Archäologie Weltweit – Erster Jahrgang – Berlin, im Mai 2013 – DAI 1 • 2013 TITELTHEMA ARCHÄOLOGIE DES WASSERS Die technischen, kulturellen und sozialen Wirkungen eines Elements Titelthema ab Seite 36 Abb.: LengyelToulouse Architekten auf der Grundlage eines 3D-Modells / DAI www.dainst.org REPORTAGE LANDSCHAFTEN ALLTAG ARCHÄOLOGIE ÄGYPTEN – HERAUSFORDERUNG GEGENWART Archäologisches Arbeiten in Zeiten des Umbruchs TOR ZU ANDEREN WELTEN Deutsche und chinesische Archäologen erforschen Gesellschaften an der Seidenstraße SCHERBEN BRINGEN GLÜCK Wie in Pietrele Schicht um Schicht eine antike Gesellschaft zum Leben erweckt wird EDITORIAL Liebe Leserin, lieber Leser, Was ist Archäologie? Sonderbare Frage, mögen Sie denken. Weiß das nicht jeder? Ja und nein. Natürlich ist die Archäologie nach wie vor eine Wissenschaft, die sich mit den Hinterlassenschaften antiker Kulturen befasst. Aber sie tut dies heute oft auf andere Art und mit weiter gefassten Zielen, als ihr Bild in der Öffentlichkeit es zu zeigen scheint. Mit Spaten und Pinsel an weit entfernten Orten auf der Suche nach alten Steinen und Scherben zu graben, ist natürlich auch gegenwärtig noch ein Teil unserer Wissenschaft. Doch die Fragen der Archäologen und ihre Methoden sind im Verlaufe der Zeit immer komplexer geworden. Moderne Altertumswissenschaften arbeiten ebenso mit naturwissenschaftlichen wie mit sozial- und kulturwissenschaftlichen Methoden, um Landschaften, Lebensräume und Umwelten antiker Gesellschaften rekonstruieren zu können. Dazu kommt, dass die Arbeit des Deutschen Archäologischen Instituts hautnah in die sozialen und politischen Realitäten seiner Gastländer eingebunden ist. Was ist das Deutsche Archäologische Institut? Das DAI ist eine der größten archäologischen Forschungseinrichtungen weltweit. Es ist an 20 Standorten und in fast 200 Projekten überall auf der Welt mit Koopera- PROF. DR. FRIEDERIKE FLESS Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts tionspartnern präsent: im Mittelmeerraum, in den Ländern Eurasiens, in Asien, Afrika und in Südamerika. Es dient der wissenschaftlichen Forschung – in erster Linie. Aber ein wichtiger Teil der Arbeit des DAI dient auch der Erschließung und Bewahrung des kulturellen Erbes in seinen Gastländern. Als Forschungseinrichtung im Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts ist es daher eine bedeutende Größe der Auswärtigen Kultur- und Bildungspolitik der Bundesrepublik Deutschland. Warum ein neues archäologisches Magazin? Mit anderen Worten: Wir haben viel zu erzählen, und das Interesse der Öffentlichkeit an Themen der Archäologie ist eher noch gestiegen. Grund genug für uns, ein neues Magazin herauszubringen, das die wissenschaftlichen Aspekte der Arbeit des DAI ebenso beleuchtet wie ihre politischen Implikationen, seine Fähigkeit, alte Rätsel zu lösen ebenso wie die Erkenntnisse aus der Antike für Gegenwart und Zukunft nutzbar zu machen. Archäologie Weltweit wird drei Mal im Jahr erscheinen. In Reportagen werden aktuelle Bedingungen der Arbeit in unseren Gastländern geschildert – den Auftakt macht Ägypten. Besondere QuerschnittThemen sind jeweils zu einem Titelthema zusammengefasst – im UNESCO-Jahr des Wassers ist die Wahl für die erste Ausgabe naheliegend. Berichte über die Arbeiten zum Kulturerhalt werden in einer eigenen Rubrik wie auch an anderen Stellen der Hefte platziert sein. Vieles andere mehr erwartet Sie in einem ganzen Kosmos archäologischer Themen – Sie brauchen nur umzublättern. Viel Vergnügen beim Lesen! Ihre Prof. Dr. Friederike Fless ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 1 EDITORIAL INHALT 4 DIE STEINMETZE VOM GÖBEKLI TEPE Arbeiten am ältesten Heiligtum der Welt INHALT 10 Cultural Heritage 18 ÄGYPTEN – HERAUSFORDERUNG GEGENWART Archäologisches Arbeiten in Zeiten des Umbruchs 16 INTERVIEW Stephan Seidlmayer: Pessimismus ist keine Option 26 TOR ZU ANDEREN WELTEN Deutsche und chinesische Archäologen erforschen unbekannte Gesellschaften an der Seidenstraße 10 REPORTAGE Ägypten – Herausforderung Gegenwart Landschaften Reportage NACHRICHTEN 18 CULTURAL HERITAGE Die Steinmetze vom Göbekli Tepe 24 STANDPUNKT Archäologie und Kulturerhalt 26 LANDSCHAFTEN Die Seidenstraße: Das Tor zu anderen Welten 34 DAS OBJEKT Dichter, Flussgott und Schwarzes Meer 36 Titel Archäologie des Wassers ARCHÄOLOGIE DES WASSERS Die technischen, kulturellen und sozialen Wirkungen eines Elements 36 Vor 5000 Jahren wird zum ersten Mal Wein angebaut, vor 5000 Jahren entsteht die erste Stadt. 40 Marib und Tayma: Weihrauch, Wasser, Wirtschaft 46 Rom und Córdoba: Wasserluxus in der Antike 52 Dahschur und Nasca: Fraktale und Klimarituale 60 IM PORTRÄT 60 Iris Gerlach 61 Friedrich Lüth 62 ALLTAG ARCHÄOLOGIE Scherben bringen Glück: Die Arbeiten in Pietrele 66 Alltag Archäologie 62 TITELTHEMA Panorama SCHERBEN BRINGEN GLÜCK Wie in Pietrele Schicht um Schicht eine antike Gesellschaft zum Leben erweckt wird 68 STANDORT Die Römisch-Germanische Kommission: Spuren der Jahrtausende 68 PANORAMA Der erste Wein – Ergebnisse der Archäobotanik Die erste Stadt – 5000 Megacity Uruk 72 IMPRESSUM, VORSCHAU ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 3 NACHRICHTEN HINKELARCHIV Hinkel-Archiv als Grundlage der Kooperation zwischen DAI und QSAP Friedrich W. Hinkel kannte den Sudan wie kaum ein anderer. Unermüdlich sammelte der Bauforscher und Architekt Materialien über archäologische Plätze und Architektur-Denkmäler des afrikanischen Landes mit seiner überaus reichen Kulturgeschichte. IZMIR MEHR ALS VIERZIG JAHRE arbeitete Friedrich W. Hinkel zu den antiken Kulturen des Sudan, lange Zeit auch im Auftrag der Sudanesischen Altertümerverwaltung. Seine Arbeiten zur meroitischen Kultur sind Grundlagenwerke, sein Einsatz zum Erhalt der Denkmäler – zuletzt an den Pyramiden von Meroë – ist herausragend. Ein wissenschaftlicher Ertrag seiner Arbeiten mündete in der von ihm gegründeten Reihe „The Archaeological Map of the Sudan“, deren erster Band 1977 erschien, Kataloge und Supplemente folgten, weitere Bände sind in Arbeit. Foto: Wolf 2007 starb Friedrich W. Hinkel und hinterließ ein umfangreiches Archiv zur Archäologie und Baugeschichte des antiken Sudan, das 2009 dem Deutschen Archäologischen Institut von Hinkels Erben übertragen wurde mit der Auflage, es zu erschließen und weiteren Forschungen zugänglich zu machen. Dieses Archiv war Anlass für den Besuch einer Delegation des Qatar-Sudan Die PYRAMIDEN von Meroë liegen rund 200 Kilometer nordöstlich von Khartoum. Auf drei Gräberfeldern lassen sich um die 140 Pyramiden identifizieren, die für das kuschitische Königshaus und hohe Beamte errichtet wurden. Sie wurden meist aus Stein gebaut und sind teilweise bis zu 30 Meter hoch. Die Süd- und die Nordnekropole sind unter anderem als Königsfriedhöfe in der Zeit vom 3. Jh. v. Chr. bis ins 4. Jh. n. Chr. genutzt worden. Foto: Wolf 4 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Archaeological Project (QSAP) in der Berliner Zentrale des Deutschen Archäologischen Instituts. Das Projekt, das von der Qatar Museums Authority finanziert werden, hat das Ziel, Veröffentlichungen, archäologische Feldarbeit und Forschungen im Nordsudan zu fördern. Ein wichtiges Augenmerk liegt dabei auf Fragen des Kulturerhalts, der Konservierung und der touristischen Präsentation der Fundstätten. Die Erschließung des Hinkel-Archivs ist ein wichtiger Baustein der Arbeiten, insbesondere im Hinblick auf den Bestandserhalt der Pyramiden von Meroë. Auch bei den anderen Projekten des DAI im Sudan, in Hamadab und an den Royal Baths von Meroë, konnte eine Zusammenarbeit verabredet werden. Dank der Aufnahme in das Projekt können sie ihre Forschungsvorhaben und Konservierungsmaßnahmen zukünftig weiterentwickeln. Pläne für ein deutsch-türkisches Archäologiezentrum Die ROYAL BATHS VON MEROË sind ein herausragendes Zeugnis für den Kulturtransfer zwischen dem im Mittleren Niltal herrschenden Königreich von Kusch sowie Ägypten und dem Mittelmeerraum. Die Anlage mit einem großen Wasserbecken wurde in unmittelbarer Nähe zweier Paläste errichtet. Ein aufwändiges Ausstattungsprogramm zeigt den Einfluss der mediterranen Kulturen, wie in der Darstellung des Musikers mit Panflöte. Das DAI-Projekt wird in Zusammenarbeit mit der National Corporation for Antiquities and Museums in Khartoum durchgeführt. Das Gebäude des ehemaligen Generalkonsulats in Izmir wurde über 80 Jahre lang als berufskonsularische Vertretung genutzt und ist damit ein bedeutendes Denkmal der Geschichte der türkischen Stadt. Nun stellt sich die Frage nach einer angemessenen Art neuer Nutzung des repräsentativen Gebäudes. Der türkische Kulturminister schlug bereits 2011 vor, dass es Ort eines deutsch-türkischen Archäologiezentrums werden könnte. Das Auswärtige Amt hat daher die Abteilung Istanbul des Deutschen Archäologischen Instituts damit beauftragt, Untersuchungen zur Geschichte des Gebäudes und zu seinem baulichen Zustand durchzuführen. „Diese Arbeiten sollen als Grundlage einer Umnutzungsplanung dienen, die auch ein deutsch-türkisches Archäologiezentrum umfassen könnte“, erklärt Martin Bachmann, stellvertretender Leiter der Abteilung Istanbul des DAI. Foto: Onasch DIE ABTEILUNG ISTANBUL hat zum Projekt eine Broschüre herausgegeben. Das Gebäude des ehemaligen deutschen Generalkonsulats liegt in äußerst prominenter Lage am Kordon, der traditionellen Flaniermeile und ersten Adresse in Izmir. Um 1890 wurde es als vornehmes Stadtpalais für den wohlhabenden levantinischen Geschäftsmann Elzéar Guiffray errichtet. Das Patrizierhaus ist in den reichen Formen des ostmediterran geprägten Historismus gehalten und reihte sich so ebenbürtig in den Kordon ein, der als Prachtstraße ein Schaufenster Izmirs zum Meer war. Bis zum heutigen Tage hat Izmir gravierende städtebauliche Veränderungen erfahren, die insgesamt zur Folge haben, dass das Gebäude des ehemaligen Generalkonsulats zusammen mit dem griechischen Konsulat das letzte zusammenhängende Ensemble historischer Bebauung am Kordon bildet, was – über den eigentlichen Gebäudebestand hinaus – seine kulturgeschichtliche Bedeutung ausmacht. UMNUTZUNG Das Dokumentations- und Umnutzungsprojekt fand unter der Leitung von Martin Bachmann statt. Die Bauaufnahme wurde von den Studierenden des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) Steffen Dengler, Ulrich Graf und Bertram Künste unter der Leitung von Dorothea Roos erstellt. Ulrich Graf arbeitete die Pläne aus, Steffen Dengler zeichnet für die 3D-Modelle und den Umnutzungsvorschlag verantwortlich. EIN PRACHTBAU am Kordon, der ersten Adresse Izmirs Ein deutsch-türkisches Archäologiezentrum wäre eine hervorragende Plattform kultureller und wissenschaftlicher Zusammenarbeit beider Länder. „Darüber hinaus wäre es ein ideales Schaufenster der zahlreichen bedeutenden Ausgrabungen im Großraum Izmir wie zum Beispiel in Pergamon oder Milet“, sagt Felix Pirson, Leiter der Abteilung Istanbul des DAI. Außer Ausstellungsflächen bliebe auch Platz für Vortragsräume und eine kleine Fachbibliothek.“ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 5 Foto: DAI Orient-Abteilung, Schmidt NACHRICHTEN DIE PORTA NIGRA, das 1800 Jahre alte Wahrzeichen der Stadt Trier, muss saniert werden. Das Architekturreferat des DAI führt im Auftrag des LBB Rheinland Pfalz die Bauforschung durch. Fotos: Wulf-Rheidt PORTA NIGRA DAI-Bauforschung arbeitet für den Erhalt der Porta Nigra Auf den ersten Blick sieht die Porta Nigra in Trier nicht aus wie etwas, das bröckeln könnte. Sie erscheint zwar ein wenig unfertig, weil sie in der Antike wahrscheinlich nie ganz vollendet wurde, aber immerhin vermitteln die bis zu sechs Tonnen schweren Steinquader, aus denen sie errichtet ist, einen Eindruck von Unverwüstlichkeit. Und tatsächlich gilt das 1800 Jahre alte stämmige Bauwerk als das am besten erhaltene römische Stadttor nördlich der Alpen. Doch nun „bröckelt“ das Tor, wie lokale Trierer Medien im Herbst letzten Jahres meldeten. Es musste etwas getan werden. Zunächst einmal wurde das Tor neu vermessen. Die Basis für alles Weitere ist die Bauforschung, für die das Architekturreferat des Deutschen Archäologischen Instituts verantwortlich ist. „Ende 2014 ist jeder Stein der Porta dokumentiert“, sagt Referatsleiterin Ulrike Wulf-Rheidt. „Tatsächlich ist über das berühmte Bauwerk recht wenig bekannt“, fügt sie hinzu. Also dienen die Arbeiten an der Porta Nigra, die in Kooperation mit der Hochschule RheinMain (Prof. Dr.-Ing. Corinna Rohn) durchgeführt werden, der Analyse und Beschreibung aller Bauphasen von der Antike bis zur Ge- 6 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT genwart. Diese umfasst – was viele nicht wissen – auch die 750 Jahre währende Nutzung als Kirche. Zum ersten Mal bietet die detaillierte Bauaufnahme nun eine verlässliche Basis für eine archäologische, bauforscherische und kunstgeschichtliche Untersuchung der Gesamtanlage. Dabei soll auch der Frage nachgegangen werden, ob die Porta Nigra in der Antike wirklich unfertig blieb und wenn ja, wie sie hätte aussehen sollen. Die Arbeiten an der Porta Nigra werden in Kooperation mit der Hochschule RheinMain, hier im Bild Prof. Dr.-Ing. Corinna Rohn, durchgeführt. Den Namen „Schwarzes Tor“ trägt die Porta nicht zu Unrecht. Die Färbung entstand durch die Verwitterung des Kordeler Sandsteins, aus dem sie gebaut ist. Im Laufe der Zeit haben die Umwelteinflüsse mehr als nur Farbspuren an dem eigentlich sehr haltbaren Stein hinterlassen. Es gibt Schäden von Abschuppungen, schwarze Verkrustungen, Risse, Brüche und Ablösungen am Quadermauerwerk. Wenn die ersten Arbeiten abgeschlossen sind, wird 2014 ein Konzept zur Sanierung erstellt, bevor die eigentlichen Arbeiten 2015 beginnen können. Dann wird das Wahrzeichen der Stadt Trier wohl für 10 bis 15 Jahre abschnittsweise hinter einem Gerüst verborgen sein. EINZELNE FUNDE KÖNNEN RÄTSELHAFT SEIN, wenn man sie nicht in ihrem Kontext sieht … ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 7 BÜCHER keit, Aspekte von Arbeitswelt und Wirtschaft, ihre Möglichkeiten Identifikation zu schaffen bis hin zu dem Kapitel Archäologie und Neue Medien. Bestellungen an [email protected] Die Reihe „Me enschen - Ku ulturren - Trad Tr dittio onen. Studien aus den Forrschun ngscclusste ern n des Deutsche en Archäolog gisch hen In nstiitu uts““ enthält Beiträ äge aus den akttue ellen n Frrag gestellungen de er Forschung gsclu uster dess D DAI AI. ULRIKE EHMIG – RUDOLF HAENSCH Die Lateinischen Inschriften aus Albanien (LIA) Das heutige Albanien war in der Antike eine Kontaktzone zwischen den Kulturen. Schon im Hellenismus existierten hier griechische Stadtstaaten, hellenistische Königreiche und indigene Stammesgesellschaften. Noch stärker wurde die Region in der Römischen Kaiserzeit zu einer Übergangszone; das Gebiet gehörte zu drei römischen Provinzen: Dalmatia, Macedonia und Epirus. Die bis heute bekannt gewordenen 302 lateinischen Inschriften aus Albanien werden in diesem Band in Neulesungen vorgelegt, unter kulturgeschichtlichen Gesichtspunkten kommentiert und über umfangreiche Indices erschlossen. Verlag Dr. Rudolf Habelt GmbH NINA SCHÜCKER (HRSG.) Integrating Archaeology Die von der Römisch-Germanischen Kommission im Rahmen des Projekts „Archaeology in Contemporary Europe“ organisierte Konferenz„Integrating Archaeology. Wissenschaft – Wunsch – Wirklichkeit“ beschäftigte sich mit der gesellschaftlichen Rolle sowie mit den Möglichkeiten und Chancen der Altertumswissenschaften. Der aktuelle Band enthält Beiträge zur Rolle der Archäologie in Gesellschaft und Öffentlich- 8 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT FLORIAN KLIMSCHA, RICARDO EICHMANN, CHRISTOF SCHULER UND HENNING FAHLBUSCH (HRSG.) Forschungscluster 2: Wasserwirtschaftliche Innovationen im archäologischen Kontext: Von den prähistorischen Anfängen bis zu den Metropolen der Antike. Der Band präsentiert erste Ergebnisse des DAI Forschungsclusters „Innovationen: technisch, sozial”, der sich seit 2006 den Themen Wasserwirtschaft und Metallurgie widmet. Die lebensnotwendige Ressource Wasser stellt in allen Phasen der Menschheitsgeschichte einen wichtigen Faktor dar, ihre technische Erschließung beginnt mit den frühesten Ansätzen zu komplexen Siedlungsformen und Gemeinschaftsformen. Dabei ist die Nutzung von Grundwasser über Brunnen die größte Konstante und Erfolgsgeschichte. Die ersten Beiträge zeigen einfachere Formen der Wasserwirtschaft, die dem Brunnenbau vorausgehen. (siehe Titelthema ab S. 36) GUNNAR BRANDS, MARTIN MAISCHBERGER (HRSG.) Forschungscluster 5, Band 2: Lebensbilder. Klassische Archäologen und der Nationalsozialismus. Die Beiträge untersuchen das Leben bekannter deutscher und italienischer Klassi- scher Archäologen des 20. Jahrhunderts. Die Lebensbilder sind nicht auf die 12 Jahre der NS-Diktatur bzw. die 21 Jahre des italienischen Faschismus beschränkt, sondern liefern jeweils ganzheitliche Lebensbeschreibungen, die es ermöglichen, Kontinuitäten, Brüche und Entwicklungen langer Lebenswege zu würdigen. VML Verlag Marie Leidorf GmbH, Rahden/Westfalen ALBERT DISTELRATH Siedeln und Wohnen in einer Ruinenstätte. Ein denkmalpflegerisches Konzept für Herakleia am Latmos / Yerleşim ve Yaşam Alanı olarak Ören, YeriHerakleia (Latmos) için bir Koruma Konsepti MIRAS, Band 1 Erforschung und Schutz archäologischer Stätten sind untrennbar miteinander verbunden. Häufig stehen die archäologischen Unternehmungen jedoch hinsichtlich der Erhaltung und Sicherung der antiken Monumente vor Aufgaben, die ihre Möglichkeiten und Kompetenzen überschreiten. Erfahrungen von verschiedenen Orten und eine breite Kenntnis von Fallbeispielen sind daher wichtige Voraussetzungen für eine angemessen auf die Besonderheiten einer archäologischen Stätte reagierende Konzeptfindung. Das Deutsche Archäologische Institut Abteilung Istanbul hat sich vor diesem Hintergrund entschlossen, eine neue Publikationsreihe mit dem Namen MIRAS (Management, Instandsetzung und Restaurierung an Archäologischen Stätten in der Türkei) zu eröffnen, in der solche Fallbeispiele in loser Folge vorgelegt werden sollen. IKUWA3: Beyond Boundaries. The 3rd International Congress on Underwater Archaeology, Reihe: Kolloquien zur Vorund Frühgeschichte, Band 17, J. Henderson (Hrsg.) Veröffentlichung von Kolloquien zu speziellen Themen der Archäologie des gesamten eurasischen Raumes Verlag Dr. Rudolf Habelt GmbH … wie diese Tierfigur in einem 12.000 Jahre alten Heiligtum in der Türkei HIER FANDEN die Archäologen die Abbildungen von Kranichen und anderen Tieren, die noch viele Rätsel aufgeben. Auf dem Hügel „Göbekli Tepe“, der weit über die Landschaft hinausragt, schufen Menschen, die Jäger und Sammler waren, in 20 Kreisanlagen ein Heiligtum. Die Pfeiler waren bis zu 5,5 Meter hoch. Sie hatten ein Gewicht von bis zu 10 Tonnen und waren ohne Metallwerkzeuge aus monumental gearbeiteten Werksteinen von unglaublicher Präzision errichtet. Um das einzigartige Zeugnis menschlicher kultureller Entwicklung angemessen dokumentieren, sensibel erforschen und schützen zu können, entwickelt die Orient-Abteilung des DAI zusammen mit türkischen Partnern und Spezialisten der Universität Cottbus und des Global Heritage Fund ein systematisches Site Management. (Siehe auch „Die Steinmetze vom Göbekli Tepe“, Seite 18) Foto: DAI Orient-Abt., Schmidt ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 