Weiße Kittel – Dunkle Geschäfte

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Dina Michels
Weiße Kittel –
Dunkle Geschäfte
Im Kampf gegen
die Gesundheitsmafia
Dina Michels, die Leiterin der Abteilung zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen bei einer der
großen Ersatzkassen, der Kaufmännischen Krankenkasse Hannover (KKHAllianz), beschreibt in ihrem Buch in
sehr eindringlicher Weise, wie in unserem Gesundheitssystem systematisch betrogen, korrumpiert und mit illegalen
Praktiken die Versichertengemeinschaft
jährlich um viele Millionen, wenn nicht
Milliarden Euro geschädigt wird. Die
zahlreichen Fallbeispiele lesen sich dabei so spannend wie ein Kriminalroman
– allerdings entstammen sie alle der Realität.
Die tägliche Ermittlungsarbeit der Autorin belegt, dass die betrügerischen Machenschaften offenbar fast überall im
medizinischen Alltag vorkommen: bei
niedergelassenen ÄrztInnen, Krankenhäusern, Apotheken, PhysiotherapiePraxen, anderen Heilhilfsberufen oder
Sanitätshäusern. Die vorgelegten Fallbeispiele und Hochrechnungen untermauern zudem die Schätzung der Ar-
Dr. med. Mabuse 182 · November /Dezember 2009
beitsgruppe Gesundheit von Transparency Deutschland, dass jährlich zwischen drei bis zehn Prozent des Gesundheitsetats, also zwischen sechs und 24
Milliarden Euro, durch Betrug und Korruption im deutschen Gesundheitswesen verlorengehen.
In sechs Kapiteln über Leistungsanbieter (Apotheker auf Abwegen, Betrüger in Weiß, Therapeuten im Zwielicht,
Gut geschmiert ist halb gewonnen [Gesundheitshandwerker oder Heilhilfsberufler bzw. Sanitätshäuser], Tatort Krankenhaus) und einem über die Leistungsempfänger (Patienten als Selbstbediener)
werden reale Fälle aus der Ermittlungsarbeit geschildert und die Auswirkungen dieser betrügerischen Verhaltensweisen für die Versichertengemeinschaft
berechnet. Bemerkenswert ist, dass allein in zwei Jahren von einer einzigen
Kasse in über 1.100 Delikten ermittelt
wurde, von denen ein Fünftel Ärzte
und Zahnärzte betraf.
Dina Michels Buch ist eine Fallsammlung von besonderem Wert: Exemplarisch werden bestimmte Betrugs- und
Korruptionsmuster beleuchtet, aber auch
die sie begünstigenden Besonderheiten
des deutschen Gesundheitssystems. Als
gelernte Juristin entlarvt die Autorin das
notorische Versagen der Aufsichts- und
Kontrollmechanismen einschließlich der
nur unzulänglichen strafrechtlichen Verfolgung von zur Anzeige gebrachten
Delikten. Sie beklagt die Halbherzigkeit
der staatsanwaltlichen Ermittlungen,
die oftmals zur Einstellung von Verfahren führt. Hauptursachen hierfür: mangelnde personelle Ausstattung, aber auch
Kompetenzdefizite, gepaart mit einer
immer noch ausgeprägten Hochachtung vor den „weißen Kitteln“. Für Dina Michels ist die Erfahrung, dass die im
Gesundheitsbereich tätigen Berufsgruppen die Konsequenzen ihres betrügerischen Tuns kaum fürchten müssen,
Hauptnährboden für ihre zunehmende
Anfälligkeit.
Gleichzeitig zeugt ihr Buch von den
Möglichkeiten der Kostenträger, effiziente Gegenmaßnahmen zu entwickeln und
erfolgreiche Korruptionsbekämpfung zu
betreiben. Eine konsequente Nutzung
der bereits vorhandenen Instrumente –
wie etwa das gemeinsame Vorgehen der
Stellen zur Bekämpfung von Fehlverhalten im Gesundheitswesen, die bei den
Kassenärztlichen Vereinigungen und den
Krankenkassen eingerichtet sind, sowie
eine entsprechende personelle Ausstattung dieser Stellen – würde hierzu einen Beitrag leisten können.
