Jeder sucht seinen Vorteil

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SPI EGEL-GESPRÄCH
„Jeder sucht seinen Vorteil“
Formel-1-Vizeweltmeister Sebastian Vettel, 23, über
Egoismus und Menschenführung, die Rivalität zu seinem Teamkollegen, das Risiko
schwerer Unfälle und Michael Schumachers Comeback
Vettel: Vorrangig geht es um das Team.
voller Mensch der beste Autorennfahrer
der Welt sein?
Vettel: Ja, wieso nicht?
SPIEGEL: Sie haben zu Saisonbeginn gesagt: „Grundsätzlich gibt es kein Fahrerpaar, das lange im selben Haus leben
könnte, ohne sich die Köpfe einzuschlagen. Das gilt auch für Mark Webber und
mich. Es geht darum, die Nummer eins
im Team zu sein, derjenige, auf den das
Team hört, wenn er den Raum betritt.“
Vettel: Punkt.
SPIEGEL: Klingt erbarmungslos. Webber
ist Ihr Teamkollege bei Red Bull Racing.
Vettel: Der Teamkollege ist der Erste, den
man schlagen will, weil ihm das gleiche
Material zur Verfügung steht.
SPIEGEL: Also doch: Rücksicht können Sie
sich nicht leisten?
Vettel: Man muss Privates und Beruf trennen. In der Formel 1 geht man unter,
wenn man kein Egoist ist. In dem Moment, in dem wir Fahrer auf die Strecke
gehen, ist jeder von uns ein Einzelkämpfer. Allerdings ist das nur das halbe Bild.
Wenn man in die Garage zurückkommt,
im Umgang mit den Mitarbeitern, da findet der Egoismus seine Grenzen. Die Formel 1 ist ein Teamsport. Es gibt viele Leute, die sich täglich dafür ins Zeug legen,
um die zwei Autos schneller zu machen.
SPIEGEL: Webber liegt als Dritter in der
WM einen Platz vor Ihnen, klagt aber darüber, bei Red Bull Racing schlechter behandelt zu werden, etwa bei der Auswahl
des Materials. Haben Sie den internen
Kampf um die Hackordnung gewonnen?
Ein Rennfahrer sieht die Dinge meist sehr
eigensinnig. So auch in diesem Fall. In
der Hackordnung steht am Ende derjenige oben, der schneller ist.
SPIEGEL: Diese Saison fährt Webber, wie
Sie auch, um den Titel. Hat sich Ihre Rivalität dadurch verändert?
Vettel: Es herrscht immer eine gewisse
Distanz. Wir arbeiten zusammen, wo wir
zusammenarbeiten müssen, um das Team
voranzubringen und das Auto weiterzuentwickeln. Ansonsten ist jeder auf sich
fixiert und sucht seinen eigenen Vorteil.
SPIEGEL: Was wollen Sie erreichen?
Vettel: Mein Ziel ist es, Weltmeister zu
werden. Nur mitzufahren, daran hätte ich
keine Freude. Ich brauche diese Selbstbestätigung, besser zu sein als alle anderen. Um nicht zu einseitig zu klingen: In
meinem Sport ist man sehr abhängig von
der Technik, davon, wie schnell das Auto
ist und ob alles hält. Wenn ich an einem
Tag alles richtig mache und trotzdem nur
Fünfter werde, dann kann ich zufrieden
sein. Ich muss mich nur fragen: Wie werde ich beim nächsten Mal wieder Erster?
SPIEGEL: Ein Spitzenteam besteht aus etwa
500 Mitarbeitern. Wie nimmt man so viele Leute für sich ein?
Vettel: Indem man die Kleinigkeiten nicht
vergisst. Die Mechaniker bekommen an
einem Rennwochenende manchmal nur
zwei Stunden Schlaf in einer Nacht, das
ist hart. Trotzdem sind sie mit Leidenschaft dabei, sie sind stolz, ein Teil der
Formel 1 zu sein. Ich versuche zu zeigen,
dass ich sehr zu schätzen weiß, wie jeder
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MARK THOMPSON / GETTY IMAGES
SPIEGEL: Herr Vettel, kann ein rücksichts-
Sebastian Vettel
macht eine Rennfahrer-Karriere im Eiltempo.
2007, mit 19 Jahren, startete er bereits zu
seinem ersten Grand Prix, im Jahr darauf
folgte der erste Sieg. Seither hat er siebenmal gewonnen, in der vorigen Saison
verpasste er knapp den Weltmeistertitel.