9 REPORTAGE KNICKPYRAMIDE Unbeeindruckt von aktuellen Umbrüchen ragt die Knickpyramide, das pharaonische Pilotprojekt, aus dem Wüstensand. Wegen unvorher- ÄGYPTEN – HERAUSFORDERUNG GEGENWART Archäologisches Arbeiten in Zeiten des Umbruchs 10 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT sehbarer Instabilitäten des Baugrundes musste ihre Form während der Arbeiten angepasst werden. Foto: DAI Kairo Dahschur ist ein kleines Dorf ca. 30 Kilometer südlich von Kairo, das in den Morgenstunden verschlafen und ruhig wirkt. Der sprichwörtliche Esel döst am Straßenrand, und die Händler packen gemächlich ihre Waren aus. Der kleine Flecken hat einer der großen archäologischen Stätten Ägyptens und zugleich einem bedeutenden Projekt des Deutschen Archäologischen Instituts den Namen gegeben. Dahschur, das sind „Knickpyramide“ und „Rote Pyramide“, pharaonische Pilotprojekte aus dem Alten Reich, als zur Zeit Snofrus, Vater des berühmteren Cheops, 2600 v. Chr. das Konzept Pyramide mitsamt der umliegenden Infrastruktur erfunden wurde. Später am Tag wird das ruhige Dorf zum Hexenkessel. Ohne die gebieterische, doch unparteiische Autorität einer Ampel scheinen sämtliche Fahrzeuge des Dorfes, seien sie motorgetrieben oder nicht, gleichzeitig auf einen einzigen Punkt zuzustreben: die einzige Kreuzung in der Mitte des Dorfes. Hoffnungslos ineinander verkeilt stehen sie da, die LKW, die Limousinen, die Geländewagen und Eselskarren. Es hupt ununterbrochen, und wer glaubt, sich aus seinem Gefährt heraus nicht verständlich machen zu können, steigt eben aus und diskutiert auf der Straße weiter. Wie Mörtel schieben sich Fahrräder, Mopeds und dreirädrige Kleintaxis in die letzten offenen Fugen und verschließen sie endgültig. Dann kommen die Männer des Dorfes und beginnen, den Verkehr zu regeln, was endgültig den totalen Stillstand zur Folge hat. NORMALITÄT ALS AUFGABE In den unübersichtlichen Zeiten, in denen Ägypten ein Land im Dauerumbruch ist und äußere Strukturen erodieren können, steht Archäologie nicht auf Platz eins der Tagesordnung. „Es gibt keine Alternative dazu, Normalität aufrecht zu erhalten, so gut es möglich ist“, sagt Stephan Seidlmayer, Direktor der Abteilung Kairo des DAI. Das tut auch die ägyptische Antikenbehörde, so ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 11 POPULÄRER KONSENS Raubgrabungen sind ein drängendes Problem an den meisten der archäologischen Stätten Ägyptens, ein Problem, das im Moment eher wächst. Es gibt einen internationalen Markt für gestohlene Artfakte – je älter, desto teurer. Die Behörden sind nicht immer so auf dem Posten, wie es hilfreich wäre, und der Archäologe befürchtet, dass der Mangel an Sorge für das kulturelle Erbe eine eigene Routine gewinnt. „Für die archäologische Arbeit braucht man einen populären Konsens“, sagt Seidlmayer. Das heißt, dass man die lokale Bevölkerung einbinden muss, um etwas zu schützen, ohne das Ägypten nicht auskommt: seine 5000 Jahre alte Geschichte. Und nicht nur zum Vergnügen von Touristen auf der Suche nach Bildungserlebnis oder romantischer Verzauberung, sondern vor allem für sich selbst. „Ohne die Verankerung in seiner Geschichte kann das Land sich nicht in der Gegenwart orientieren“, weiß Seidlmayer, der seit über 40 Jahren in Ägypten arbeitet. REPORTAGE gut sie kann. Sie schickt Inspektoren, erteilt Konzessionen, was Behörden eben so tun. „Normalität“ bedeutet hier aber keineswegs die Gegenveranstaltung zu bürgerkriegsähnlichen Zuständen, wie sie laufend in den deutschen Medien konstruiert werden, in Berichten, die geflissentlich den ganz normalen Alltag in Kairo ausblenden, der ohne Frage derzeit eine bedrängende Realität ist. „Wenn es Auseinandersetzungen im Stadtzentrum gibt, sehen wir das genauso im Fernsehen wie Sie“, sagt Seidlmayer. Die einseitige Berichterstattung der heimischen Medien betrachten nicht nur die Wissenschaftler und Diplomaten vor Ort als eine Art Nachtreten gegen jemanden, der sowieso schon Schwierigkeiten genug hat. Gut 900 Kilometer südlich von Kairo, in Assuan, gelang es schon einmal, diesen notwendigen Konsens zu schaffen. Die Stadt wächst rapide, ihre Bewohner brauchen Wohnraum und Infrastruktur – auch auf Kosten archäologischer Grabungen und Fundstätten. Erste Siedlungsspuren reichen 5.500 Jahre zurück, der Platz ist hier an der Grenze zu Nubien wichtig, um die frühesten Handelsbeziehungen zwischen Mittelmeer und Afrika nachvollziehen zu können – Gold, Elfenbein, Edelhölzer und Straußenfedern waren die verhandelten Güter. Ein Flyer in arabischer Sprache informiert die Bewohner von Assuan über die Arbeiten des Instituts. „Wir übersetzen außerdem wichtige Inschriften ins Arabische und erklären spektakuläre Ruinen – durchaus auch mit dem Ziel, dies alles in die touristischen Wertschöpfungsketten einzubinden“, erklärt Seidlmayer. Hat es funktioniert? „Die Faltblätter wurden uns aus der Hand gerissen.“ Zwar ist auch Assuan von Raubgrabungen und Plünderungen betroffen, aber inzwischen ist bei der anwohnenden Bevölkerung ein Bewusstsein dafür entstanden, warum sie ihre Altertümer schützen sollte, ein Bewusstsein, das bei den ins Ausland orientierten Eliten Ägyptens häufig auch erst noch geschaffen werden muss. KOOPERATIONEN Ägyptische Mitarbeiter des DAI Kairo am Grabungsplatz. I STAU Mittags, wenn das Dorf Dahschur zum Hexenkessel wird, streben sämtliche Fahrzeuge gleichzeitig auf einen einzigen Punkt zu und verkeilen sich hoffnungslos ineinander. dung der Pyramide aber nicht von hier stammen kann“, erklärt Nicole Alexanian. „Wie ist es also hierhergekommen?“ „Übers Wasser?“ – „Ja, übers Wasser.“ II VERHÖKERT Grabräuber suchen die meisten der archäologischen Stätten Ägyptens heim und verkaufen das Diebesgut auf einem florierenden internationalen Markt. Foto: DAI Kairo Es ist nicht viel los am archäologischen Platz Dahschur mit seinen drei Grabungen, die das DAI dort durchführt. Besucher sind so rar, dass sich die Touristenkamelführer sofort in drei Sprachen auf jeden stürzen, der vorbeikommt. Doch sie machen nicht im entferntesten das Geschäft ihrer Kollegen in Gizeh mit Cheops-, Chephren- und Mykerinospyramide in normalen Zeiten. Die Leere in Dahschur hat aber auch einen anderen Grund. Noch bis 1997 war Dahschur militärisches Sperrgebiet, und die pathetische Atmosphäre, die sich in der Nähe einer Pyramide und in Sichtweite der nächsten einstellt, ist überlagert von langen Sperrzäunen und patroullierenden Soldaten, die zum Stützpunkt gehören, der nach wie vor hier seinen Standort hat. III MITSPRACHE „Für die archäologische Arbeit braucht man einen populären Konsens.“ – Befragung in Assuan. Foto: DAI Kairo I II III GESCHICHTSSTUNDE IN DAHSCHUR kulturweit „Ich habe mich schon immer für alte Bauwerke interessiert“, sagt Yasmin Katzer, Kunsthistorikerin und Yasmin Katzer Denkmalpflegerin, die gerade das Bachelor-Studium an der Otto-Friedrich Universität Bamberg abgeschlossen hat. Das Programm „kulturweit“, durchgeführt von der Deutschen UNESCO-Kommission und gefördert vom Auswärtigen Amt, führte sie nach Kairo ans DAI. Von Mitte März bis Mitte August 2013 wird sie im Institut arbeiten, unterstützt die Verwaltung bei der Organsiation, fährt mit zu den Grabungen und übernimmt Aufgaben in der Redaktion. Ihr eigenes Projekt, das sie im Rahmen des kulturweit-Programms durchführen muss, ist angeschlossen an ein DAI-Projekt, das gemeinsam mit der Deutschen Schule in Kairo organisiert wird. Darin werden Ideen entwickelt, wie man altägyptische Themen in den Unterricht einbauen kann. Die Liebe zur Region hat sie im Elternhaus mitbekommen, und inzwischen lernt sie Arabisch. „Man lernt hier aber auch viel über sich selbst und die anderen Europäer“, hat sie festgestellt. Der Einsatz in den DAI-Einrichtungen im Rahmen des kulturweit-Programms dauert sechs Monate. Zu den Einsatzfeldern gehören Grabungen in den Gastländern sowie die Aufbereitung, Publikation und Präsentation archäologischer Facharchive oder auch Bibliotheks-, Archiv- und Öffentlichkeitsarbeit. 12 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT www.kulturweit.de Foto: DAI Kairo Die Archäologin Nicole Alexanian, Grabungsleiterin in Dahschur, führt eine Schulklasse zu den Pyramiden. Auf dem Programm stehen die Knickpyramide und die Rote Pyramide, die zugehörigen Tempel und die umgebende Landschaft insgesamt. Die 12- bis 13-jährigen Mädchen besuchen die „Deutsche Schule der Borromäerinnen“ in Kairo. Sie entstammen zum größten Teil der ägyptischen oberen Mittelschicht und der Oberschicht und erfüllen den Ehrgeiz ihrer Familien, den Wohlstand durch beste Bildung und Ausbildung zu erhalten. In geläufigem Deutsch beantworten sie die Fragen der Archäologin nach der Ursache für den Knick und die Risse in der Pyramide: „Der Untergrund war instabil“, antworten sie richtig, und dass die Steine für den Kern des riesigen Bauwerks aus der Nähe stammen müssen, schließen sie aus wenigen Hinweisen. „Wir wissen, dass das Material für die Verklei- Derzeit haben die DAI-Archäologen aber mit einem sehr zivilen Problem zu kämpfen. Auf dem Gelände der 4600 Jahre alten Nekropole entstand fast über Nacht ein moderner Friedhof der Bewohner des Dorfes Dahschur. „Die Leute wissen zwar, dass es ein archäologischer Platz ist“, sagt Stephan Seidlmayer. „Aber man sieht auf der Erde nicht unbedingt, was darunter liegt.“ Rückgängig machen kann man es wohl nicht, aber man kann womöglich eine Ausweitung verhindern – mit dem Assuan-Effekt: „Wir haben schon begonnen, mit den Leuten im Dorf und mit dem Bürgermeister zu reden, um für die Anwohner eine Verbindung zwischen Gegenwart und Vergangenheit zu vermitteln, die sie vielleicht einlenken lässt“, erzählt Nicole Alexanian. Wenn es wenigstens auch gut fürs Geschäft wäre, wenn mehr Touristen kämen, wäre es leichter. ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 13 REPORTAGE DAS DEUTSCHE ARCHÄOLOGISCHE INSTITUT IN KAIRO Den institutionellen Anfang deutscher Archäologie in Ägypten machte 1907 das Deutsche Institut für Ägyptische Altertumskunde, das 1929 dem Deutschen Archäologischen Institut angegliedert wurde. Seit 1957 ist die Abteilung in einer 30er-Jahre-Villa im Stadtteil Zamalek Der Ägyptologe Prof. Dr. Stephan Seidlmayer ist seit 2009 Direktor der Abteilung Kairo des Deutschen Archäologischen Instituts. untergebracht. In Kooperation mit der ägyptischen Antikenverwaltung und internationalen Partnern erforschen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des DAI Kairo alle Epochen Ägyptens von der Vorgeschichte bis zur Moderne, seine Siedlungs- und Landschaftsgeschichte, die Gestaltung und REISELUST Die Bibliothek des Instituts besitzt eine exquisite Sondersammlung Funktion ritueller Räume und seiner Lebenswelten. Eine Reiseliteratur. Eine neue Buchreihe richtet sich an einen zunehmend wichtige Rolle spielt auch die Erforschung der Rezeption des Alten Ägypten und ihre Bedeutung für die Identitätsbildung in Ägypten und Europa. Die zweitgrößte archäologi- größer werdenden Leserkreis, der an der Forschungs- und Wissenschafts- sche Fachbibliothek Ägyptens, Archive und eine eigene geschichte in orientalischen Ländern interessiert ist. Zugleich wird damit auch das umfangreiche Archivmate- Publikationsabteilung machen das Institut zu einem attraktiven Anlaufpunkt nicht nur der Fachöffentlichkeit. Regelmäßig veranstaltete Tagungen und öffentliche rial des Instituts in Kairo zugänglich gemacht. Vorträge haben ein großes Publikum, und durch die Vergabe von Stipendien und die Durchführung von Lehrveranstaltungen unterstützt es die Qualifikation Heike C. Schmidt, Westcar on the Nile – A journey through Egypt in the 1820s, 240 Seiten, 140 Farbabbildungen, ISBN 978-3-89500-852-8, Reichert Verlag Wiesbaden, 2011, 49,− Euro ägyptischer Wissenschaftler und fördert in seinen Projekten und bei seinen Veranstaltungen Kontakte und Austausch zwischen ägyptischen und deutschen Forschern. Am Fuß der Knickpyramide – Aneignung der eigenen Geschichte. ÄGYPTOLOGIE UND TOURISMUS Wer mit einem mitteleuropäischen Bildungspaket groß geworden ist, in dem eine latente Ägyptomanie immer noch fester Bestandteil ist, mag sich wundern über diese Art irdischer Probleme. Gespeist wird dieser Blick auf das Land am Nil aber nicht allein durch die romantische Anverwandlung, sondern auch durch eine bestimmte Art der Wissenschaft zu Ägypten. „Es ist eine Ägyptologie, die nicht in Ägypten stattfindet“, weiß Stephan Seidlmayer. Eine Ägyptologie, die kein Arabisch spricht oder liest, weil sie das alte Ägypten für etwas Abgeschlossenes hält, das nicht das Geringste mit der Gegenwart zu tun haben könnte. Man hatte die Hieroglyphen entziffert, die Gräber geöffnet, die Funde sortiert und sich anschließend in die Bibliothek zurückgezogen. Das DAI Kairo ist seit 106 Jahren vor Ort. Wer hier arbeitet, hat – eingebettet in den ägyptischen Alltag – gar keine Chance, den irdischen Problemen zu entgehen. „Es ist deshalb auch völlig unabdingbar, vor allem jetzt weiterzumachen und die andere Normalität zu repräsentieren“, sagt Seidlmayer. Die Normalität, in der der Kulturgüterschutz wichtig ist und die darauf hinweist, wie wenig ein Land wie Ägypten sich ohne seine 5000 Jahre Geschichte in der Gegenwart orientieren kann. „Pessimismus ist keine Option“, ist Stephan Seidlmayer überzeugt, auch wenn es manchmal anstrengend ist. Diese Botschaft vermittelt er auch dem Ausschuss für Tourismus des Deutschen Bundestages, der zu Besuch in Kairo ist. Tourismus ist einer der wichtigsten Wirtschaftszweige in Ägypten und machte vor der Revolution 10 Prozent des Bruttoinlandproduktes aus. 14 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT I GESCHICHTSSTUNDE Nicole Alexanian erklärt Schülerinnen der Deutschen Schule der Borromäerinnen Anlässe und Grundzüge des Pyramidenbaus – als einen Teil ihrer eigenen Geschichte. II WARTEN AUF KUNDSCHAFT Der Einbruch des Tourismus in Ägypten bringt zahllose Menschen um Lohn und Brot. Die einseitige Berichterstattung der hiesigen Medien tut ein Übriges, die Schwierigkeiten noch zu verstärken. III DAS DAI KAIRO IST in einer Villa aus den 30er-Jahren im Stadtteil Zamalek untergebracht. I Der Einbruch ist besonders dramatisch in Zeiten, in denen die ägyptische Wirtschaft insgesamt schlingert. „Wir können als Wissenschaftler Perspektiven auf kulturellem Gebiet geben“, erklärt der Archäologe den Abgeordneten. „Und wir können in einem breit angelegten Erfahrungsaustausch zu Fragen wie Site Management, Kulturgüterschutz und der Vermittlung der touristisch wichtigen Plätze an die lokale Bevölkerung unsere Expertise bündeln.“ Wie ernst das Thema in Ägypten genommen wird, zeigt die II Tatsache, dass der Ausschuss von Premierminister Hescham Kandil empfangen wurde. Der Ausschuss-Vorsitzende, Klaus Brähmig, zeigt Gespür für die Lage. Er stammt aus Sachsen und gehört einer Generation an, die einen Umbruch erlebt hat, der das Unterste zu oberst gekehrt hat und die weiß, dass Umbrüche dieser Art langwierig und anstrengend sind und manchmal auch schmerzhaft sein können. „Diese Signale sind mehr als positiv aufgenommen worden“, weiß Stephan Seidlmayer. „Zum einen, dass Abge- III ordnete des deutschen Parlaments zu dieser Zeit nach Ägypten kommen und dass zum anderen freimütig vermittelt wurde, dass auch die hoch angesehenen supereffizienten Deutschen auf manchen Feldern mit Problemen zu kämpfen haben.“ Im Dorf Dahschur löst sich nach einiger Zeit der Knoten ganz von allein, und man fragt sich verdutzt, was genau eigentlich die Ursache für den Stau war. sw ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 15 INTERVIEW PESSIMISMUS IST KEINE OPTION nagement archäologischer Plätze bis hin zur Entwicklung touristischer Besuchskonzepte für einige der großen Denkmälerstätten. Sie wissen, dass der Tourismus normalerweise einer der stärksten Wirtschaftszweige des Landes ist und nun völlig darniederliegt. Ein wichtiges Projekt ist auch die Renovierung und der Ausbau des Museums auf der Nilinsel Elephantine in der Nähe von Assuan im Süden Ägyptens. INTERVIEW MIT STEPHAN SEIDLMAYER ÜBER ARCHÄOLOGISCHES ARBEITEN IM HEUTIGEN ÄGYPTEN Als das Auswärtige Amt 2011 die Transformationspartnerschaft mit Ägypten ins Leben rief, war dies getragen von einer fast euphorischen Freude über die Entwicklungen in einigen Ländern Nordafrikas und des Nahen Ostens. Hat man sich zu früh gefreut? Stephan Seidlmayer: Es liegt in der Natur von Revolutionen, dass sie zu einem Teil auch von Illusionen getragen sind. Eine der Illusionen auf unserer Seite mag es gewesen sein zu glauben, dass alles viel schneller ginge. Aber Prozesse eines derart tiefgreifenden Wandels, wie er derzeit in Ägypten stattfindet, brauchen ihre Zeit. Das lehren die Mühseligkeiten ganz praktischer Politik, das lehrt aber auch die historische Erfahrung. Wir sollten auch nicht der Versuchung nachgeben, die Probleme, um die es hier geht, stets nur mit unseren eigenen Begriffen analysieren zu wollen. Aus unserer Sicht als Deutsches Archäologisches Institut gibt es keine Alternative zur Fortführung aller Programmkomponenten der Transformationspartnerschaft mit Ägypten. Tatsächlich müssen wir uns gerade jetzt als verlässliche Partner erweisen. Entscheidend ist es, die Arbeit auf die Bedürfnisse des Landes zuzuschneiden. Zum Beispiel? Seidlmayer: Als Archäologen sind wir im Rahmen der Initiative Transformationspartnerschaft vor allem in Projekten engagiert, die der Erhaltung und Erschließung des kulturellen Erbes dienen, vom Site Ma- 16 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT STEPHAN SEIDLMAYER DER ÄGYPTOLOGE PROF. DR. STEPHAN SEIDLMAYER IST SEIT 2009 DIREKTOR DER ABTEILUNG KAIRO DES DEUTSCHEN ARCHÄOLOGISCHEN INSTI- leben kann. Das ist aber vollkommen normal. Und wir wissen natürlich auch, dass die archäologische Arbeit und ihre Notwendigkeiten nicht die Nummer eins auf der Tagesordnung sind, wenn Fragen der Existenzsicherung Priorität haben. Die Probleme sind drängend, und Experten befürchten, dass die derzeitge ägyptische Wirtschaftspolitik desaströse Folgen haben kann. In schwierigen Zeiten braucht man einen langen Atem. Das ist Konsens bei allen, die hier arbeiten, sei es in der internationalen Archäologie, aber auch – was uns besonders freut – bei den Angehörigen der deutschen Botschaft in Kairo und den deutschen Partnereinrichtungen, mit denen wir eng zusammenarbeiten. Was hilft dabei, die anstrengenden Zeiten zu überstehen? Seidlmayer: Es gibt signifikante Schnittstellen zwischen Ägypten und Deutschland bzw. der westlichen Kultur insgesamt. Der „Westen“ hat viel empfangen von Ägypten und umgekehrt. Es gibt eine lange Traditon des gegenseitigen Gebens und Nehmens – länger und tiefer, als man denkt. Wir sollten nicht vergessen, dass wir zusammen auf relativ engem Raum leben und letztlich zum selben kulturellen System gehören. Kulturkampf-Ideologien und geschichtsvergessene Orthodoxien auf beiden Seiten sind nicht nur brandgefährlich, sie sind auch historisch falsch. Wie eng ist die Verbindung der Ägypter zu ihrer eigenen Geschichte? Wie hat man sich denn die konkrete archäologische Arbeit im Moment vorzustellen? Seidlmayer: Archäologie ist immer eine zähe, langfristige, und schwierige Arbeit, bei der man auch einmal Rückschläge er- TRANSFORMATIONSPARTNERSCHAFT Manchmal ist die archäologische Arbeit anstrengend und langwierig. Materialtransport für das Museum auf der Nilinsel Elephantine. Die Restaurierung des Museum ist eines der Projekte, die im Rahmen der Transformationspartnerschaft zwischen Ägypten und Deutschland gefördert werden. 