Fleche et al. 1985).
Die Transduktionstheorie geht davon aus, dass der
Odontoblast selbst als Rezeptor fungiert und nach entsprechender Reizung die hervorgerufene Erregung auf
pulpennahe nachgeschaltete Nerven überträgt. Bisher
konnten keine synaptischen Verbindungen, „tight“- oder
„gap“-Junctions gefunden werden, daher ist der Übertragungsweg bisher unbekannt (Byers & Dong 1983).
Ausblick
Eine korrekte Diagnosestellung mit Ausschaltung
aller differenzialdiagnostischen Möglichkeiten und die
Kenntnis der ätiologischen und prädisponierenden Faktoren der DHS müssen für eine erfolgreiche Therapie
vorhanden sein. Therapiemöglichkeiten stehen sowohl
für die häusliche als auch für die professionelle Anwendung in der zahnärztlichen Praxis zur Verfügung.
Teil 2 des Artikels – in der nächsten Ausgabe – beschäftigt sich ausführlich mit den unterschiedlichen Wirkmechanismen und individuellen Indikationen der Therapiemöglichkeiten für den zahnärztlichen Patienten.
DDr. Ulrike Stephanie Beier
Medizinische Universität Innsbruck
Dept. Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde und Mund-, Kieferund Gesichtschirurgie, Universitätsklinik für Zahnersatz und
Zahnerhaltung, MZA
Anichstraße 35 . 6020 Innsbruck . Österreich
PD Dr. Christian R. Gernhardt
Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg
Dept. Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde, Universitätspoliklinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie
Große Steinstraße 19 . 06108 Halle · Deutschland
E-Mail: [email protected]
PROPHYLAXEdialog
Karies
Kariesepidemiologie – Voraussetzung für die
Bestimmung der Mundgesundheit und Nachweis über
die Effektivität prophylaktischer Maßnahmen
Prof. Dr. Annerose Borutta, Universitätsklinikum, Jena, Deutschland
Einleitung
Die Karies zählt neben den marginalen Parodontitiden zu den häufigsten Erkrankungen im orofazialen
System. Epidemiologische Untersuchungen, vor allem
wenn sie repräsentativ für eine bestimmte Region oder
ein bestimmtes Land sind, liefern wertvolle Informationen über den aktuellen Mundgesundheitsstatus
in der Bevölkerung und den daraus abzuleitenden
Behandlungsbedarf. Andererseits dienen ihre Ergebnisse auch als Nachweis über die Effektivität durchgeführter präventiver und kurativer Maßnahmen.
Repräsentative oralepidemiologische Untersuchungen werden in Deutschland seit 1989 mit den
Deutschen Mundgesundheitsstudien (DMS) an Erwachsenen der Altersgruppen 35 bis 44 Jahre und 65 bis 74
Jahre sowie bei 12- und 15-Jährigen regelmäßig durchgeführt. Daneben führt die Deutsche Arbeitsgemeinschaft für Jugendzahnpflege (DAJ) seit 1994/1995 alle
vier Jahre repräsentative Untersuchungen an Schulkindern durch, in denen seit 2004 die Altersgruppen
6 bis 7 Jahre, 12 Jahre und 15 Jahre erfasst werden.
Methodisch orientieren sich beide Untersuchungen an
den „Oral Health Surveys – Basic Methods“ (World
Health Organisation (WHO) 1997).
Definition epidemiologischer
Grundbegriffe
Basis für die Kariesepidemiologie ist der DMFTIndex. Dieser gibt die durchschnittliche Anzahl kariöser
(DT), gefüllter (FT) und aus Kariesgründen extrahierter
(MT) bleibender Zähne in der untersuchten Population
an. Er wird getrennt für das Milch- und das bleibende
Gebiss erhoben, wobei für die Milchzähne Kleinbuchstaben (dt, mt, ft) verwendet werden. Dabei handelt es
sich bei den kariösen Stadien in jedem Falle um fortgeschrittene Dentinläsionen, die entweder noch nicht die
Pulpa (D3) oder bereits die Pulpa (D4) erreicht haben.
Neben der zahnbezogenen Befundung – wie von
der WHO empfohlen –, bei der jeder Zahn nur eine
Bewertung (ungünstigste) erhält, liefern flächenbezogene Erhebungen (dmfs/DMFS) eine exaktere Beschreibung, da hierbei für jede Zahnfläche (s/S) eines jeden
Zahns der jeweilige Status (kariös, gefüllt oder extrahiert) angegeben wird. Noch präziser sind epidemiologische Untersuchungen, die kariöse Frühstadien im
Sinn schmelzbegrenzter Läsionen (D1, D2) erfassen.
PROPHYLAXEdialog
Bislang haben sich mit Ausnahme der DMS-Studien
in Deutschland Methoden zur Früherfassung kariöser
Läsionen nur unzureichend durchgesetzt. Gerade die
Erfassung solcher Frühstadien ist zeitgemäß und sollte
sowohl bei den zahnärztlichen Vorsorgeuntersuchungen im Öffentlichen Gesundheitsdienst (ÖGD), bei den
DAJ-Studien als auch in der zahnärztlichen Praxis Einzug finden.
Epidemiologische Situation bei
Kindern in Deutschland
Seit Jahrzehnten geht aus epidemiologischen
Untersuchungen ein allgemeiner Kariesrückgang
(„Caries decline“) in den Industrieländern hervor, der
sich vor allem im bleibenden Gebiss von Kindern und
Jugendlichen nachweisen lässt. Der 10-Jahres-Vergleich
der DAJ-Studien macht deutlich, dass sich in Deutschland die Karies bei den 12-Jährigen im Zeitraum 1994
bis 2004 um 20 % (Niedersachsen) bis 70,4 % (BadenWürttemberg) reduziert hat. Ein Kariesrückgang wurde
auch für das Milchgebiss dokumentiert, allerdings in
deutlich geringerem Umfang mit Werten zwischen
10,6 % (Niedersachsen) und 35,5 % (MecklenburgVorpommern) (Pieper 2004; Deutsche Arbeitsgemeinschaft Jugendzahnpflege e.V. (DAJ), Bonn 2005).
Konform mit der enormen Verbesserung in der
Mundgesundheit im letzten Jahrzehnt wird eine starke
Polarisierung der Karies beobachtet. Während die
Mehrheit der Kinder und Jugendlichen über ein nahezu kariesfreies Gebiss verfügt, vereinen 10,2 % der
12-Jährigen 61,1% der Gesamtkarieserfahrung auf sich.
Bei 26,8 % der 15-Jährigen wurden 79,2 % der Gesamtkaries dokumentiert (IDZ, Institut der Deutschen Zahnärzte (Hrsg.): Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie
(DMS IV), Köln 2006). Häufig sind es soziale Faktoren
wie unzureichende Bildung, niedriger sozioökonomischer Status und Migrationshintergrund, die eine regelmäßige, präventiv orientierte Inanspruchnahme zahnärztlicher Dienste limitieren. Das Prophylaxeteam sollte
über ausreichende Kenntnisse des Kariesrisikos verfügen und Frühstadien der Karies erkennen. Letztere
sind weißliche („White spot“) oder bräunliche Verfärbungen („Brown spot“), die bei Vorschul- und Schulkindern vor allem im Fissurenbereich der Molaren oder
an den Zahnhälsen lokalisiert sind.
Allerdings treten Frühstadien von Karies auch schon
bei Kleinkindern kurz nach Durchbruch der ersten
Milchzähne auf (Borutta et al. 2002; 2006). Sie sind
zunächst an den Palatinal- und Labialflächen oberer
Inzisivi lokalisiert. Bei Nichtbeachtung schreiten sie sehr
Ausgabe 2012
70
Karies
schnell voran und entwickeln sich zur Defektkaries mit
Einbeziehung weiterer Zähne (Molaren, Eckzähne) bis
hin zur völligen Zerstörung des Milchgebisses. Wegen
ihres Schweregrades und ihrer hohen Verbreitung
zwischen 7 % und 20 % (Splieth et al. 2009) hat sich
die frühkindliche Karies in Deutschland zu einem
„Public-Health-Problem“ entwickelt, das der dringenden Lösung bedarf. Für das Praxisteam bedeutet das,
bereits die werdenden Mütter über die Risikofaktoren
der frühkindlichen Karies aufzuklären und sie zu motivieren, ihre Kinder spätestens gegen Ende des ersten
Lebensjahres erstmalig beim Zahnarzt vorzustellen.
Motivation und Instruktion für eine zweckentsprechende Zahn- und Mundhygiene mit einer fluoridhaltigen
Kinderzahnpasta sowie Empfehlungen für eine gesundheitsfördernde Ernährung sollten die Schwerpunkte der
Beratung beim Erstbesuch sein. Stellen sich dennoch
Frühstadien einer Karies ein, können weitere Fluoridierungsmaßnahmen helfen, eine Progression zu vermeiden.
Bei Schulkindern ist eine regelmäßige präventive
Betreuung notwendig, da insbesondere die neu durchgebrochenen bleibenden Zähne sehr kariesanfällig
sind. Sie kann vom Zahnarzt und vom Prophylaxeteam
durchgeführt werden und schließt vom 6. bis 18.
Geburtstag Maßnahmen der Individualprophylaxe
(IP I bis IP V) ein. Kariöse Frühläsionen können sich in
allen Altersgruppen entwickeln. Nach dem Durchbruch
aller bleibenden Zähne sind die Kontaktflächen besonders gefährdet, weshalb im Approximalbereich bei
Jugendlichen (12 bis 18 Jahre) im Rahmen der Vorsorgeuntersuchungen intensiv nach Frühläsionen geschaut werden sollte. Die epidemiologischen Ergebnisse der DMS IV zeigten bei den 15-Jährigen zusätzlich
zum DMFT von 1,8 2,1 Initialläsionen. Mehrheitlich
(1,6 Läsionen) waren es aktive Läsionen, die bei
Nichtbeachtung in eine Dentinkaries (D3, D4) übergehen können. Alarmierend ist dabei auch, dass die
15-Jährigen im Durchschnitt mehr als doppelt so viele
Initialläsionen wie die 12-Jährigen (0,9 Läsionen) aufwiesen, mit einer mehr als dreifach höheren Anzahl aktiver (1,6 Läsionen) als inaktiver Läsionen (0,5 Läsionen)
(IDZ: DMS IV, Köln 2006).
Epidemiologische Situation im
Erwachsenenalter
Während im Kindes- und Jugendalter die Kariesanfälligkeit aufgrund verschiedener Faktoren sehr hoch
ist, verringert sie sich zunehmend im Erwachsenenalter.
Epidemiologischer Beweis dafür sind die Daten aus den
DMS-Studien (IDZ: DMS IV, Köln 2006; IDZ: DMS III,
Köln 1999). Erkennbar bleibt aber auch für diese Altersgruppe eine Polarisierung, die wie bei Jüngeren durch
die soziale Schichtzugehörigkeit begründet ist. Auf
knapp ein Viertel aller Erwachsenen entfielen alle kariösen Zähne, während die Übrigen ein kariessaniertes
Gebiss hatten. Hinzu kamen 1,5 kariöse Frühläsionen,
von denen 0,7 als aktiv galten bzw. bereits eine
Schmelzkaries waren.
08
Ausgabe 2012
Die im Erwachsenenalter gehäuft auftretenden und
mit dem Alter an Schweregrad zunehmenden Parodontalerkrankungen imponieren u.a. durch einen Rückgang
der Gingiva, wodurch es zunehmend zu einer Freilegung des Zahnhalses und der Zahnwurzel kommt.
Exponierte von Dentin bzw. Wurzelzement bedeckte
Areale sind aber überaus kariesgefährdet, weshalb bei
diesen Patienten die Gefahr einer Wurzelkaries besteht.
Nach den aktuellen Ergebnissen der DMS IV (IDZ:
Vierte Deutsche Mundgesundheitsstudie (DMS IV),
Köln 2006) hat bereits etwa jeder fünfte 35- bis 44Jährige eine Wurzelkaries entwickelt mit einem Root
Caries Index (RCI) (Katz et al. 1982) von 8,8. Innerhalb
von acht Jahren hat sich die Häufigkeit der Wurzelkaries
nahezu verdoppelt. Insofern liegt auch ein erhöhter
Interventionsbedarf für die Prävention und Therapie
vor.
Die hinsichtlich ihrer Mundgesundheit heute noch
am stärksten benachteiligte Altersgruppe ist die der
Senioren (65 bis 74 Jahre). Gegenwärtig weisen sie
einen DMFT-Wert von 22,1 aus, wobei durchschnittlich
14,1 extrahierte Zähne den Hauptanteil am DMFT ausmachen. Die Häufigkeit extrahierter Zähne steht mit der
Schulbildung im Zusammenhang. Senioren mit höherer
Schulbildung haben weniger extrahierte Zähne. Insgesamt haben die Senioren mit 53 % den höchsten
Anteil an Approximalkaries, der damit nahezu doppelt
so häufig ist wie bei den 12- (28,6 %) und 15-Jährigen
(28,9 %). Mit der in Zukunft zu erwartenden rückläufigen
Anzahl extrahierter Zähne steigt aber die Gefahr der
Wurzelkaries. Fast jeder zweite Senior (45 %) hat bereits
eine Wurzelkaries entwickelt. Es wurde aber nachgewiesen, dass bei kontrollierter Inanspruchnahme
zahnärztlicher Dienste die Häufigkeit von Wurzelkaries
eingeschränkt werden kann.
Zusammenfassung
Der Mundgesundheitsstatus, gemessen an Häufigkeit und Schweregrad der Karies, hat sich in den letzten
10 Jahren vor allem im Kindes- und Jugendalter stark
verbessert. Um diese Situation zu erhalten, müssen die
prophylaktischen Maßnahmen kontinuierlich weitergeführt werden. Im Rahmen der regelmäßigen Inanspruchnahme zahnärztlicher Dienste sollten bei allen
Patienten kariöse Frühstadien beachtet und durch
effektive Maßnahmen in ihrer Progression eingeschränkt werden. Die Kariesverbreitung im Erwachsenenalter ist ebenfalls rückläufig. Im Seniorenalter
könnte es zu einer Häufung der Wurzelkaries kommen,
die bereits heute im Erwachsenenalter imponiert. Künftige Präventionsstrategien sollten daher stärker auf die
Vermeidung dieser Kariesform ausgerichtet werden.
Prof. Dr. med. habil. Dr. h.c. Annerose Borutta
Zentrum für Zahn-, Mund- und Kieferheilkunde
Universitätsklinikum Jena
WHO Kollaborationszentrum
„Prävention oraler Erkrankungen“
Bachstraße 18 . 07743 Jena · Deutschland
E-Mail: [email protected]
PROPHYLAXEdialog
Karies
Wie geht man mit der ersten Karies bei
Vorschulkindern um?