Der Abiturient aus Heppenheim, Sohn
eines Zimmermanns, wurde von seiner
Jugend an vom österreichischen Getränkehersteller Red Bull gefördert und fährt für
dessen Rennstall auch in der Formel 1.
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Sport
Crashpiloten Webber, Vettel*
THIERRY GROMIK / WITTERS
Einzelne sich reinhängt, damit ich am
Sonntagnachmittag besser dastehe.
SPIEGEL: Als Sie 2007 zum Team Toro Rosso stießen, besorgten Sie sich sogar ein
italienisch-deutsches Schimpfwörterbuch.
Vettel: Rumalbern, scherzen, das sind diese Kleinigkeiten, die ich meine. Mit
manch einem aus dem Team habe ich
mehr zu tun als mit der eigenen Familie.
Da muss man sich integrieren. Wenn der
Mechaniker einen Stoffel vor sich hat,
der die Zähne nicht auseinanderkriegt,
dann fragt er sich doch, ob er mit Freude
noch bis nachts um drei arbeiten will.
SPIEGEL: Welchen Einfluss haben Sie?
Vettel: Als Fahrer bin ich in einer zentralen
Position und trage eine unheimlich große
Verantwortung. Dadurch habe ich aber
auch die Macht, das Team hinter mich zu
bringen. Ich muss dafür sorgen, dass mein
Wort Gewicht hat. Im Training vor einem
Rennen zum Beispiel wird noch einiges am
Wagen abgestimmt und verstellt. Wenn der
Fahrer fordert, dieses und jenes muss verbessert werden, er aber nicht ernst genommen wird, dann sagen sich die Ingenieure
schnell: Jetzt soll er sich erst mal abreagieren, dann schauen wir in Ruhe weiter. Bei
einem anerkannten Fahrer dagegen hören
alle zu. Er kann sagen: Das passt nicht, das
brauche ich anders, sonst kann ich nicht
schnell genug fahren. Wenn jeder weiß,
dass er klare Ansagen bekommt, dann weiß
jeder auch, was er zu tun hat.
SPIEGEL: Ende Juni, beim Grand Prix von
Europa in Valencia, hat Mark Webber einen spektakulären Unfall überstanden.
Nachdem er auf seinen Vordermann auf-
gefahren war, wirbelte sein Wagen durch
die Luft. Was löst es bei Ihnen aus, wenn
der Teamkollege verunglückt?
Vettel: Man kennt alle Fahrer, es ist ja nur
ein kleiner Kollegenkreis, 24 Piloten.
SPIEGEL: Wie haben Sie Webbers Crash
wahrgenommen?
Vettel: Zuerst teilte mir das Team über
Funk mit: Safety-Car-Phase! Der Wagen
der Rennleitung fuhr sofort auf die Strecke. Als ich an der Unfallstelle vorbeikam, sah ich Marks Wagen, wusste aber
nicht, wie es dazu gekommen war. Ich
habe beim Weiterfahren auf die großen
Monitore geachtet, die für das Publikum
rund um die Piste aufgestellt sind. Ich sah,
wie ein Auto abhob und sich heftig überschlug. Als ich beim Team nachfragte, wie
es Mark geht, hörte ich, er sei in Ordnung.
Da fiel mir ein Stein vom Herzen.
SPIEGEL: Von dem Moment an war der Unfall für Sie erledigt?
Vettel: Natürlich. Das Rennen lief weiter.
SPIEGEL: Wie sah Ihr schlimmster Crash aus?
Vettel: Ich bin einmal mit 180 km/h in die
Streckenbegrenzung eingeschlagen und
habe mir einen Finger gebrochen. 2006
war das, in der Formel Renault, in Spa.
Da laufen dann Automatismen ab. Zuerst
habe ich geschaut, wie ich aus dem Wrack
rauskomme, weil das mitten auf die Strecke zurückgeschleudert worden war. Ich
bin hinter die Leitplanke gesprungen. Erst
da habe ich gespürt: Oh, irgendetwas tut
weh. Dann habe ich den Handschuh abgestreift und den Finger gesehen.
SPIEGEL: Hat das Gehirn ein Notfallprogramm gespeichert?
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Vettel: Gewisse Maßnahmen sind antrai-
niert, zum Beispiel die Hände vom Lenkrad zu nehmen. Wenn die Vorderräder
einen Schlag bekommen, kann es passieren, dass ein Finger bricht. Und ich kreuze die Arme vor der Brust, damit sie nicht
wild herumschleudern.