2012 und 2013 unterstützt das Auswärtige Amt Projekte deutscher und internationaler Nichtregierungsorganisationen mit einem Gesamtvolumen von je 30 Millionen Euro, darunter auch Vorhaben des DAI in verschiedenen Ländern, mit denen Partnerschaften begründet wurden. Fotos: DAI Kairo Seidlmayer: Das ist durchaus ein schwieriger Punkt. Eine besonders problematische Komponente dabei ist, dass die ägyptischen Eliten in ihrer Lebensperspektive stark aus dem Land heraus orientiert sind. Sie legen Wert auf eine westlich geprägte Ausbildung; manche Familien sprechen zuhause nur noch Englisch. Wir sind gerade dabei – ebenfalls im Rahmen der Transformationspartnerschaft – zusammen mit der Deutschen Schule in Kairo Unterrichtseinheiten zu entwickeln, in denen den Schülerinnen und Schülern ihre eigene Geschichte nahegebracht wird. Dies ist nur ein Beispiel für die Dinge, die wir im Rahmen unserer Möglichkeiten tun können. Dazu gehört es aber auch, unsere Bibliothek – immerhin die zweitgrößte archäologische Fachbibliothek Ägyptens – ägyptischen Forschern und Studierenden freizügig zu öffnen. Ägypten kann gar nicht auskommen ohne die Besinnung auf seine eigene Geschichte, und es ist nicht frei, sich von diesem Existenzgrund zu lösen. Die gemeinsame Arbeit an dieser Aufgabe ist deshalb ein Schlüsselgebiet, in dem beide Nationen fruchtbar zusammenarbeiten. sw ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 17 CULTURAL HERITAGE SO SOLL DAS SCHUTZDACH für den Göbekli Tepe in der Türkei aussehen – für die 12000 Jahre alten Kreisanlagen, umrandet von megalitihischen Pfeilern, die mit Tiermotiven verziert sind. Fotos: DAI Orient-Abteilung (o.l.); BTU Cottbus, Schmidt (o.r.; l.) DIE STEINMETZE VOM GÖBEKLI TEPE Arbeiten am ältesten Heiligtum der Welt 6000 Jahre vor der Errichtung von Stonehenge, 7000 Jahre vor dem Bau der Pyramiden schufen Menschen einen Ort, an dem sie in 20 Kreisanlagen bis zu 5,5 Meter hohe Pfeiler mit einem Gewicht von bis zu 10 Tonnen aufstellten, Pfeiler, die ohne Metallwerkzeuge aus monumental gearbeiteten Werksteinen von unglaublicher Präzision geschaffen wurden, übersät mit Reliefs von Tieren, darunter Auerochsen, Wildschweine und Füchse, Ibisse, Kraniche und Geier, Skorpione, Spinnen und Schlangen. Göbekli Tepe, der „bauchige Hügel“ in der Nähe der südostanatolischen Stadt Şanlıurfa in der Türkei, hält mehr Sensationen bereit, als man in einem Archäologenleben erforschen kann. Die größte Sensation aber ist, dass man angesichts der monumentalen stein- 18 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT zeitlichen Anlage mit ihren gewaltigen T-förmigen Pfeilern noch einmal neu nachdenken muss über die Anfänge dessen, was man heute unter Zivilisation versteht. Entdeckt wurde der Hügel bereits in den 60er-Jahren, blieb dabei aber unverstanden. 1994 erkannte der DAI-Archäologe Klaus Schmidt als erster, was es mit dem außergewöhnlichen Platz auf sich hat. Seitdem wird der Göbekli Tepe in einem deutsch-türkischen Gemeinschaftsprojekt vom Deutschen Archäologischen Institut (DAI) ausgegraben. Die zahlreichen Tiermotive auf den Pfeilern kamen nicht von ungefähr. Für Jäger und Sammler muss die Gegend ein Paradies gewesen sein. Knochenfunde von Tieren belegen reiche Beute, und In jedem Fall schufen die Steinmetze vom Göbekli Tepe die ältesten architektonisch ausgestalteten Heiligtümer der Menschheit. ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 19 CULTURAL HERITAGE BESUCHERMAGNET Der Göbekli Tepe wird von einer jährlich steigenden Zahl von Touristen besucht. die Archäobotaniker des DAI fanden Spuren wilder Gerste und wilden Einkorns. Am nördlichen Rand des Fruchtbaren Halbmondes gelegen, bot das Areal so gute Lebensbedingungen, dass es womöglich Jäger und Sammler von überall her anzog. Inzwischen ist der Hügel mit Georadar und Geomagnetik untersucht. Mindestens 16 Megalith-Ringe liegen noch verborgen unter der Erde. In einer späteren Phase hatten die Erbauer des Tempels weitere kleinere Pfeiler errichtet, die in rechtwinkligen Räumen aufgestellt wurden. Schließlich gaben sie den Ort auf, und erst die Römer nutzen den Hügel mit der guten Aussicht wieder, um darauf einen Wachtturm zu errichten. Foto: BTU Cottbus, Schmidt Klaus Schmidt vermutet, dass es genau dieser weite „Blick“ war, der die Erbauer des Göbekli Tepe veranlasste, hier ihre Heiligtümer zu errichten. Weitere Arbeiten vor Ort sind nötig, um den Zweck der Anlagen genauer zu verstehen. Eine Verbindung zum Totenkult ergibt sich durch den Fund einzelner menschlicher Knochen, und die Ikonographie des Platzes lässt diese Interpretationsmöglichkeit für die Anlagen zu. Die Darstellung von Armen, Händen und Kleidungsstücken auf einigen Pfeilern hilft, sie als stark abstrahierte Darstellungen überirdischer Wesen zu verstehen. In jedem Fall schufen die Steinmetze von Göbekli Tepe die ältesten architektonisch ausgestalteten Heiligtümer der Menschheit. PRÄZISIONSARBEIT Die Pfeiler des Heiligtums wurden ohne Metallwerkzeuge aus monumental gearbeiteten Werksteinen von unglaublicher Präzision geschaffen. BTU Cottbus, Schmidt Prof. Dr. Klaus Schmidt entdeckte 1994 die Bedeutung des Göbekli Tepe. Der Archäologe leitet die Arbeiten des DAI vor Ort. Foto: DAI 12000 JAHRE ALTE TIERWELT Tonnenschwere monolithische Pfeiler werden von Mauerzügen, die „Innen“ und „Außen“ temenosartig abgrenzen, kreisförmig verbunden. Im Zentrum steht ein alles überragendes Pfeilerpaar. Großformatige Reliefs von wilden Tieren halten viele offene Fragen für die Archäologen bereit. KULTURREVOLUTION Die Monumente auf dem Göbekli Tepe sind eine weltweit einzigartige Quelle zur Geschichte des Umbruchs von jägerischen Gesellschaften zum Bauerntum und lassen diesen Wandel in gänzlich neuem Licht erscheinen. Da sich östlich des Göbekli Tepe aber die Vulkanlandschaft Karacadağ erstreckt, die mit Hilfe naturwissenschaftlicher Untersuchungen als Heimat später kultivierter Getreidearten bestimmt werden konnte, stellt sich auch die Frage, ob die jägerisch geprägte Kultgemeinschaft des Göbekli Tepe unter Umständen die Kultivierung von Wildgetreide initiiert haben könnte. Besonders in der älteren Schicht des Göbekli Tepe mit den monumentalen Anlagen zeugen große Mengen an Tierknochen von großen Festen, die sicher religiös motiviert waren und auch dem Zweck dienten, eine ausreichende Anzahl an Menschen zum Bau der Anlagen zusammenzuziehen. Das Ausrichten dieser Feste muss das ökonomische System einer jägerischen Gesellschaft schnell überlastet haben. Möglicherweise lag hierin der Grund zur Erschließung neuer Ressourcen, ein Vorgang, der schließlich mit der Domestikation von Pflanzen und Tieren in eine gänzlich neue, nahrungsmittelproduzierende Lebensweise mündete, die die Periode der Jungsteinzeit charakterisiert. Der Göbekli Tepe bietet damit einen Einblick in einen der grundlegendsten Wandlungsprozesse der Menschheitsgeschichte. Klaus Schmidt Fotos: DAI Orient-Abteilung, Schmidt 20 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 21 CULTURAL HERITAGE SCHUTZ VOR WIND UND REGEN Ein Schutzdach soll die Anlage vor Witterungseinflüssen schützen, nachdem sie 12.000 Jahre verborgen unter der Bislang war man davon ausgegangen, dass nur sesshafte und gut organisierte Gruppen von Menschen, die zudem Landwirtschaft betreiben, die Zeit und die geeignete Sozialstruktur mit einer entwickelten Arbeitsteilung gehabt hätten, Tempel zu bauen – zumal eines solch großen Ausmaßes. Der Göbekli Tepe zeigt aber, dass es auch umgekehrt gewesen sein kann, dass nämlich die gemeinsame Anstrengung, ein solches Mammutwerk zu schaffen, erst die Grundlagen für die Entstehung komplexer Gesellschaften legte. Zahlreiche Arbeiter mussten versorgt und untergebracht werden, Holz, Seile und Werkzeug mussten arbeitsteilig hergestellt, Wasser und Nahrung von Hand zum Heiligtum getragen und die Werkstücke aus dem nahe gelegenen Steinbbruch herangeschafft werden – eine bemerkenswerte Leistung für Jäger und Sammler. EIN SCHUTZDACH FÜR DEN GÖBEKLI TEPE Erst ein kleiner Teil der Anlage ist freigelegt, der größte Teil liegt noch unter der Erde. Die Konzepte für ihre zukünftige Erforschung 22 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Erde lag. Es wird voraussichtlich im Jahr 2014 fertiggestellt. Foto: DAI Orient-Abteilung sehen vor, die Untersuchungen vor allem an den bereits ergrabenen Teilen vorzunehmen und die anderen so lange unberührt zu lassen, bis sichergestellt werden kann, dass die Bauwerke durch weitere Freilegung keinen Schaden nehmen. Um das einzigartige Zeugnis menschlicher kultureller Entwicklung angemessen dokumentieren, sensibel erforschen und vor allem schützen zu können, entwickelt das DAI nun zusammen mit seinen türkischen Partnern sowie Spezialisten der Universität Cottbus und des Global Heritage Fund ein systematisches Site Management, das zudem den Antrag der Türkei, den Göbekli Tepe auf die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO zu setzen, unterstützen soll. Besonders wichtig ist die Errichtung eines Schutzdaches über der Anlage, um sie vor Wind und Regen zu schützen, nachdem sie 12.000 Jahre gut geschützt unter der Erde lag. Voraussichtlich im Jahr 2014 kann dieses Schutzdach fertiggestellt werden. Das Ziel aller Maßnahmen ist, eine Basis und einen Rahmen zu schaffen für eine langfristige Sicherung des Göbekli Tepe als ein singuläres Erbe der Menschheit. ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 23 STANDPUNKT MITGLIEDER des beratenden Baudenkmalausschusses des DAI in Yeha. Fotos: Gerlach, Orient-Abteilung des DAI Der beste Schutz eines Hauses sind ein intaktes Dach, funktionierende Fenster und Türen, außerdem die Pflege des Putzes, des Anstrichs und des Raumklimas. Fehlt dies alles, wird ein Haus schnell zur unbewohnbaren Ruine. Wasser dringt durch das Dach ins Gemäuer, Holzböden verfaulen, Eisen verrostet, Schimmel durchzieht das Gemäuer. Am Ende setzt sich der Zerfallsprozess immer weiter und immer schneller fort. ARCHÄOLOGIE UND KULTURERHALT Mit diesem Beispiel ist zugleich ein Kernproblem archäologischer Denkmalpflege angesprochen. Gebäude der frühen Hochkulturen werden fast immer ohne Dach, ohne Schutz der Mauerkronen, Decken, Böden und ohne schützenden Putz an den Mauern ausgegraben. Dann liegen sie dort – ungeschützt. Und anders als eine moderne Hausruine werden diese Gebäude intensiv genutzt. Tausende von Touristen nutzen die Ruinen im wahrsten Sinne des Wortes ab. Im türkischen Ephesos sind dies jährlich um die 1,5 Millionen Menschen, die auf antiken Straßen und Fußböden laufen, und am liebsten würden sie auf den Mauerkronen spazieren. Länder mit hohen Touristenzahlen wie Ägypten, Griechenland und die Türkei müssen also Wege finden, wie sie die Ruinen vor Witterungseinflüssen schützen. Sie müssen sie aber auch für Touristen verstehbar machen und diese gleichzeitig von den Ruinen fernhalten – zum Schutz der Touristen und der Ruinen. Die für Denkmäler zuständigen Behörden der einzelnen Länder, in deren Verantwortung diese Aufgaben liegen und liegen müssen, 24 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT DER GROSSE TEMPEL VON YEHA in Äthiopien, im abessinischen Hochland von Tigray, ist zwar gut erhalten, aber er ist in seinem Bestand gefährdet. Das DAI untersucht in einer Kooperation mit der äthiopischen Altertümerverwaltung und der Tourismusbehörde die einzigartige Kultur, die sowohl afrikanische wie auch südarabische Züge trägt. Kulturlandschaften zerstört werden, meist bevor sie erforscht sind. In extremer Form gilt dies für viele Abschnitte der Küstenregionen des Mittelmeeres. Die Autorin, Prof. Dr. Friederike Fless, ist Präsidentin des Deutschen Archäologischen Instituts Foto: Lejeune stehen somit vor einer komplexen Herausforderung. Diese wird dadurch erhöht, das durch den Bau von Infrastrukturen für die Touristen, wie Straßen und Hotels, ganze Welche Rolle und Verpflichtung kommen dabei aber der Archäologie als Wissenschaft zu? Seit mehr als 20 Jahren sind hier durch die Abkommen von La Valetta/Malta grundsätzliche Standards formuliert. Bereits bei der Planung der Grabung gilt es, sich Gedanken über den Umgang mit dem Grabungsresultat, das heißt dem ausgegrabenen Denkmal zu machen. Auch wenn der beste Schutz des Denkmals oftmals das Zuschütten einer Grabung ist, ist dennoch der Wunsch nach touristischer Erschließung zu berücksichtigen. Dies gilt auch für Grabungen des Deutschen Archäologischen Instituts weltweit. Lösungen können hier nur in einer engen Zusammenarbeit zwischen den Denkmal- behörden in den Ländern und den forschenden Archäologen gefunden werden. Dabei kommt der wissenschaftlichen Archäologie eine wichtige Rolle zu. Es beginnt damit, die Gastländer unserer Forschung dabei zu unterstützen, ihre Kulturlandschaften zu dokumentieren, da erst das Wissen über die Lage von archäologischen Stätten es erlaubt, sie zu schützen. Das DAI arbeitet in vielen Ländern mit den Denkmalbehörden zusammen, alte Archivalien und moderne Satellitenbilder nach ihren Geokoordinaten in digitalen Systemen (GIS) zusammenzuführen und damit zu dokumentieren. Für die einzelnen Plätze sind die Ausgräber in der Pflicht, Konzepte zum Schutz und zur Präsentation zu erarbeiten. Denn erst die Erforschung eines Ortes oder einer Ruine führt zu dem Wissen, den Platz allgemein verständlich zu erklären und touristisch zu erschließen. Die Pflichten des DAI leiten sich auf dieser Ebene also unmittelbar aus seiner wissen- schaftlichen Tätigkeit ab. Die Umsetzung hingegen muss in Kooperation mit und weitgehend finanziert durch die Denkmalämter der jeweiligen Länder erfolgen. In den Denkmalämtern muss die Kompetenz für entsprechende Maßnahmen liegen und auch weiter ausgebaut werden. Zentraler Ansatz muss dabei sein, dass Teile der touristischen Einnahmen in den Erhalt der Attraktionen zurückfließen müssen. Aber auch das Modell des Verursacherprinzips, wie es in Deutschland praktiziert wird, könnte hier helfen. Denn wer eine Pipeline oder ein Hotel baut, sollte die vorhergehende archäologische Arbeit auch finanzieren. Um seine Kompetenzen in diesem Bereich zu stärken, hat das Deutsche Archäologische Institut verschiedene Maßnahmen getroffen. Es baut die lange und wichtige Zusammenarbeit im Bereich des Kulturerhalts mit dem Auswärtigen Amt aus. Es hat den Austausch zu Grundsatzthemen des Denkmalschutzes intensiviert, wovon eine Tagung in Ankara im letzten November ebenso Zeugnis ablegt wie ein Round Table Gespräch mit Bauforschern und Spezialisten im Bereich Site Management und Denkmalpflege für den Mittelmeerraum. Es hat aber vor allem einen beratenden Baudenkmalausschuss eingerichtet und mit dem neuen Arbeitsbereich von Friedrich Lüth für Kulturgüterschutz und Site Management auf die bestehenden Herausforderungen reagiert (s. S. 61). So hoffen wir, unseren satzungsgemäßen Auftrag mit der Perspektive ein Kompetenznetzwerk für Herausforderungen im Bereich des Kulturerhalts aufzubauen, zu erfüllen. Durch die Forschung trägt das DAI europa- und weltweit zum Erhalt des kulturellen Erbes und zur Pflege der kulturellen Identität in seinen Gast- und Partnerländern bei. ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 25 LANDSCHAFTEN Nah am Pol der Unzugänglichkeit gedeihen Chinas süßeste Trauben, getrocknet zu den edelsten Rosinen Asiens. Der Weg dorthin führt durch eine Landschaft wie geschaffen von übellaunigen Demiurgen, die nach halb getaner Arbeit hoch oben Ausguck nahmen auf dem Altai oder im Tian Shan-Gebirge, um sich feixend zu vergnügen: „Mal sehen, wie weit sie kommen.“ Die nicht enden wollende Eintönigkeit kann das Gemüt verdunkeln, die Vorstellungskraft muss das Äußerste leisten, um ein Ende der grauen Geröllwüste ins Bild zu rücken. Selbst das strahlende Blau des Himmels ist eintönig, die Luft so trocken wie Papier. Sie kamen weit, und sie kamen von weither. Tatsächlich war jeder einmal irgendwann in der Gegend, sogar die Türken vor langer Zeit. Aus dem Norden kamen die Hunnen, aus dem Osten die Han-Chinesen, um Kontrolle zu gewinnen über die heute unwirtliche Gegend. Aus chinesischer Sicht war immer wichtig, wer den Westen regierte. Für sie war er das Tor zu den anderen Welten, für die aus dem Westen war es der Weg nach China und zu seinen Schätzen. Aus Baktrien und Indien kamen sie, um Handel zu treiben, und das römische Begehren nach chinesischen Seidenstoffen belebte schon vor 2000 Jahren den transkontinentalen Warenaustausch. TOR ZU ANDEREN WELTEN INTERKONTINENTALTRANSFER Durch endlose Schotterwüsten im Westen Chinas führte der Weg zu den reichen Handelsstationen an der Seidenstraße. Foto: DAI Peking Deutsche und chinesische Archäologen erforschen unbekannte Gesellschaften an der Seidenstraße 26 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 27 LANDSCHAFTEN HÖHLENSTADT I RUINENSTADT Jiaohe bei Turfan II-III HANDELSSTATION AM RANDE DER WÜSTE Am Südrand der Taklamakan liegt Khotan, einst auch eine wichtige Station auf der Seidenstraße. Fotos: DAI Peking INNOVATION Die Konstruktion einer Prothese. Der flache obere Teil diente der Fixierung und ging auf Höhe des Knies direkt in die Stelze über. Ihr Ende steckte in einem Ziegen- oder Schafshorn, damit es WOHLTAT In der Oase Turfan spendeten die Weinranken Schatten und die Trauben fielen aus dem Himmel. Foto: DAI Peking sich nicht so schnell abnutzte. Ein darüber gezogener Huf eines Pferdes oder eines Esels schützte vor dem Einsinken in weichen Boden. Tiefe Kerben an den Durchzügen der Lederbänder und Abrieb an der Kontaktfläche mit dem Knie und Oberschenkel zeugen von langem Gebrauch. I II Polyglotte Händler wie die Sogder, die aus dem Gebiet des heutigen Usbekistan stammten und von der Krim bis nach Korea aktiv waren, wurden reich und waren zugleich Träger eines lebhaften kulturellen Austauschs. Ziel und Etappe vieler Karawanen auf dem Handelsweg, der seit dem 19. Jahrhundert „Seidenstraße“ genannt wird, war eine grüne und blühende Oase, in der die Weinranken Schatten spendeten und die Trauben aus dem Himmel fielen: Turfan. III „Die Vor- und Frühgeschichte des Landes ist nicht nur mit den benachbarten Regionen verbunden“ sagt Mayke Wagner. „Es gibt alte Verbindungen aus dieser Region über Zentral- und Westasien bis nach Europa.“ Die verbindenden Elemente klingen aktuell: Handel und Technologietransfer. Mayke Wagner, Sinologin und Archäologin, leitet die Außenstelle des Deutschen Archäologischen Instituts in Peking. Von dort aus reist sie zusammen mit ihren Kollegen von der Chinesischen Akademie für Kulturerbe in das Uigurische Autonome Gebiet Xinjiang im äußersten Westen Chinas, das mit 1,6 Millionen Quadratkilometern ungefähr so groß ist wie Deutschland, Frankreich und Spanien zusammen. Die Oase Turfan liegt in einer der tiefsten Senken der Erde, in nächster Nachbarschaft ihrer höchsten Gebirge – Kontraste, von denen die Landschaft geprägt ist, aber nicht so kleinteilig, wie man es aus Europa kennt. Die Wechsel in der Topographie lassen sich Zeit, sind dann aber umso gewaltiger. 255.000 Menschen leben heute in der Stadt, die meisten von ihnen sind Uiguren. „Wie alt die Oase ist, wissen wir nicht genau“, sagt die Archäologin. „Es gibt keine Selbstzeugnisse zur Entstehung, aber in den ältesten Berichten, die wir kennen, ist schon von einer ‚alten Stadt’ die Rede.