Dr. Gert Stel, Universität Medical Center Groningen, Niederlande
Frühes Auftreten von Zahnfäule;
frühkindliche Karies
(Early Childhood Caries, ECC)
Der Kariesbefall kann mit dem Moment beginnen,
in dem Milchzähne in die Mundhöhle durchbrechen. Es
wurden viele Theorien aufgestellt, wie das Kind eine
kariogene Mundflora erwerben kann, doch diese sind
nicht überzeugend. Viele Wissenschaftler und Zahnärzte stimmen jedoch zu, dass eine ungünstige
Kombination aus einer hohen Kohlenhydrataufnahme,
einem niedrigen Mundhygieneniveau und dem Fehlen
adäquater Präventivmaßnahmen (sowohl in der Zahnarztpraxis als auch zu Hause) zu rascher Verschlechterung der Mundgesundheit beiträgt.
Da die frühen Anzeichen von Zahnkaries
in der primären Dentition von den Eltern/
Erziehern des Kindes
nicht immer bemerkt
werden und die ersten
Zahnarztbesuche normalerweise erst in
einem späteren Alter
stattfinden, wird das
frühe Auftreten der
kindlichen Karies häufig
übersehen. Als Resultat
individueller und gruppenbasierter Präventivmaßnahmen in den letzten Jahrzehnten in den Niederlanden hat die Mehrzahl der jungen Eltern einen zufriedenstellenden bis guten Gebisszustand. Dies gilt
natürlich nicht automatisch auch für deren Kinder; viele
Eltern neigen jedoch zu der Ansicht, dass ihr Mundhygieneverhalten keine negativen Auswirkungen auf
die Mundgesundheit ihrer Kinder hat.
region und/oder den Atemwegen. Eltern und Zahnärzte
müssen ihre anamnestischen Fähigkeiten kombinieren,
um festzustellen, ob das Kind ernsthafte dentale Probleme hat, die behandelt werden müssen, oder ob
es andere, z.B. allgemeinmedizinische, Ursachen für
Schmerzen und Beschwerden gibt. Schwierigkeiten
beim Kauen können unterschiedliche Ursachen haben,
z.B. eine nekrotische Pulpa in einem Milchmolaren oder
eine sich entwickelnde Ohrinfektion. Eine weitergehende Untersuchung kann das zugrundeliegende Problem
aufdecken.
Ein interessantes Hilfsmittel kann die so genannte
„dentale Ampel“ sein, die von Kollegen der ACTAZahnklinik in den Niederlanden entwickelt und validiert
wurde. Dieses Tool basiert auf objektivem und validiertem Verhalten des Kindes. Es scheint, dass ein für die
Eltern einfach festzustellendes Verhalten – wie etwa
Weinen beim Essen, Weglegen von Süßigkeiten und
die Hände nach dem Essen fest an die Wange halten –
in Zusammenhang mit möglichen zahnbedingten Problemen steht. Die „Ampel“ zeigt an, dass frühe Anzeichen von einem Zahnarzt beurteilt und gegebenenfalls behandelt werden sollten.
Zahnärztliche Behandlung von
Initialkaries bis hin zu tiefen kariösen
Läsionen ist nicht einfach
Erster Zahnarztbesuch findet meistens
nicht statt, bevor Karies intraoral
sichtbar ist
Forschungsarbeiten zeigen, dass viele Erstbesuche
beim Zahnarzt mit umfangreicher restaurativer Arbeit
oder noch schlimmer, mit der Extraktion von kariösen
Milchmolaren enden. Das Kind hatte bislang keine
Erfahrungen mit einem Zahnarzt und kann somit negativ auf die erste und/oder anschließende Behandlung
reagieren. Karies im Milchgebiss, insbesondere in den
Kontaktbereichen der Milchmolaren, entwickelt sich
schnell, und in Entwicklung befindliche Approximalkaries ist klinisch schwer diagnostizierbar. Bei Vorliegen ungünstiger Ernährungsgewohnheiten und/oder
schlechter Mundhygiene kann davon ausgegangen
werden, dass bei Auftreten der ersten Anzeichen einer
Demineralisation an einsehbaren Stellen die Approximalbereiche ebenfalls betroffen sind.
In vielen Ländern (wie etwa in den Niederlanden)
findet der erste Zahnarztbesuch eines Kindes im
Vorschulalter dann statt, wenn es über Beschwerden im
Mund klagt und/oder die Eltern eine deutlich sichtbare
Verfärbung oder Kavität, meistens in der Molarenregion, bemerken. Es ist nicht immer eindeutig klar,
ob die Beschwerden des Kindes ihren Ursprung in
den Zähnen haben, da es in der frühen Kindheit viele
Gründe für Beschwerden in der orofazialen Region gibt.
Dazu gehören viele Arten von Infektionen in der Ohren-
Da die beste Methode der Kariesdiagnostik immer
noch die visuelle Inspektion, unterstützt durch Röntgenaufnahmen, ist, sollte bei regelmäßigen Untersuchungen der Mundhöhle mit besonderer Sorgfalt auf
optimale Bedingungen für die Karieserkennung geachtet werden. Polieren der Zähne ergibt ein sauberes
Gebiss, das bereit für die Inspektion ist. Es ist ratsam,
die sichtbaren, kavitätenbildenden kariösen Läsionen
auch röntgenologisch zu beurteilen. Wenn die Läsion
tief ist, jedoch keine spontanen Schmerzen verursacht,
PROPHYLAXEdialog
Ausgabe 2012
90
Karies
und wenn keine Anzeichen einer interradikulären
Erkrankung vorliegen, kann ein eher konservativer
Ansatz bei der Zahnbehandlung empfohlen werden.
Nach Exkavation einer manifesten Karies kann eine indirekte Pulpaüberkappung die Therapie der Wahl sein.
Das Belassen von infiziertem Dentin in der axialen
Region einer tiefen Kavität kann nur akzeptiert werden,
wenn es voraussichtlich möglich ist, ein gutes adhäsives
Füllungsmaterial in korrekter Weise zu verwenden, um
die präparierte Kavität zu versiegeln. Wenn dies der Fall
ist, scheint das Belassen von infiziertem Dentin der
Pulpa nicht zu schaden. Das erwähnte adhäsive Material
kann ein Glasionomer oder ein Kompomer sein. Die
Versiegelung ist der springende Punkt – und so ist eine
gute periphere Haftung an den Kavitätenrändern absolut unverzichtbar. Selbstverständlich sollten die auf
diese Weise behandelten Zähne sowohl klinisch als
auch röntgenologisch sorgfältig überwacht werden.
Achten auf Prävention im Vorschulalter
Es wird allgemein angenommen, dass die Einstellung der Eltern zur Mundhygiene sehr viel zur Zahngesundheit ihrer Kinder beiträgt. Informationen über
orale Erkrankungen und deren Prävention sind zwar
leicht zugänglich; die betreuenden Zahnärzte wissen
aber im Einzelfall nicht, ob das Wissen der Eltern ausreicht, um die restaurative oder präventive Betreuung
sicherzustellen. Wenn Eltern über mehrere Informationsquellen verfügen, kann dies zu Unentschlossenheit
und Konflikten führen. In einer kürzlich veröffentlichten
Studie wurde angedeutet, dass Eltern, obwohl ihnen
korrekte Informationen von Ärzten und/oder Zahnärzten
gegeben wurden, diese in ein weniger günstiges zahnbezogenes Verhalten zu „übersetzen“ scheinen. Es ist
ratsam, sowohl Eltern als auch Kinder bereits in frühem
Alter in die Zahnarztpraxis einzuladen, um die Notwendigkeit und die vorteilhaften Auswirkungen präventiver
Maßnahmen zu betonen. Natürlich sind schriftliche
Informationen unverzichtbar, welche auf die spezielle
Situation zugeschnitten sind und am Ende des Besuches ausgehändigt werden.
Es sollten nicht nur die Ernährungsaspekte angesprochen werden, sondern auch die korrekte Anwendung von Fluoriden! Die Verwendung fluoridhaltiger
Produkte zu Hause (Kinderzahnpasta mit angemessenen Konzentrationen von Fluorid mit 500 ppm in der
Altersgruppe < 6 und 1.200 –1.400 ppm in den älteren
Gruppen sowie bei Risikopatienten) und professionell
applizierte topische Fluoride können zu einem besseren
Zustand der (primären) Dentition des Kindes beitragen.
Recall-Intervalle sollten individuell festgelegt und ein
besonderer Schwerpunkt auf eine geeignete Mundhygiene gelegt werden. Wenn das Mundhygieneniveau zu sinken scheint, ist das Recall-Intervall entsprechend anzupassen.
10
Ausgabe 2012
Der Schwerpunkt des Zahnarztes sollte auf der Trias
„Ernährung“, „Mundhygiene“ und „präventive Maßnahmen“ liegen. Da jeder dieser Faktoren zu einer
Verhinderung von Karies beitragen kann, sollten alle
von der Zahnarztpraxis beurteilt und bei Bedarf angegangen werden. Und dies nicht nur einmalig, sondern
regelmäßig und individuell an die familiäre Situation
des Kindes angepasst werden.
In den Niederlanden hat die Organisation Ivory
Cross kürzlich eine neue Empfehlung für Allgemeinzahnärzte herausgegeben, die alle drei Punkte enthält
und sich auf individuell ausgerichtete Prävention konzentriert.
Das Hauptziel der Zahnärzte sollte die frühestmögliche Beurteilung der Zahngesundheit von Klein- und
Vorschulkindern sein, da die ersten Zeichen von ECC
häufig übersehen oder fehlinterpretiert werden. Zusätzlich sollte eine individuelle Beurteilung des Kariesrisikos erfolgen, und präventive Maßnahmen sollten
Ernährungsinformationen, individualisierte Empfehlungen zur Mundgesundheit sowie angemessene Prophylaxemaßnahmen umfassen. Zu Letzterem gehören
häusliche Plaquekontrolle und die Verwendung fluoridhaltiger Zahnpasta. Wenn solche grundlegenden Maßnahmen offensichtlich weniger effektiv oder gar wirkungslos sein sollten, müsste eine intensivere Fluoridanwendung erfolgen. Dazu können professionell
applizierte topische Fluoridlacke mit hohen FluoridKonzentrationen und/oder spezielle Produkte mit höherem Fluoridgehalt gehören. Es gibt viele unterschiedliche Meinungen über die benötigten Konzentrationen
von Fluorid in diesen Produkten. Es kann jedoch davon
ausgegangen werden, dass sich der Zahnarzt diesbezüglich im Allgemeinen auf die nationalen Richtlinien
seiner Berufsorganisationen verlassen kann.
Kooperation zwischen Ärzten und
Zahnärzten
Ganz allgemein hat ein Kind im Vorschulalter mehr
Kontakte mit Ärzten als mit Zahnärzten. Um sicherzustellen, dass ein erhöhtes Kariesrisiko bei einem Kind
auch von Ärzten festgestellt wird, sollte bei der Ausbildung von Allgemeinärzten mehr Betonung auf die
Erkennung dentaler Anomalien und/oder potenzieller
Probleme gelegt werden. Auf der anderen Seite könnten die zahnmedizinischen Lehrpläne auch mehr Zeit für
die pädiatrische Medizin vorsehen. Als Resultat werden
Zahnärzte potenzielle dentale Auswirkungen von Allgemeinerkrankungen und/oder medizinischen Interventionen durch Allgemeinärzte oder Kinderärzte besser
verstehen.
Dr. Gert Stel
University Medical Center Groningen
Center for Dentistry and Oral Hygiene
Antonius Deusinglaan 1, FB 21
9713 AV Groningen · Niederlande
E-Mail: [email protected]
PROPHYLAXEdialog
Mundgesundheit
Hufeland-Preis
ging an Zahnmediziner
Auszeichnung für Prof. Dr.
Klaus Pieper aus Marburg
Für seine Präventionsstudie „Frühkindliche Gebisszerstörung – Ein neues Konzept der Prävention als
Chancengleichheit für alle Kinder“ ist Prof. Dr. med.
dent. Klaus Pieper, Direktor der Abteilung Kinderzahnheilkunde im Medizinischen Zentrum für Zahn-, Mundund Kieferheilkunde der Philipps-Universität Marburg,
mit dem Hufeland-Preis ausgezeichnet worden.
Die Erkenntnisse der zweijährigen Interventionsstudie zeigen auch Möglichkeiten auf, wie die frühkindliche Karies erfolgreicher bekämpft werden kann. So
zeigte die Auswertung zum Beispiel, dass noch immer
häufiges nächtliches Trinken zuckerhaltiger Getränke
aus der Saugflasche entscheidend zur Entstehung einer
frühkindlichen Karies beiträgt.
Der Hufeland-Preis – benannt nach dem deutschen
Mediziner Christoph Wilhelm Hufeland (1762 –1836) –
ist der renommierteste Prophylaxepreis Deutschlands.
Seit 1959 wird er jährlich für hervorragende wissenschaftliche Arbeiten auf dem Gebiet der Präventivmedizin verliehen. Dies ist in der Geschichte des
Hufeland-Preises erst das vierte Mal, dass diese besondere Würdigung für ein Projekt aus der Zahnmedizin
verliehen wird.
Empfehlungen für eine angemessene Mundgesundheitsversorgung bei älteren Menschen im Pflegeheim
Dr. Luc De Visschere, Prof. Dr. Jacques Vanobbergen, Universität Gent, Belgien
Begründung
Die proportionale Zunahme des Anteils älterer
Menschen in der Bevölkerung ist mit Sicherheit einer
der wichtigsten Prozesse in der jüngsten Entwicklung
unserer Gesellschaft. Die Lebensqualität eines erheblichen Anteils älterer Menschen gibt Anlass zu großer
Sorge, insbesondere mit Hinblick auf die Mundgesundheit. Die gesellschaftliche Gruppe der älteren Menschen ist durch eine enorme Diversität gekennzeichnet.
Bei älteren Erwachsenen zeigt sich eine komplexe
Kombination und Exprimierung individueller genetischer Prädispositionen, Lebensweisen, Sozialisation
und Umfelder, Wohlstand und Bildung. Insbesondere
wird diese Diversität beim Gesundheitsstatus beobachtet, einschließlich der Mundgesundheit.
Im Vergleich zu anderen Altersgruppen ist die
Heterogenität bezüglich der funktionellen Abhängigkeit bei den über 65-Jährigen größer. Die wichtigsten
der für diese Heterogenität verantwortlichen Faktoren
sind die lebenslange Geschichte der Verhaltensmuster
der Person, der kumulative Effekt von Risikofaktoren,
die zunehmende Komorbidität und die damit eng verbundene Polypharmazie. Aufgrund der reziproken Auswirkungen der Allgemeingesundheit auf die Mundgesundheit ist es wichtig, dass beide so lange wie
möglich in optimalem Zustand bleiben. Systemische
Erkrankungen beeinträchtigen die Mundgesundheit
und umgekehrt (Seymour et al. 2007; Rautemaa et al.
2007).