Im Schlusskapitel werden Patienten
und Krankenkassen aufgefordert, entschiedener gegen Unregelmäßigkeiten
vorzugehen und diese zur Anzeige zu
bringen. Unabdingbar sind auch die
Veränderung der gegenwärtigen Justizpraxis und eine konsequente Anwendung der gesetzlichen Grundlagen wie
des § 299 Strafgesetzbuch (StGB) oder
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des § 263 StGB auf den Gesundheitsbereich, um die analysierten Schwachstellen wirksam zu bekämpfen. Die Krankenkassen mit ihren zunehmenden
Möglichkeiten, aus den ihnen übermittelten Daten Betrugsfälle zu „fischen“,
können durch bessere Zusammenarbeit
untereinander und mit den Kassenärztlichen Vereinigungen nach Ansicht der
Autorin viel effizienter werden. Ebenso
kann die neue Gesundheitskarte zu
mehr Transparenz und damit zu weniger Missbrauch führen.
Das Buch ist eine hochinteressante
Quelle von gut recherchierten und oftmals dramatischen Betrugs- und Missbrauchsmustern im deutschen Gesundheitswesen. Es sollte alle Angehörigen
des Gesundheitsfachs, aber auch Personenkreise außerhalb des Gesundheitssystems, insbesondere jedoch Juristen,
Aufsichtsbehörden und die Gesundheitspolitik interessieren.
Dina Michels Motiv, dieses mutige
und offene Buch zu schreiben: „Bis heute
sind sich die meisten Menschen gar
nicht bewusst, welch ein großes Problem Betrug und Korruption oder Vetternwirtschaft im Gesundheitswesen in
Wahrheit sind. In Sizilien gingen die
Behörden erst dann wirksam gegen die
Mafia vor, als die Öffentlichkeit gegen
Ende des letzten Jahrhunderts akzeptieren musste, dass es diese Kartelle tatsächlich gab. Vorher war ihre Existenz
insbesondere von den Eliten schlichtweg
verneint worden. Auch wenn im deutschen Gesundheitswesen keine sizilianischen Verhältnisse herrschen, steht eines fest: Verschweigen und Zudecken
dient nur den Tätern.“, ist nichts hinzuzufügen.
Dr. med. Angela Spelsberg,
Ärztliche Leiterin des Tumorzentrums
Aachen, Kommissarische Leiterin der
AG Gesundheit und Mitglied des Vorstands
Transparency International
Deutschland e. V.
Rowohlt Berlin Verlag,
Berlin 2009, 208 Seiten,
16,90 Euro
Ulrich Schwabe und Dieter Paffrath
(Hrsg.)
ArzneiverordnungsReport 2009
Aktuelle Daten, Kosten, Trends
und Kommentare
Die Arzneimittelversorgung in der Gesetzlichen Krankenversicherung (GKV)
ist so transparent wie kaum ein anderer
Bereich im Gesundheitswesen. Jedes
Arzneimittel hat eine eigene Klassifikation und Codierung, sogar nach Menge
und Dosierung. Für jedes Mittel liegen
Informationen über die Hersteller und
das Einführungsdatum vor; für alle Mittel, die GKV-Versicherten verschrieben
werden, kennen wir die Mengen der
verordneten Tagesdosierungen und die
Ausgaben. Eine Basis dafür, dass jedes
Jahr der Umfang der Arzneimitteltherapie in der GKV abgebildet werden kann
und dass ein Expertenteam um den Heidelberger Pharmakologen Ulrich Schwabe die verordneten Arzneimittel nach
der therapeutischen Wirksamkeit und
der Wirtschaftlichkeit zu bewerten vermag. So nun auch im 25. Arzneiverordnungs-Report 2009 (AVR) für das vergangene Jahr.
Laut AVR beliefen sich die GKV-Ausgaben im Jahr 2008 auf 29,2 Milliarden
Euro und stiegen damit um 5,3 % gegenüber dem Vorjahr. Das ist die höchste
Steigerungsrate gegenüber allen anderen Leistungsbereichen (mit 52,6 Milliarden Euro, also plus 3,5 %, für die stationäre und 24,3 Milliarden Euro, also
plus 5,0 %, für die ärztliche Versorgung).
Dabei fallen die Zuwächse in einigen
Arzneimittelgruppen besonders auf: Angiotensinhemmstoffe (zum Beispiel ACEHemmer und Sartane) mit plus 113
Millionen Euro, Antidiabetika mit plus
125, Immuntherapeutika mit plus 429
und die Tumortherapie mit plus 235
Millionen Euro. Auch die Ausgaben für
Impfstoffe stiegen mit 230 Millionen
Euro dramatisch an, verantwortlich dafür ist vor allem die HPV-Impfung.