“ Die stammen aus dem 2. vorchristlichen Jahrhundert. Archäologische Funde bezeugen, dass die Turfan-Senke schon vor gut 3000 Jahren von Bauern besiedelt war. Was auf den ersten Blick ein weit entlegenes Forschungsgebiet für deutsche Archäologen zu sein scheint, liegt näher als man denkt: Das Klima ist äußerst trocken, und wenn einmal Regen fällt, hinterlässt er kaum eine Spur auf der Straße, auch die Kleidung ist GUTES KLIMA FÜR ARCHÄOLOGISCHES ARBEITEN 28 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT I II sofort wieder getrocknet. Das Wasser verdampft in Sekundenschnelle in einer Luft, die keinerlei Sättigung mit Feuchtigkeit hat. Der Niederschlag beträgt etwa 16 Millimeter im Jahr. Gutes Klima für die weltberühmten Turfanrosinen und die Bewahrung von Menschenwerk. An den Handelsstationen der Seidenstraße blieb vieles erhalten, was andernorts vergeht. Mayke Wagner erinnert sich noch genau an den Moment, als sie von einem spektakulären Fund erfuhr, den die chinesischen Kollegen im Jahr 2007 gemacht hatten. Die Sensation war ein athletisch gebauter Mann in den „besten Jahren“, körperlich aktiv bis zu seinem Tod, obwohl er eigentlich ein Invalide war. Sein Alter: 2.300 Jahre, und er war äußerst gut erhalten. Sein linkes Bein war so nach hinten und innen verdreht, dass er es nicht mehr gebrauchen konnte, was eigentlich das Ende seiner Existenz bedeutete. Stock oder Krücke hätten ihm helfen können, aber gleichzeitig seine Hände beschäftigt, die er zum Arbeiten brauchte. Also konstruierte er ein Stelzbein aus Holz, das er mit Lederriemen an seinem Oberschenkel befestigte – die älteste funktionale Beinprothese der Welt! Der Mann gehörte zu einer Gesellschaft von Bauern und Hirten, die das Turfan-Becken und die östlichen Ausläufer Foto: DAI Peking III IIII PRIMÄRTECHNOLOGIE Die Grundlagenforschung bietet das Fundament für die wissenschaftlich korrekte Rekonstruktionen vollständiger Ausstattungen. Die Methoden zahlreicher geistes-, natur- und technikwissenschaftlicher Disziplinen werden für die Rekonstruktion von Wissen und für die Erforschung der Verfügbarkeit von Ressourcen sowie die Struktur der Handelsnetze in Ostzentralasien in der Zeit von ca. 1000 v. Chr. bis 300 n. Chr. genutzt. Zum ersten Mal werden diese Gesellschaften anhand ihrer Kleidung charakterisiert. Fotos: DAI Peking BRIDGING EURASIA Abgesehen von Terrakottakriegern und Konfuzius weiß man außerhalb Chinas eher wenig vom chinesischen Altertum. Das liegt vor allem daran, dass die meisten Berichte über archäologische Neuentdeckungen oder Ausstellungen vorwiegend auf Chinesisch veröffentlicht werden. Das vor kurzem geöffnete Webportal „Bridging Eurasia“, ein gemeinsames Vorhaben der Außenstelle Peking des DAI und der Chinesischen Akademie für Kulturerbe, ist angetreten, das zu ändern. Ausgewählte Themen zu Archäologie, Fundkonservierung und Regionalgeschichte in China werden für Wissenschaftler und Laien außer auf Chinesisch auch auf Deutsch und Englisch zur Verfügung gestellt. Damit ist Bridging Eurasia weltweit die einzige Plattform, die aktuelle Informationen zu Archäologie und Denkmalschutz in allen drei Sprachen bietet. www.bridging-eurasia.org ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 29 LANDSCHAFTEN An den Handelsstationen der Seidenstraße blieb vieles erhalten, was andernorts vergeht. GEBILDETE INGENIEURE Man sieht die Spuren des alten Bewässerungssystems überall. Doch auch dessen Anfänge liegen im Dunkeln wie das Alter der Stadt – niemand weiß genau, wie alt diese Meisterleistungen der Ingenieurskunst sind. Das Bewässerungssystem von Turfan ist ein unterirdisches Brunnensystem mit waagerecht in den Berg gegrabenen Schächten bzw. horizontalen Brunnen. Dadurch kann man das tiefe Die Sinologin und Archäologin Prof. Dr. Mayke Wagner ist Leiterin der Außenstelle Peking des DAI. Seit 2000 ist sie Wissenschaftliche Direktorin der EurasienAbteilung des DAI und seit April 2010 Honorarprofessorin im Fach Ostasiatische Kunstgeschichte an der Freien Universität Berlin. Grundwasser, das aus dem geschmolzenen Schnee des Tian Shan-Gebirges stammt, ableiten und in unterirdischen Kanälen, geschützt vor Verdunstung, in die Oase leiten. Rund 1000 Karez gibt es im Turfan-Becken. Ein Brunnen kann bis zu 70 Meter tief und ein unterirdischer Kanal rund 10 Kilometer lang sein. Insgesamt sind die Kanäle von Turfan vielleicht mehrere tausend Kilometer lang, niemand hat sie bislang ausgemessen. Als die antiken Ingenieure das Bewässerungssystem bis in ein viel älteres Gräberfeld erweiterten, fällten sie eine durchaus informierte und durchdachte Entscheidung. Sie kannten die geologischen Gegebenheiten des Untergrunds – das Gräberfeld liegt auf einem Schwemmfächer –, wussten, welche Wege das Wasser nahm und dass es weit unter den Gräbern durchfließt. Sie hatten ein Problem zu lösen, und das taten sie. Und sie können womöglich dazu beitragen, Probleme der heutigen Zeit zu lösen. Denn die moderne Methode der Pumpbewässerung führte zur Versalzung und Verkarstung des Bodens. So reaktiviert man die alten Systeme, weil man erkennt, dass es ein der Landschaft und ihren natürlichen Gegebenheiten hoch angepasstes effizientes Bewässerungssystem ist. Mayke Wagner HÖHLENSTADT Tuyugou-Tal bei Turfan mit den ältesten buddhistischen Grotten in Ost-Xinjiang, vermutlich 4.-5. Jh. Bei den Freilegungen werden seit 2010 Wandbilder, Skulpturen und Textfragmente in vielen Sprachen entdeckt. Foto: DAI Peking des Tian Shan zu der Zeit besiedelten, als Alexander der Große nach Osten und das chinesische Kaiserreich Han zum ersten Mal nach Westen vorstießen und auf zentralasiatische Gemeinschaften trafen, von denen sehr wenig bekannt ist, weil sie ihre Geschichte nicht aufschrieben. GEBILDETE INGENIEURE Überall sind die Spuren des alten Bewässerungssystems zu sehen. Doch niemand weiß genau, wie alt diese Meisterleistungen der Ingenieurskunst sind. Foto: DAI Peking 30 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Nun tun sich Archäologie, Medizin und Geographie zusammen, um die Lebensweise der antiken Bevölkerung im großen Kontext nachzuvollziehen, erforschen so die genaue Funktionsweise der Prothese und versuchen, mögliche Rückschlüsse auf das technische Wissen der Menschen zu ziehen. Die Paläopathologin Julia Gresky fand heraus, dass das Leiden, welche die äußerst schmerzhafte Deformation des Beines verursachte, die Tuberkulose war, die in Zentral- und Ostasien im ersten Jahrtausend v. Chr. an verschiedenen Orten auftrat und von Rindern übertragen wird, die aber in der Region nicht heimisch waren. „Es musste also Handelsbeziehungen und Wanderungsbewegungen gegeben haben“, sagt Mayke Wagner. „Reiche Getreidefunde in den Gräbern lassen uns darauf schließen, dass die Gesellschaft, zu der der Mann mit dem Holzbein gehörte, zumindest teilweise sesshaft gelebt hat“, korrigiert die Archäologin die bislang gehegte Vermutung. Das Holzbein ist natürlich eine spektakuläre Ausnahme. Ein anderer Ausdruck technischen Wissens ist uns so nah, dass wir ihre geradezu bestrickende Genialität völlig übersehen. Der Invalide, seine Angehörigen und Nachbarn wie auch durchreisende Händler trugen Hosen, Röcke und Kaftane, Stiefel, Ledermäntel, Beispiele für eine bahnbrechende Primärtechnologie: Kleidung. Schafe zu scheren, Fäden zu spinnen, zu einer Fläche zu weben und dieses zweidimensionale Tuch auf einen dreidimensionalen – menschlichen – Körper zu übertragen, brauchte Planung, mathematische Kenntnisse und ein hohes Abstraktionsvermögen, vergleichbar dem in der Architektur. Auch die Kleidung blieb in dem trockenen Klima gut erhalten, und so konnten an den Handelsstationen der Seidenstraße ganze Ausstattungen des ersten Jahrtausends v. Chr. häufig vollständig geborgen werden. Geschmückt von prächtigen Farben und reichen Dekoren sind sie Zeugnisse der Wirtschafts- und Siedlungsgeschichte der Region ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 31 LANDSCHAFTEN VERWECHSLUNGSGEFAHR Wenn man nicht genau hinsieht, kann man die Eingänge zu den Gräbern (li.) und zu den … und Ausdruck kultureller und sozialer Identität, denn eines konnte man damals wie heute auch noch häufig erkennen: woher jemand kam und welcher Schicht er angehörte. KLIMA UND HYDROTECHNIK Bei 16 Millimeter Jahresniederschlag und von Weinranken überschatteten Wegen fragt man sich irgendwann: Woher kommt das Wasser? Wenn man nicht so genau hinsieht, kann man für bronzezeitliche Grabhügel halten, was in Wirklichkeit der Eingang zu einem „Karez“ ist. Vor allem auf dem 54.000 Quadratmeter großen Gräberfeld von Yanghai, von dem viele der archäologischen Funde stammen, ist die Gefahr der Verwechslung groß, wenngleich die Karez-Eingänge im Unterschied zu den Grabhügeln wie an einer Schnur aufgereiht liegen. Zugang zu lebensnotwendigem Wasser auf dem Friedhof? Doch was so befremdlich klingt, ist weder ein Zufall noch ein Versehen. Das alte Bewässerungssystem ist mehr als intelligent. (s.o. S. 30) KOOPERATIONEN Chinas rasante ökonomische Entwicklung hat dazu geführt, dass Überreste vergangener Epochen in großer Zahl entdeckt und freigelegt werden. Der Bedarf an Archäologen steigt ständig, und die Zahl der archäologischen Institute, Ausbildungsstätten, Denkmalämter und Museen nimmt stetig zu. Der Erhalt des Kulturerbes be- … „Karez“, dem Bewässerungssystem (re.), leicht miteinander verwechseln. Fotos: DAI Peking sitzt hohe Priorität in China, und eine hoch entwickelte chinesische Archäologie nimmt sich seiner an. Deren Interesse – besonders der jüngeren Wissenschaftler mit Auslandserfahrung – an Kooperationen mit internationalen Institutionen wächst stetig. Für Restaurierung, Fundauswertung, Laboranalytik, Paläopathologie, Archäozoologie und Archäobotanik sowie für den Zugang zu internationalen Publikationen werden weltweit Kooperationspartner gesucht. In Ausnahmefällen öffnet China Archäologen aus dem Ausland seine Fundstätten, so dass sie an Originalen arbeiten können. sischen Forscher. Nach deren Schulterminen werden die Kampagnen ausgerichtet. Derlei Dinge sind aber eher selten Gesprächsthema der chinesischen und deutschen Archäologen, wenn sie abends zusammensitzen. Die Ausbildung der Kinder ist das Topthema für die chine- ROSINEN Überall in der Stadt stehen die Trockenhäuser, in denen die Weintrauben zu den berühmten Turfan-Rosinen reifen. Verkauft werden sie nach ganz Asien. Foto: DAI Peking 32 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Wenn dann eine Kampagne zu Ende geht, bittet der Chef der Tourismusbehörde von Turfan zum Abendessen. Man möge die Oase doch bitte freundlich erwähnen, wenn man wieder zu Hause sei. Aufwändig begrünte Hotels empfangen den Gast. Man serviert Reis mit gekochtem Lammfleisch und dicke Milch mit Eiswürfeln und Zucker. Oder einen ganzen Kürbis im Ofen oder Dämpfer gegart, gefüllt mit getrockneten Datteln, Feigen und Aprikosen, den man gemeinsam auslöffelt. Tourismus ist ein großes Thema, und man gibt sich große Mühe, den alten Handelsplatz zu einer modernen Oase des Wohlbefindens zu machen. Das Stadtzentrum glänzt, das neue große Museum ist ein Publikumsmagnet, und in der Vergnügungsmeile erfreuen Wasserspiele den Flaneur. Offene Schwimmbäder und ein Paddelteich, an dem sich die Jugend trifft, sollen auch die moderne technische Bemeisterung einer knappen Ressource zeigen. Die Archäologen müssen zurück nach Peking. Natürlich steht ihnen keine wochenlange eintönige Reise auf wankenden Reittieren bevor. Drei Stunden dauert die Autofahrt von Turfan nach Ürümqi, der Hauptstadt von Xinjiang, noch einmal vier bis fünf Stunden Flug oder demnächst Schnellzugverbindung nach Peking, weg vom Pol der Unzugänglichkeit. Vom Flughafen fährt man am besten mit der Airport Express-Bahn und der U-Bahn-Linie 10 Richtung German Centre im Landmark-Komplex. Hier hat die Außenstelle Peking des DAI ihr Büro. sw ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 33 DAS OBJEKT DICHTER, FLUSSGOTT UND SCHWARZES MEER Wie eine kleine Stadt Anspruch auf Homer erhebt Foto: Fotoarchiv des Instituts für Archäologische Wissenschaften, Abteilung II, Goethe-Universität Frankfurt/Main; Hintergrundbild: EpicStockMedia / Fotolia.com Flussgötter sind ein häufiges Motiv auf den Münzen antiker Städte. Die Menschen dieser Zeit wussten, was sie den Flüssen zu verdanken hatten: ihr Trinkwasser, das Wasser für die Bewässerung ihrer Felder und schließlich noch die fruchtbare Erde, die die Flüsse an ihren Mündungen aufschütteten. Größere Flüsse wurden als Verkehrswege genutzt; Holz, das in unwegsamen Bergwäldern geschlagen wurde, konnte über nahe Gebirgsflüsse an die Küste geflößt werden. Dargestellt wurden die Flüsse häufig in Gestalt reifer Männer in der Blüte ihrer Jahre. In der Regel halten diese menschengestaltigen Flussgötter einen Schilfstängel in ihrem Arm, oft auch ein Füllhorn, das die Fruchtbarkeit, die sie schaffen, zum Ausdruck bringt. Bisweilen gibt es aber Münzbilder von Flussgöttern, deren genaue Bedeutung sich erst durch wissenschaftliche Recherche erschließt. Das gilt auch für jene Münze, welche die an der kleinasiatischen Schwarzmeerküste gelegene Stadt Amastris, das heutige türkische Amasra, in der römischen Kaiserzeit prägte. 34 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Auf der Vorderseite der Münze ist der Kopf eines bärtigen Mannes dargestellt, den eine griechische Legende als Homer identifiziert. Auf der Rückseite dieser Münze ist ein Flussgott abgebildet, der lässig sitzt, Körper und Blick nach links gerichtet. Sein Oberkörper ist nackt, sein Unterleib mit einem Mantel bedeckt. Seinem linken Arm stützt er auf einer Amphora, aus der Wasser ausfließt; er hält einen Zweig, vielleicht einen Schilfstängel. Auf dem rechten Knie seines hochgestellten Beins ist ein antikes Saiteninstrument, eine Kithara, zu sehen. Unter dem Flussgott steht in griechischen Buchstaben „Meles“, darüber der Name der Bürgerschaft, welche die Münze geprägt hat: ‚[Münze] der Amastrianer’. Die Münze ist ein Reflex der Suche der antiken Menschen nach der Heimat Homers. Da sich nichts Sicheres über den Geburtsort des größten griechischen Dichters ausmachen ließ, erhoben sehr viele Städte, darunter Smyrna, Kyme, Chios, Ithaka, aber auch Athen und Rom, mit mehr oder weniger überzeugenden Argumenten den Anspruch, dass Homer bei ihnen geboren worden oder wenigstens auf einer seiner Reisen bei ihnen vorbeigekommen sei. Der Anspruch von Amastris geht darauf zurück, dass Homer ursprünglich Melesigenes, d.h. ‹der am Meles Geborene›, geheißen habe. Auf dem Territorium von Amastris gab es einen Fluss, der Meles hieß – und den identifizierten die Amastrianer mit dem Geburtsfluss Homers. Die Kithara auf seinem Knie ist somit ein Hinweis auf die Dichtkunst Homers. Ihre Lage am Rande der griechischen Welt hielt die Bürger von Amastris nicht davon ab, tatsächlich zu behaupten, Homer sei bei ihnen geboren worden. Der Spott, den die Hellenen aus dem Mutterland und aus dem hochkultivierten Ionien über die ungebildeten und dummen Griechen von der Schwarzmeerküste auszugießen pflegten, spornte diese geradezu an, Homer, den Mittelpunkt aller griechischen Bildung, zu einem Landsmann zu machen. Insofern ist diese Münze Anspruch und Provokation zugleich. Der Autor, der Althistoriker und Numismatiker Prof. Dr. Johannes Nollé, ist Wissenschaftlicher Referent an der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des DAI in München ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 35 TITELTHEMA W enn man in einem der wasserreichsten Länder der Erde lebt, kann einem das Nachdenken über das Element schwerfallen. Es ist zu leicht, an die Ressource zu gelangen, ohne die gar nichts geht. Trockene „Jahrhundertsommer“, die zu Knappheiten führen können, kommen in Deutschland kaum in einem Menschenleben einmal vor. Doch in vielen Regionen der Erde ist Wasser eine sehr knappe Ressource. Steigende Nachfrage, Fragen des Zugangs, der Verteilung und der Dienstleistungen rund um das Wasser, grenzüberschreitendes Wassermanagement, die Finanzierung von Wasser, nationale und internationale rechtliche Rahmenbedingungen sind Fragen, die im wahrsten Sinne des Wortes die gesamte Menschheit betreffen und immer drängender werden. Daher erklärte die Generalversammlung der Vereinten Nationen das Jahr 2013 zum Internationalen Jahr der Wasserkooperation. ARCHÄOLOGIE DES WASSERS Die technischen, kulturellen und sozialen 36 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Wirkungen eines Elements ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 37 TITELTHEMA BRUNNEN I Bahnbrechende Innovation und Erfolgsgeschichte. In den Fels abgeteufter Brunnen des II Brunnen in Oulban Beni Murra, einem präkeramischen Neolithikums. Mylouthkia, Zypern. Foto: Peltenburg hyperariden Siedlungsgebiet im östlichen Jordanien, angelegt von prähistorischen Foto S. 36/37: Siegel Hirtennomaden. III Profilschnitt durch den frühneolithischen Brunnen von Mohelnice. Umzeichnung einer Fotografie von Rudolf Tichy nach Windl 1998 Foto: Gebel I Blick vom Turm Maysar-25 im Sultanat Oman auf den nahe gelegenen Damm. Foto: DAI Orient-Abteilung, Häser II Wasser als Schmuck- und Währungslieferant – Tausende von Perlen aus Molluskenschalen. Depotfund aus Tall Hujayrat al-Ghuzlan. Foto: DAI Orient-Abteilung, Becker I II Wasser ist in allen Phasen der Menschheitsgeschichte ein wichtiger Faktor, seine technische Erschließung beginnt mit den frühesten Anfängen der Entstehung komplexer Siedlungs- und Gesellschaftsformen. Ein streng organisiertes Wassermanagement war Grundlage der großen Flusskulturen an Nil, Euphrat oder Yangtse, und das Wasser als Gesellschaftsmacher brachte das Wort von den „hydraulischen Gesellschaften“ hervor. In den ariden Gebieten der arabischen Halbinsel ermöglichte die Nutzung der Brunnentechnologie, eingeführt vor rund 6000 Jahren aus der Levante, die Entstehung einer ganz neuen Lebensform, der Oasenkultur. Technische, soziale und kulturelle Innovationen mussten ineinandergreifen, um je wirksam werden zu können. WASSER UND INNOVATION Es gehört zu den Selbstzuschreibungen der Moderne, etwas wie Innovationen in die eigene Zeit zu legen. Dagegen sei die Antike 38 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT GROSSER DAMM VON MARIB Wasser spielte bei der Entwicklung gesellschaftlicher Strukturen zu allen Zeiten eine bedeutende Rolle. Foto: DAI Orient-Abteilung, Gerlach abgeschlossen und ohnehin immer statisch gewesen, ist eine gängige Vermutung. Eine Innovation ist eine Erfindung, die den Markteintritt geschafft hat, erklären moderne Ökonomen. Oder sie ist etwas, was so selbstverständlich ist, dass wir es gar nicht mehr wahrnehmen. Die Grundlagen der Nutzung von Wasser in einem durchschnittlichen mitteleuropäischen Land ist so eine Art Innovation. Wer fragt sich noch, wie es möglich ist, dass Wasser auch noch in den obersten Etagen von Hochhäusern aus dem Hahn läuft? Wer will noch wissen, woher es eigentlich kommt, wie es gesammelt oder gefunden wurde? Ist das alles Regenwasser, oder kommt es aus Grundwasserbrunnen? Und wenn ja, wie baut man die? Und woher weiß man überhaupt, wo Wasser sein könnte, wenn es nicht an die Oberfläche tritt? Und was soll man tun, wenn plötzlich viel zu viel Wasser da ist und droht, alles mit sich zu reißen? Wer bestimmt schließlich, wo Brunnen oder Wasserleitungen gebaut werden, und wer verwaltet die? Wem gehört knappes Wasser, und wer darf es an wen verteilen oder verkaufen? Wasser aus nahegelegenen Flüssen oder Seen zu schöpfen, ist die einfachste Methode, sich damit zu versorgen. Wasser, das nur unter der Erde fließt, muss man erst finden, und soll es von A nach B transportiert werden, ist Technik vonnöten, seien es einfache Gräben, Leitungen oder ausgereifte Druckrohrleitungen – Kenntnisse ökologischer und hydrologischer Zusammenhänge sind unverzichtbar. Im 9. Jahrtausend v. Chr. wurde auf Zypern der erste Brunnen gebaut. Die Technologie ermöglichte eine fast explosionsartige Ausweitung von Dauersiedlungen, die nicht unmittelbar an Quellen und Flüssen lagen. Komplexer werdende Gesellschaften bauten Kanäle, Aquädukte, Staudämme oder Talsperren und komplexe Systeme zur Bewässerung von Feldern. Je mehr man anbauen konnte, umso größer und wohlhabender konnten wiederum die Gemeinschaften werden. Bei weiterer Ausdifferenzierung von Gesellschaften bildeten sich herrschende Klassen, die das schwer zu bändigende Element entweder zu Zwecken der Staatsraison oder für Prachtentfaltung und Machtdemonstration nutzten, indem sie verschwenderischen Luxus damit trieben. Und nicht wegzudenken ist Wasser aus tausendfach unterschiedlichen Kulten in allen Gegenden der Erde, die ihre jeweils höheren Wesen um Wohlstand, Fruchtbarkeit und langes Leben baten. In dieser fachübergreifenden Perspektive untersuchen zahlreiche Vorhaben des Deutschen Archäologischen Instituts antikes Wassermanagement im Rahmen seiner natürlichen Voraussetzungen und seiner menschlichen Anverwandlungen. Die Archäologie als historische Wissenschaft erforscht den kulturellen Rahmen antiker Gesellschaften, ihre kulturwissenschaftlichen Ansätze analysieren den Zuschnitt der unendlich vielen Formen menschlicher Gemeinschaften, und in der Zusammenarbeit mit zahlreichen Disziplinen der Naturwissenschaften rekonstruiert sie das sensible Gefüge, in dem Mensch und Umwelt aufeinander einwirken. ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 39 TITELTHEMA SÜDSCHLEUSE des Großen Damms von Marib Foto: DAI Orient-Abteilung, Gerlach WEIHRAUCH, WASSER, WIRTSCHAFT Ausgefeilte Hydrotechnik machte aus einst stillen Oasen einflussreiche Territorialmächte Moderne Gartenbewässerung in der Oase von Tayma. Foto: DAI Orient-Abteilung, Hausleiter Marib und Tayma Das Klima ist sehr trocken, und der Anblick der Oase evoziert ein Klischee: der Brunnen im Stadtzentrum und Gärten voller Palmen. Der Beiklang des Wortes „Oase“ produziert leicht die falsche Vorstellung eines verschlafenen Nests, in dem man allenfalls ein dösendes Kamel trifft. Die Bilder sind schön, romantisch sind die Geschichten eher nicht. Vielmehr sind es Geschichten über Erfindergeist und technische Innovationen, über effiziente gesellschaftliche Organisation und internationale Handelsbeziehungen, über Geschäfte und knallharte Konkurrenz, denn eine Oase brauchte Kundschaft. Die Karawanen zogen durch die Wüste mit Hunderten von Tieren, die alle paar Tage getränkt werden mussten. Das kostete Geld. Zog eine Karawane woanders hin, konnte die Oase in Zahlungsschwierigkeiten geraten. Nichts könnte also falscher sein, als sich die Oasen der Arabischen Halbinsel in der Antike als verschlafene Nester vorzustellen. Vielmehr wurden sie bei anhaltendem Erfolg zu Territorialmächten, die die geopolitischen Koordinaten der Region neu zogen. Im frühen 4. Jahrtausend v. Chr. breitet sich die Oasenkultur vom Süden Jordaniens weiter nach Süden und 40 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Südosten aus: auf die Arabische Halbinsel in die ariden Gebiete südlich des Fruchtbaren Halbmonds. Tayma in Nord-WestSaudi-Arabien und Marib im Jemen sind Beispiele für prosperierende Oasen, die einst wichtige Stationen an der Weihrauchstraße waren. Die Hirten, die im 4. und 3. Jahrtausend in die Oasen kommen, finden Feld- und Gartenbau vor und Brunnen für Trinkwasser und Feldbewässerung. Ab dem 2. Jahrtausend werden Tayma und Marib zu politisch und wirtschaftlich zentralen Orten und Drehscheiben des Verkehrs und Handels, beide waren in überregionale politische Entwicklungen einbezogen und wurden von den damaligen „Supermächten“ Ägypten, Assyrien und Babylonien oder Griechenland und Rom wahrgenommen. Die dauerhafte, ganzjährige Besiedlung, die Voraussetzung dieser Entwicklungen war, wurde möglich durch Beherrschung der grundlegenden Wasserbautechniken. Die Archäologen des DAI arbeiten seit mehreren Jahren gemeinsam mit Geoarchäologen, Wasserbauingenieuren und Hydrologen daran, diese frühen Innovationen zu erforschen. BRUNNEN In den Fels gehauener Schacht eines Brunnens mit steinernem Aufbau im Zentrum SCHATTENSEITEN DES REICHTUMS Sedimentpakete im Stauraum des Großen Dammes von Marib führten vermutlich zu Beginn des 7. Jahrhunderts n. Chr. schließlich zum der Ruine von Tayma, vermutlich aus nabatäischer Zeit. Foto: DAI Orient-Abteilung, Kramer endgültigen Dammbruch. Foto: DAI, Orient-Abteilung, Hitgen ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 41 TITELTHEMA I DER GROSSE DAMM VON MARIB Blick vom südlichen Auslassbauwerk (Südbau) zu den Resten des Dammes und zum Nordbau. Foto: DAI Orient-Abteilung, Gerlach II SÜDBAU DES GROSSEN DAMMS VON MARIB Die heute sichtbare Bauphase des Großen Damms stammt aus dem 6. Jahrhundert n. Chr. Foto: DAI Orient-Abteilung, Gerlach I Marib – Wirtschaftszentum des Reichs von Saba Die Oase von Marib im heutigen Jemen war die Lebensader eines bedeutenden Karawanenreiches des 1. Jahrtausends v. Chr. Hier entstand eine Hochkultur, die weit ausstrahlte, reich vom Handel mit Duftstoffen: Saba. Grundlage ihres Wohlstandes war eine intensive Landwirtschaft, mit der nicht nur Bewohner, sondern auch Karawanen versorgt werden konnten. Die Archäologin Iris Gerlach erforscht den Ursprung und die Entwicklung des sabäischen Reiches mit seinem Zentrum Marib. Die Besonderheiten der Bewässerungskultur spielen dabei naturgemäß eine herausragende Rolle. Saba war die bedeutendste Oasenkultur am östlichen Rand des jemenitischen Hochlandes. Seit dem 8. Jahrhundert v. Chr hatte sie sich zu einem Territorialstaat entwickelt. Antike Quellen berichten vom sagenumwobenen Reichtum Sabas. Er manifestierte sich in reichen Tempeln und anderen Prachtbauten, deren Überreste noch heute zu sehen sind. Die Kontrolle über den Handel mit Weihrauch und Myrrhe und die Lage an der Weihrauchstraße waren Quelle des Reichtums – aber nicht seine Grundlage. Die erfolgreiche landwirtschaftliche Nutzung großer Feldflächen war die eigentliche Basis des Wohlstands. Zwei Mal im Jahr stürzte der Monsunregen über das Bergland des Jemen hinab. Die Niederschläge sammelten sich in den Wadis und ergossen sich als mächtige Sturzfluten in die Wüstenzonen des Landes – in Wucht und Masse vergleichbar dem Rheinfall von Schaffhausen. Solange sie nicht gebändigt waren, richteten sie eher Schaden an als dass sie Nutzen bringen konnten. Spuren von Bewässerungssystemen finden 42 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT sich bereits im 3. und 2. Jahrtausend v. Chr. – in einer Zeit, in der das Klima in der Region deutlich trockener wurde. Erddämme, Buhnen genannt, leiteten das Wasser aus der Mitte des Wadistroms auf die Felder und machten so den Feldbau in bescheidenem Umfang möglich. Um 1000 v. Chr. formiert sich die sabäische Kultur, eine neue Steinbearbeitung entwickelt sich, und auch die Bewässerungssysteme werden komplexer. Der „Bau A“ – wohl noch basierend auf der Buhnentechnik – ist ein Meisterwerk der Ingenieurskunst, bestehend aus Pfeilerkonstruktionen und Schwergwichtsmauern. Die Kalksteinquader sind so geschnitten, dass sie fugenlos zueinander passen, und sie sind so genau versetzt, dass sie dem Druck des Wassers standhalten. Sicher war der Reichtum der Oase nie. Zum einen konnte das lebensspendende Wasser bei zu hohen Fluten die Bewässerungsanlagen zerstören, und auch die fruchtbaren Sedimente, die zweimal im Jahr auf die Felder geschwemmt wurden, hatten auf Dauer ihre Schattenseiten. Das Bodenniveau in der Oase stieg kontinuierlich um ca. einen Zentimeter pro Jahr. Dadurch verringerte sich das Fließgefälle im Kanalsystem, das aber nötig war, um auch die Randbereiche der Oase mit Wasser zu versorgen. Damm und Auslässe mussten ständig erhöht werden – auch der Große Damm von Marib zeigt sich den Archäologen heute im Zustand einer späten Bauphase, die gegen Ende der altsüdarabischen Reiche anzusetzen ist. Bauinschriften aus dem 4. und 5. nachchristlichen Jahrhundert berichten von den Bauarbeiten. Ein größeres Problem waren politische und soziale Veränderungen in der Region. Die äthiopischen Eroberer des sabäischen Reiches mussten die Menschen zwangsverpflichten, die überlebensnotwendigen Instandhaltungsarbeiten am Bewässerungssystem durchzuführen. Ohne einen starken politischen Konsens wurden im Laufe der Zeit alle Systeme brüchig – zu Beginn des 7. Jahrhunderts brach der Große Damm. Das war das Ende der Oase Marib. II Dr. Iris Gerlach ist Leiterin der Außenstelle Sana‘a des DAI. Die Oase Marib wird seit 35 Jahren von Mitarbeitern der Außenstelle erforscht. SCHEMATISCHER PLAN mit den wichtigsten Funktionselementen des Großen Damms. DER GROSSE DAMM Im späten 8. Jahrhundert v. Chr. hatten die Sabäer ihre Fähigkeiten so weit entwickelt, dass sie das schwierigste Projekt ihrer Bewässerungssysteme in Angriff nahmen und im 6. Jahrhundert v. Chr. umsetzten. Der Große Damm von Marib ermöglichte eine Vollsperrung des gesamten Wadis, mit der man nahezu alles Wasser für die Bewässerung der Felder verwenden und damit gleichzeitig die Anbaufläche deutlich ausweiten konnte. Es ging hierbei nicht um Bevorratung wie bei modernen Talsperren. Vielmehr wurde gestaut, um den Wasserspiegel anzuheben, das Wasser zu beruhigen und in Kanäle einleiten zu können. So konnte man die Felder kontrolliert überfluten. Die Sabäer errichteten dazu einen 600 Meter langen, fast 100 Meter breiten und ungefähr 20 Meter hohen Erddamm mit Steinstückung. An den Seiten befanden sich Auslassbauwerke, die man direkt auf dem anstehenden Felsen errichtete, um die Unterspülung ihrer Fundamente zu verhindern. Die Schwellen dieser Durchlässe lagen weit über dem Niveau der Felder, aber noch deutlich niedriger als die Dammkrone. Erreichte das Wasser die Schwellen, strömte es in ein Tosbecken, in dem es sich so weit beruhigte und verlangsamte, dass es ins Kanalnetz eingespeist werden konnte. Über den Hauptkanal gelangte das Wasser zum Hauptverteiler, und von dort erreichte es bei einem nur minimalen Fließgefälle von ein bis zwei Promille das sich immer weiter verzweigende Kanalsystem und schließlich die etwa einen Hektar großen Felder. Eine einmalige Überflutung von etwa einem halben Meter garantierte die Ernte. 1000 Jahre lang konnten die Sabäer auf diese Weise die lebensfeindliche Region in eine fruchtbare Oase verwandeln. Fast 10000 Hektar Ackerland wurden bewirtschaftet. In dieser Zeit war Marib die größte künstlich geschaffene Oasenlandschaft Südarabiens. Iris Gerlach Nach Ueli Brunner, Jemen. Vom Weihrauch zum Erdöl (Wien/Köln/Weimar 1999) Abb. S. 46 ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 43 TITELTHEMA I DER BIR HADAJ gilt mit 18 Metern Durchmesser als einer der größten Brunnen der Arabischen Halbinsel. Er diente zur Bewässerung der Palmoase von Tayma. Das Wasser wurde mit Hilfe von Kamelen aus dem Brunnen geschöpft. Foto: DAI Orient-Abteilung, Hausleiter Prof. Dr. Ricardo Eichmann, Direktor der OrientAbteilung des DAI, leitet seit 2004 das deutschsaudi-arabische Ausgrabungsprojekt in Tayma. II III I KANALANLAGE eines Bewässerungssystems in Tayma. Kanalkreuzung mit vorgeschaltetem Absetzbecken (wahrscheinlich spätes 1. Jt. v. Chr.). Daneben III MITARBEITER DES Naturwissenschaftlichen Referats des DAI konnten zusammen mit Biologen der Freien Universität Berlin in einer Pollenanalyse sieht man eine antike Feldbegrenzung. die pflanzliche Besiedlungsgeschichte der Oase Tayma umreißen. Dabei stellte sich heraus, dass mindestens seit der zweiten Hälfte des 4. Jahr- II VERMESSUNGSARBEITEN IN TAYMA. Hausleiter Grabungsleiter in Tayma ist PD Dr. Arnulf Hausleiter Foto: DAI Orient-Abteilung, Weigel Foto: DAI Orinet-Abteilung, tausends v. Chr. in Tayma Wein angebaut wurde. Abteilung, Eichmann Foto: DAI Orient- DIE GESCHICHTE VON TAYMA Wenn auch die Besiedlung von Tayma im 3. Jahrtausend v. Chr. begann – der Name Tayma wird zum ersten Mal in einem Text aus dem Gebiet des Mittleren Euphrat erwähnt. Es war die Zeit der Tributpflicht Taymas an den assyrischen König Tiglatpileser III., der von 745 bis 726 v. Chr. regierte, und Assyrien zu einer Hegemonialmacht in der Region ausgebaut hatte. Der Text nennt Tayma in Zusammenhang mit einer Handelskarawane, und auch in späteren, zum Beispiel der biblischen Überlieferung ist von Tayma vor allen als von einem Handelsplatz die Rede. Wir wissen, dass Tayma auch in neubabylonischer und achämenidischer Zeit an die jeweiligen übergeordneten politischen Einheiten angebunden war, aber trotz neuer keilschriftlicher Textfunde in der Oase und den bereits bekannten Zeugnissen der Achämenidenzeit ist die genaue Art und Weise dieser Anbindung nur in groben Zügen bekannt. Zwischen den Oasen herrschte stets nicht nur ein reger Austausch, sondern auch ein harter Wettbewerb. Insbesondere während der letzten Jahrhunderte des 1. Jahrtausends v. Chr. war das Verhältnis zwischen Tayma und der Nachbaroase Dedan (heute Khuraybah) von Konkurrenz geprägt. Und schließlich bemächtigten sich die Könige der lihyanischen Dynastie von Dedan des politischen Raumes und der Heiligtümer von Tayma, indem sie Inschriften hinterlegten und in einem Tempel Statuen errichteten. Gleichzeitig ging die Siedlungsgröße der Oase zurück – ein Zeichen für die Machtverschiebung in der Region. Tayma gelangt unter nabatäischen, dann römisch-byzantinischen Einfluss. Später spielt Tayma als Ausgangspunkt für die Islamisierung der Levante eine bedeutende Rolle. Zuvor war hier eine bedeutende jüdische Gemeinde angesiedelt, und noch im 11. Jahrhundert ist Tayma bekannt als ein wohlhabender Ort mit einer großen Stadtmauer. Ricardo Eichmann Tayma, ein urbanes Zentrum in der Wüste Tayma ist eine der herausragendsten archäologischen Fundstätten Saudi-Arabiens und des Vorderen Orients. Von Sesshaften besiedelt seit dem 3. Jahrtausend v. Chr., kennt man den Ort aus der Bibel und aus keilschriftlicher Literatur vor allem als Handelsplatz. Aus einer einfachen Oasensiedlung war im Laufe der Zeit ein mächtiges Zentrum mit öffentlichen Bauwerken und ausgedehnten Wohngebieten geworden, das sich sogar im 2. Jahrtausend mit einer großen Stadtmauer eine Grenze gab. Bereits zu dieser Zeit gibt 44 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT es Kontakte mit Ägypten und der Levante. Später hatte hier der spätbabylonische König Nabonid (556-539 v. Chr.) für zehn Jahre seine Residenz – das zeigen Felsinschriften in der Umgebung der Oase. Im Frühholozän gab es direkt nördlich der späteren Siedlung einen großen See, der infolge von Klimaveränderungen ab dem 6. Jahrtausend v. Chr. austrocknete. Er dürfte der Auslöser dafür gewesen sein, dass Menschen in diese Gegend kamen. Ricardo Eichmann und Arnulf Hausleiter gehören zu den ersten ausländischen Archäologen, die in der Oase Tayma im heutigen SaudiArabien forschen konnten und dies in Kooperation mit der Saudi Commission for Tourism and Antiquities tun. Ein Glücksfall, denn Tayma ist ein herausragendes Beispiel für die Entstehung von Oasenkulturen und ihrer Entwicklung zu politisch einflussreichen Regionalmächten. bzw. einen Quellteich erschlossen wurde. Dieses Wasser gelangte durch ein feingliedriges System von Kanälen auf die Felder und ermöglichte so zum einen eine Landwirtschaft, die zahlreiche Menschen ernährte, zum anderen gewährleistete es die ausreichende Versorgung von Lasttieren der vorbeiziehenden großen Karawanenzüge. Die antike Oase Tayma gewann das Wasser, das sie brauchte, überwiegend aus dem Grundwasser, das durch Brunnen Die Archäologen untersuchen das ausgefeilte Bewässerungssystem von Tayma zusammen mit Experten der Hochschule Lü- beck in einer Kombination aus geoelektrischen und geomagnetischen Untersuchungen mit Ausgrabungen und Surveys. Wie die Brunnen funktionierten, lässt sich an jenen Anlagen veranschaulichen, die bis Mitte des 20. Jahrhunderts in der Oase in Gebrauch waren. Bei den größten Brunnen wurde das Wasser mit Kamelen über Umlenkräder aus der Tiefe an die Oberfläche befördert – bis schließlich Dieselpumpen diese Arbeit übernahmen. Der größte Brunnen von Tayma, der „Bir Haddaj“ hat einen Durchmesser von 18 Metern. Bis- lang fanden die Forscher in Tayma mehr als 80 Brunnen. Weshalb die Oase an Bedeutung einbüßte, wollen Archäologen und Wasserexperten vor dem Hintergrund des augenscheinlichen Wasserreichtums jetzt gemeinsam beantworten: Wieviel Wasser konnten die Brunnen liefern? Wie hoch war die Nachfließgeschwindigkeit? Reichte dies auf Dauer für die Karawanen, die zum Teil Hunderte Kamele mit sich führten? Oder gab es vielleicht Konflikte darüber, wer das Wasser an wen verkaufen durfte? ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 45 TITELTHEMA SCHNITT DURCH DIE DOMUS SEVERIANA SCHEMATISCHE REKONSTRUKTION Die Aussichtsräume öffneten sich zu einem großen Wasserbecken, das in flavischer Zeit (Ende 1. Jh. n. Chr.) auf einem zweigeschossigen Unterbau errichtet wurde. Abb.: Lehrstuhl für Baugeschichte, Lehrstuhl für Vermessungskunde der BTU Cottbus mit Ergänzungen von Ulrike Wulf-Rheidt, Architekturreferat des DAI Berlin DAS GROSSE WASSERBECKEN Virtuelles Rekonstruktionsmodell der Domus Severiana in flavischer Zeit (Ende 1. Jh. n. Chr.). Mit dem Wasserbecken im Blick erhielten die Räume, in denen die luxuriösen Gelage gefeiert wurden, den Charakter einer Villenanlage. Abb.: LengyelToulouse Architekten auf Grundlage eines 3D-Modells von Armin Müller, Architekturreferat des DAI Berlin „WASSERPFLANZEN“ Im sogenannten Versenkten Peristyl befand sich ein großes Wasserbecken mit einer Insel, die im 2. Jh. n. Chr. in Form eines Peltaschildes gestaltet wurde. Die Bepflanzung mit blauen Blumen soll eine Ahnung vom früheren Wasserluxus im Kaiserpalast geben. Foto: Architekturreferat des DAI Berlin, Pflug ALLES FLIESST Wasserluxus in der Antike Rom und Córdoba Manchmal scheinen Dinge so zu sein, wie man sie in schlechten Filmen sieht. Römische Kaiser verprassen Vermögen für sich und ihren Hofstaat in dekadentem Luxus, der keine Übertreibung scheute. Kalifen nahmen ihre Pflicht zu repräsentieren sehr genau und feierten rauschende Feste, bei denen der Wein in Strömen floss. Sie und ihresgleichen, ob Herrscher oder einfach nur reich, geboten über Mittel, die 46 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Wasser für den Kaiser ihnen die Beherrschung eines immer eigenwilligen und selbst mächtigen Elements erlaubte. In Luxussucht und Herrscherwahn und um die wenigen Freunde und die vielen Feinde zu beeindrucken, wollten sie sich nicht mit dem Wasser arrangieren, sie wollten ihm gebieten. In Prachtentfaltung und Machtdemonstration spielt Wasser seit jeher eine herausragende Rolle. Der Palatin war der Herrschaftsbezirk von Rom, auf dem sich das Machtzentrum der antiken Welt befand. Das Imperium war die beherrschende Macht im Mittelmeerraum. Das Wort Palast kommt von Palatin, und genau so muss man sich die Bebauung vorstellen. Die Bauforscherin und Architektin Ulrike Wulf-Rheidt arbeitet seit 1998 in zahlreichen Projekten zum Palatin, in Kooperation mit der Soprintendenza Archeologica di Roma und häufig auch mit den Experten für Baugeschichte und Vermessungskunde des DAIKooperationspartners Brandenburgische Technische Universität in Cottbus (BTU). Wasserbau war zwar vor 2000 Jahren nichts Neues im Imperium, die Aquädukte waren eine bekannte Technologie, und über einen exklusiven Abzweig eines Aquädukts wurde auch der Kaiserpalast stetig mit großen Wassermengen versorgt. Mit dem Aquädukt wurde das Wasser an die höchste Stelle gebracht und dann nach unten verteilt. Dennoch war es eine enorme technische Herausforderung, das Wasser auf den Palatin hinaufzuschaffen und über Bleirohrleitungen in das kompliziert verzweigte System einzuspeisen, mit dem die vielen Teilbereiche der Palastanlage versorgt wurden – und es über Kanäle schließlich wieder abzuleiten. So ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 47 TITELTHEMA HERRSCHAFTSARCHITEKTUR Der römische Kaiserpalast auf dem Palatin gehört zu den antiken Bauwerken, die bis in unsere Zeit das Stadtbild von Rom nachhaltig prägen. Die Überreste bilden noch heute zusammen mit dem Circus Maximus eine eindrucksvolle Kulisse, die ein wenig von der Pracht der einst über 300 Meter langen Fassade des Kaiserpalastes erahnen lässt. Doch trotz ihrer Wirkmächtigkeit ist die Architekturgeschichte der imperialen Anlagen kaum erforscht. Mit Kaiser Augustus begann die Verwandlung des Palatin vom aristokratischen Wohnviertel zum weitläufigen Palastareal. Der Die Architektin und Bauforscherin Prof. Dr.