PROPHYLAXEdialog
Verschiedene Medikamente haben ebenfalls einen
negativen Effekt auf die Mundgesundheit, etwa durch
Induktion von Xerostomie, Hyposalivation, Schleimhautläsionen und gestörter Blutgerinnung (Chiancio
2004). Außerdem betreffen verschiedene Aspekte der
Mundgesundheit die Lebensqualität und das Wohlbefinden (Tsakos et al. 2006; Kandelman et al. 2008;
Marino et al. 2008). Die Mundgesundheit beeinflusst
Kauvermögen, Nahrungsauswahl, Gewicht, Sprache,
Geschmack, Hydrierung, Aussehen sowie psychosoziales Verhalten und ist dadurch nicht nur für die älteren
Menschen selbst, sondern auch für ihre Verwandten
und Gesundheitsdienstleister ein Thema (Nordenram
et al. 1994; Nitschke & MŁller 2004; Ikebe et al. 2006).
Der Schlüsselfaktor für die Realisation und Erhaltung einer guten Mundgesundheit ist die tägliche
Mundhygiene mit Entfernung der oralen bakteriellen
Plaque, die vor allem aus pathogenen gram-negativen
Keimen besteht (Hancock & Newell 2000; Attin &
Hornecker 2005). In den letzten Jahrzehnten führte eine
signifikante Zunahme der Maßnahmen zur Mundgesundheitspflege zu einer bemerkenswerten Verbesserung der Mundgesundheit. Wenngleich ein großer
Anteil von Patienten positive Auswirkungen durch
einen eher präventiven Ansatz erfährt, der überwiegend
auf selbst durchgeführter Pflege basiert, lassen sich
Risikogruppen identifizieren, für die ein gezielterer
Ansatz notwendig ist. Neben Zahnärzten und Dentalhygienikerinnen sind Krankenschwestern sehr wichtige
Gesundheitsdienstleister bei Maßnahmen für die Mundgesundheit älterer Menschen und bei der Kontinuität
der Versorgung für die am meisten pflegeabhängige
Gruppe.
Ausgabe 2012
11
Mundgesundheit
Krankenschwestern werden häufig koordinierende,
unterstützende und ausübende Aufgaben in der Mundgesundheitspflege zugewiesen (Boyle 1992; Wardh et
al. 2000; Brady et al. 2006). Diese Kompetenzen erfordern genaue Kenntnisse, eine positive Einstellung
und die richtigen Fähigkeiten. Viele quantitative und
qualitative Umfragen zeigen fehlendes Wissen, mangelhafte Einstellung und Fähigkeiten, Zeitmangel,
Personalknappheit sowie fehlende Kooperation der
Heiminsassen als wichtige Hindernisse, die zu einer
unzulänglichen Mundgesundheit bei institutionalisierten älteren Menschen führen, besonders bei denen mit
Demenzsyndrom. Es besteht eine Diskrepanz zwischen
dem Ziel des Pflegepersonals, die Mundgesundheit zu
optimieren, und dem bei älteren Heimbewohnern
beobachteten Mundhygieneniveau.
Um diese Diskrepanz zu beseitigen und die Mundpflege zu optimieren, sollten bessere Einblicke in
Aspekte gewonnen werden, die mit schlechter Mundhygiene und inadäquater Mundgesundheit verbunden
sind. Dementsprechend müssen neue Strategien entwickelt werden, um eine optimale Mundgesundheit zu
fördern. Die Einführung innovativer Pflegewege ist allgemein als komplexer Prozess anerkannt (Tannahill
1986). Die meisten Fachleute für die Verbesserung des
Gesundheitswesens betonen die Wichtigkeit, sich gute
Kenntnisse des Problems, der Zielgruppe, ihrer Umgebung sowie der Hindernisse für Veränderungen anzueignen, um effektivere Strategien für eine Veränderung zu entwickeln (Grol 1997; Rashidianet al. 2007:
Shiffman et al. 2004). Wenn innovative Pflegewege
beschritten werden sollen, ist es wichtig, Einblicke in
Determinanten zu erhalten, die den gesamten Implementierungsprozess erleichtern oder behindern können
(Grol & Wensing 2006).
Das AMOR- und ABRIM-Projekt
Implementierung einer Mundhygienerichtlinie und
ABRIM eine überwachte Implementierung eines
„Mundgesundheitspflegeprotokolls“, basierend auf
Richtlinien, die von der Niederländischen Vereinigung
von Pflegeheimärzten entwickelt wurden (De Visschere
et al. 2010). Unterschiedliche Aspekte beider Projekte
wurden durch quantitative Wirkungs- und qualitative
Prozessevaluierungsmethoden beurteilt (van der Putten
2010; De Visschere et al. 2009; 2010).
Die Intervention des AMOR-Projekts umfasste eine
Einführungssitzung (1 h) mit dem Leiter der jeweiligen
Institution zur Erklärung, Begründung und Durchführung des Interventionsverfahrens. Es folgte die
Bestellung eingetragener Krankenschwestern als Organisatoren der Mundgesundheitspflege, verantwortlich
für das Implementierungsverfahren auf ihrer Station.
Des Weiteren umfasste sie eine Halbtagssitzung zur
theoretischen und praktischen Schulung für alle ernannten Mundgesundheitskoordinatoren, die wiederum die
anderen Krankenschwestern, Pflegehelfer oder Hilfspfleger schulen mussten (nach dem Prinzip „Ausbildung der Ausbilder“), eine orale Beurteilung aller
Neuzugänge, durchzuführen von den geschulten Mundgesundheitskoordinatoren anhand neu entwickelter
Beurteilungsformulare, einen „individualisierten Mundhygieneplan“, der von den geschulten Mundgesundheitskoordinatoren vorzubereiten war, unter Berücksichtigung der Mundgesundheitsbedürfnisse des Insassen gemäß der oralen Beurteilung, sowie den Grad
der Abhängigkeit des Insassen.
Das Mundhygieneprotokoll beschrieb klar und deutlich die Anweisungen für die Reinigung der Zähne, des
Weichgewebes und der Prothesen sowie die Integration
des „individualisierten Mundhygieneplans“ in die tägliche Pflege, durchzuführen von allen an der täglichen
Pflege beteiligten Personen.
In Flandern (Belgien) wurden zwei Projekte zur
Förderung der Mundgesundheitspflege geplant und
entwickelt: das AMOR1- und das ABRIM2-Projekt. Beide
Projekte wurden von GABA International unterstützt.
Beim AMOR-Projekt wurde die Implementierung zu
Beginn des 5-Jahres-Implementierungszeitraums eingeführt und nur durch einen jährlichen Kontrolltermin
zur Evaluierung der Auswirkungen unterstützt. Beim
zweiten Versuch (ABRIM) wurde die Implementierung
während eines Studienzeitraums von 6 Monaten aktiv
überwacht.
Diese Projekte zielten auf eine Verbesserung der
Mundhygiene und eine Beeinflussung der Einstellung
von Pflegepersonen gegenüber der Mundgesundheitspflege. AMOR beinhaltete eine nicht überwachte
1
Action Mouth Care in Older People in Nursing Homes
(Aktion Mundpflege bei älteren Menschen in Pflegeheimen)
2
Actively Supervised Implementation of an „Oral Health-care
Guideline“ (Aktiv überwachte Implementierung einer
„Mundgesundheits-Pflegerichtlinie“)
12
Ausgabe 2012
Abb. 1: Untersuchungsarzt bei der Schulung eines Mundgesundheitspflegeteams (ABRIM-Projekt)
Beim ABRIM-Projekt wurde ein Mundgesundheitspflegeteam aufgestellt, das aus einem Projektsupervisor auf Institutionsebene, mindestens zwei Mundgesundheitspflegeorganisatoren (Krankenschwestern
oder Pflegehelfern) pro Station, einem Arzt und optional einem Beschäftigungs- oder Sprachtherapeuten
bestand.
PROPHYLAXEdialog
Mundgesundheit
Die Überwachung der Implementierung der Richtlinie wurde von einem Untersuchungsarzt (Erstautor) mit
Unterstützung durch eine Dentalhygienikerin durchgeführt und enthielt die gleiche Intervention wie beim
AMOR-Projekt. Zusätzlich wurden alle Materialien und
Produkte für die Mundgesundheitspflege für jeden
Insassen kostenlos zur Verfügung gestellt und alle
6 Wochen Überwachungstermine vom Untersuchungsarzt organisiert, mit einem Treffen von Projektsupervisor
und Mundgesundheitspflegeorganisatoren, um den Implementierungsprozess sowie Überwachungsprobleme
zu verfolgen.
Nach 5 Jahren Implementierung (AMOR) reflektierten die Plaquewerte an Zähnen (> 1,5) und Prothesen
(> 2) immer noch den großen Anteil gebrechlicher älterer Menschen, die nicht in der Lage waren, ihre Zähne
oder Prothesen angemessen zu reinigen und die keinerlei Hilfestellung erhielten. Dessen ungeachtet blieb
bei diesem quantitativen Ansatz ungeklärt, warum es
den meisten Krankenschwestern und Pflegekräften
nicht gelang, Mundhygiene bei Insassen durchzuführen.
Es fanden sich wichtige Störfaktoren, die sowohl mit der
Intervention (erklärende Variable) als auch den Mundhygienewerten (Ergebnis) in Zusammenhang standen.
Die Kapazität des Pflegeheims und das Vorhandensein
von Zahnpasta waren mit Prothesen-Plaquewerten korreliert, während der Grad der Abhängigkeit der Insassen und das Vorhandensein von Mundspülungen mit
den Zahn-Plaquewerten in Zusammenhang standen.
Das Problem der Mundhygiene war anscheinend so
lange minimal, wie der Insasse in der Lage war, seine
eigenen Zähne angemessen zu reinigen. Sobald der
Heiminsasse jedoch anfälliger und pflegeabhängiger
wurde, fiel die Mundhygiene der natürlichen Bezahnung schnell aus und musste von Pflegekräften übernommen werden. Trotzdem waren die Pflegekräfte allgemein in der Lage, die Prothesen der Insassen zu
reinigen, jedoch nicht deren natürliches Gebiss, wie es
beim Feedback in Einzelfällen berichtet wurde.
Das Mundhygieneprotokoll wurde in einer echten
Pflegeheimsituation implementiert. Folglich war es bei
einigen Störfaktoren nicht einfach, sie zu kontrollieren;
dazu gehörten die hohe Personalfluktuation sowie die
Schwierigkeit, die Einhaltung des Protokolls innerhalb
von Interventionspflegeheimen zu kontrollieren. Es
wurde ein Neuheits- und Hawthorne-Effekt beobachtet,
bei dem das neue Pflegeprotokoll zu einem anfänglichen Vorteil führte, der im Lauf der Zeit wieder verschwand. Andererseits profitierten im Rahmen des
Hawthorne-Effekts sowohl die Interventions- als auch
die Kontrollgruppen direkt oder indirekt von der
Studienteilnahme. Die im ABRIM-Projekt gemessenen
Baselinewerte von Prothesen- und Zahnplaque waren
niedriger als beim AMOR-Projekt, was einen gewissen
Fortschritt bezeugt. Nichtsdestoweniger wurden die
Prothesen- und Zahnplaque durch die überwachte Implementierungsintervention verbessert, wenn auch mit
geringerem Nutzen als erwartet. Die Intervention war
am zufriedenstellendsten bei der Prothesenplaque, gefolgt von Zungen- und Zahnplaque.
PROPHYLAXEdialog
Ein hochsignifikanter Unterschied zeigte sich zwischen den verschiedenen Pflegeheimen für alle Plaquewerte. Die Variable „Institution“ war für fast alle
Unterschiede bei den Hygienewerten während des
Studienzeitraums verantwortlich. Außerdem könnte der
Hawthorne- und/oder Neuheitseffekt einen positiven
Einfluss auf die Hygienewerte gehabt haben, insbesondere bei Baseline. Dies wurde durch die Tendenz
erklärt, bei der Teilnahme an einem Experiment bessere
Leistungen zu erbringen, was zu einer kurzfristigen
Verbesserung des jeweils interessanten Ergebnisses
führt. Analyseunterschiede zwischen Interventions- und
Kontrollgruppen führten außerdem zu der Annahme,
dass individuelle Charakteristika der Institutionen die
Ergebnisse beeinflusst hatten. Die Komplexität dieser
Charakteristika erschwerte eine quantitative Analyse
ihres Einflusses auf die verschiedenen Plaquewerte, was
bei weiteren Forschungsarbeiten auf jeden Fall für den
qualitativen Ansatz spricht.
Abb. 2: Untersuchungsarzt bei Mundgesundheitspflegeschulung vor Ort (Zungenschaben)
Überlegungen
Die Implementierung eines Mundhygieneprotokolls
erfüllte nicht alle Erwartungen. Die Plaquewerte bei
der Nachkontrolle blieben in beiden Studien unbefriedigend, was die Schwierigkeit demonstriert, bei institutionalisierten älteren Menschen ein angemessenes
Mundhygieneniveau herzustellen und zu erhalten. Beeinflussende Faktoren auf individueller und institutioneller Ebene wurden untersucht, um logische Erklärungen für diese enttäuschenden Ergebnisse zu finden.
Quantitative Datenanalysen zeigten eindeutig, dass alle
individuellen einflussnehmenden Faktoren durch die
Institution überstimmt wurden, insbesondere in der
ABRIM-Studie.
Dieses Phänomen muss bei der Entwicklung künftiger Implementierungsstrategien berücksichtigt werden.
Die qualitative Datenanalyse zeigte, dass das Mundhygieneprotokoll an sich von den Krankenschwestern
gut angenommen wurde. Dies deutet darauf hin, dass
das Mundhygieneprotokoll unter Berücksichtigung einiger notwendiger Anpassungen für die breitere Anwendung weitergegeben werden kann.
Ausgabe 2012
13
Mundgesundheit
Organisation
Arbeitsbelastung
Hohe
Arbeitsbelastung
Zeitmangel
(Wochenende)
Zeitpunkt der
Mundgesundheitspflege
Krankenschwestern
Insassen
Mundgesundheit
Mundgesundheitspflege
Aufmerksamkeit
Wichtigkeit
Grad der
Abhängigkeit
Mobilität
Aktionen
Reinigung von
Zähnen/Prothesen*
Selbsterfahrungsgesteuert*
Palliativ
Bewusstsein
Priorität
Sozialkontakt
Kommunikation
Teilzeitarbeit*
Feedback
Unfähigkeit
Interne
Wirkungsbeurteilung
Mitarbeit
Widerwille
Stimmung
Verachtung
Kenntnisse &
Fähigkeiten
Kommunikation
Festhalten an alten
Gewohnheiten
Aufklärung
Mundgesundheitspflege
Einstellung
Verantwortlichkeit
Bewusstheit
Empathie
Wille
Skepsis
Machbarkeit
Angst
Nicht-Mitarbeit
Fehlen von
Mundgesundheitspflegemaßnahmen*
Dankbarkeit
Probleme
Wahrnehmbarkeit*
Kommunikation
Ernsthaftigkeit der
Konsequenzen
Genauigkeit
Schulung
Implementierung
Studienbeteiligung
Kognition
Selbstbestimmung *
Einstellung zu
Mundgesundheitspflege
Negativ / Positiv
Resignation
Abscheu
Vergesslichkeit
Faulheit
Sorglosigkeit
Nachfragegesteuerte
Mundgesundheitspflege
Duldung*
Verlassen auf andere
Resignation
Mangelndes
Überlegen
* Neue durch das ABRIM-Projekt aufgezeigte Hindernisse, Kursivschrift zeigt Inkonsistenz zwischen Befragten an.