An ihrem Beispiel lässt sich das Problem der Preisfindung für Arzneimittel
in Deutschland beschreiben: Bei uns
haben pharmazeutische Hersteller noch
immer das Privileg, ihre Preise selbst
Dr. med. Mabuse 182 · November /Dezember 2009
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festlegen zu können. Verhandlungen
über den geforderten Preis sind erst vorgesehen, wenn die seit dem 1.4.2007 im
Sozialgesetzbuch V verankerte KostenNutzen-Bewertung zur Realität wird,
ihre Umsetzung wird aber noch eine
Zeit in Anspruch nehmen. So kommt
es, dass die Grundimmunisierung mit
den Gebärmutterhalskrebs-Impfstoffen
Gardasil oder Cervarix in Deutschland
477 Euro kostet, während sie in den
USA – mit den gleichen Impfstoffen – für
247 Euro zu haben ist. Der AVR weist
mit Recht darauf hin, dass die Preisregelungen im Bereich der patentgeschützten neuen Präparate derzeit ungenügend sind. Wenn die GKV nicht auf
Dauer finanziell überfordert werden soll,
sind neue Konzepte unbedingt erforderlich.
Die freie Preisfestlegung durch die
Hersteller muss ein Ende finden. Im
Rahmen der Koalitionsverhandlungen
von CDU/CSU und FDP wurde dafür
nun auch eine Strategie diskutiert: Es
wird daran gedacht, eine so genannte
konditionierte Zulassung einzuführen.
Dieses Instrument soll zu Lasten der Industrie die Durchführung von Studien
verlangen, die eine Preisbewertung und
eine Verhandlung über den Wert neuer
Arzneimittel ermöglichen. Verweigert
sich ein Pharmaunternehmen der Preisverhandlung oder ist der Preis zu hoch
angesetzt, wird ein Höchsterstattungsbetrag für die GKV-Versicherten festgelegt.
Die Einsparvolumina sind in den vergangenen Jahren deutlich gesunken.
Sie reichen daher nicht mehr aus, um
die Mehrausgaben bei bestimmten Indikationsgruppen, vor allem bei den Arzneimitteln zur Behandlung von Multipler Sklerose, rheumatoider Arthritis oder
Krebs, gegenzufinanzieren. Zwar werden noch immer 3,4 Milliarden Euro
Einsparpotenzial errechnet, die kommen aber zum Teil eher theoretisch zustande. Realistisch sind solche Werte
nicht, wird doch teilweise mit Preisen
gerechnet, die im Ausland wie etwa
Großbritannien gelten, aber nicht bei
uns. An diesen Stellen wird der AVR
merkwürdig unwissenschaftlich: Die
zum Teil hohen Generikapreise kommen bei uns durch den sinnvollen, vom
Preis des Arzneimittels unabhängigen
Fixaufschlag von 8,10 Euro, beziehungsweise für die GKV von 5,80 Euro, in
Dr. med. Mabuse 182 · November /Dezember 2009
den Apotheken zustande. Dadurch werden in der Tat etwa 20 bis 25 % der Arzneimittel, die früher besonders niedrige
Preise hatten, deutlich teurer. Ein Mittel, das früher 2,50 Euro kostete, liegt
nun bei rund zehn Euro. Für die GKV
sind jedoch 75 bis 80 % der Mittel durch
diesen Fixaufschlag im Preis deutlich
günstiger geworden. Wenn also Einsparpotenziale berechnet werden, sollten diese Vorteile nicht außer Acht gelassen werden.
Der AVR ist aus pharmakologischer
Sicht nach wie vor ein überaus empfehlenswertes Buch, mit dem alle am Arzneimittelmarkt Interessierte aktuelle und
auf breiter Evidenz beruhende Bewertungen bekommen. Im Rahmen epidemiologischer Fragestellungen ist der AVR
aber nur begrenzt nützlich, weil er aufgrund seiner globalen Datendarstellung
allenfalls noch regionale und arztgruppenspezifische Hinweise geben kann.
Jegliche patientenbezogenen Behandlungsverläufe sind nicht darstellbar.
Hierfür wären andere Datenvoraussetzungen notwendig. Auch bei arzneimittelpolitischen Bewertungen ist der AVR
nicht immer eine Referenzpublikation,
so sind zum Beispiel Rabattverträge sicherlich nicht grundsätzlich gut.