SPIEGEL: Macht es einen Unterschied, ob
ein technischer Defekt den Unfall ausgelöst hat oder es ein Fahrfehler war?
Vettel: Ja, schon. Wenn die Ursache außerhalb der eigenen Kontrolle liegt, geht
man relativ befreit wieder an die ganze
Sache heran – vorausgesetzt, dass der
Unfall nicht zu heftig war. Anders ist es,
wenn man ihn selber verschuldet hat.
Sich wieder dorthin zu treiben, wo man
bereits war, kostet Überwindung. Kommt
man an der Unfallstelle vorbei, merkt
man, dass einem ein bisschen mulmig ist.
SPIEGEL: Hatten Sie jemals Angst im Auto?
Vettel: Hm. Angst würde ich nicht sagen.
Ich weiß das Risiko zu respektieren.
SPIEGEL: Sogar im dichten Regen und bei
geringer Sicht fahren Sie ohne Furcht?
Vettel: Ich habe gar nicht die Zeit, daran
zu denken: Sollte ich lieber das Auto abstellen? Ich bin zu konzentriert. Die Räder schleudern das Regenwasser hoch,
der aerodynamisch geformte Unterboden
saugt das Wasser geradezu nach hinten
heraus. Wenn wir im Pulk fahren, sieht
spätestens der Vierte oder Fünfte im Feld
nichts mehr. Man fährt die Gerade herunter, rechts und links versetzt, Tempo jenseits 250, 300, je nachdem. Dann vertraut
* Beim Grand Prix in Istanbul am 30. Mai.
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XPB.CC
Talent Vettel, Vorbild Schumacher 1999: „Keine Verunsicherung oder Panik“
ist für mich jetzt nicht relevant. Vielleicht
mit 50 oder 60, wenn ich eine schöne
Ruhestandswampe habe.
SPIEGEL: Mit 19 haben Sie in Ihrem ersten
Formel-1-Rennen gleich den ersten Punkt
geholt. Mit 21 folgten die erste Pole-Position und der erste Sieg. Trotzdem haben
Sie nie erstaunt reagiert. Wieso nicht?
Vettel: In all den Momenten habe ich immer meine eigene Erwartung erfüllt. Ich
dachte nie: Bin ich im falschen Film?, sondern: Das ist das, wofür ich so lange und
so hart gearbeitet habe. Mir fallen Bilder
ein, wie ich nachts vor dem Computer
saß und technische Daten analysiert habe.
Wie ich als 13-Jähriger erst um fünf ins
Freibad kam, weil ich vorher noch auf
dem Rennrad trainiert hatte.
SPIEGEL: Trotzdem konnten Sie kaum mit
dieser rasanten Karriere rechnen.
Vettel: In ruhigen Momenten greife ich
mir schon mal an den Kopf: Mensch, das
hier ist jetzt nicht mehr die Formel 3 –
das ist die Formel 1, die du früher mit deinem Vater im Fernsehen geschaut hast!
SPIEGEL: Ihr ältester Formel-1-Kollege tut
sich viel schwerer als gedacht. Überrascht
Sie Michael Schumachers Abschneiden?
MARK THOMPSON / GETTY IMAGES
man auf sich selber, auf die anderen, darauf, dass sie wissen, was sie hier tun.
SPIEGEL: Sie sind in Barcelona trotz gebrochener Bremsscheibe das Rennen zu
Ende gefahren. Warum dieser Wahnsinn?
Vettel: Jeder einzelne Punkt zählt in der
Meisterschaft.
SPIEGEL: Wussten Sie nicht, was an Ihrem
Wagen kaputtgegangen war?
Vettel: Doch, ich habe es ja gespürt. Ich
bin auf eine Kurve zugefahren, es machte
batsch, ein richtiger Schlag, ich konnte
das Auto gerade noch abfangen. Danach
zog das Auto zu einer Seite, sobald ich
aufs Bremspedal trat. Wir, das Team an
der Box und ich, waren eigentlich an dem
Punkt angelangt zu sagen, wir geben das
Rennen auf, das Risiko ist zu groß. Ich
bin reingefahren, aber die Mechaniker
konnten beim Durchchecken nichts finden. An den tragenden Teilen, den Aufhängungen, war alles in Ordnung. Also
wurde ich wieder rausgeschickt.
SPIEGEL: Eine Entscheidung des Teams?