Abb. 3: Klassifizierungsmodell von hemmenden und fördernden Faktoren für die Integration von Mundgesundheitspflege
in die tägliche Pflege
14
Ausgabe 2012
PROPHYLAXEdialog
Mundgesundheit
Es sind zusätzliche Nachweise aus weiteren Forschungsarbeiten notwendig, um Ratschläge zur Mundhygiene zu untermauern und deren weitverbreitete
klinische Anwendung zu unterstützen. Auf der anderen
Seite waren offensichtlich einige Teile des Implementierungsverfahrens unzulänglich und inadäquat durchgeführt worden. Zwei wichtige Versäumnisse waren
die unzureichende interne Schulung von Krankenschwestern und Pflegehelfern sowie der Widerstand
gegen die regelmäßige interne Wirkungsbeurteilung
durch Offenlegungsverfahren.
Empfehlungen
Unter Berücksichtigung der Ergebnisse des AMORund ABRIM-Projekts können einige Empfehlungen zur
Unterstützung von Pflegeheimen gegeben werden, die
mit der Implementierung eines Mundhygieneprotokolls
beginnen möchten.
Vor Beginn der Implementierung eines Mundgesundheitsprotokolls müssen die Einstellung zur und
die Wahrnehmung der Mundgesundheit von Krankenschwestern auf Stationsebene beurteilt werden. Die Beurteilung kann durch persönliche Gespräche mit offenen Fragen, basierend auf dem Klassifizierungsmodell
(siehe Abb. 3), erfolgen, um hemmende und fördernde
Faktoren festzustellen. Anschließend sollten die erhaltenen Resultate die weiteren Implementierungsstrategien bestimmen, einschließlich Inhalt und Häufigkeit der theoretischen und praktischen Schulungssitzungen sowohl auf Institutions- als auch Stationsebene. Aufklärungs- und Schulungssitzungen müssen
zielgerichtet auf die beobachteten Einstellungen und
Wahrnehmungen des mit der täglichen Pflege befassten Personals eingehen. Das Implementierungsverfahren muss von einer in Mundgesundheitspflege
geschulten Person beaufsichtigt, aktiv geführt und
kontinuierlich überwacht werden. Um diese Empfehlung zu erfüllen, wird dazu geraten, einen Zahnarzt oder
Mundhygienespezialisten oder andere Hilfspersonen
hinzuzuziehen.
Interne Beurteilungen des Mundgesundheitszustands der Insassen sowie laufender Prozesse müssen
regelmäßig durchgeführt werden, um den Fortschritt
der Implementierung zu verfolgen. Eine zusätzliche
externe Überwachung und Feedback durch einen
Mundgesundheitsexperten werden empfohlen.
Um die festgestellten Mundgesundheitsbedürfnisse
der Insassen zu erfüllen, müssen neue Initiativen mit
mobiler zahnärztlicher Ausrüstung realisiert werden,
die die notwendige Mundgesundheitspflege liefern
und die Implementierungsverfahren sowie die in den
Pflegeheimen an der Mundgesundheit arbeitenden
Pflegekräfte unterstützen.
Dr. Luc De Visschere
Universiteit Gent . Vakgroep Tandheelkunde
Maatschappelijke Tandheelkunde
De Pintelaan 185 · 9000 Gent · Belgien
E-Mail: [email protected]
PROPHYLAXEdialog
Verleihung des ECGGABA-Preises 2011
Auszeichnung geht an Prof. Dr. Roeland De Moor
(Belgien) und seine Forschungsgruppe für ihre
Studie zu adhäsiven Versorgungen im Zahnhalsbereich
Der ECG-GABA-Preis 2011 wurde während des
Jahreskongresses des ECG (European College of Gerodontology) verliehen. Er ging an eine Autorengruppe
im belgischen Gent. GABA als Spezialist für orale
Prävention unterstützte den Preis mit 5.000 SFr.
v.l.: Ariane Stengers (GABA)
Prof. Dr. Roeland De Moor,
Prof. Dr. Jacques
Vanobbergen (Präsident
der ECG)
Die Gewinner, Prof. Dr. Roeland De Moor und sein
Forschungsteam von der Universität Gent, erhielten
den Preis für ihre Forschungsarbeit „Zwei Jahre Nachbeobachtung von adhäsiven Versorgungen im Zahnhalsbereich bei Xerostomie-Patienten nach Kopf- und
Halsbestrahlung“. Prof. De Moor nahm den Preis entgegen und hielt einen beeindruckenden Vortrag mit vielen
Detailbildern zu seiner Arbeit.
Ziel der Studie war die Untersuchung des klinischen
Abschneidens von Restaurationen der Klasse V mit
Glasionomer (konventionell und kunstharzmodifiziert)
und Kompositharz bei Xerostomie-Krebspatienten nach
Kopf- und Halsbestrahlung hinsichtlich Randschluss,
anatomischer Form und Kariesrezidiv. De Moor et al.
kamen zu dem Ergebnis, dass moderne Glasionomerpräparate aufgrund ihrer höheren Abrasionsbeständigkeit und schlechteren Löslichkeit zwar einen besseren
Erosionsschutz bieten, dies jedoch nicht bei Xerostomie
gilt. Laut Gewinnerteam schützen Glasionomere besser
vor Karies. Andererseits ist Kompositharz stabiler. Aufgrund der Ergebnisse dieser zweijährigen Nachbeobachtung werden für die Versorgung von Wurzelkarieskavitäten konventionelle Glasionomere empfohlen.
Das European College of Gerodontology ist ein
europäisches Expertengremium, das sich ausschließlich
wissenschaftlichen Bestrebungen auf dem Gebiet der
Gerodontologie widmet. Die Organisation fördert
gerodontologische Zahnheilkunde und Verbreitung der
Forschungsergebnisse innerhalb wie außerhalb Europas. Sie arbeitet mit ausländischen und einheimischen,
landesweit agierenden wissenschaftlichen Organisationen, Fachgesellschaften und Unternehmen zusammen. Bei jeder Tagung gibt es die Möglichkeit, sich um
den ECG-GABA-Preis zu bewerben, mit dem Arbeiten
aus dem Gebiet der Gerodontologie ausgezeichnet
werden. Weitere Informationen: www.epa2012.nl
Ausgabe 2012
15
Erosion
(Zahn-)Gesunde
Ernährung – im Fokus:
Saures!
Dr. Gerta van Oost, Dormagen, Deutschland
Gesunde Ernährung, gesunde Zähne?!
Eine ausgewogene, die Leistungsfähigkeit erhaltende Ernährung enthält Getreideprodukte, Gemüse auch
als Rohkost, frisches Obst, Milchprodukte, Fisch, Fleisch
und Eier, Nüsse oder Samen, Öle und Getränke, vor
allem Wasser. Die in den Lebensmitteln enthaltenen
Nährstoffe wie Kohlenhydrate und Ballaststoffe, Fettund Aminosäuren, Mineralstoffe, Vitamine und sekundäre Pflanzenstoffe sind für Wachstum und Gesundheit
des Körpers unabdingbar.
Wasser und Getränke machen die Hälfte der gesamten Tagesverzehrmenge aus – und an heißen Sommertagen mit hohem Flüssigkeitsbedarf noch mehr. 1500
bis 2000 ml sollten es täglich sein.
Unter den pflanzlichen Lebensmitteln spielen Vollkornprodukte, Gemüse und Obst eine überragende
präventive Rolle. Bei den tierischen Lebensmitteln sind
Milch, insbesondere Sauermilchprodukte wie Joghurt,
Kefir und Dickmilch von großer gesundheitlicher Bedeutung. Fleisch, Fisch und Eier machen lediglich ca. 7%
des Tagesverzehrs aus.
Die tägliche Aufnahme empfehlenswerter Lebensmittel eines Erwachsenen könnte z.B. so aussehen: ca.
150 – 300 g Brot/Getreideprodukte, 150 – 250 g Kartoffeln/Reis/Nudeln, 650 – 800 g Gemüse und Obst,
250 – 300 g Milchprodukte, 100 –150 g Fleisch/Fisch/Ei,
25 – 45 g Öl bzw. Fett; insgesamt sind das 1500 bis
2000 g – ähnlich der Flüssigkeitsmenge.
Die genannten Lebensmittel verspeisen wir in der
Regel in Form von Mahlzeiten, meistens in drei Hauptund bis zu zwei Zwischenmahlzeiten. Die Zahl der Mahlzeiten ist abhängig von Alter, Körpergewicht, Berufstätigkeit, Freizeitgestaltung oder Erkrankungen. Drei
Mahlzeiten pro Tag sind für gesunde Erwachsene ratsam – auch aus oralprophylaktischer Sicht. Kinder benötigen zusätzlich zwei Zwischenmahlzeiten. Zu jeder
Mahlzeit gehört ein Glas Wasser. Haupt- und Zwischenmahlzeiten sollen überwiegend aus pflanzlichen Lebensmitteln bestehen. Eine Sättigungsbeilage wie Brot,
Kartoffeln, Reis, Nudeln soll Bestandteil jeder Hauptmahlzeit sein. Empfehlenswerte Zwischenmahlzeiten sind
(Frucht- oder Natur-)Joghurt, Äpfel, Nüsse oder ein
belegtes Brot mit Käse. Süßes sollte die Ausnahme sein.
Doch nicht alles, was für den Körper gesund ist, tut
auch den Zähnen gut – vor allem, wenn falsche Ess- und
Trinkgewohnheiten hinzukommen oder Diätfehler begangen werden. Hier gelten ein paar zusätzlich zu beachtende oralprophylaktische „Spielregeln“.
16
Ausgabe 2012
Risikofaktor Säure
Die tägliche Ration Obst und Gemüse gehört zu
einem modernen, leistungsgerechten, aktiven Lebensstil. Eine leichte, vitamin- und nährstoffreiche Ernährung
enthält Obst und Salate. Wenn jedoch Salate stets nur
mit Fertigwürzen und Essig angemacht werden, fehlt
nicht nur das ernährungsphysiologisch wichtige Öl, sondern die Mischung ist auch risikoreich für die Zahngesundheit. Zitrusfrüchte, klare essighaltige Salatsoßen,
Säfte, Softdrinks, Lightgetränke – auch aromatisierte
Mineralwässer mit niedrigem Kaloriengehalt – enthalten
Säuren (s. Tab 1). Insbesondere Zitronen- und Phosphorsäure stellen ein ernstes Risiko für die Zahnoberfläche
dar (vgl. Tab. 2).
pH-Werte in Getränken
Fruchtsäfte (z.B. Apfel-, Aprikosen-, Birnen-,
Grapefruit-, Kirsch-, Orangen-, Traubensaft)
Zitronensaft
3,0 bis 3,7
Gemüsesäfte (Karotten-, Tomatensaft)
4,0 bis 4,2
Limonaden
2,5 bis 3,5
Erfrischungsgetränke
(z.B. Cola-Getränke, Limonaden,
auch in „light“)
2,6 bis 3,0
Isotonische (Sport-)Getränke
3,0 bis 3,7
Aromatisierte Wässer
(z.B. Mineralwasser mit Zitrone)
ca. 3,3
Eistee
3,8 bis 3,9
Mineralwasser mit Kohlensäure
ca. 5,5
Trinkwasser
lt. Trinkwasserverordnung
ca. 7,0
6,5 bis 9,5
Trinkmilch
6,6 bis 6,8
Schwarzer Tee
6,5 bis 7,0
Kaffee
5,2 bis 5,6
2,7 bis 3,0
Tab. 1: pH-Werte in Getränken
Das erosive Potenzial von Lebensmitteln ist nicht
nur von den in ihnen enthaltenen Säuren abhängig,
sondern gleichermaßen von ihrem pH-Wert (je kleiner,
desto höheres Erosionsrisiko), ihrer Pufferkapazität
(je größer, desto höheres Erosionsrisiko) und der Konzentration von Calcium-/Phosphat-Ionen (je größer,
desto geringeres Erosionsrisiko). Detaillierte Angaben
über ausgewählte Lebensmittel und Medikamente
sind in folgender Quelle einsehbar: Lussi et al.:
Analysis of the erosive effect of different dietary
substances and medications. Br J Nutr (2011).
PROPHYLAXEdialog
Erosion
Säurehaltige
Lebensmittel
und Getränke
Beispiele
Maßgebliche
geschmacksgebende Säure
Erosives
Potenzial
Kernobst
Apfel, Birne
Apfelsäure
ja
Apfelsine,
Pampelmuse
Zitronensäure
ja
Tomate
Möhre
Rhabarber
Zitronensäure
Apfelsäure
Zitronen-, Apfel-,
Oxalsäure
ja
ja
ja
ja
ja
und entspr. Getränke
Zitrusfrüchte
und entspr. Getränke
Gemüse
und Gemüsesäfte
Sauer eingelegte
Gemüse
Gewürzgurken
Rote Bete
Essigsäure
Milchsäurevergorenes Gemüse
Sauerkraut
Milchsäure
ja
Essig
Apfelessig
Weinessig
Essigsäure
ja
Sauermilchprodukte
Joghurt
Milchsäure
Kefir, Dickmilch
Süßigkeiten/
Süßwaren
Saure Bonbons Zitronensäure
Geleebonbons Weinsäure
Weingummi
Eistee
Cola-Getränke
Limonaden,
Limonadenkonzentrat
Energy- und
Wellnessdrinks,
Isotonische
Sportgetränke
Früchtetee
Risikofaktor: häufiges Essen /Trinken
Neben der falschen Auswahl von Nahrungsmitteln
spielen Ernährungs- bzw. Trinkgewohnheiten und gestörtes Essverhalten eine erhebliche Rolle bei Zahnschäden.
W Häufige Kleinmahlzeiten lassen den Zähnen keine
Erholungspause.
W In Schicht Arbeitende versuchen sich häufig über
Colagetränke wach zu halten.
W Jugendliche haben oft Softdrinks auf Schritt und Tritt
dabei.
W Snacks, Energieriegel und Erfrischungsgetränke sind
ubiquitär über Automaten in den Arbeitsstätten verfügbar.