-Ing. Ulrike Wulf-Rheidt leitet das Architekturreferat am Deutschen Archäologischen Institut. Name des Hügels wird nicht nur zum Synonym für die Residenz, sondern auch für Herrschaftsarchitektur schlechthin. Doch was ist Herrschaft ohne Beherrschte? Die Stadt Rom ist der Gegenpol zur Palastarchitektur, nur in der Gegenüberstellung und in Beziehung zueinander und im Kontext der traditionellen städtisch-aristokratisch geprägten Gesellschaftsverhältnisse und der überlieferten politischen Organisationsstrukturen ist zu verstehen, was ein Palast ist und wie er funktioniert – und wie der Palatin zu dem wurde, was er schließlich war. Wasser, das nicht für jeden frei und bequem zugänglich war, ist dabei nicht nur ein technisches Thema. Als Luxusgut spielte es bei der Inszenierung von Herrschaft und Herrscher eine bedeutende Rolle. Ulrike Wulf-Rheidt Das Paradies zu Füßen ausgefeilt war die Technologie, dass zahlreiche Wasserspiele von sanft plätschernd bis laut rauschend eingestellt werden konnten. Es gab Wassertreppen, Springbrunnen, große Wasserbecken und künstliche Seen, die in den heißen römischen Sommern der Kühlung dienten. Im „Versenkten Peristyl“ (ein von Säulen umgebener, eingetiefter Hof ) der Domus Augustana gab es sogar ein Becken, das tief genug zum Schwimmen war – in direkter Verbindung mit den Latrinen. Die Anlagen waren von Statuen gesäumt – regelrechte Wellness-Tempel – die man gemeinsam aufsuchte. Im Hof gab es ein großes Wasserbecken mit einer künstlich geschaffenen Insel, die über Brücken erreichbar war. Hier fanden die großen Gelage statt. In der Domus Severiana hatte man sogar auf einen 20 Meter hohen Unterbau ein weiteres, riesiges Wasserbecken gesetzt, das unmittelbar bis an die Räume heranreichte. Von diesen Räumen aus konnten die kaiserlichen Besucher den Blick über die Wasserfläche schweifen lassen und so – abgeschirmt von der lauten und hektischen Stadt Rom – die Illusion genießen, sich in einer der beliebten Seevillen zu befinden. Man kennt inzwischen die Palastanlagen des Palatin so gut, weil es den Bauforschern des DAI gelang, in einer Kombination mehrerer Messmethoden eine umfassende Bauaufnahme des Palatin duchzuführen und dessen Reste umfassend zu dokumentieren. Neben traditioneller Tachymetrie mit Reflektor setzten sie auch reflektorlose Tachymetrie, Photogrammetrie, Laserscanning, aber auch das bewährte Handaufmaß ein. Nach der computergestützten Aufbereitung stehen die Messdaten auch für dreidimensionale Modelle zur Verfügung, mit deren Hilfe sich Einsichten in die ehemalige Pracht der Kaiserpaläste gewinnen lassen, die die Ruinen kaum vermuten lassen würden. Tatsächlich war die Entwicklung der kaiserlichen Prachtentfaltung viel komplexer, als man bisher dachte – inklusive der vielfältigen, ausgeklügelten Wasseranlagen. 48 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Es war zwar nicht der Kalif selbst, dem die Villa gehörte, aber immerhin sein Finanzminister al Durri, genannt „der Kleine“, der, aus wohlhabender und einflussreicher Familie stammend, den Wunsch hatte zu repräsentieren. So steckte er ab 965 sein Vermögen in den Bau seiner „Munyat al-Rummaniya“, der „Villa des Granatapfelbaumtals“ in der Nähe von Córdoba. Lang konnte er sich ihrer aber nicht erfreuen, denn wegen der Veruntreuung von Staatsgeldern fiel er in Ungnade und konnte sich nur dadurch retten, dass er dem Kalifen die Villa zum Geschenk machte und ein großes Fest gab. WEITBLICK Ein leichter Luftzug durchwehte den nach beiden Seiten offenen Saal der Villa. Die Blickrichtung war so gewählt, dass man weder die Stadt noch den Sitz des Kalifen sah. Montage: Felix Arnold, DAI Madrid Córdoba war zu dieser Zeit eine mächtige Stadt, die sich großer Freiheit der Künste und des Handels erfreute, ein geistiges Zen- In Al-Rummaniya war ein großes Wasserbecken das Glanzstück des Hauses. KÜHLUNG FÜR MENSCH UND TIER Das große Becken hatte einen von Bögen getragenen Umgang, unter den sich Fische in großer Hitze zurückziehen konnten. Durch den Saal hindurch öffnete sich der Blick auf das Tal des Guadalquivir. Zeichnung: Felix Arnold, DAI Madrid ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 49 „In Al-Rummaniya hatte man mehr“, erklärt der Bauforscher Felix Arnold, der die Ausgrabung an der Villa leitet. Ein großes Wasserbecken von 50 Metern Länge, 30 Metern Breite und vier Metern Tiefe war das Glanzstück des Hauses – eines der größten in der islamischen Welt. Die Grube war mit Steinmauerwerk eingefasst, das anschließend verputzt und poliert wurde. Die Grundlagen der Bewässerungstechnik kannte man bereits aus römischer Zeit, und man machte auch kein Hehl daraus, es genau so anzufangen „wie die Römer“. Dennoch fand sich hier ein besonders ausgeklügeltes System, das die Archäologen beeindruckte. Unter dem Saal befanden sich die Abläufe des großen Beckens. Damit verbanden sich Vorstellungen vom Lebensbaum und vom Paradies – das lebensspendende Element, das quasi zu Füßen der Menschen entspringt. EIN LANDSITZ DER BESONDEREN ART. Rekonstruktion der Anlage al-Rummaniya bei Córdoba (965 n. Chr.). Auf drei Terrassen erstreckte sich eine Olivenplantage, auf der vierten ein luxuriöse Sommerresidenz. Zeichnung: DAI Madrid, Arnold Der Bauforscher Dr. Felix Arnold leitet die Ausgrabungen des DAI von al-Rummaniya. Seit 2011 gehört er der Abteilung Kairo des DAI an, zuvor war er Mitarbeiter der Abteilung Madrid. WASSERKUNST AM BAU Das Zusammenspiel diverser Techniken der Wassergewinnung, -speicherung und –verteilung zeigt das große Können der Planer. Wasser, das bei den winterlichen Starkregen über einen Bergbach lief, wurde auf geschickte Weise in das Becken eingeleitet. Eigens zu diesem Zweck wurde mit großer Wahrscheinlichkeit das Wasser am Oberlauf des Bachs mittels einer Mauer gestaut, von der wiederum eine Rinne abging. Die Quellen auf dem Gelände wurden in Stein gefasst, so dass man leichter daraus schöpfen konnte. Es gab sogar eine unterirdische Sickergalerie – ein horizontaler Brunnen, der das Grundwasser aus den nahegelegenen Bergen herführte. Eine Zisterne lieferte das Trinkwasser, und womöglich versorgte das große Wasserbecken die Pflanzen. Dieses Wasserbecken war zudem so etwas wie eine natürliche Klimaanlage für den großen Festsaal, der zwischen Becken und tiefer liegendem Garten platziert war und in dem dadurch immer ein leichter Luftzug wehte. Geschwommen wurde nicht im Becken, aber die Musiker spielten auf Booten für die Festgäste auf. Felix Arnold 50 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Für den täglichen Wasserbedarf reichte eine Bergquelle, die umund eingeleitet wurde. Die Quellen konnten aber nicht genügen, das paradiesische Gewässer zu speisen. Es war zum großen Teil Regenwasser aus Starkregenereignissen, die zwar selten eintraten, dann aber heftig. Wie genau das funktionierte, wissen die Archäologen und Bauforscher noch nicht. Im Frühsommer 2013 geht die Arbeit weiter, und eine der Fragen wird sein: Wie wurde der Garten bewässert? GRABUNG AN DER WASSERLEITUNG Die Archäologen legten Teile der Wasserleitung frei, die das große Wasserbecken in den Garten entwässerte. Unter einer mächtigen Zerstörungsschicht wurden Reste des islamischen Gartens entdeckt. Foto: DAI Madrid, Arnold DAS GROSSE WASSERBECKEN HEUTE Die Mauern waren sorgfältig aus Quadern gefügt und anschließend mit Kalk verputzt. Ein purpurroter Anstrich sollte römisches opus signinum vortäuschen, einen wasserdichten Estrich. Foto: DAI Madrid, Patterson ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 51 TITELTHEMA trum nicht nur der islamischen Welt. Die ganze Stadt war wie ein Schachbrett durchgeplant, die Straßen verliefen im rechten Winkel zueinander, Haus, Hof und Garten waren rechteckig und geordnet, und man hatte einen Brunnen im Haus. TITELTHEMA I II I PROTOTYPEN Die „Knickpyramide“ und die „Rote Pyramide“ sind pharaonische Pilotprojekte aus dem Alten Reich, als zur Zeit Snofrus, Vater des Cheops, 2600 v. Chr. das Konzept Pyramide mitsamt der umliegenden Infrastruktur erfunden wurde. In Dahschur wurden insgesamt 3,5 Millionen Kubikmeter Baumaterial transportiert und verbaut. Foto: Foto: DAI Kairo, Härtrich FRAKTALE UND KLIMARITUALE Naturwissenschaftliche Antworten auf archäologische Fragen II DIE SCHARRBILDER oder „Nasca-Linien“ erstrecken sich über eine Fläche von 500 km2 Foto: DAI KAAK Dahschur und Nasca Es war nicht „nur“ eine Pyramide, die man in den Wüstensand stellte. Das wäre schon gigantisch genug, tatsächlich war es noch sehr viel mehr. Es war Landschaftsarchitektur in ganz großem Stil, die Pharao Snofru betrieb. Da war nichts Natürliches mehr, selbst der Aufweg, der zur Pyramide führt – zur ersten der Pyramiden – ist aufgeschüttet, ist 52 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT gestaltete Landschaft, die natürliche Entwicklung des Landschafts reliefs mit seinen durch Wind und Regen entstandenen Erosionskanälen war unterbrochen worden. Doch mit normaler Geländemorphologie kann der menschliche Finger abdruck des Reliefs nicht entziffert werden. Hier helfen Fraktale ... Ähnlich gigantische Eingriffe in die Erdoberfläche, die so dimensioniert sind, dass man sie nur aus großer Höhe erkennen kann, dass sie – wie die Pyramiden – Anlass zu überund außerirdischen Spekulationen gaben, führen in die amerikanische Antike ins südliche Peru. Die riesigen Geoglyphen von Nasca können mit Hilfe elaborierter natur- wissenschaftlicher Methoden wie Magnetometerprospektion, Geoelektrischer Prospektion oder Photogrammetrie in ihrer wirklichen Entstehung und Funktion verstanden werden. Und sie hatten viel weniger mit dem luftigen Element als vielmehr mit Wasser zu tun, denn in der Kultur, in der sie entstanden, drehte sich alles um Wasser. ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 53 TITELTHEMA Fraktale Landschaften in Dahschur Die Pyramide allein macht keinen Forschungsgegenstand mehr in der modernen Archäologie. Man sieht sie als Teil eines Ganzen, als Werk von Menschen in einer bestimmten Umwelt, auf die der Mensch einwirkt und die umgekehrt immer auch ihren Tribut fordert. Archäologen des Deutschen Archäologischen Instituts unter der Leitung von Nicole Alexanian vom DAI Kairo arbeiten zusammen mit Geowissenschaftlern der Freien Universität Berlin an einer Landschaftsrekonstruktion des Grabungsplatzes Dahschur. Fluviale Erosion und menschliche Hand waren die Landschaftsarchitekten in Dahschur. Das Wasser suchte sich viele verzweigte 54 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Wege durch den Boden, die gigantische Baustelle Dahschur schuf Straßen und Transportwege, die wiederum die natürliche Erosion verstärken oder aber zusätzliche Materialien aufschütten konnte. Beide auseinanderzuhalten nach so langer Zeit und unter soviel Sand, ist nicht immer leicht. Die Geowissenschaftler hatten eine Idee. Die natürlichen fraktalen Muster der Erosionskanäle führen zu einer fraktalen Topographie, wenn fluviale Prozesse die Hauptfaktoren bei der Geländeformung sind. So kann auf der Grundlage eines digitalen Höhenmodells die fraktale Natur der natürlichen Erosionsrinnen ermittelt werden. EIN HAFEN FÜR DIE PYRAMIDE HAFENBECKEN MIT AUFWEG Zu Snofrus Zeit verlief der Nil etwa 500 Meter weiter östlich. Sehr wahrscheinlich kam man vom Wasser zum Hafen der Pyramide, der hier eine echte Funktion hatte, während Hafenanlagen an anderen Pyramiden oft nur symbolischer Art waren. Vom Hafen führte ein Aufweg zum Taltempel, ein weiterer von dort zur Pyramide. Da Hafenbecken und die umliegenden Bauten unter einer sieben Meter dicken Sandschicht liegen, untersuchten die Archäologen das Gelände zunächst magnetometrisch, um einen Ausgangspunkt für die Suche zu haben (oben). Foto: DAI Kairo ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 55 TITELTHEMA DIE KÖNIGLICHEN PYRAMIDEN VON DAHSCHUR Tief in der Wüste liegen die Pyramiden des Königs Snofru, die Rote Pyramide und die Knickpyramide. Ausgedehnte Friedhöfe hoher Beamter befinden sich in der Nähe, am Wüstenrand die Siedlungen und der Taltempel. Dahschur wurde von König Snofru in der 4. Dynastie (um 2600 v. Chr.) inauguriert und fungierte in seiner Regierungszeit als Residenznekropole. Durch das gesamte Die Archäologin Dr. Nicole Alexanian von der Abteilung Kairo des DAI leitet die Grabungen des Instituts in Dahschur. Alte Reich (über 400 Jahre bis 2.200 v. Chr.) hindurch führten Priester den Kult an seinen Pyramiden durch. Sie bewohnten die Pyramidenstädte am Fruchtlandrand und wurden in Dahschur begraben. Im Mittleren Reich (12. und 13. Dynastie, 1.900-1.700 v. Chr.) wurde Dahschur wieder ein königlicher Begräbnisplatz und auch der Kult am Tempel der Knickpyramide wurde wieder aufgenommen. Nicole Alexanian FRAKTALE LANDSCHAFTEN Im Vergleich erkennt man gut die fraktale Beschaffenheit der natürlichen Landschaft (u.r.) im Unterschied zu der von Menschen gemachten (u.l.). Die natürlichen Erosionsrinnen übertragen ihre fraktale Natur, die im digitalen Höhenmodell als selbstähnlicher Baum zu erkennen ist, auf die Oberfläche. Als Fraktal wird ein geometrisches Muster bezeichnet, das eine gebrochene Dimensionalität und zudem einen hohen Grad von Selbstähnlichkeit aufweist. Das ist beispielsweise der Fall, wenn ein Objekt aus mehreren verkleinerten Kopien seiner selbst besteht. Abb.: Arne Ramisch, Freie Universität Berlin, Geowissenschaften Klimarituale in Südperu Alles dreht sich um Wasser. Es ist wie „der große Geist“, der über allem schwebt. Wasser ist das zentrale Thema bei den weltberühmten Geoglyphen in Peru, die nach der unweit liegenden Stadt auch Nasca-Linien genannt werden. Bis zu 20 Kilometer lange schnurgerade Linien, Dreiecke und trapezförmige Flächen, große bis riesige Figuren, Abbilder von Menschen, Affen, Vögeln und Walen sind in wenige Zentimeter tiefen Linien in die Erde geritzt. Viel war schon geschrieben und geraunt über Ziel und Zweck der gigantischen Kunstwerke, die erstmals in der Zeit der ParacasKultur zwischen 800 und 200 v. Chr. errichtet wurden – viel früher, als man ursprüngllich angenommen hatte. Um aber ihrem Geheimnis wirklich auf die Spur zu kommen, musste man mit der Forschung noch einmal von vorn anfangen. NACHSTELLUNG EINER PROZESSION auf einer spiralförmigen Geoglyphe der Nasca-Zeit (200 v. Chr.-600 n. Chr.), so wie sie wohl einmal als Teil von Ritualen im Zusammenhang mit Wasser- und Fruchtbarkeitskulten stattgefunden haben könnte. Markus Reindel von der Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen (KAAK) des DAI leitet seit 1996 die Arbeiten in Südperu, die in das große Verbundprojekt „Anden-Transekt“ des DAI eingebunden sind. Anders als es bei früheren Untersuchungen der Fall war, hatten sich die Forscher auf die Suche nach den Siedlungen gemacht, die zu den Geoglyphen gehören mussten. Ohne kulturellen Kontext versteht man keine Technik und kann auch ihren Sinn nicht ermit- 56 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 57 TITELTHEMA I II III I Die Steinhaufen nach der Ausgrabung. Es handelt sich um die Reste von Plattformen, die zur Nasca-Zeit (200 v. Chr.-600 n. Chr.) für Rituale im Zusammenhang mit Wasser- und Fruchtbarkeitskulten genutzt wurden. II GEOGLYPHEN an einem Berghang bei Palpa, die aufgrund ihrer stilistischen Ähnlichkeit mit Motiven auf Geweben der Paracas-Kultur (800-200 v. Chr.) zugeordnet werden können. teln. Und ohne moderne Technik bei den Forschungsmethoden gehen Archäologen heute nicht mehr ins Feld. In Kooperation mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) wurden photogrammetrische Messungen durchgeführt, um schließlich einen virtuellen Überflug über die gigantischen Scharrbilder machen zu können. In der Folge gab eine Sensation die nächste. Reindel und seine Kollegen fanden Petroglyphen, die älter waren als die Geoglyphen und dieselben Motive schließlich auch auf Textilien, so dass sie einen weiteren Beleg dafür hatten, dass die Scharrbilder in der Paracas-Zeit entstanden waren. Darüber hinaus entdeckten sie Gebäude auf den Geoglyphen und in diesen Gebäuden Opferga- Der Archäologe Dr. Markus Reindel leitet die Forschungen in Südperu in Kooperation mit einem Team vom Geographischen Institut der Universität Heidelberg unter Leitung von Prof. Dr. Bernhard Eitel Detail einer der stark erodierten Plattformen. III Reste von Feldfrüchten (Mais), Textilien und Spondylusmuscheln sowie Werkstücken, die als Opfergaben auf den Steinplattformen niedergelegt wurden. Fotos und Abbildungen: DAI KAAK ben wie Feldfrüchte, Keramik, Textilien und vor allem Spondylusmuscheln, ein kostbares Handelsgut, das von weither kam und überall, wo es auftaucht, mit Wasser- und Fruchtbarkeitskulten verbunden ist. Heute weiß man, dass die Fruchtbarkeitsrituale durch periodische Klimaschwankungen veranlasst waren. Wasser ist seit jeher zentral für das gesamte kultische Geschehen in der Region wie auch für die Besiedlung und die Wanderungsbewegungen. Ändern sich Klima und Landschaft, werden die Siedlungen verlagert. Ist es auf der Höhe unwirtlich, zieht man an die Küste. Wird es dort zu trocken, verlagert man die Siedlungen wieder in die Berge. Bis auf 5000 Meter Höhe sind die Menschen gezogen und haben sich die natürlichen Bedingungen so gut es ging zunutze gemacht. Als es in den Bergen wieder trockener wurde, verstärkte man die Wasserrituale, ritzte mehr Linien und Figuren, erhandelte mehr Muscheln, doch es wurde immer trockener. Als die Menschen begriffen, dass ihre Mühe vergeblich war, gingen sie weg. ANDEN-TRANSEKT Die Forschungen zu den Geoglyphen und deren Erfassung sind eingebunden in das Verbundprojekt „Anden-Transekt“, in dem die vorspanischen Umwelt- und Kulturentwicklung mit Hilfe modernster naturwissenschaftlicher und archäologischer Methoden erforscht wird. Das Untersuchungsgebiet liegt an der Westseite der peruanischen Anden zwischen der Pazifikküste und dem Westrand des Altiplano. In einem vierdimensionalen Ansatz werden Wechselwirkungen zwischen Mensch und Umwelt im Verlauf der präkolumbischen Geschichte analysiert. Wie haben die autochthonen Gesellschaften Südamerikas naturbedingte Umbruchsituationen bewältigt? Wurden damit schubartig kulturelle Entwicklungen beschleunigt? Wie gingen daraus neue Formen des gesellschaftlichen Zusammenlebens hervor? Die modellartigen Rahmenbedingungen in Westperu, unter denen sich diese Prozesse vollzogen haben, lassen grundsätzliche Erkenntnisse für das Verständnis menschlicher bzw. gesellschaftlicher Entwicklung erwarten. Geistes- und Naturwissenschaftler arbeiten eng zusammen, um die Menschheits- bzw. Kulturgeschichte und die Umweltgeschichte im Arbeitsgebiet zu erforschen. Eines ist bei allen Forschungen deutlich geworden: Es geht immer um Wasser. Markus Reindel VIRTUELLER ÜBERFLUG In Kooperation mit der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) konnten die DAI-Archäologen photogrammetrische Messungen durchführen, um schließlich einen virtuellen Überflug über die gigantischen Scharrbilder machen zu können. Die Photogrammetrie ist eine Fernerkundungsmethode, bei der aus Fotografien und genauen Messbildern von Objekten ihre räumliche Lage oder ihre Form bestimmt werden. Geländemodell: ETH Zürich, Lambers 58 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 59 PORTRÄT 1994 war Iris Gerlach zum ersten Mal im jemenitischen Sana’a, 1997 mit einem Reisestipendium des Deutschen Archäologischen Instituts im äthiopischen Yeha. „Schon damals stand ich dort vor diesem riesigen Monumentalbau und fragte mich, wie die beiden Regionen wohl in der Antike miteinander verbunden gewesen sein mochten.