Der Bewertung von Herbert Reichelt,
dem Vorstandsvorsitzenden des AOKBundesverbandes, anlässlich der Vorstellung des AVR am 17.10.2009 würden
aber wohl alle zustimmen: „Wir sagen
‚ja‘ zu gutem Geld für gute neue Arzneimittel, ‚nein‘ zu Mondpreisen.“ Jetzt
brauchen wir nur noch eine wirksame
Strategie, dieses Ziel kurzfristig zu erreichen.
Gerd Glaeske,
Arzneimittelexperte,
Professor am Zentrum für Sozialpolitik
(ZeS) der Universität Bremen
Springer Verlag,
Heidelberg 2009,
1.077 Seiten, 47,95 Euro
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Theda Borde, Matthias David, Ingrid
Papies-Winkler (Hrsg.)
Lebenslage und
gesundheitliche Versorgung von Menschen
ohne Papiere
In den letzten zehn Jahren haben das
Themenfeld „Illegalität“ und speziell die
Lebenslage von Menschen ohne Papiere
in der wissenschaftlichen und öffentlichen Diskussion gesteigerte Aufmerksamkeit erfahren. Mit dem vorliegenden
Sammelband legt der Mabuse-Verlag nun
eine Publikation vor, welche sich auf
einen zentralen Bereich daraus konzentriert, nämlich auf die gesundheitliche
Lage und Situation von Menschen ohne
gesicherten Aufenthaltsstatus.
Den Ausgangspunkt dieses Herausgeberwerkes bildet eine Reihe von Vorträgen, die im Rahmen eines Migrations-Symposiums auf dem Kongress
„Armut und Gesundheit 2009“ in Berlin gehalten wurden. Insgesamt werden
in dem Band 14 Beiträge von VertreterInnen aus Wissenschaft und Praxis vorgestellt. Das Ziel des Buches besteht darin, „Erkenntnisse und Erfahrungen aus
Theorie und Praxis zusammen zu bringen und neue Perspektiven für die insbesondere in Deutschland defizitäre Einbeziehung von ‚Menschen ohne Papiere‘
in die Gesundheitsversorgung weiter zu
entwickeln.“ (S. 11)
Der Zugang zum Thema und die Sortierung der Beiträge erfolgen dabei entlang von drei Schwerpunkten: Der erste
Schwerpunkt bezieht sich auf die rechtlichen, sozialen und politischen Rahmenbedingungen der Gesundheitsversorgung von Menschen ohne Papiere.
Den zweiten Schwerpunkt bilden Beiträge zu Erfahrungen und etablierten
Lösungsansätzen aus anderen Ländern,
von politischen Akteuren und Projekten. In einem dritten Schwerpunkt werden Entwicklungen aus der Praxis in
Deutschland dargestellt.
Insgesamt liefert der Sammelband einen umfassenden Überblick über die
aktuelle gesundheitliche Situation und
Versorgungslage von Menschen ohne
Papiere sowie über exemplarische und
zukünftige praktische Ansätze, sie zu ver-
bessern. Der Schwerpunkt liegt dabei in
der Darstellung der Situation in Berlin.
Die Mehrzahl der Beiträge verfolgt außerdem einen eher pragmatischen und
problemorientierten Zugang, wobei regelmäßig eine Anknüpfung an etablierte
wissenschaftliche Studien und deren Ergebnisse vorgenommen wird. Des Weiteren wird in einzelnen Beiträgen ein
expliziter Bezug zum Arbeitsfeld „Soziale Arbeit“ hergestellt und Perspektiven
für Hilfemöglichkeiten sowie Anregungen für die zukünftige fachspezifische
Auseinandersetzung werden eröffnet.
Die internationale Perspektive bezieht
sich dagegen eher auf den Bereich der
politisch-normativen Grundlagenarbeit.
Etwas zu kurz kommt in dem Sammelband die ethische und allgemeine
theoretische Auseinandersetzung mit
dem Thema. Beim Durchlesen des Bandes wirkt außerdem die teilweise auftretende inhaltliche Redundanz etwas
störend: In der Mehrzahl der Artikel
wird die Lebenslage thematisiert sowie
nochmals die rechtliche Situation und
die Hindernisse in der Arbeit mit Menschen ohne Papiere aufgegriffen. Diese
Redundanz kann allerdings gleichzeitig
auch als Vorteil betrachtet werden, denn
dadurch erhält der Band eine eindeutige Argumentationslinie und erfährt eine
inhaltliche Integration, welche bei anderen Sammelbänden oftmals verloren
geht.