W In etlichen Büros steht eine Schale mit Naschzeug –
mitunter ein Ersatz für Hauptmahlzeiten.
nein
(hoher
Calciumgehalt)
Tagesprotokoll eines 17-Jährigen
ja
ja
07.15
Zitronensäure
Phosphorsäure
ja
ja
Zitronensäure
ja
Zitronensäure
ja
(Apfel-)Essigsäure
ja
ja
Kombucha
Brottrunk, Kwass
Obstessig-Drink
Zitronen-, Apfelsäure
Milch-, Essigsäure
Milchsäure
Essigsäure
Mineralwasser
Kohlensäure
07.00
1 Zigarette
1 Dose Cola
Arbeitsbeginn
10.00
Frühstückspause
1 Bounty
1 Fruchtjoghurt
1 Dose Limonade
1 Zigarette
12.30
Mittagspause
1 Portion Pommes
1 Bratwurst
Ketchup und Mayonnaise
1 Dose Cola
1 Dose Limonade
1 Zigarette
14.30
Kaffeepause
(und zwischendurch)
2 Zigaretten
2 Dosen Cola light
16.00
Arbeitsende
ja
ja
ja
nein
(geringe
Pufferkapazität)
Saure Snacks, Drops oder Bonbons – über den Tag
verteilt – greifen den Zahnschmelz an und erhöhen das
Risiko für Karies und Erosionen.
Zähneputzen
07.45
16.15
2 Butterbrote
2 Glas Apfelsaft
19.00
1 große Pizza
2 Glas Orangensaft
1 Glas Cola
3 Zigaretten
23.00
Bad, Zähneputzen, ins Bett
Tab. 2: Säurehaltige Lebensmittel und ihre maßgeblichen Säuren
PROPHYLAXEdialog
Aufstehen
Ausgabe 2012
17
Erosion
Tipps vom Ernährungsprofi
Wie könnte die Alternative aussehen?
Welche Nahrungsmittel sind gesund, genussvoll und
unbedenklich für die Zähne?
Mahlzeiten
Das von der Deutschen Gesellschaft für Ernährung
(DGE) propagierte Motto „5 am Tag“ sollte generell ein
Ziel für jeden sein. Fünf Portionen Gemüse und Obst
am Tag – wobei Saures mit Vorsicht zu genießen ist –
werden entweder auf drei Mahlzeiten verteilt oder
dienen als Rohkost/Frischobst für zwischendurch.
Getränke
Grundsätzlich gilt: Leitungswasser ist aus allgemeinund zahngesundheitlicher Sicht das wichtigste und
sicherste Getränk. Kaffee und (grüner oder schwarzer)
Tee in Maßen tragen ebenso zur Deckung des Flüssigkeitsbedarfs bei. Oralprophylaktisch ebenso unbedenklich sind Kräutertees; vereinzelte Früchtetees, wie z.B.
Hagebuttentee, dagegen können extrem sauer sein.
Sportgetränke sind, wie auch spezielle Sportlernahrung, nur für Leistungssportler wirklich sinnvoll. Sind
Getränke hauptverantwortlich für den säurebedingten
Zahnschmelzverlust, so hilft oft schon eine einfache Umstellung der Trinkgewohnheiten.
Säfte und Erfrischungsgetränke, so erfrischend sie
sein mögen, sollten Sie wegen ihres sauren pH-Werts
nicht über den Tag verteilt – immer wieder mal einen
Schluck – konsumieren, vor allem dann nicht, wenn sie
zusätzlich Zucker enthalten. Dies stellt für die Zähne
jedes Mal eine Säure- und Kariesattacke dar! Handelsüblicher Fruchtsaft kann 5- bis 8-mal erosiver sein als
die entsprechende Originalfrucht. Saure Getränke genießen Sie besser zu den Mahlzeiten. Am besten kombinieren Sie Saures mit schützenden, neutralisierenden
Milchprodukten, z.B. eine Quarkspeise als Nachtisch
oder ein Stück Käse zum Abschluss.
Kauaktive Nahrung bevorzugen
Alles, was gut gekaut werden muss, regt den
Speichelfluss an und ist von Vorteil. Deshalb ist ein
Apfel zwischendurch kein Problem für die Zähne; und
erst recht eignen sich Rohkost wie Karotten, Kohlrabi
oder Paprika. Mit Nüssen oder Käse sind Sie ebenso
gut bedient. Setzen Sie reichlich knackige, kauaktive
Nahrungsmittel auf Ihren Speiseplan – sowohl zu den
Mahlzeiten als auch, wenn nötig, als Zwischenmahlzeit.
Dr. Gerta van Oost
Meerbuscher Straße 45a · 41540 Dormagen · Deutschland
Ernährungsmedizinische
Kommunikation und Beratung
Relevanz von Abrasionen/Zähneputzen bei Erosionen
Anforderungen an eine passende Zahnpasta
Judith von Hinckeldey, Alexandra Tolle, Dr. Nadine Schlüter, Prof. Dr. Joachim Klimek,
Prof. Dr. Carolina Ganß, Justus-Liebig-Universität Gießen, Deutschland
Dentale Erosionen entstehen durch die direkte Einwirkung von Säuren auf Zahnoberflächen ohne Beteiligung von Mikroorganismen (Abb. 1).
Abb. 1: Klinisches Erscheinungsbild von Erosionen. Der Defekt
ist in der Ausdehnung breiter als tief, muldenförmig und matt.
Typisch ist der intakte Schmelzrand entlang der Gingiva.
18
Ausgabe 2012
Durch die chronische Säureexposition kommt es zu
einem Mineralverlust, der von außen nach innen fortschreitet. Bei initialen kariösen Läsionen ist die Zone
des größten Mineralverlustes unterhalb einer pseudointakten Oberflächenschicht lokalisiert. Durch diese
strukturellen Gegebenheiten ist eine Remineralisation
einer solchen Läsion prinzipiell möglich. Auf der erosiv
veränderten Zahnoberfläche sind dagegen zwar mineralische Präzipitationen denkbar, Remineralisationsprozesse im eigentlichen Sinn finden jedoch nicht statt.
Oberflächlich verbleibt lediglich eine teilweise demineralisierte Schicht (Abb. 2) mit verringerter Mikrohärte
(Lussi et al. 1995).
Abb. 2: Histologisches Bild
von erodiertem Schmelz.
Die ultrastruktuellen Veränderungen sind mit dem
klassischen Ätzmuster vergleichbar und gehen mit
einer verminderten Oberflächenhärte einher
(Meurman & Frank 1991).
PROPHYLAXEdialog
Erosion
Die erodierte Zahnhartsubstanz ist somit weniger
widerstandsfähig gegenüber mechanisch verursachten
Substanzverlusten (Abrasion) als die nicht erosiv veränderte Zahnhartsubstanz.
Die Basisversorgung mit Fluoriden zur Kariesprophylaxe erfolgt in Deutschland über fluoridhaltige
Zahnpasten. Auch zur Erosionsprophylaxe ist die Zahnpastenfluoridierung bei moderaten alltäglichen Säureeinflüssen sicherlich meist ausreichend. Dennoch treten
beispielsweise bei Personen mit vermehrten Säureexpositionen trotz dieser Basisversorgung klinisch
manifeste Erosionen auf. Es stellt sich daher die Frage,
welche Anforderungen an Zahnpasten für diese Personengruppe gestellt werden müssen.
Die Eigenschaften von Zahnpasten lassen sich u.a.
durch die Abrasivität sowie durch die enthaltenen Wirkstoffe unterscheiden. Die Abrasivität einer Zahnpaste
auf gesundem Schmelz wird durch den REA-Wert beschrieben, der RDA-Wert ist ein Maß für die Abrasivität
einer Zahnpaste auf gesundem Dentin. Beide korrelieren allerdings nicht miteinander und es ist unklar,
inwieweit diese Werte für die Abrasivität auf erosiv veränderten Zahnhartsubstanzen sowohl unter Laborbedingungen als auch unter klinischen Bedingungen
relevant sind.
In einem Laborversuch zeigte sich, dass der erosivabrasive Substanzverlust im Schmelz durch den Zusatz
von Abrasiva zu Zahnpasten zwar prinzipiell erhöht
wird. Jedoch zeigten sich keine eindeutigen Unterschiede zwischen Zahnpasten mit mittlerem und hohem
REA-Wert (Wiegand et al. 2008) bzw. für fluoridfreie
Zahnpasten unterschiedlicher Abrasivität (Hara et al.
2009). Dentin hat insgesamt eine geringere Mikrohärte
als Schmelz und ist somit grundsätzlich anfälliger
für Abrasionen. In verschiedenen Studien zeigte sich
für Dentin so auch ein Zusammenhang zwischen der
Abrasivität der untersuchten Zahnpasten und der
Höhe eines erosiv-abrasiv bedingten Substanzverlustes
(Hooper at al. 2003; Wiegand et al. 2009). Daher sollte
Patienten mit manifesten Erosionen mit freiliegendem
Dentin von der Verwendung einer hochabrasiven Zahnpaste abgeraten werden.
Neben Abrasiva enthalten Zahnpasten verschiedene
Wirkstoffe, die unterschiedliche Effekte zeigen können. Herkömmliche fluoridhaltige Zahnpasten führen
auf der Zahnoberfläche zu einer Ausfällung von CaF2ähnlichen Präzipitaten (Nelson et al. 1983; Øgaard
2001). Diese Auflagerungen sind unter erosiven Bedingungen relativ leicht säurelöslich und bieten nur
bedingt Schutz vor erosiven Säureeinwirkungen (Ganß
et al. 2007; Ganß et al. 2008). Eine zentrale Anforderung an eine geeignete antierosive Zahnpaste wäre
daher, Beschichtungen auf der Zahnoberfläche zu etablieren, die unter erosiven und abrasiven Bedingungen
stabiler als die CaF2-ähnlichen Präzipitate sind. Das
könnte zum einen durch andere, säureresistentere
mineralische Präzipitate, aber beispielsweise auch
durch Biopolymere erzielt werden.
PROPHYLAXEdialog
Nach der Applikation von zinnhaltigen Mundhygieneprodukten können zinnreiche mineralische Niederschläge in Form von komplexen Zinn-Phosphat-Verbindungen auf der Zahnoberfläche nachgewiesen werden (Ganß et al. 2008; Schlüter et al. 2009). Diese sind
deutlich weniger säurelöslich als CaF2-ähnliche Präzipitate (Babcock et al. 1978). Durch wiederholte Säureexpositionen kommt es zusätzlich durch komplexe
Demineralisations- und Repräzipitationsvorgänge zur
Einlagerung von schwer löslichen, zinnhaltigen Verbindungen in die äußeren Schichten der Zahnhartsubstanz (Schlüter et al. 2009). Für zinn- und fluoridhaltige
Mundspüllösungen konnte daher eine den konventionellen Fluoriden überlegene Effektivität sowohl unter
Labor- als auch unter Mundbedingungen nachgewiesen
werden. Aber auch für Zahnpasten wurde eine im Vergleich zu einer konventionellen Fluoridzahnpaste bessere antierosive Wirksamkeit eines zinnfluoridhaltigen
Testproduktes gezeigt (Hooper et al. 2007; Young et al.
2006).
Einige Zahnpasten enthalten als Wirkstoff nanokristalline Formen von Hydroxylapatit. Diese sollen zu
Präzipitaten und Remineralisationsprozessen auf der
erodierten Zahnoberfläche führen und eine Reparatur
der Zahnhartsubstanz erreichen. Hydroxylapatitpräzipitate sind allerdings bekanntermaßen unter sauren Bedingungen gut löslich. Zusätzlich gibt es keine Hinweise
darauf, dass die nanokristallinen Formen in dieser Hinsicht andere Eigenschaften aufweisen. Deshalb ist ein
nennenswerter erosionsprotektiver Effekt von Zahnpasten mit solchen Zusätzen unwahrscheinlich (Klimek
et al. 2010).
Die Erosivität von Säuren kann durch den Zusatz von
Biopolymeren gesenkt werden (Barbour et al. 2005;
Beyer et al. 2010), daher könnte die Anwendung von
Biopolymeren in Zahnpasten ebenfalls eine Option zur
Erhöhung der erosionsprotektiven Wirksamkeit darstellen. Erste Versuche zeigten, dass möglicherweise ein
protektiver Film auf der Zahnoberfläche entsteht und
somit die erosive Demineralisation (Barbour et al. 2005)
sowie die Reduktion der Mikrohärte verringert wird
(Beyer et al. 2010).
In der letzten Zeit wurden verschiedene Zahnpasten
auf den Markt gebracht, die von den Herstellern aufgrund spezieller Inhaltsstoffe oder höherer Bioverfügbarkeit von Fluorid als besonders effektiv gegen Erosionen/Abrasionen ausgewiesen werden. In einem
Laborversuch wurde die Wirksamkeit von einigen dieser
speziellen, zum Teil fluoridfreien Zahnpasten mit der
von herkömmlichen NaF-haltigen Pasten verglichen. Es
konnte gezeigt werden, dass durch ein Putzen mit den
NaF-haltigen Zahnpasten auf erodierten Zahnoberflächen der Substanzverlust zumindest nicht erhöht
wird. Die speziellen Zahnpasten mit Fluorid waren den
konventionellen Fluoridzahnpasten allerdings nicht
überlegen. Die fluoridfreien Produkte mit nanokristallinem Hydroxylapatit als Wirkstoff zeigten sogar einen
höheren Substanzverlust.
Ausgabe 2012
19
Schwerpunktthema: RDA
In diesem Versuch wurden ebenfalls zinn- und fluoridhaltige Produkte untersucht. Verglichen mit den
fluoridhaltigen Zahnpasten ergab sich nur für einige
dieser Produkte eine bessere Wirksamkeit (Neutard
et al. 2010; von Hinkeldey et al. 2010).
Zahnpasten mit spezieller antierosiver Wirkung
könnten somit für Personen, die häufig erosive Getränke oder Nahrungsmittel konsumieren, aber auch für
Personen, die bereits leichte Erosionen haben, grundsätzlich als Präventionsmaßnahme dienen. Insgesamt
zeigt sich aber, dass die derzeit auf dem Markt befindlichen Zahnpasten mit der Indikation zur Erosionsprophylaxe den herkömmlichen Zahnpasten nicht überlegen sind.
Daher wäre eine Produktentwicklung vielversprechend, die die protektiven Eigenschaften von Fluoridzahnpasten mit denen von beispielsweise Zinn als derzeit bestem antierosiven Wirkstoff sowie einem Biopolymer verbindet und somit einen verbesserten
erosionsprophylaktischen Effekt aufweist.
Judith von Hinckeldey
Poliklinik für Zahnerhaltung und Präventive Zahnheilkunde
des Medizinischen Zentrums für Zahn-, Mund- und
Kieferheilkunde
Justus-Liebig-Universität
Schlangenzahl 14 · 35392 Gießen · Deutschland
Bestimmung der relativen Dentinabrasion (RDA)
von Zahnpasten
Prof. Dr. Thomas Imfeld
MBA,
Präventivzahnmedizin und
Orale Epidemiologie,
Zentrum für Zahnmedizin,
Universität Zürich, Schweiz
Wirkung und Nebenwirkungen der
Mundhygiene
Zahnpasten sollten Nahrungsreste, Plaque und Verfärbungen entfernen, Karies und Gingivitis verhütende
Wirkstoffe enthalten, Dentin und Schmelz möglichst
wenig abradieren sowie den Schmelz polieren. Zusätzlich erwartet der Konsument eine Atem erfrischende
Wirkung. Zähnebürsten mit einer Zahnpaste ist für die
Aufrechterhaltung der Mundgesundheit unerlässlich.