“ Wichtige Lebensentscheidungen waren bereits gefallen, das Studium der Vorderasiatischen Archäologie, Klassischen Archäologie, Assyriologie und Byzantinischen Kunstgeschichte hatte den Wunsch aus Kinderzeiten erfüllt, Archäologin zu werden. Die Dissertation 1997 „Zentrum und Peripherie. Eigenständigkeit und Abhängigkeit künstlerischen Schaffens im neuassyrischen Einflussgebiet“ ist schon Ausdruck der Leidenschaft für Fragen des Ineinandergreifens von Kulturen, ihrer Gedanken, Künste und Handelsbeziehungen. Der Vordere Orient im Allgemeinen, Südarabien und speziell Jemen im Besonderen sind die Regionen, in und zu denen Iris Gerlach arbeitet. Der „riesige Monumentalbau“ ist der Große Tempel von Yeha im heutigen Äthiopien, anhand dessen sie Fragen der Baugeschichte, des Kultur- und Techniktransfers und der überregionalen Beziehungen erforscht. Seit 2000 ist Iris Gerlach Leiterin der DAIAußenstelle in Sana’a, der Hauptstadt der Republik Jemen, wo sie auch deswegen gern arbeitet, weil man hier noch archäologische Pionierarbeit leisten kann. „Das antike Südarabien spielte in der archäologischen Erforschung alter Kulturen lange Zeit eine untergeordnete Rolle“, erklärt Gerlach. Selbst der hohe Klang des Wortes „Saba“ hat daran lange nichts geändert. Die sabäische Kultur – entstanden gegen Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. am östlichen Rand des jemenitischen Hochlands – in ihrer Entstehung und Entwicklung nachzuzeichnen, ist einer der Forschungsschwerpunkte der Archäologin. Doch Iris Gerlach weiß, dass eine Kultur nie etwas in sich Geschlossenes mit einer klaren Kontur ist. „Spu- ren der sabäischen Kultur finden sich auch in Äthiopien“, sagt sie. „Durch die Erforschung des äthio-sabäischen Gemeinwesens auf der afrikanischen Seite des Roten Meeres blickt man anders auf die Ursprungskultur, und im Vergleich miteinander lassen sich beide besser erklären.“ Überregionale Beziehungen gab es zu allen Zeiten, auch wenn man sich heute kaum vorstellen kann oder will, wie mobil, ja globalisiert, einzelne Gesellschaften in der Antike waren, betont die Altertumswissenschaftlerin. IRIS GERLACH Die Archäologin Dr. Iris Gerlach leitet seit 2000 die Außenstelle Sana’a des Deutschen Archäologischen Instituts im Jemen. Foto: Wannenmacher „Bevor man anfängt, etwas zu beurteilen, sollte man schon eine Weile in einem Land gelebt haben.“ 60 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT „Ich liebe diesen Beruf“, bringt sie das für sich zum Ausdruck. Einmal eine Grabung zu leiten, war immer ein großes Ziel. Das meiste Arabisch hat sie im Feld gelernt – und wie ist es mit dem Hin- und Herspringen zwischen Berlin und Sana’a? „Nein, das ist kein Problem“, lacht sie. Man muss sich einlassen auf das Land, in dem man arbeitet, man sollte die Diplomatie beherrschen, muss wissen, was geht und was nicht. „Bevor man anfängt, etwas zu beurteilen, sollte man schon eine Weile im Land gelebt haben.“ Iris Gerlach ist auch und vor allem als Archäologin in zahlreichen entwicklungsund kulturpolitischen Projekten engagiert. „Das entwicklungspolitische Potential der Archäologie ist noch gar nicht richtig erkannt“, weiß sie. Vielerorts sind Grabungslizenzen ohnehin an die Bedingung geknüpft, einen Masterplan für die Restaurierung von Ruinen zu erstellen sowie einen Fundplatz touristisch zu erschließen. So werden etwa lokale Kräfte als Touristenführer geschult. Gemeinsame Workshops zu Restaurierungsmethoden oder Ausgrabungs- und Vermessungstechniken schaffen Nachhaltigkeit. Beim Bau des Museums in Yeha werden Steinmetz- und Mörteltechniken als Handwerk gelehrt. Die Frauen der Region stellen Keramik in traditioneller Technik her und erfahren darüber hinaus, wie man ein Geschäft daraus machen kann. „Archäologie ist eben nicht nur wichtig für den Erhalt kultureller Identität“, sagt Iris Gerlach. „Sie kann auch Beschäftigung fördern und Einkommen für die lokale Bevölkerung schaffen.“ FRIEDRICH LÜTH „Kulturgüterschutz“ ist ein sperriges Wort, die Sache eine schwierige Kunst, weil man mit einfachen Wahrheiten nicht sehr weit kommt. „Kulturerbe-Management kann man nur im internationalen Kontext denken und betreiben“, sagt Friedrich Lüth. Der Archäologe ist Sonderbeauftragter für Kulturgüterschutz des Deutschen Archäologischen Instituts, zu dessen Auftrag es gehört, das kulturelle Erbe weltweit zu erforschen und zu schützen. Woher aber kommt das Bedürfnis, das kulturelle Erbe zu bewahren? „Es war ursprünglich ein Anliegen von Eliten, die sich für ihre Familiengeschichten interessieren und dort Selbstvergewisserung und Legitimation durch Verankerung in historischer Tiefe suchen“, erklärt Lüth. 1816 gab es hierzulande das erste Denkmalschutzgesetz, das Interesse an Altertümern stieg im 19. Jahrhundert insgesamt, sei es auf der Suche nach Heimat, sei es im Bestreben, exotische Abenteuer in fernen Ländern zu erleben oder sagenumwobene Geheimnisse zu lüften. Bei Friedrich Lüth hatte die Liebe zu den alten Dingen in der Schule begonnen. Das Lüneburger Gymnasium lehrte Latein und Griechisch, der Ferienjob bei der Ausgrabung in der Heide setzte nach. „Da hat es gefunkt.“ Das Studium der Vor- und Frühgeschichte war eine leichte Entscheidung. Dazu kam die Geographie, und die archäologische „Heide“ Lüths wurde immer größer. „Irgendwann bin ich im Orient hängengeblieben.“ Er arbeitete viele Jahre im Libanon und Syrien, im Iran, im Irak, aber auch in Frankreich, Großbritannien, Griechenland und Deutschland. Schließlich wurde der Schwerpunkt seiner Arbeit die Denkmalpflege. Lüth stand im Dienst verschiedener Landesdenkmalbehörden, dem Landesamt in MecklenburgVorpommern bis 2006 vor, war von 1993 bis 2006 Vorstand der Landesarchäologen und ist seit der Gründung des „Europae Ar- DR. FRIEDRICH LÜTH ist Sonderbeauftragter für Kulturgüterschutz und Site Management des Deutschen Archäologischen Instituts. Foto: Wannenmacher schen in ihrer „gebauten Umwelt“, gerade so, wie sie auch Bewohner einer Kulturlandschaft sind. Und das, was man früher eben „Denkmalschutz“ nannte, solle man besser als Management der Veränderungen bezeichnen. „Beim Kulturgüterschutz geht es auch nicht darum, Momentaufnahmen der Geschichte zu konservieren“, sagt Lüth. „Die Veränderungen gehören dazu, und niemand würde ernsthaft wollen, dass alles so aussieht wie vor 2000 Jahren.“ Außerdem sollten ganz irdische Überlegungen einen allzu romantischen Blick aufs Alte hier und da korrigieren: „Wenn man Ruinen erhält und sie unter Schutz stellt, bedürfen sie der Pflege. Um das finanzieren zu können, muss man sie in bestehende Wertschöpfungsketten einbinden.“ Und was man nicht nutzen kann, muss trotzdem irgendwer bezahlen. Kulturerhalt ist also nicht „nur“ Wissenschaft. Kulturerhalt ist immer auch eine – mitunter brisante – politische, soziale und ökonomische Angelegenheit, die häufig der Mediation bedarf, wenn es darum geht, einen Interessenausgleich zu finden zwischen den Bedürfnissen heutiger Menschen – wie etwa Wohnraum in wachsenden Städten – und den ebenso berechtigten Wünschen, die Antiken zu erhalten, die wiederum in vielen der Länder, in denen das DAI arbeitet, nicht nur ein Anker für die historische Selbstvergewisserung und Identitätsbildung sind, sondern auch ein eminent wichtiger Wirtschaftszweig. „Touristische Konzepte zu entwickeln, spielt an vielen Grabungsplätzen des DAI eine überaus wichtige Rolle“, erklärt Friedrich Lüth. „Tourismus ist der viertstärkte Wirtschaftszweig weltweit, das macht also Sinn.“ „Kulturerbe-Management kann man nur im internationalen Kontext denken und betreiben.“ chaeologiae Consilium“ (EAC) auf internationaler Ebene im Denkmalschutz engagiert – derzeit auch als Präsident der European Association of Archaeologists (EAA) zwischen europäischen Einrichtungen in Straßburg und Brüssel. Hier berät man sich europäisch, was Lüths Selbstverständnis sehr entgegenkommt. „Es gibt nicht den einen Weg“, weiß er. „Aber man kann und sollte sich auf Standards einigen.“ Geht bei alledem nicht der Zauber der Archäologie im Verwaltungskram unter? „Ich bin sehr zufrieden damit, als Wissenschaftsmanager bezeichnet zu werden“, erklärt er. „Sinn der Sache ist dabei aber nicht, sich nur mit dem Management der Angelegenheiten des internen Zirkels zu beschäftigen. Vor allem ist es wichtig, auch nach außen zu kommunizieren.“ Den Begriff „Denkmalschutz“ hört er eigentlich nicht so gern. Zu rückwärtsgewandt. „Es ist auch nicht das, was wir heute machen.“ Heute denkt man mehr in Strukturen, findet er. Man sieht die Men- Und dabei muss man gar nicht an Pyramiden und Peristyle denken. Das funktioniert auch an der Ostsee. Lüth hat den Vorsitz der Monitoring Group Cultural Heritage des Ostseerats, wo Archäologen im Rahmen des 12 Jahre währenden SincosProjekts das Unterwasserkulturerbe einer ganz und gar heimischen Region untersuchten. Friedrich Lüth lacht: „Da war jede Menge Vineta ...“. ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 61 ALLTAG ARCHÄOLOGIE PIETRELE Der Siedlungshügel „Măgura Gorgana“ war im 5. Jahrtausend v. Chr. eine imposante Erscheinung. Der ca. neun Meter hohe Tell ragte auf der untersten Terrasse des Donautals etwa 15 Meter über das damalige Niveau der Aue hinaus. Der Siedlungshügel war in ein Netz vergleichbarer Siedlungen an der Unteren Donau, Nordostbulgariens und Thrakiens eingebunden. Im 5. Jahrtausend v. Chr. war dieser Raum durch die dynamische Entfaltung der Kupfermetallurgie geprägt. Prof. Dr. Svend Hansen ist Direktor der Eurasien-Abteilung des DAI und Grabungsleiter in Pietrele. Dr. Agathe Reingruber ist Wissenschaftliche Mitarbeiterin der Eurasien-Abteilung und koordiniert jedes Jahr die Vorbereitungen für die Grabungskampagne. Erstmals wurden Äxte und Beile sowie zahlreiche Schmuckobjekte aus Kupfer hergestellt. Zugleich setzte im Balkangebirge und im östlichen Serbien die bergmännische Gewinnung von Kupfererzen ein. Pietrele war Teil eines überregionalen Austauschnetzes, das sich anhand gleichartiger Artefakte zwischen der Nordägäis und der Walachei, der Schwarzmeerküste und Oltenien nachweisen lässt. Die Entfernung bis zum Schwarzen Meer beträgt ca. 200 Kilometer, und ebenso weit ist es bis nach Varna. Dort wurde in den 1970er-Jahren ein Friedhof freigelegt, in dessen unterschiedlich reich ausgestatteten Gräbern sich die Herausbildung sozialer Ungleichheiten zeigt. Svend Hansen SCHERBEN BRINGEN GLÜCK Wie in Pietrele Schicht um Schicht eine antike Gesellschaft zum Leben erweckt wird UNTERKUNFT 11,5 TONNEN SCHERBEN ... davon ausgehen, etwas verstanden zu haben“, sagt Hansen. Es geht ja nicht „nur“ um ein paar Scherben. „Nein, es geht um die Rekonstruktion einer antiken Gesellschaft in ihrem kulturellen Zuschnitt und in der Anverwandlung ihres natürlichen Lebensraums.“ Aus der Traum vom schnellen Glück, bei dem die Helden ins Feld ziehen und mit Schatzkarte und Spaten – oder GPS und SUV – ins antike Geschehen geradezu hineinstolpern und auch sofort wissen: „Hier muss es sein ...“ Jeder Grabung gehen mitunter langfristige und aufwändige Surveys voraus, und wenn die Forschungsgeschichte einer Region, die Anhaltspunkte über mögliche archäologische Stätten liefern könnte, noch nicht sehr ausgeprägt ist, kann das ein aufwändiges Unterfangen sein Svend Hansen und Agathe Reingruber von der Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts erklären die Vorgehensweise der Forscher: „Wir gehen in 10-cm-Schritten nach unten und graben uns bis zum Beginn der Besiedlung vor.“ Das klingt nach mühevoller Kleinarbeit, und das ist es auch. „Es kann noch einige Kampagnen dauern, bis wir ‚unten’ sind“, umreißt Agathe Reingruber den Zeitraum, der noch vor ihnen liegt. Und genauso lange dauert es, bis man anfängt zu begreifen, was es mit einem archäologischen „Platz“ auf sich hat. „Nach zehn Jahren kann man Vor der Phase der 10-cm-Schritte wird in der neu entdeckten Außensiedlung im Norden und Westen des Tells erst einmal mit schwerem Gerät eine meterhohe, fundleere Bodenschicht abgetragen, erst dann kommen die feineren Instrumente zum Einsatz. Jedes noch so kleine Stück wandert in eine Fundtüte, die gut verschlossen und beschriftet wird. Perfekte Dokumentation ist das A und O archäologischer Arbeit: „Wenn ich nicht weiß, woher das Fundstück kommt, kann ich es genau so gut wegwerfen“, sagt Hansen. Die Stücke werden nicht nur fotografiert, sondern auch gezeich- Bei 50 Grad im Schatten hören die Thermometer auf zu arbeiten, doch Schatten ist rar in der südrumänischen Walachei. Es ist Hochsommer, die Zeit, in der die Archäologen Jahr für Jahr in das kleine Dorf Pietrele kommen. In den Ferien dient die Schule des Ortes als Grabungshaus. 50 Zelte stehen dann um das einfache Gebäude herum, für jeden eines, zwei Busladungen Material und technisches Gerät sind herbeigeschafft worden, ebenso die Koffer der Mitarbeiter, die aus aller Welt kommen: aus Berlin, Sofia, aus Georgien, der Türkei, den USA und je nach Kampagne aus verschiedenen anderen Ländern. Das alles muss koordiniert werden. 62 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT In 50 Zelten, gruppiert um das Schulhaus von Pietrele, wohnen die Archäologen während einer Kampagne. Die Duschen sind selbst gebaut. ORDNUNGSARBEITEN Gleich nachdem sie geborgen sind, müssen die Funde sorgfältig dokumentiert werden. Fotos: DAI – Eurasien-Abteilung ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 63 ALLTAG ARCHÄOLOGIE PROVISORIUM Das Schulhaus von Pietrele dient den Archäologen in den Sommerferien als Grabungshaus. net. Eine Zeichnung ist dem Foto bei der Abbildung bestimmter struktureller Merkmale der Artefakte überlegen, das Foto ist genauer bei der Wiedergabe von Oberfläche und Farbe. Zwei Mal wird gewaschen, einmal entsintert, Knochen, Muscheln, Scherben werden sortiert, gewogen, gemessen, gezählt. Einmal haben zwei Frauen aus der Gruppe 5200 Muscheln ausgezählt. Doch was auf den ersten Blick wie dokumentarischer Selbstzweck aussieht, bietet reiche Aufschlüsse über die Lebensweise der antiken Gemeinschaft: die Organisation der Arbeit, die Nahrungsgewohnheiten und sogar die antike Landschaft, die klimatisch und topografisch eine ganz andere war als die heutige. nen Scherben sind in Pietrele bislang gefunden – eine Tonne pro Jahr – 400.000 Scherben und 1.649 vollständige Gefäße. Es sind aber nicht nur einzelne Scherben, die die Archäologen finden. Manchmal sind auch ganze Gefäße dabei, manchmal lassen sie sich auch aus einzelnen Scherben zusammensetzen. 11,5 Ton- Um halb sieben fährt der Bus die viereinhalb Kilometer vom Dorf zur Grabung. Gearbeitet wird in zwei Gruppen. Die einen graben, die anderen dokumentieren, keramische Funde werden sofort bear- „Das ist nicht so viel, wie es sich anhört“, erklären die Archäologen. „Man muss sich vor Augen halten, dass alles, was wir heute in Plastikgefäßen, Flaschen, Gläsern, Dosen, Papier und Karton aufbewahren, früher in Keramikgefäßen gelagert wurde.“ Sicher gab es auch Holz- und Textilbehälter oder Körbe, aber die sind nach 6000 Jahren nun einmal verschwunden. DER TAG PAUSE Für das leibliche Wohl sorgt eine Köchin mit einem kleinen Catering-Betrieb MATCH Wenn es nicht zu heiß ist, wird in der Freizeit Fußball gespielt. Fotos: DAI – Eurasien-Abteilung beitet. Bei der Menge an Material wäre es fatal, die Dokumentationsarbeit auf einen späteren Zeitpunkt zu verlegen. „Früher war das in der Archäologie gang und gäbe“, sagt Hansen. Das konnte vielleicht funktionieren, wenn man ein gutes Tagebuch hatte. Heute aber ist es Standard, mit der Dokumentation stets à jour zu sein. AM ANFANG DAS ABENTEUER Bis 14.30 Uhr wird gegraben, danach ist frei, warmes Abendessen gibt es um 19 Uhr. „Unsere Köchin ...“ sagen die Archäologen. Was so kolonial klingen könnte, ist eher die Beschreibung eines kleinen Catering Service. Die Köchin hat zwei Assistenten, wohnt bei der Schule, wo sie für die 50 Leute auch kocht und das Essen anschließend an Mann und Frau bringt. Auf dem Speiseplan stehen Kartoffeln und Gemüse, Spiegelei mit Pommes, gefüllte Paprika. Hähnchenkeule mit Püree, Erbsen und Würstchen, gebackene Zucchini mit Knoblauchsauce. Das Frühstück besteht aus weißem Käse zum Brot, Tomate, Paprika, Nutella, Marmelade oder Biomüsli aus dem Drogeriemarkt. Fleisch ist rar, nur an den Wochenenden wird gelegentlich ein Schaf gegrillt. Ein großes Forschungsinstitut wie das DAI ist an den Plätzen, an denen es arbeitet, immer auch ein Arbeitgeber. Die jungen Männer, die als Grabungsarbeiter angeheuert werden, haben in schwierigen Zeiten kaum Chancen, einen guten Arbeitsplatz zu finden. Und haben sie einmal Feuer gefangen bei der archäologischen Arbeit, geben sie zuhause gern die Erfolge des Tages zum Besten: „Stellt Euch vor, wir haben heute ein Superblade gefunden ...