Als allgemeines Fazit lässt sich festhalten: Ein umfangreicher Überblick zu
einem wichtigen Thema und einem sicherlich spannenden Symposium, mit
Ansatzpunkten für die Praxis sowie für
eine vertiefte Auseinandersetzung in der
Forschung.
Patrick Schupp,
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
an der Fachhochschule
Ludwigshafen am Rhein
Theda Borde, Matthias David, Ingrid Papies-Winkler (Hrsg.)
Lebenslage
und gesundheitliche
Versorgung von
Menschen ohne Papiere
Mabuse-Verlag
Mabuse-Verlag, Frankfurt
am Main 2009, 248 Seiten,
26,90 Euro
Dr. med. Mabuse 182 · November /Dezember 2009
Buchbesprechungen
Bärbel Peschka und Katja de Bragança
(Hrsg.)
Das Wörterbuch
OHRENKUSS
1998 – 2008
Die besten Zitate und Fotos
aus 10 Jahren Ohrenkuss
Der besondere Wert von Wörterbüchern ist, dass sie einen umfassenden
Blick auf die Welt ermöglichen. Heute,
da kaum mehr jemand – wie weiland
noch die Enzyklopädisten um D’Alembert – der Auffassung ist, dass es ein alle Perspektiven und Erkenntnisquellen
umfassendes Wissen gibt, gewinnt der
Kontext an Bedeutung, in dem Erklärungen gegeben werden. Für das „Wörterbuch OHRENKUSS“, das selten genug auf dem Schreibtisch des Rezensenten liegt, weil es meistens irgendjemand
entliehen hat, um darin zu blättern und
nachzuschlagen, bedeutet das: Dieses
Wörterbuch erschließt die Welt in einem ganz besonderen Zusammenhang.
Die Texte von A wie Affenskelett
über P wie Präimplantationsdiagnostik
oder Presseausweis, S wie Schnarchen,
Schnuller, Schokoladenherstellung bis Z
wie Zombieball oder Zusammenspiel entstammen dem Diktat oder der Feder
von AutorInnen der Zeitschrift Ohrenkuss. So unterschiedlich diese AutorIn-
Dr. med. Mabuse 182 · November /Dezember 2009
nen die Welt an sich auch wahrnehmen, haben sie alle doch eine wichtige
Gemeinsamkeit: Bei ihnen wurde das
Down-Syndrom diagnostiziert.
Dass sie sich dadurch erfreulicherweise nicht daran hindern lassen, Reisen
in alle Welt, aber auch an die Stätten
der deutschen Bürokratie zu unternehmen, dass sie extrem kommunikationsfreudig und wortgewandt sind, macht
ihr Wörterbuch für uns LeserInnen zu
einer Quelle der Inspiration. „Tango ist
ein wilder Tanz, die Schritte sind nicht
einfach zu kapieren“, lesen wir dort in
aller Deutlichkeit, während wir über die
Mongolei, in der einige Ohrenkuss-AutorInnen zu Studienzwecken mehrere
Wochen verbracht haben, aus erster
Hand erfahren: „In der Mongolei ist das
Klima sehr rauch, die Sommer sind
kurz und die Winter sind lang.“
Autoren wie Michael Koenig nehmen sich aber auch brisanter Themen
an wie „Baby mit Down-Syndrom“ und
schreiben nicht nur den Biopolitikern
ins Stammbuch: „Ja das kann ich euch
erklären, was das schöne an einem Baby mit Down-Syndrom sein kann, das
schöne daran ist, das man sich noch intensiver um so ein Baby kümmern könnte. So ein Baby mit Down-Syndrom ist
ein besonderes Baby.“
Illustriert ist der hervorragend ausgestattete und schön gestaltete Band mit
Fotos, welche die AutorInnen zeigen,
wie sie die Welt an inspirierenden Orten
erkunden: in Museen, Ausstellungshal-
len, Gedenkstätten, aber auch auf Reisen – und als Babys. Die Fotografien eröffnen damit einen zusätzlichen Einblick, der sich von dem, wie uns, die wir
keine Behinderung haben, sonst Menschen mit Behinderungen präsentiert
werden, erheblich unterscheidet.