Die Reinigungsleistung einer Zahnpaste wird durch die
Abrasivstoffe im Produkt bestimmt. Zahnpasten können
aber bei den heutigen Ernährungsverhältnissen, der
steigenden Prävalenz von Zahnerosionen und dem
wachsenden kosmetischen Wunsch nach weißeren
Zähnen zu Zahnhartsubstanzabtrag führen. Es stellt sich
deshalb die Frage, ob bei der derzeitigen Karies- und
Parodontitisprävalenz noch eine gleich hohe mechanische Abrasivität der Zahnpasten notwendig ist, oder ob
eine neue Kosten-Nutzen-Analyse der mechanischen
Mundhygiene erfolgen muss.
Mögliche Schäden der mechanischen Mundhygiene
an Weichgeweben sind Epithelverletzungen, Epithelabrasion, Gingivarezession und Stillman Clefts. An der
Zahnhartsubstanz beobachtet man vor allem Abrasionen von Dentin, welche sich in keilförmigen Defekten
20
Ausgabe 2012
an den Zahnhälsen manifestieren. Für die Entstehung
solcher Putzschäden an der Zahnhartsubstanz können
neben falschen Zahnputztechniken auch Zahnpasten
mitverantwortlich sein.
RDA-Workshop
Aufmerksame Leser von wissenschaftlichen Publikationen, Werbetexten und Packungsaufdrucken bemerken, dass für handelsübliche Zahnpasten teilweise
unterschiedliche RDA-Werte veröffentlicht werden. Dies
irritiert, da die Messung der relativen Dentinabrasion
von Zahnpasten für die tägliche Anwendung nach
einem vorgeschriebenen Protokoll, einer ISO-Norm
durchgeführt wird. Für Prophylaxepasten gestaltet sich
die Situation noch komplizierter. Große Hersteller verwenden z.T. firmeninterne Messverfahren oder nutzen
die Protokolle der Zahnpasten-RDA-Bestimmung. Die
GABA International AG hat deshalb im Juni 2007 in
Frankfurt am Main einen RDA-Workshop organisiert, an
welchem sich Zahnmediziner mit Erfahrung in der
Bestimmung und klinischen Relevanz von RDA-Werten
beteiligten.
Unter der Schriftleitung von Prof. John Hefferren
entstand als Ergebnis dieses Workshops eine Sonderausgabe des Journal of Clinical Dentistry mit dem Titel
„Methods to Determine Dentine Abrasiveness –
Summary Proceedings of a Workshop in Frankfurt,
Germany“ (J Clin Dent XXI, Supplement, 2010).
Prof. Christof Dörfer beleuchtet im ersten Beitrag
das Thema der Abrasivität von Zahnpasten aus klinischer Sicht. Abrasivstoffe sind unverzichtbare Zahnpastenbestandteile, da die Reinigungswirkung primär
mechanisch erreicht wird. RDA-Messungen ermöglichen es wohl, das abrasive Potenzial von Zahnpasten zu
ermitteln, sie sind jedoch nicht geeignet, den tatsächlichen Zahnhartsubstanzverlust in der Mundhöhle mit
PROPHYLAXEdialog
Schwerpunktthema: RDA
Sicherheit vorherzusagen. Extrapolationen von RDAMessungen im Labor auf die klinische Situation können
zu einer Überschätzung der abrasiven Wirkung führen,
da das Pellikel eine gewisse Schutzwirkung hat.
In zwei Beiträgen stellt Prof. John Hefferren die
Chronologie der Bemühungen zur Messung der Zahnpastenabrasivität dar. Erste Richtlinien zur Pastenabrasivität wurden vom US-amerikanischen National
Bureau of Standards bereits 1937 erlassen. Diese
basierten auf qualitativen Kratztests auf Glas. Es folgte
der Einsatz anderer Testoberflächen wie Silber, Antimon, Bronze, Kupfer und Acrylkunststoffe, auf welchen
der Abrieb gemessen wurde. 1976 beschrieb die
American Dental Association erstmals das Protokoll der
RDA-Messung an radioaktiven menschlichen Zähnen.
Die Abrasivität der Testpasten wurde dabei derjenigen
eines Referenz-Standardmaterials mit arbiträrer Abrasivität von 100 verglichen. 1981 erschien die Zahnpastenspezifikation BSI 4137 des British Standards Institute
welche neben der RDA-Messung auch eine profilometrische Messung empfahl. 1995 wurde die bis
heute gültige internationale Zahnpastenspezifikation
ISO 11609 publiziert.
Prof. Martin Addy erklärt in seinem Beitrag die
profilometrische Methode der Abrasivitätsmessung
gemäß einer Modifikation der Vorschrift BSI 4137 des
Britischen Instituts für Standards. Es werden menschliche oder Rinderzähne verwendet.
Dr. Carlos Gonzalez-Cabezas beschreibt in seinem
detaillierten Beitrag die Methode der RDA-Messungen
am Oral Health Research Institute der Universität
Indiana, USA. Das Vorgehen entspricht der ISO 11609Norm. Zwecks Validierung und interner Kontrolle wird
in Indiana immer eine eigene Testpaste mitgeprüft.
Prof. Thomas Imfeld stellt die Methode der RDAMessung des Labors für Präventivzahnmedizin des
Zahnmedizinischen Zentrums der Universität Zürich vor.
Auch da wird nach ISO 11609 gearbeitet. Diese
ISO-Norm schreibt im Wesentlichen Folgendes vor:
Zahnwurzeln werden bestrahlt, so dass aus dem
Phosphat der Zahnhartsubstanz das radioaktive instabile
Phosphorisotop 32P und Gammastrahlung entstehen.
Abb. 1: Eingebettete, bestrahlte menschliche Zahnwurzeln
PROPHYLAXEdialog
Abb. 2: V8-cross-Bürstmaschine
Abb. 3: Bürstmaschine mit
Handzahnbürsten auf eingebetteten Zahnwurzeln
Abb. 4: Bürsten in Aktion mit
der Aufschlämmung einer
Testzahnpaste
Die Zahnwurzeln werden eingebettet (Abb. 1) und auf
einer Bürstmaschine während einer standardisierten Zeit
mit standardisierten Bewegungen und standardisiertem
Auflagegewicht gebürstet (Abb. 2, 3 und 4).
Dabei werden Handzahnbürsten mit planem Borstenfeld verwendet. Bürstmedien sind Aufschlämmungen
(Slurries) der Testzahnpasten sowie ein Slurry eines
Standardabrasivs. Die Bürstdurchgänge erfolgen in
„Sandwich-Technik“. Es erfolgt zuerst ein Durchgang
mit dem Standard, dann einer mit der Testpaste und
darauf nochmals ein Durchgang mit Standard. Nach
jedem Bürstdurchgang wird die Strahlungsaktivität von
32P gemessen. Ein 32P-Gehalt im Slurry nach dem
Bürsten ist die Folge von Zahnhartsubstanzabrasion. Die
Werte der zwei Standardslurries eines jeden SandwichDurchgangs werden gemittelt und dieses Resultat wird
gleich 100 gesetzt. Die relative Dentinabrasion der dazwischen verwendeten Testpaste wird in Prozent des
Standardwerts ausgedrückt. Dieser Prozentwert ist die
RDA-Zahl. So ist z.B. das Abrasionspotenzial einer
Zahnpaste mit RDA 50 halb so groß wie dasjenige des
Standards.
Details des Messverfahrens sind in der ISO 11609Norm allerdings nicht exakt vorgegeben. Entsprechend
wurden am Workshop zwar viele Übereinstimmungen,
aber auch einige Unterschiede im Vorgehen der RDALaboratorien von Indiana und Zürich eruiert (Tab. 1).
Ausgabe 2012
21
Schwerpunktthema: RDA
Parameter
Indiana, USA
Zürich
Dentinmaterial
Mensch
Rind
Anzahl Proben pro Testpaste
8
8
Bürstmaschine
V8-cross
V8-cross
Zahnbürste
Oral-B 40 plus (spec. Ed.)
Paro M 43
Auflagegewicht
150 g
250 g
Bürstbewegung
1.500 Hin- und Herbewegungen
1.500 Hin- und Herbewegungen
Bürstgeschwindigkeit
175–180 Zyklen/Minute
60 Zyklen/Minute
Bürstdauer
ca. 8,3 Minuten
25 Minuten
Testpasten
Aufschlämmung
25 g Paste + 40 ml
bidestilliertes Wasser
25 g Paste + 40 ml
Speichelersatz (puffert wie Speichel)
Messung des 32P
Flüssigszintillation
PhosphorImager ®
Tab. 1: Vergleich der wichtigsten Parameter des Vorgehens bei RDA-Messungen in Indiana, USA, und in Zürich
RDA Zürich
RDA Indiana
Umrechnungsfaktor*
Beurteilung
der Abrasivität
Anwendungshinweise
in Bezug auf Abrasivität
1– 20
2 – 40
0,5
sehr wenig abrasiv
Es besteht ein Risiko
für die Akkumulation
von Zahnverfärbungen.
21– 40
41– 70
= 0,6
wenig abrasiv
41 – 80
71–120
= 0,6
mittel abrasiv
geeignet für die tägliche
Reinigung
81–120
121–170
= 0,7
abrasiv
> 120
> 170
= 0,7
nicht erforderlich
für den täglichen
Gebrauch
Verwendung angezeigt
bei verstärktem Auftreten
von Verfärbungen
Tab. 2: Umrechnung von RDA-Zahlen aus Indiana, USA, und aus Zürich mit Vorschlag einer RDA-Einteilung für die Produktauslobung
* Der Umrechnungsfaktor basiert auf den im Text erläuterten Ringversuchen.
Ringversuche mit gleichen Testpasten in verschiedenen Laboratorien führten zu zahlenmäßig unterschiedlichen Resultaten. Das spricht nicht per se gegen die
RDA-Messmethode, vielmehr zeigt es, dass man zahlenmäßig nur Werte, aus dem gleichen Labor vergleichen
sollte. RDA-Werte verschiedener Laboratorien sind
nicht eins zu eins vergleichbar. Die Auswertung der
Ringversuche zeigte jedoch auf, dass die Ergebnisse
von Indiana und Zürich fast parallel verlaufen und eine
Umrechnung möglich ist (Tab. 2).
Problematisch für das zahnärztliche Team und für
Konsumenten ist die Tatsache, dass bei rein nummerischen Angaben des RDA-Werts auf Packungen und
in der Werbung nicht präzisiert wird, aus welchem
Testlabor die Werte stammen. Aus diesem Grund wäre
es sehr erstrebenswert und sachdienlich, auf Zahnpasten – in Analogie zu den Härteangaben von Zahnbürsten (weich, mittel, hart) – RDA-Klassifikationen
anstelle von RDA-Zahlen auszuloben. Ein Vorschlag zur
22
Ausgabe 2012
Klassifizierung von RDA-Werten ist in Tab. 2 ersichtlich.
Damit würden die heute störenden Unklarheiten
bezüglich RDA-Zahlen behoben. Zahnärzte, Dentalhygienikerinnen, Prophylaxeassistentinnen sowie Konsumenten hätten eine einfache, nachvollziehbare und
durch wissenschaftliche Untersuchungen gestützte Hilfe
bei der Wahl der bezüglich Abrasion individuell geeigneten Zahnpaste.
Wie das Executive Summary des Workshops festhält, muss man sich im Wissen um die multifaktorielle
Ätiologie der Zahnhartsubstanzabrasion jedoch bewusst sein, dass das Abrasionspotenzial nicht das
einige Kriterium der Zahnpastenwahl darstellt.
Prof. Dr. Thomas Imfeld MBA
Präventivzahnmedizin und orale Epidemiologie
Zentrum für Zahnmedizin
Universität Zürich · Plattenstr. 11 · 8032 Zürich · Schweiz
PROPHYLAXEdialog
Schwerpunktthema: RDA
RDA-Werte – Konsequenzen für die tägliche Praxis?
Annette Schmidt, Studienrätin, München; PD Dr. Christian R. Gernhardt, Martin-Luther-Universität
Halle-Wittenberg, Deutschland
Betrachtet man die in der Praxis auftretenden
Defekte an den Zähnen unserer Patienten, so stellt man
fest, dass neben kariösen Defekten auch vermehrt sogenannte nicht-kariöse Zahnhartsubstanzdefekte vorliegen. Einige Autoren vermuten daher, dass zukünftig
diese nicht-kariogenen Zahnhartsubstanzverluste –
Abrasionen, Erosionen, Attritionen sowie Kombinationen aus diesen – eine ausgeprägtere Rolle spielen
werden. Vor allem Mundhygiene- und Ernährungsgewohnheiten und in diesem Zuge auch die Qualität
und Abrasivität von Mundhygiene-Artikeln werden
neben unphysiologischen Belastungen als beteiligte
Faktoren diskutiert.
Zur Einschätzung der Abrasivität wird in der Regel
der RDA-Wert herangezogen. Als prophylaktische
Empfehlung werden daher oft Zahnpasten mit niedrigem RDA-Wert bevorzugt. Hier liegt bereits eine
Problematik: „Offiziell“ gemessene RDA-Werte sind
Vergleichswerte und können je nach Messmethode stark
variieren. Die Patienten und das zahnmedizinische
Personal sind verunsichert und sehen in Artikeln mit
höherem RDA-Wert ein stark erhöhtes Risikopotenzial.
Fraglich ist allerdings, ob der RDA-Wert alleine ausreicht, die Entstehung und das Vorliegen nicht-kariogener Zahnhartsubstanzdefekte zu begründen.
Der vorliegende Beitrag gibt einen kurzen Überblick
über diese Herausforderung im Alltag sowie die klinischen Konsequenzen.
Einleitung
Allgemeine und zahnmedizinische Gesundheit beeinflussen sich gegenseitig. Immer mehr Menschen
setzen sich mit diesem Wissen auseinander bzw. Übertragenes und Erlerntes pauschal sowie individuell um.
Dieses „neue“ Zahngesundheitsbewusstsein ist spürbar
(an unseren Patienten) und messbar (an den Zähnen).
Die Schweizer haben das Wort „Hygiene-Manie“ geprägt. Das gesteigerte Bewusstsein für Mundhygiene ist
grundsätzlich begrüßenswert. Allerdings kann falsche
und zum falschen Zeitpunkt durchgeführte Mundhygiene Schäden an den oralen Strukturen hervorrufen.