“. Inzwischen laufen die Arbeiten mit einer guten Routine. „Anfangs war es Abenteuer mit wenig Geld und vielen Hindernissen“, erzählt Agathe Reingruber von den Anfängen. Das Pilotprojekt wurde 2002 durchgeführt, die erste Kampagne 2004, und dann gab es außer den wissenschaftlichen auch ganz praktische Fragen zu beantworten: Wie baut man eine Dusche? Was tun, wenn bei Regen der Strom ausfällt? Für den Brunnen mussten die Archäologen 40 Meter tief bohren. „Es war ein Alptraum“, erinnert sich Reingruber. Und wo heute vier Supermärkte und ein großer Drogeriemarkt für den täglichen Bedarf zur Verfügung stehen, gab es anfangs einen winzigen Dorfladen, in dem vorwiegend Schnaps verkauft wurde. Einmal pro Kampagne regnet es. Das lindert zwar die hochsommerliche Hitze, aber der Regen hat es in sich. „Sie haben dann vier Minuten, um von der untersten Donauterrasse auf die oberste zu kommen“, lacht Svend Hansen. Sonst wird es so schlammig und glatt, dass Mensch und teures Gerät einfach steckenbleiben. Alle flüchten so schnell sie können, in die Schule. Die meisten sind nass geworden und dampfen auf engstem Raum. In solchen Fällen verordnet der Grabungsleiter Pizza in der Kreisstadt. sw SPATEN, KELLE, ERSTANSPRACHE Die Archäologen gehen in 10-cm-Schritten nach unten und graben sich bis zum Beginn der Besiedlung vor. Es wird noch einige Kampagnen dauern, bis sie „unten“ sind. Am Beginn der Grabungsarbeit kommt mitunter schweres Gerät zum Einsatz, ein Bagger hebt die „Pflugschicht“ ab, nachdem eine Koordinaten unterteilt, markiert, fotografiert, die Umrisse des Schnitts gezeichnet im Maßstab 1 : 100, die Teilblätter 1 : 20; man darf auch nicht vergessen, Höhenunterschiede einzutragen, markierte Befunde werden nummeriert und eingezeichnet. Schließlich werden die Stücke beschrieben: ihre Form, die Sondierungsgrabung, eine geomagnetische Prospektion oder eine Untersuchung mit dem Georadar stattgefunden hat, um festzustellen, ob man an der richtigen Stelle gräbt und um so wenig wie möglich zu zerstören. Die entstehende rechteckige Grube ist der Grabungsschnitt. Die Schnittkanten werden per Spaten gerade abgestochen, die Fläche selbst glatt geschoben, und mit „Archäologenkellen“ erfolgt der Feinputz auf der gesamten Fläche des Schnitts. Ausrichtung, Größe und Lage, die Zusammensetzung und ihre vermutliche Funktion. Die Archäologen nennen dies die „Erstansprache“. Nun wird Schicht für Schicht abgetragen, wieder werden Koordinaten aufgenommen, nivelliert, gezeichnet und fotografiert. Irgendwann ist erkennbar, was der Fund sein könnte, die nächste Schicht wird abgetragen – und dann noch einmal ganz genau beschrieben. Das nennen die Archäologen die „Endansprache. Jeder Schnittleiter führt eine Dokumentationsmappe, in der die einzelnen Grabungsschnitte akribisch festgehalten werden. Es wird gemessen und in Fotos: DAI Eurasien-Abteilung 64 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 65 STANDORT SPUREN DER JAHRTAUSENDE Die Römisch-Germanische Kommission in Frankfurt am Main Die Römisch-Germanische Kommission wurde 1902 gegründet, um das römische Erbe und darüber hinaus die gesamte „heimische“ Vorgeschichte Europas zu erforschen. Das bedeutet heute – nach 110 Jahren Kooperationen in einem immer enger zusammenwachsenden Europa – natürlich etwas anderes als zur Zeit der Reiche und Empires. Ein gemeinsames Europa also ist der Hauptforschungsgegenstand der RGK in Frankfurt am Main, die mit eigener Satzung unter dem Dach des Deutschen Archäologischen Instituts arbeitet. Die ältesten Perioden Europas markieren den zeitlichen Ausgangspunkt der Forschung, die über die 66 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Metallzeiten bis schließlich ins Mittelalter reicht. Ein Schwerpunkt ist die Arbeit zu den großen weit verzweigten Gruppen der Kelten in Mittel- und Westeuropa; das „römisch“ im Namen der RGK leitet sich von den Projekten provinzialrömischer Archäologie mit Limesforschung und Kulturaustausch zwischen den Eroberern aus dem Süden und den ansässigen Gruppen ab. Zusammenarbeit mit nationalen und internationalen Forschungseinrichtungen sowie Institutionen des Denkmalschutzes sind selbstverständlich wie zum Beispiel im größten der internationalen Kooperationsprojekte „ArchaeoLandscapes Europe“, DIE STANDORTE DES DEUTSCHEN ARCHÄOLOGISCHEN INSTITUTS www.dainst.org/de/department/rgk [email protected] dem 57 Forschungsinstitute aus 27 Ländern angehören, um das gemeinsame kulturelle Erbe mit modernsten luftgestützten Forschungsmethoden in den Blick zu nehmen und so letztendlich bewahren zu können. Ein anderes bedeutendes Projekt ist „Herausbildung und Niedergang des frühbronzezeitlichen Siedlungszentrums von Fidvár bei Vráble (Südwestslowakei)“, in dem Untersuchungen zu Wirtschaft, Sozialstruktur und politischer Organisation eines Sozialverbandes und seines Umfeldes in internationaler Kooperation duchgeführt werden. Berlin Kairo Bonn Jerusalem München Amman Frankfurt am Main Sana´a Athen Peking Istanbul Baghdad Rom Damaskus Lissabon Ulaanba_atar Madrid Teheran Das DEUTSCHE ARCHÄOLOGISCHE INSTITUT (DAI) ist eine wissenschaftliche Einrichtung, die als Bundesanstalt zum Geschäftsbereich des Auswärtigen Amts gehört. Das Institut mit Zentrale in Berlin und mehreren Kommissionen und Abteilungen im In- und Ausland führt archäologische Ausgrabungen und Forschungen durch und pflegt Kontakte zur internationalen Wissenschaft. Das Institut veranstaltet wissenschaftliche Kongresse, Kolloquien und Führungen und informiert die Öffentlichkeit über seine Arbeit. ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 67 PANORAMA DER ERSTE WEIN DER DIGITALE PFLANZENATLAS Der Digitale Pflanzenatlas ist ein seit 2006 laufendes internationales Projekt, das einen Beitrag zur Identifikation von Samen, Früchten, unterirdischen Pflanzenteilen, Stängelfragmenten, usw. leistet. Die Pflanzenteile werden mit Farbfotos illustriert, die mit Maßstab und wissenschaftli- Archäobotanische Aufschlüsse über 5000 Jahre Kultur 1980 feierte die Deutsche Bundespost „Zwei Jahrtausende Weinbau in Mitteleuropa“ mit einer Briefmarke. Damit gehört die heimische Region zu den Nachzüglern bei der Kultivierung der Reben. Auch in Griechenland, wohin der Kenner gesamteuropäischer Rebenkultivierung gern blickt, wenn es um Weinkultur geht, sind weder Anfang noch Ursprung seines Anbaus zu finden, wie lautstark auch der „Weingott“ Dionysos und sein Gefolge die „wahre“ Geschichte übertönen mögen. Die wahre Geschichte beginnt wohl im Übergang vom 4. zum 3. vorchristlichen Jahrtausend im Gebiet der heutigen Länder Iran und Irak und vor allem im nordwestlichen Jordanien, wo es auch Nachweise für eine frühe Obstbaumkultur gab – Belege für den Anbau von Oliven sogar schon seit dem 5. Jahrtausend. Von dort breitet sich die Weinkultur über Syrien und die Türkei aus, bis sie im 2. Jahrtausend v. Chr. Griechenland erreicht, um sich von dort aus über die gemäßigten Zonen Europas auszubreiten. „Die bislang frühesten eindeutigen archäobotanischen Belege besitzen wir vom Tell Hujayrat al-Ghuzlan in der Nähe von Aqaba im Süden Jordaniens“, sagt Reinder Neef, der das archäobotanische Labor des DAI leitet. Hier entstand bereits in prähistorischer Zeit eine ausgeklügelte Oasenwirtschaft mit einem verzweigten Kanalsystem, das von einer artesischen Quelle gespeist wird. Damit konnten größere Flächen in einem nahezu regenfreien Gebiet landwirtschaftlich genutzt und damit dauerhaft besiedelt werden. Technische Innovationen und Änderungen in der Sozialstruktur gehen hier Hand in Hand, und es ist eines 68 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT chen Namen versehen sind. Daneben werden die einheimischen Namen der Pflanzen in mehreren Sprachen aufgelistet. Der Erwerb des Buches berechtigt zum Zugang zu teils gesicherten Websites des Projekts. Dort werden auch zusätzliche Daten (Fotos, digitale Messdaten etc.) der ZUERST SCHIENEN es Traubenkerne zu sein. Aber unter dem Mikroskop erkannten die archäologisch gefundenen oder „subfossilen“ Samen und Archäobotaniker, dass es ganze Trauben in getrockneter Form waren: 5600 Jahre alte Rosinen. Foto: DAI Orient-Abteilung, Eichmann Früchte zur Verfügung gestellt. breitungsgebietes vorkommt, können wir davon ausgehen, dass wir es mit einer kultivierten Form zu tun haben“, sagt Neef – wilden Wein gab es vor allem im nördlichen Mittelmeerraum, am Schwarzen und wohl am Kaspischen Meer. Abb.: Digital Atlas of Economic Plants in Archaeology der großen Forschungsthemen in der Archäologie, den Beginn solcher Entwicklungen bestimmen zu können. Hierbei kann die Archäobotanik verlässliche Indikatoren liefern, wenn zum Beispiel die Analyse botanischer Makroreste und Pollen für eine bestimmte Region ausschließlich kultivierte Pflanzen aufweist. Eingefügt in den archäologischen und botanischen Gesamtkontext können die Forscher dann auch bestimmen, ob es sich bei den Pflanzen um einheimische Wildarten oder um Kultursorten handelt. „Wenn eine Pflanze außerhalb ihres natürlichen Ver- Gefunden wurden diese ältesten Nachweise kultivierten Weins im Jahr 2003 von den Archäologen der Orient-Abteilung des DAI. In einem Gefäß waren mehrere Tausend verkohlte kleine schwarze Kerne aufbewahrt. „Diese ‚Kerne’ stammen aus der Zeit zwischen 3800 und 3600 v. Chr.“, erklärt Neef. Eine Brandkatastrophe hatte den spektakulären Fund ermöglicht. „Normalerweise werden die meisten Pflanzenreste im Laufe der Jahrtausende zerstört“, erklärt der Archäobotaniker. „Wenn aber Pflanzenreste bei einem Feuer durch Mangel an Sauerstoff nicht vollständig zu Asche verbrennen, weil sie durch andere Materialien bedeckt werden, gewinnen wir sehr gutes Untersuchungsmaterial.“ Als die Archäobotaniker den Inhalt des Gefäßes in Augenschein nahmen, hielten sie kleinen schwarzen Gebilde zunächst für Traubenkerne. „Aber was würde es für einen Sinn machen, auf diese Weise Weintrauben zu lagern?“, fragt Neef. In der mikroskopischen Analyse entdeckten sie schließlich Fruchtstiele und winzige Stücke der Fruchtschale – wo aber Trauben im Gefäß keinen Sinn machen, tun Rosinen es allemal. Ob die Früchte auch in Hujayrat angebaut wurden, ist nicht klar erwiesen. „Sicher könnten wir sein, wenn wir auch Reste vom Holz des Weinstocks gefunden hätten“, erklärt Neef. Die aber fehlten hier. Wahrscheinlicher ist, dass die Rosinen ein Handelsgut aus Mitteljordanien waren. „Wir wissen, dass es sogar Kontakte bis zum Nildelta und insgesamt einen intensiven Austausch an Gütern und Denkweisen gab“, sagt Neef, und Hujayrat al-Ghuzlan war ein wichtiger Handelsknotenpunkt. Rosinen lassen sich gut transportieren, ebenso wie Oliven, Öl oder Wein, wenngleich der nicht so haltbar war wie die anderen Handelsgüter und wohl mit Zusät- DRS. REINDER NEEF leitet das Labor für Archäobotanik im Naturwissenschaftlichen Referat des DAI. www.pflanzenatlas.eu zen versehen werden musste. „Wir wissen nicht, wie dieser Wein geschmeckt hat“, sagt Neef. „Aber bestimmt nicht so, wie wir es heute gewohnt sind.“ Das Labor für Archäobotanik Botanische Proben aus 28 Ausgrabungen in 17 Ländern werden von den Archäobotanikern des DAI bearbeitet. Sie untersuchen bodengelagerte Pflanzenmakroreste DIE VERGLEICHSSAMMLUNG DES LABORS: Die Sammlung rezenter Samen und Früchte enthält momentan ca. 5150 unterschiedliche Pflanzenarten. wie Samen, Früchte und Holz, deren Auswertung Aufschlüsse zu Ernährung und Entwicklung der Kulturpflanzen sowie der Landwirtschaft, des Handels, der Nutzung natürlicher Ressourcen und der Umweltverhältnisse in vor- und frühgeschichtlicher Zeit ermöglichen. Pollenanalysen liefern zusätzlich detaillierte Informationen zur Vegetationsgeschichte und Klimaentwicklung. Der Übergang von Jäger-undSammlerkulturen zur Sesshaftigkeit mit Ackerbau und Viehzucht und der bislang wenig erforschte Beginn der Oasenwirtschaft während der frühen Metallzeiten sind Forschungschwerpunkte des Labors. Insgesamt lassen sich durch die Rekonstruktion der antiken Flora – seien es wilde oder kultivierte Arten – Erkenntnisse zu den Wechselbeziehungen Mensch und Umwelt gewinnen. Für die Bestimmung von Pflanzenresten stehen umfangreiche Vergleichssammlungen zur Verfügung. Die Sammlung rezenter Samen und Früchte enthält momentan ca. 5150 unterschiedliche Pflanzenarten, für die Bestimmung der Hölzer gibt es eine Sammlung von Handstücken und Dünnschnitt-Präparaten von ca. 250 Holzarten. Auch für die Pollenanalyse steht eine Sammlung von Vergleichspräparaten von mehr als 1400 Pflanzenarten zur Verfügung. Dazu kommt außerdem eine Sammlung aus den 30er-Jahren von Steinfrüchten alter Obstbaumtaxa aus der so genannten Späth’schen Baumschule. ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 69 „URUK. 5000 Jahre Megacity“ König Gilgamesch, der jugendliche Halbgott, regiert tyrannisch über seine Untertanen, und deren Klage erreicht alsbald das Ohr der Götter. Um dem Land und der Bevölkerung Ruhe zu verschaffen, beschließen die Götter, einen ebenbürtigen Gefährten für Gilgamesch zu finden. Sie erschaffen Enkidu, der unter den Tieren in der Wildnis aufwächst. Als Gilgamesch von dessen Existenz erfährt, lässt er ihn zu sich bringen, und die beiden Helden messen sogleich ihre Kräfte. Doch sie müssen bald feststellen, dass keiner von beiden die Oberhand gewinnen kann; also beschließen sie, Freunde zu werden. Die Geschichte des Gilgamesch ist hier nicht zu Ende. Ihren Anfang hat sie in seiner Heimatstadt: Uruk. Vor 100 Jahren fanden Archäologen die erste Großstadt. Im mesopotamischen Uruk, dem heutigen Warka, kamen die ersten Zeugnisse urbanen Lebens ans Tageslicht. Anlässlich des 100. Jubiläums des Grabungsprojekts präsentieren das Vorderasiatische Museum der Staatlichen Museen zu Berlin und die Reiss-Engelhorn-Museen Mannheim in enger Kooperation mit der Orient-Abteilung des Deutschen Archäologischen Instituts und der Deutschen Orient-Gesellschaft die Sonderausstellung „URUK. 5000 Jahre Megacity“. 1954 hatte die irakische Antikenverwaltung die Forschungslizenz an das Deutsche Archäologische Institut übertragen. DER SOGENANNTE PRIESTERFÜRST wurde um 3000 v. Chr. in einem Topf deponiert und im Winter 1957/58 so wieder aufgefunden. Foto: DAI, Orient-Abteilung, Fotoarchiv II 3DREKONSTRUKTION des „Gebäudes C“ auf der Basis der archäologischen Befunde. Unklar bleibt, ob das Gebäude ein- oder zweigeschossig zu rekonstruieren ist. Abb.: Rekonstruktion: artefacts-berlin.de, wissenschaftliches Material: DAI II DIE ERSTE GROSSSTADT Für die Orient-Abteilung ist es seitdem das wichtigste Forschungsprojekt im Irak. Uruk bietet eine beeindruckende Zahl wichtiger Innovationen, die unser Leben noch heute bestimmen: Mit der Entwicklung der ersten Großstadt am Ende des 4. Jahrtausends v. Chr. ging die Entstehung komplexer Lebens- und Verwaltungsformen einher. Massenversorgung von Menschen mit Lebensmitteln und Alltagsgerät, aber auch die Organisation von Wasser, Importgütern und Knowhow wurden wichtige Funktionen der Stadt. Hier entstand die erste Keilschrift als Notwendig- I keit einer elaborierten Verwaltung, und vor allem im 4. Jahrtausend v. Chr. spielte Uruk eine wichtige politische Rolle und war international weiträumig vernetzt. In den folgenden mehr als 3000 Jahren ihrer Existenz war die Stadt ein wissenschaftlich und religiös bedeutendes Zentrum. Die Ausstellung „URUK. 5000 Jahre Megacity“ wird vom 25. April bis 8. September 2013 im Pergamonmuseum zu sehen sein und vom 20. Okto- ber 2013 bis 21. April 2014 in den Mannheimer Reiss-Engelhorn-Museen. Durch die damals übliche Praxis der Fundteilung gelangten zahlreiche Grabungsobjekte nach Deutschland, wo sie nicht nur im Vorderasiatischen Museum im Pergamonmuseum, sondern auch in der von der Universität Heidelberg betreuten Uruk-Warka-Sammlung des Deutschen Archäologischen Instituts aufbewahrt werden. Dank der einzigartigen Kooperation der vier Institutionen werden erstmals Objekte getrennter Sammlungen den Ausstellungsbesuchern vereint präsentiert. Diese werden durch hochkarätige Exponate unter anderem aus dem British Museum London, dem Ashmolean Museum der Universität Oxford und dem Musée du Louvre Paris sowie durch neu erstellte digitale Rekonstruktionen der Stadtanlage und einzelner Bauwerke ergänzt. In Berlin, der ersten Station, wird die Sonderausstellung in einem Teil der ständigen Ausstellung des Vorderasiatischen Museums im Südflügel des Pergamonmuseums präsentiert werden. Dort veranschaulichen bereits seit der Eröff- nung im Jahr 1930 die Rekonstruktionen von über 5000 Jahre alten Tonstiftfassaden die repräsentative Großarchitektur, die in Uruk mit den Anfängen großstädtischen Lebens einherging. Im Rahmen der Sonderausstellung „URUK. 5000 Jahre Megacity“ werden diese frühesten Beispiele von Großstadtanlagen gemeinsam mit den neu erstellten virtuellen Rekonstruktionen inszeniert. Veranstalter: Vorderasiatisches Museum , Reiss-Engelhorn Museen Mannheim , Deutsches Archäologisches Institut, Deutsche Orient-Gesellschaft KÖNIG URNAMMA errichtete eine Zikkurrat im Heiligtum der Liebes- und Kriegsgöttin Inanna / Ischtar (21. Jh. v. Chr). Ihr Tempel stand auf zwei hohen Terrassen. 3D-Rekonstruktion von artefacts-berlin.de, wissenschaftliches Material: DAI 70 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 71 PANORAMA I BEISPIEL für die berühmte Architektur der „Uruk-Zeit“: Das „Gebäude C“ (um 3300 v. Chr.) ist nur wenige Ziegellagen hoch erhalten. Foto: DAI, Orient-Abteilung, Fotoarchiv In der nächsten Ausgabe von Archäologie Weltweit IMPRESSUM Archäologie Weltweit Magazin des Deutschen Archäologischen Instituts 1. Jahrgang / 1 • 2013 DER STEIN der schwangeren Frau (Hadschar al-Hibla) oder Stein des Südens (Hadschar al-Qubla) in Baalbek im heutigen Libanon ist einer der größten Monolithen der Welt. Er und ein ähnlich großer Stein, der in der Nähe gefunden wurde, gehörten zu einer römischen Großbaustelle im Tempelbezirk von Baalbek und waren für das Podium des Jupitertempels bestimmt. Der bearbeitete Steinblock ist rund 20 Meter lang, vier bis gut fünf Meter breit und etwas über vier Meter hoch. Sein Gewicht wird auf rund 1000 Tonnen berechnet. Den Steinbruch hat er nie verlassen. Foto: Klaus Rheidt GROSSBAUSTELLEN Megacities, Weltwunder und andere Monumente HERAUSGEBER Deutsches Archäologisches Institut www.dainst.org ORGANISATION, TEXT UND REDAKTION Wortwandel Verlag Susanne Weiss (sw) [email protected] www.wortwandel.de GESTALTERISCHES KONZEPT SCHÜTZ BRANDCOM Agentur für Markenkommunikation GmbH Bessemerstraße 2-14 • 12103 Berlin www.schuetz-brandcom.de LAYOUT UND SATZ bleifrei Medien + Kommunikation Claudia Sikora/Jürgen Brauweiler Prinzessinnenstr. 30 • 10969 Berlin www.bleifrei-berlin.de DRUCK Königsdruck Produktion Alt-Reinickendorf 28 • 13407 Berlin www.koenigsdruck.de VERTRIEB Deutsches Archäologisches Institut Presse- und Öffentlichkeitsarbeit Nicole Kehrer Podbielskiallee 69–71 • 14195 Berlin [email protected] • www.dainst.org 72 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 73 In der nächsten Ausgabe von Archäologie Weltweit GROSSBAUSTELLEN Megacities, Weltwunder und andere Monumente ARCHÄOLOGIE WELTWEIT Orte und Themen in dieser Ausgabe Ägypten, Kairo, Dahschur TITELTHEMA Seite 54 Ägypten, Elephantine Türkei, Göbekli Tepe Westchina, Turfan China, Peking REPORTAGE INTERVIEW Seite 16 CULTURAL HERITAGE LANDSCHAFTEN LANDSCHAFTEN Jemen, Marib TITELTHEMA Italien, Rom TITELTHEMA Seite 32 Peru, Nasca TITELTHEMA DAS TITELBILD Der große Damm der Oase von Marib im heutigen Jemen ist ein Zeugnis elaborierter Wasserwirtschaft in extrem trockenen Gebieten. Der sogeannte Bau A ist ein hydraulisches Bauwerk aus dem frühen 1. Jahrtausend v. Chr. Es besitzt drei zur Stromrichtung abgerundete Pfeiler und dazwischen eine massive Steinmauer, die bei zu hohen Fluten als Überlauf diente. Luftaufnahme, DAI/Deutsches Bergbau-Museum Bochum Seite 44 Seite 48 Spanien, Córdoba TITELTHEMA Seite 50 Seite 57 Seite 62 Seite 18 Seite 26 Seite 42 Saudi-Arabien, Tayma TITELTHEMA Rumänien, Pietrele ALLTAG ARCHÄOLOGIE Seite 10