Das Ohrenkuss-Wörterbuch (ISBN
978-3-00-24933-4) erschien zum zehnjährigen Bestehen der Zeitschrift Ohrenkuss und ist in drei verschiedenen Cover-Varianten bei der Ohrenkuss-Redaktion, Tel. 0228-386 23 54 oder info@
ohrenkuss.de, erhältlich. Weitere Informationen gibt es unter:
www.ohrenkuss.de
Oliver Tolmein,
Rechtsanwalt in Hamburg
Eigenverlag, Ohrenkuss Redaktion,
Bonn 2008, 300 Seiten, 29,50 Euro
plus Porto und Verpackung
(für Ohrenkuss-Abonnenten
24,90 Euro)
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Buchbesprechungen
Marianne Rabe
Ethik in der Pflegeausbildung
Beiträge zur Theorie und Didaktik
Marianne Rabes Dissertation schließt
eine Lücke in der aktuellen pflegeethischen Debatte. Während mittlerweile
eine ganze Reihe von Einführungen und
problembezogenen Arbeiten erschienen
ist, fehlte ein Werk, das auf die Vermittlung ethischer Kompetenzen in der Ausbildung zielt. Hier setzt das Buch von
Marianne Rabe einen Standard, der für
lange Zeit Bestand haben wird.
Das Buch gliedert sich in sechs größere Abschnitte. Im ersten skizziert die
Autorin die Entwicklung in der Pflegeausbildung, um dann in zwei Grundlagenkapiteln den aktuellen Pflegeethikdiskurs in Deutschland und die Entwicklungen in der Pflegedidaktik aufzuarbeiten. Dies mündet in den Entwurf
eines Konzepts für den Ethikunterricht
in der Ausbildung, für das eine umfassende Unterrichtseinheit zum Thema
„Pflege, Ethik und Anthropologie“ entworfen wird. Abschließend werden institutionelle und organisatorische Voraussetzungen für die ethische Reflexion in der Praxis des Gesundheitswesens
thematisiert.
Das Buch zeichnet sich insgesamt
durch eine profunde Kenntnis der jeweils aktuellen fachlichen Debatten aus.
Gleichzeitig gelingt es der Verfasserin,
die Zusammenhänge allgemein verständlich zu präsentieren. Das zweite Kapitel
bietet einen hervorragenden systematischen Überblick über die gegenwärtige
Diskussion und entwirft einen eigenen
pflegeethischen Ansatz, der phänomenologisch-anthropologisch orientiert ist.
Dabei verbindet Marianne Rabe die anthropologischen Dimensionen der Leiblichkeit und der Widerfahrnis mit Personalität und Autonomie. Die jeweiligen
Dimensionen werden dabei nicht unkritisch zusammengemengt, sondern bedingen und begrenzen sich wechselseitig, was sich zum Beispiel am wohltuend
depotenzierten Autonomiebegriff zeigt.
Den Übergang zur Praxis thematisiert
schließlich ein Reflexionsmodell, das
sich von einseitig an Machbarkeit orien-
tierten Entscheidungsfindungsschemata deutlich abhebt.
Auch das Grundlagenkapitel über Didaktik kann als eigenständige Zusammenfassung der aktuellen pflegedidaktischen Diskussion gelesen werden. Hier
setzt die Verfasserin an der bildungsorientierten Didaktik des Erziehungswissenschaftlers Wolfgang Klafki an und zieht
von da aus Verbindungen zu handlungsund kompetenzorientierten Ansätzen.
An dieser Stelle hätte sie sich allerdings
durchaus kritischer mit dem nicht unproblematischen Kompetenzbegriff auseinandersetzen können.
Das Konzept für den Ethikunterricht
im vierten Kapitel schließt an das Konzept der Wissenschaftlerinnen Ute Oelke und Marion Menke an und bezieht
sich inhaltlich auf das im zweiten Kapitel entworfene Verständnis von Pflegeethik. Dieses zielt auf die Einübung der
ethischen Reflexion in der Praxis und
entwickelt Ethik als anthropologische
Reflexion der Moral, die ihre Dringlichkeit besonders in den Grenzsituationen
des menschlichen Lebens erfährt. Wie
das konkret aussehen kann, wird dann
in dem Unterrichtsentwurf präsentiert.
Insgesamt legt Marianne Rabe ein
äußerst lesenswertes Buch vor, das nicht
nur PflegelehrerInnen interessieren sollte. Zudem ist es ein eindrucksvolles Plädoyer dafür, dass Pflegende die inhaltliche Ausprägung und die pädagogische
Vermittlung der Pflegeethik in eigene
Hände nehmen.
Hans-Ulrich Dallmann,
Professor an der Evangelischen
Fachhochschule Ludwigshafen,
Fachbereich Pflege
Hans Huber Verlag,
Bern 2009, 336 Seiten,
39,95 Euro
Dr. med. Mabuse 182 · November /Dezember 2009
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