Letzteres spricht den immer weiter zunehmenden
Konsum von potenziell erosiven Nahrungsmitteln und
Getränken wie beispielsweise Sport- und Süßgetränken,
Obst, Salaten, Nahrungsergänzungsmitteln und VitaminCocktails an. Exakt diese Zielgruppe, die sich und ihrem
Körper etwas Gutes tun möchte, weist oft eine exzellente Mundhygiene mit sichtbaren Schäden an Schmelz
und Dentin auf (Erosionen, Abrasionen).
Damit steigt das Risiko für gerade diese gesundheitsbewussten Menschen, ihre Zahnhartsubstanz unbewusst zu schädigen. Die Gründe für den Verlust sind
multikausal. Viel zu banal und pauschal wäre es allerdings, die Ursachen ausschließlich im RDA-Wert von
Zahnpasten bzw. Prophylaxepasten zu suchen.
Mundgesundheitssituation aus zwei
Blickwinkeln: Patient – Praxis
Das Ziel der täglichen häuslichen Mundhygiene ist
klar: glatte Zahnoberflächen, damit nichts haften bleibt,
sich kein Biofilm aufbauen kann. Das Wissen auf einer
oberflächlichen Ebene ist dem Laien klar: Keine Plaque
bedeutet: eine verbesserte Mundgesundheit! Die
Patienten lesen und informieren sich in der Presse und
im Internet. Sie recherchieren und entdecken auch, dass
man handelsübliche Zahnpasten und Prophlyaxepasten
hinsichtlich ihres RDA-Werts klassifizieren kann. Zahnpasten gehören in Europa zur Kosmetikverordnung. Sie
sind keine Arzneimittel. Nach der Kosmetikverordnung
dürfen Zahnpasten bei „bestimmungsgemäßem oder
vorauszusehendem Gebrauch“ keine Gesundheitsschäden verursachen. Unabhängig vom Test-Laboratorium
steht der RDA-Wert allerdings bei vielen Pasten entweder nicht auf der Tube oder „verschlüsselt“ mit
großer Interpretationsbreite: wenig, gering, mittel. Wo
liegt der Unterschied zu gering? Sind diese Differenzierungen ausschließlich im RDA-Wert zu suchen?
Wechseln wir den Blickwinkel in die Zahnarztpraxis:
Hier geht es während der fundierten, individuellen
Beratung einzelner Patienten darum, welche Zahnpaste
(neben dem Geschmack und dem Fluoridgehalt) zu dem
Patienten und seinen Mundverhältnissen passt.
Abb. 1: Rezessionen (I)
Beispiel 1: Patient, 35-jährig, von Anfang an kariesfrei,
keine Gebrauchsspuren, gute Mundhygiene. Bei ihm ist
das RDA-Thema nicht relevant. Ausnahme – er hat
Fragen dazu.
PROPHYLAXEdialog
Ausgabe 2012
23
Schwerpunktthema: RDA
Wenn es um Prophylaxepasten geht, die vor der
Behandlung eingesetzt werden, um Wirkstoffe an
den Zahn zu bringen, ist der RDA-Wert aus mehreren
Gründen nicht überzubewerten: Wir wissen, die Plaque
muss entfernt werden. Die Anwendung liegt im Sekundenbereich (6 Sekunden) und findet zwischen einmal bis
viermal im Jahr maximal statt.
RDA-Messungen: unterschiedliche
Laboratorien – unterschiedliche
Werte
Abb. 2: Rezessionen (II)
Beispiel 2: Patient, 35-jährig, alle Zähne bereits konservierend behandelt, Attritionen in der Front, alle 3-er mit
Rezessionen, ausgewaschene Füllungen, Zähne mit
Abfrakturen, Rissen und Sprüngen. Hier sind der häusliche und der professionelle Blickwinkel zu beachten.
Prophylaxepasten und deren RDA-Wert stehen im
Fokus, wenn es um die Prophylaxesitzung an sich geht:
Die Zahnärzte und Prophylaxe-Assistentinnen verfolgen
konsequent das gleiche Ziel wie der Patient: Glättung
und Verkleinern der Zahnoberflächen, um die PlaqueAkkumulation zu verhindern. Professionelle Pasten, die
an Zähnen und Implantaten unauspolierbare Spuren hinterlassen, lassen auch Patienten unzufrieden werden.
Aufgeraute Zahnoberflächen durch Fehl- bzw. Überbehandlung, die nichts mit der Politur zu tun haben, zeigen
eindeutig, dass die Belags- und Farbansammlungen
beschleunigt werden. Die Abrasivität von Pasten spielt
folglich eine nicht zu unterschätzende Rolle.
Der RDA-Wert
Der RDA-Wert bedeutet radioaktive (relative)
Dentinabrasion und ist zum gebräuchlichen Maßstab
für Abrasivität in der Zahnmedizin geworden. Im Vergleich zu einem Referenzwert gibt der RDA-Wert die
Abrasivität einer Zahnpaste oder Prophylaxepaste auf
Dentin an. Dieser Wert ist ein relativer Wert, der sich
zusätzlich schwer reproduzierbar messen lässt. Schwankungen von 10 – 25 % sind, bedingt durch die unterschiedlichen Messmethoden, in der Literatur keine
Seltenheit. Ein absoluter Wert wäre wünschenswert.
Es gibt kein Institut, das unter den standardisierten
Bedingungen sagen kann, wie viel Dentin bei Verwendung einer bestimmten Paste tatsächlich abgetragen werden kann. Des Weiteren ist heute bekannt, dass
der RDA-Wert einer Paste nicht „Alleinverursacher“ von
Materialreduktion ist. Eine Kombination verschiedener
Faktoren – die Abrasivität der Paste, die Art der Durchführung, die Zeitdauer und nicht zuletzt die individuellen anatomischen Aspekte unserer Patienten – können
die Folgen für die Zahnhartsubstanz mitbestimmen.
24
Ausgabe 2012
Die drei zitierten (hauptsächlichen) Laboratorien sind
in Indiana, Missouri und Zürich zu finden. Alle arbeiten
nach der ISO-Norm 11609. Jeder Anwender geht davon
aus, dass seine Norm so perfekt formuliert ist, dass –
egal wer die Messung durchführt – die Ergebnisse
reproduzierbar sind. Weit gefehlt. Viele Schritte in diesem Messverfahren sind in der ISO-Norm nicht detailliert beschrieben (beispielsweise Art, Dauer der Bestrahlung der Dentinproben, Beschreibung der Testbürsten, Anzahl der Messungen der Strahlungsaktivität).
Wie wird eine „standardisierte“ RDA-Messung
durchgeführt? Mit hoher Energie werden Zahnwurzeln
bestrahlt. Hierdurch entstehen aus dem Phosphat der
Zahnhartsubstanz das radioaktive instabile Phosphorisotop 32P und Gammastrahlung. Danach werden die
Zahnwurzeln eingebettet und mit planen Zahnbürstenborsten „gebürstet“. Dieses Bürsten läuft nach festen
Vorgaben ab: standardisierte Zeit, standardisierte horizontale Bewegungen und standardisiertes Auflagegewicht. Aufschlämmungen (Slurry) der zu testenden
Paste sowie ein Slurry mit einem Standardabrasiv werden gegeneinander verglichen.
So gesehen sind auch die RDA-Werte, die auf den
Pasten abgedruckt sind, auf den ersten Blick nicht vergleichbar und somit unterschiedlich. Keiner weiß, welches Laboratorium die Werte ermittelt hat, welche
Produkt-Charge getestet wurde.
Die Einordnung der RDA-Werte stellt eine weitere
Herausforderung dar. Die ISO-Kommission gibt einen
Grenzwert für Zahnpasten von 250 vor. Kennen Sie eine
„tägliche“ Zahnpaste, die annähernd an diesen Wert
reicht? Ein klares „Nein“. Schauen wir die Einteilung
unter dem Höchstwert an, bleibt hier anzumerken, dass
diese Einteilung eher willkürlich ist: schwach abrasiv
= unter RDA 30, der mittlere Wert liegt bei RDA 120.
Jedoch ist der schnelle Rückschluss falsch, RDAWerte hätten nicht ihre Berechtigung für Patienten und
Praxis. Diese Fakten heißen für die Anwender, dass
Pasten nicht ausschließlich nach Herstellerangaben,
Geschmack und formulierten Visionen einzusetzen sind.
PROPHYLAXEdialog
Schwerpunktthema: RDA
Schauen Sie Ihrem Patienten akribisch in den Mund.
Fragen Sie erst nach seinen Putzgewohnheiten und eingesetzten Pasten, wenn Sie Schäden bzw. Verfärbungen
sehen.
Prophylaxepasten werden anders als Zahnpasten
nach RDA-Werten in fein, mittel, grob eingeteilt. In
jedem Prophylaxelehrbuch sind viele Übersichten zu
finden. Sie finden allerdings kaum Informationen in
einer Veröffentlichung, wie sich die Pasten in der Abrasivität verändern, wenn in der Prophylaxesitzung die
groben, mittleren, feinen Pasten mit einem weichen,
mittleren oder harten Gummikelch – mit oder ohne
Innenlamellen – oder mit weichen, mittleren oder harten Polierbürstchen eingesetzt werden. Weitere Blickwinkel, mit welcher Umdrehung, mit welchem Druck
gearbeitet wurde und ob viel oder wenig Speichel vorhanden war, werden in dieser Diskussion aus dem Fokus
gelassen.
RDA-Werte PLUS Co-Faktoren
RDA-Werte in der Mundhygiene (häuslich wie in
der Praxis) sind Orientierungswerte. Wenn das Zahnhartgewebe durch praktizierende Mundhygiene und
falsche professionelle Prophylaxe reduziert wird, ist
einerseits ein Blick auf die Zahnbürste, die Putztechnik
und -(un)systematik, die auf die Zahnbürste ausgedrückte Kraft, die Häufigkeit, die Putzdauer und den
Zeitpunkt (direkt nach einem chemischen Säureangriff
bei gefühlten matten/stumpfen Zähnen) des Putzens zu
werfen. Des Weiteren sind die Poliermaterialien in der
Praxis auf die Zahnoberflächen und den Bearbeitungsgrad anzupassen.
Die Kombination von erosiven und abrasiven Einflüssen erhöht den Hartgewebsabtrag. Lernt ein Patient
pauschal: „Nach jedem Essen Zähneputzen“ (unabhängig von der vorangegangen Mahlzeit inklusive
Getränken) und setzt die Mundhygiene exzessiv um,
sind die Bereiche des Zahns mit dünner Schmelzschicht
extrem gefährdet. Beispielsweise wissen wir heute, dass
der Zahnhartsubstanzverlust bis zu 60 Mal höher ist nach
einem erosiven Angriff auf die Zahnoberfläche als ohne.
Neben den oben angesprochenen Co-Faktoren spielen
auch die Strukturen der Oberflächen bzw. die Beschaffenheit der Hartgewebe eine immer größer werdende
Rolle. Unterschiedliche Reaktionen zeigen geputzte
Zahnoberflächen: Schmelz, Dentin, demineralisierter/s
Schmelz oder Dentin oder kariös geschädigter/s
Schmelz bzw. Dentin, raue Füllungen, scharfe Kanten.
Hier ist Vorsicht bei Zahnpasten sowie Prophylaxepasten geboten, unabhängig vom jeweiligen RDA-Wert.
Ein hartes Polierbürstchen beispielsweise in Kombination mit einer wenig abrasiven Paste setzt ggf. auch
einen irreversiblen Schaden.
Ein weiterer interessanter Blickwinkel ist, dass unverdünnte Zahncremes einen größeren Abrieb zeigten als
Zahnpasten, die mit Wasser oder Speichel verdünnt
sind. Übertragen wir diese Fakten auf die unterschiedlichen, auf dem Markt erhältlichen Fluoridgele, die alle
ohne Putzkörper – also abrasivfrei – sind, hat es Sinn,
diese nach dem Zähneputzen mit einer Zahnpaste mit
Abrasivstoffen nur noch mit dem Finger aufzutragen.
Damit fallen die zusätzliche Kraft und mechanische
Reinigungsenergie durch ein zweites Putzen weg.
Zusammenfassung
Wie unterschiedlich die Hersteller mit RDA-Werten
umgehen („Der RDA-Wert liegt mit 180 im oberen
Bereich, die Abrasivität ist mild und effektiv, usw.“), erleben wir täglich. Der Verdacht liegt nahe, dass die
Wertigkeit der RDA-Werte zu hoch bewertet wurde und
wird, da zahlreiche Co-Faktoren einen nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die Entstehung nicht-kariogener Zahnhartsubstanzdefekte haben. Der RDA-Wert ist
ein Mosaiksteinchen von vielen anderen: Es zählt nach
wie vor die individuelle Beratung und der allumfassende
Blick, welche Komponenten zusätzlich beachtet werden
müssen. Diese „Ganzheit“ ist durch nichts zu ersetzen.
Verlassen Sie sich auf Ihre Erfahrung, Ihren geübten
Blick und Ihr Vertrauensverhältnis zu Ihren Patienten.
Machen Sie aus der relativen Dentinabrasivität Ihre individuelle und persönliche Wahrheit.
Literatur
Bose M, Ott KHR: Abrieb, Aufrauung und Glättung von
Kompositen durch Prophylaxepasten in vitro. Dtsch Zahnärztl
Z 51 (1996), 690– 693
Christensen RP, Bangerter VW: Determination of Rpm, Time,
and Load Used in Oral Prophylaxis Polishing in vivo. J Dent
Res 63 (12) (1984), 1376–1382
Imfeld T: Relative Dentinabrasion (RDA) von Zahnpasten.
Prophylaxedialog (2/2007–1/2008), Seite 23/4
Joiner A, Tanner C, Doyle P, Pickles MJ: Measurement of
dentifrice abrasivity on human enamel and dentine in situ
(2002), Abstr. 3592, www.iadr.com
König K: Verbesserte Modelle zur Einschätzung der Abrasivität
von Zahnpasten. Schweiz Monatsschr Zahnmed Vol 112
(6/2002), Seite 673/4
Lussi A, Reich E: The influence of toothpastes and prohylaxis
pastes on fluorescende measurements of caries detection in
vitro. Eur J Oral C Sci 113 (2005), 141–144
Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde, Deutscher Ärzteverlag
GmbH, Heft 1/2011
Roulet J-F, Fath S, Zimmer S: Lehrbuch Prophylaxeassistentin,
(3. Auflage 2006), Seite 95f
Roulet J-F, Zimmer S: Prophylaxe und Präventivmedizin.
Thieme Verlag (2003)
Stookey GK, Schemehorn BR: A Method for Assessing the
Relative Abrasion of Prophylaxis Materials. J Dent Res 58 (2)
(1979), 588–592
PROPHYLAXEdialog
Ausgabe 2012
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Schwerpunktthema: RDA
Annette Schmidt
Studienrätin
Widenmayerstr. 50
80538 München
Deutschland
Fon +49 89 68800122
[email protected]
www.schmelz-dahin.de
PD Dr. med. dent.