Vettel: Letztendlich bin ich auf eigene
Faust weitergefahren. Ich habe versucht,
die Bremsen extrem zu schonen. Die letzten zehn Runden habe ich nicht mehr
gebremst. Sonst hätte ich riskiert, dass
Bremsflüssigkeit austritt und die Bremsen
gar nicht mehr funktionieren, auch nicht
im Notfall. Dadurch, dass ich nach hinten
sehr viel Luft hatte, konnte ich Platz drei
retten. Das sind sehr viele Punkte.
SPIEGEL: Sollten Sie diese Saison den Weltmeistertitel holen, wären Sie der jüngste
Champion in der Geschichte der Formel 1. Was bedeutet Ihnen das?
Vettel: Wichtig ist es für mich, Weltmeister
zu werden. Ob der jüngste oder nicht, das
Vettel (r.), SPIEGEL-Redakteur*
* Detlef Hacke in Silverstone.
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„Nachts vor dem Computer“
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Vettel: Weder positiv noch negativ. Es ist
alles andere als einfach, nach dreijähriger
Pause zurückzukehren, selbst wenn man,
wie er, nie ganz verschwunden war aus
der Formel 1. Die Autos haben sich verändert, die Reifen auch. Viele Dinge sind
nicht mehr so, wie er sie gewohnt war.
SPIEGEL: Es erstaunt, wie wenig Schumacher seine Erfahrung zu nützen scheint.
Vettel: Ich glaube, er macht einen guten
Job. Das Blatt kann sich schnell wenden.
SPIEGEL: Seine Probleme mit den Reifen
sind kaum zu übersehen. Sie scheinen
einfach nicht zu seinem Fahrstil zu passen. Was ist so kompliziert an Reifen?
Vettel: Sie sind der einzige Kontakt zwischen Auto und Strecke, deshalb haben
sie so viel Einfluss auf das Fahrverhalten.
Alles, was am Rennwagen verstellt wird,
wirkt sich direkt oder indirekt über die
Reifen aus. Es ist wichtig, dass sie einen
bestimmten Temperaturbereich erreichen.
Bleiben sie zu kühl, haften sie schlecht,
werden sie zu heiß, verschleißen sie zu
schnell. Ob das Auto gut abgestimmt ist,
wie aggressiv der Fahrer lenkt, all das
schlägt sich auf die Reifen nieder. Fährt
man los wie ein Stier, baut der Reifen zu
schnell ab. Fährt man zu sanft, kommt er
vielleicht nie auf Temperatur.
SPIEGEL: Ein paar Grad ändern viel?
Vettel: Extrem viel. Es sind pro Runde
vielleicht nur zwei, drei Zehntelsekunden,
aber das summiert sich im Rennen.
SPIEGEL: Aber all das galt doch auch zu
Zeiten von Schumachers erster Karriere.
Was hat sich geändert?
Vettel: Michael hat 2006 aufgehört. Seit
2007 sind die Reifen für alle gleich. Es
gibt nur noch einen Ausrüster, der allen
das gleiche Material liefert, ohne Ausnahme. Es gibt also keine Möglichkeit mehr,
die Reifen dem Auto oder dem Fahrer anzupassen – alles muss dem Reifen angepasst werden. Seit 2009 wird wieder mit
Slicks gefahren, ohne Profil, außerdem
sind die Vorderreifen schmaler geworden
und haften schlechter. Ein sehr komplexes
Thema. Die Reifen werden nicht umsonst
„das schwarze Gold“ genannt.
SPIEGEL: Sie sind mit Schumacher befreundet. Fragt er Sie um Rat?
Vettel: Nein. Selbst wenn er es täte: Weil
wir verschiedene Autos fahren, ließe sich
mein Wissen gar nicht übertragen.
SPIEGEL: Wird Schumacher die Schwierigkeiten in den Griff bekommen?
Vettel: Wenn jemand das schafft, dann er.
SPIEGEL: Stimmt der Eindruck, dass ihm
die Mühsal seines Comebacks wenig auszumachen scheint?
Vettel: Ja, ohne Zweifel. Wenn ich ihm
ins Gesicht schaue und seine Körpersprache lese, dann sehe ich keine Verunsicherung oder gar Panik. Michael kennt das
doch, Tag eins der Held zu sein, Tag zwei
der Depp. Und Tag drei wieder der Held.
SPIEGEL: Herr Vettel, wir danken Ihnen
für dieses Gespräch.
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