Christian R. Gernhardt
Ltd. Oberarzt, stellv. Direktor
Martin-Luther-Universität HalleWittenberg · Med. Fakultät ·
Department für Zahn-, Mund-,
Kieferheilkunde · Universitätspoliklinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie
Große Steinstr. 19 · 06108 Halle
Deutschland
Fon +49 345 557-3741
[email protected]
Curriculum vitae
Curriculum vitae
Abgeschlossenes Studium Ökotrophologie und
Germanistik für das Lehramt an Gymnasien, abgeschlossenes Referendariat, 3-jährige Unterrichtstätigkeit, abgeschlossene Lehre zur Zahnarzthelferin, Qualifikation zur Prophylaxe-Assistentin, seit
25 Jahren Teilzeit Praxistätigkeit, 19 Jahre Ausbilderin „Basiskurs Prophylaxe“ für den ZBV München
Stadt und Land und Initiatorin des 1. Aufbaukurses
zur Prophylaxe-Assistentin (PAss) in Deutschland,
seit 22 Jahren Lehrtätigkeit für europäische
Zahnärztekammern und deren Schulen (ZMP, ZMF,
ZMV), seit 22 Jahren individuelle Praxistrainings
und Vorträge sowie Seminare für die Industrie,
Privatanbieter, seit 3 Jahren Ausbilderin zur PAss
für die LZÄK Salzburg.
Studium der Zahnmedizin an der Universität
Ulm und der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
i.Br., Staatsexamen und zahnärztliche Approbation
im Jahr 1998, von 1997–1999 wissenschaftlicher
Mitarbeiter der Abteilung für Zahnärztliche Prothetik der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg
(Prof. Dr. J.R. Strub), 1999–2009 Oberarzt der
Universitätspoliklinik für Zahnerhaltungskunde und
Parodontologie der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg (Prof. Dr. H.-G. Schaller), 2009 Habilitation und Verleihung der Venia Legendi, seit 2009
ltd. Oberarzt und stellv. Direktor der Universitätspoliklinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie an der Martin-Luther-Universität HalleWittenberg.
Abrasivität von Zahnpasten und ihre klinische
Bedeutung
Prof. Dr. Christof Dörfer,
Klinik für Zahnerhaltungskunde und Parodontologie,
Universitätsklinikum
Schleswig-Holstein, Kiel,
Deutschland
Einleitung
Zahnpasten gelten als unverzichtbarer Bestandteil
der häuslichen Mundpflege. Sie wirken unterstützend
bei der Zahnreinigung aufgrund des mechanischen
Abriebs der Beläge, also ihrer Abrasivität.
Zentrales Element von Zahnpasten sind die Abrasivstoffe, die die Reinigungswirkung der Zahnbürste unterstützen. In Verbindung mit den vermehrten häuslichen
Prophylaxeanstrengungen eines zunehmenden Anteils
26
Ausgabe 2012
der Bevölkerung sind in den letzten Jahren die negativen Begleiterscheinungen abrasiver Pasten in den Blickpunkt des Interesses geraten. Nicht-kariöse Zahnhartsubstanzdefekte sind derzeit häufig Gegenstand wissenschaftlicher Untersuchungen. Dadurch hat sich sowohl
unter Anwendern als auch im professionellen Bereich
die öffentliche Meinung gebildet, eine zu hohe Abrasivität von Zahnpasten sei für diese Substanzverluste
zumindest partiell verantwortlich.
Radioaktive (Relative) DentinAbrasion (RDA)
Historisch wurde die Abrasivität von Pasten anhand
der Messung der abgetragenen Masse über das
Gewicht eines Probekörpers nach der Bearbeitung bestimmt. Erste Ansätze zur Abrasivitätsbestimmung
waren daher gravimetrischer Natur. Als Substrat dienten
verschiedene Probekörper aus Materialien, die in ihrer
Härte humanem Schmelz oder Dentin ähnlich waren.
Unter anderem fanden Gläser, Metalle und Kunststoffe
Anwendung. Da Feuchtigkeit bei diesen Materialien nur
PROPHYLAXEdialog
Schwerpunktthema: RDA
einen geringen Einfluss auf die Masse hat, konnte der
Materialabtrag durch Wiegen vor und nach Bürsten mit
einer abrasiven Paste reproduzierbar bestimmt werden.
Allerdings war die Übertragbarkeit der gewonnenen
Ergebnisse auf die klinische Situation gering, da die verwendeten Substrate nicht in ihrer Mikrostruktur den
natürlichen Substraten Schmelz und Dentin ähnelten (1).
Die Suche nach einem In-vitro-Verfahren, bei dem an
natürlichen Dentin- oder Schmelzproben der Abtrag
durch abrasive Pasten bestimmt werden kann, ist bis
heute nicht endgültig gelöst. Derzeit beruhen Angaben
über die Abrasivität in der Regel auf dem Prinzip der so
genannten relativen Dentinabrasion.
Diese RDA-Methode folgt dem Prinzip der radioaktiven Markierung des Dentins und der sich daraus eröffnenden Möglichkeit, die Menge der abgetragenen
Substanz durch die radioaktive Strahlung des Überstands nach dem Bürsten quantitativ zu bestimmen. Die
Messmethode ist sehr techniksensitiv, und ständige
Qualitätskontrollen sind erforderlich, um die teilweise
erheblichen Ergebnisschwankungen zu minimieren. Vergleiche der RDA-Werte zwischen verschiedenen Laboratorien sind daher nicht aussagekräftig.
Klinische Bedeutung und
Sicherheitsaspekte
Ursprünglich zielten die Abrasivitätsmessungen verschiedender Zahnpasten im Laborversuch nicht auf
Sicherheits-, sondern auf Effizienzaussagen. Vor diesem
Hintergrund waren Ungenauigkeiten der Methode toleriert, da die Ergebnisse lediglich einen groben Anhalt
bieten sollten. Relativ bald wurde aber der Sicherheitsaspekt in die Diskussion einbezogen und eine Obergrenze für die Abrasivität von Zahnpasten bei einem
RDA-Wert von 250 gesetzt (2).
Obwohl der Substanzverlust im Zahnschmelz als vernachlässigbar klein eingeschätzt wird (3), nimmt die
Diskussion über das Risiko durch abrasive Zahnpasten
zu.
Klinische Relevanz
Nicht-kariöse Zahnhartsubstanzverluste werden zunehmen und klinisch mehr und mehr an Bedeutung
gewinnen. Die Rolle der Abrasivität von Zahnpasten bei
diesem Prozess wird derzeit jedoch als eher untergeordnet eingestuft.
Die derzeit für die Abrasivität herangezogenen RDAWerte unterliegen methodischen Problemen und einer
extrem hohen Variabilität in Abhängigkeit von den
durchführenden Laboratorien. Auf Basis der derzeit verfügbaren wissenschaftlichen Evidenz sind sie daher nicht
geeignet, die Sicherheit von Zahnpasten und das Risiko
für unerwünschte Zahnhartsubstanzverluste zu beurteilen. Sie erlauben keine Rückschlüsse auf potenzielle
Risiken für zahnpastenbedingte Zahnhartsubstanzverluste
in der klinischen Situation (4).
PROPHYLAXEdialog
(1) Hefferren JJ: Abrasivity of Dentifrices from a Laboratory
(in vitro) Perspective. J Clin Dent 21 (2010), S5 – S6
(2) Hefferren JJ: Critical points in evolution of laboratory
methods to measure the functionality of toothpastes.
J Clin Dent 21 (2010), S6 – S7
(3) Addy M: Tooth brushing, tooth wear and dentine
hypersensitivity – are they associated? Int Dent J 55 (2005),
261– 267
(4) Dörfer CE: Abrasivity of dentifrices from a clinical
perspective. J Clin Dent 21 (2010), S4 – S5
REM-Aufnahme
eines Putzkörpers
aus: Sonderdruck „Abrasivität von Zahnpasten und ihre klinische Bedeutung“ in: Oralprophylaxe & Kinderzahnheilkunde,
33. Jahrgang, Heft 1 (2011), S. 18 – 22
GABA /Gebro-Standpunkt
Die alleinige Messung des RDA-Werts von
Zahnpasten ist nach dem heutigen wissenschaftlichen Stand nicht genügend, um die Sicherheit
und das Risiko des Auftretens unerwünschter
Nebenwirkungen von Zahnpasten auf Dentin und
Zahnschmelz zu beurteilen.
In Abhängigkeit von Details des verwendeten
Messverfahrens resultieren, wie im vorliegenden
Heft beschrieben, unterschiedliche RDA-Zahlenwerte bei gleichen Zahnpasten. Die Interpretation
dieser Werte ist möglich, setzt allerdings Sachkenntnisse voraus, die der Endverbraucher nicht
hat.
Aus diesen Gründen kommuniziert GABA
International AG seit einiger Zeit keine RDA-Werte
mehr auf Zahnpasten.
Alle GABA-Zahnpasten sind bezüglich ihrer
Abrasivität gemäß internationalen Standards sicher
für den täglichen Gebrauch.
Dieser PROPHYLAXEdialog ist auch im Internet als
Download verfügbar: www.gaba.at
Ausgabe 2012
27
Europerio7
Europerio7 in Wien
Vom 6. bis 9. Juni 2012 begrüßt Wien mit der
Europerio7 das weltweit größte und bedeutendste
Kongressereignis für Parodontologie. Für diesen nur
alle drei Jahre stattfindenden Kongress (zuletzt 2006
in Madrid sowie 2009 in Stockholm) werden mehr als
6.000 Teilnehmerinnen und Teilnehmer aus aller Welt
erwartet. Die zentrale und politisch sichere Lage in
Mitteleuropa, das vielfältige Angebot an guten Hotels
in jeder Qualitätsstufe sowie die gute Erreichbarkeit der Messe Wien mit öffentlichen Verkehrsmitteln
machen Wien als Kongressstadt besonders interessant.
Das Organisationsteam des Kongresses (Tagungsleitung: PD Dr. Gernot Wimmer, Graz; wissenschaftliche
Leitung: Prof. Richard Palmer, London; Vertreterin
der Österreichischen Gesellschaft für Parodontologie:
Dr. Corinna Bruckmann, Wien; Schatzmeister: Prof.
Jörg Meyle, Gießen) hat im Vorfeld an der Gestaltung
eines alle Teilnehmer ansprechenden und attraktiven
Programms gearbeitet. So wurden zum Beispiel an alle
Teilnehmer der Europerio in Stockholm Fragebögen
zur Bewertung des Kongresses, aber auch Fragen zu
Wünschen für die nächste Europerio ausgesandt.
Um vor allem auch die wachsende junge Teilnehmergemeinde anzusprechen, werden vermehrt elektronische Kommunikationswege eingesetzt. Es wird eine
Facebook-Seite der Europerio geben, auf der sich alle
Interessierten bereits im Vorfeld austauschen können
und laufend über Neuigkeiten informiert werden.
Weiterhin ist angedacht, erstmals E-Poster-Terminals
einzurichten, die eine rasche Orientierung unter den
erwarteten 800 bis 900 Postern ermöglichen. Auch ist
geplant, die Vorträge aufzuzeichnen und im Anschluss
zur Verfügung stellen.
In bewährter Weise wird parallel in mehreren Sälen
auf die unterschiedlichsten Facetten in Parodontologie
und Implantattherapie eingegangen. Das Verhältnis
parodontaler zu implantologischen Themen liegt bei
2:1 zugunsten der Parodontologie. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer – ob Generalisten, Spezialisten
oder Dentalhygienikerinnen – werden auf sie zugeschnittene Themenkreise mit inhaltlich weit gespannter
Thematik vorfinden.
Die Programmschiene für Dental- und Mundhygienikerinnen widmet sich neuesten Erkenntnissen aus
den verschiedensten Bereichen der täglichen Arbeit mit
den Patienten. Viele bekannte, international publizierende DHs sind dazu als Vortragende und Vorsitzende
eingeladen – zum Beispiel Jean Suvan (Großbritannien),
Pia Andersson, Birgitta Jönsson und Kerstin Ohrn
(Schweden), Monique Stokman (Niederlande); Beate
Gatermann (Deutschland) und Bernita Bush (Schweiz).
Von der Entstehung der Parodontitis über moderne
diagnostische Maßnahmen, Risikofaktoren und Mikrobiologie reicht der Bogen bis hin zu neuesten Therapiemöglichkeiten mittels antientzündlicher oder diätetischer Ansätze und Laserbehandlung sowie Periimplantitis-Therapie.
28
Ausgabe 2012
Praktisch sofort umsetzbare Vorträge über Zahnbürsten, Zahnpasten, Mundspülungen und Dentinhypersensibilität ergänzen das reichhaltige Programm ebenso wie die Besprechung psychologischer Aspekte
während der Therapie (Mundhygiene-Instruktionen,
Raucherentwöhnung).
Wichtig zu wissen: Sowohl das Hauptprogramm als
auch die Programmschiene für DHs wird simultan auf
Deutsch übersetzt.
Seit dem 15. September sind die Online-Anmeldung und die Abstract-Einreichung auf
www.europerio7.com
möglich. Besonders die Frühbucherpreise sind mit
200 Euro für DHs sehr interessant. Auf der Website können sich Interessierte sofort einen Überblick über das
Programm, den Stand der Entwicklung und aktuelle
Termine verschaffen und Zusatzinformationen über die
Stadt, Hotels, Wetter und Verkehr einholen.
Dieser Kongress ist sicher eine einmalige Gelegenheit, neuestes, praxisrelevantes Wissen mitzunehmen,
Kontakte zu knüpfen oder zu intensivieren und die
Weltstadt Wien zu genießen.
GABA auf der Europerio
Mit zwei wissenschaftlichen Symposien wird sich die GABA
an der Europerio7 beteiligen. Eines der Symposien ist als gemeinsame Veranstaltung von Colgate und GABA geplant,
eines in Zusammenarbeit mit der Deutschen Gesellschaft für
Parodontologie (DGP). Bei Redaktionsschluss dieser Ausgabe
standen Referenten und Themen schon weitgehend fest, nicht
aber die exakten Titel der Symposien und einzelnen Vorträge.
Colgate-GABA-Symposium: „3 things that Dental Professionals should know about implant“
Prof. Dr. Søren Jepsen: Einführung · Prof. Dr. Mariano Sanz:
What are the risk factors associated with an implant? What
puts a patient at risk? · Dr. Angelo Mariotti: What Dental
Professional and patient should know and what have they to
do to maintain an implant · Prof. Dr. Stefan Renvert: If bad
things happen, how to recognize them: Infections, Fracture
etc. – what should be done?
DGP-GABA-Symposium: „Supportive maintenance – The key
to long-term success of periodontal and implant therapy“
Prof. Dr. Peter Eickholz: Einführung · Christoph Ramseier:
„How to structure supportive periodontal therapy according
to patient’s individual risk?“ · Prof. Dr. Thomas Kocher: „Longterm results of periodontal therapy with and without
maintenance“ · Prof. Dr. Andrea Mombelli: „Supportive periimplant therapy“
PROPHYLAXEdialog
Zugehörige Unterlagen
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