Z w i s c h e n F ü h r u n g s a n s p r u c h u n d ­h e r a u fz i e h e n d e r M u lt i p o l a r i t ä t: Amerikas Rolle in der Welt Gerhard Wahlers Barack Obamas Wahlkampf stand unter den Schlagworten Hope und Change. Nicht nur in Amerika, sondern auch in Deutschland und Europa beschrieben diese beiden Schlagworte die Gefühlslage der Bevölkerung: Man hoffte auf einen Wandel, gerade in der ame­ rikanischen Außenpolitik, gegenüber der Präsidentschaft George W. Bushs. Allerdings gab es auch schon während des Wahlkampfes viele Stimmen, die vor überzogenen Erwartungen gewarnt haben. Außenpolitischer Wandel vollzieht sich, wenn überhaupt, nur in kleinen Schritten. Erschwerend kommt hinzu, dass Obama nicht für seine außenpolitischen Vorstellungen gewählt wurde, sondern für seine innenpolitischen, insbesondere wirtschaftspolitischen Ideen. Die Bevölkerung gab den Republikanern, die acht Jahre lang das Weiße Haus und sechs Jahre lang den Kongress bestimmt hatten, die politische Verantwortung für die Finanzkrise – und Obama den Auftrag zu ihrer Überwindung. Vor diesem Hintergrund blieb Obamas Spielraum für außenpolitische Initiativen gering und seine Prioritätensetzung zugunsten der Wirtschafts- und Innenpolitik eindeutig. Allerdings gilt nach wie vor der alte Satz von Richard Holbrooke: „Foreign policy never lets an American President go.” Um die außenpolitische Stoßrichtung der USA unter der bisherigen Präsidentschaft Obamas zu erfassen, ist es besonders wichtig, über die tagesaktuelle Politik hinaus den strategischen Kontext in den Blick zu nehmen: Wie entwickelt sich die amerikanische Rolle in der Welt? Welche Strategien werden in Washington diskutiert, wie Amerika sich in der internationalen Politik des 21. Jahrhunderts verhalten soll – und kann? Und was bedeutet das für Europa und die transatlantische Partnerschaft? 44 Um diese Fragen zu beantworten, sollen drei Themenkomplexe angesprochen werden. Zunächst ist es sinnvoll, einen Blick auf die jüngere Vergangenheit der amerikanischen Außenpolitik zu werfen, um besser verstehen zu können, in welchem Zusammenhang Obama sich nun positionieren muss. Dann sind einige Politikfelder zu beleuchten, wie die Afghanistan- und die Russland-Strategie der USA, um anhand der politischen Praxis zu zeigen, was diese Positionierung Obamas konkret bedeutet. Schließlich werden fünf Thesen zur Zukunft des transatlan­ tischen Verhältnisses vorgestellt. Historischer Kontext: US-Rollen in der Welt Die wichtigste weltpolitische Zäsur der letzten Jahrzehnte war nicht er 11. September 2001, sondern das Ende des Kalten Krieges, symbolisiert durch den Fall der Berliner Mauer am 9. November 1989. Denn mit dem Ende des Kalten Krieges, dem Zusammenbruch der Sowjetunion, änderte sich die Weltordnung. Sprach man vorher von einer bipolaren Welt, die von zwei Supermächten bestimmt war, gab es in den 1990er Jahren nur noch eine Supermacht: Die USA waren die Vormacht einer unipolaren Weltordnung. Drei US-Präsidenten waren seit dem Ende des Kalten Krieges im Amt, die die USA als Hegemon in einer unipolaren Welt gesehen haben. Zugleich jedoch haben George Bush (Senior), Bill Clinton und George W. Bush (Junior) ganz unterschiedliche außenpolitische Strategien verfolgt, wie Amerika diese Rolle ausfüllen sollte. In diesen Strategien scheint ein idealtypisches Koor­ dinatensystem amerikanischer Außenpolitik auf, in dem auch Obama verortet werden kann. Obama muss sich zu den Strategien seiner Vorgänger verhalten und zwischen ihnen auswählen, wenn er die gegenwärtige Rolle der Vereinigten Staaten in der Welt definieren will. Bush Senior war ein Vertreter des außenpolitischen Realismus. Er dachte in Kategorien des nationalen Interesses und der Macht. Das bedeutet auch, dass gute, friedliche Beziehungen zwischen den Großmächten Vorrang vor allen anderen außenpolitischen Zielen haben. Kern der Außenpolitik Bushs war daher, den Status quo zu erhalten – ein angesichts der Machtverteilung im internationalen System nach dem Ende des Kalten Krieges für die USA sehr vorteilhafter Status quo. Solch eine realpolitische Perspektive auf die internationalen Beziehungen lässt wenig Raum für idealistisch-moralische Ambitionen zur Verbesserung der Welt. Bush selbst sagte einmal verächtlich, er habe kein Talent für das „vision thing”. 45 Bush Senior übersetzte seine realpolitische Haltung deutlich in konkrete Politik. So hat er zum Beispiel den Irak-Krieg von 1990/91 zur Befreiung Kuwaits geführt – mit UN-Mandat und an der Spitze einer breiten internationalen Koalition. Er hat den schnellen militärischen Erfolg aber nicht dazu genutzt, Saddam Hussein zu stürzen, den Irak politisch zu reformieren oder gar eine visionäre Neuordnung des Nahen und Mittleren Ostens zu versuchen. Er hat die Annexion Kuwaits rückgängig gemacht und den Status quo wiederhergestellt. Er ist – was damals viele kritisierten – nicht darüber hinausgegangen. Ein anderes Beispiel sind die Jugoslawienkriege in den 1990er Jahren. Bush weigerte sich, in den Bosnienkrieg militärisch einzugreifen. Sein Außenminister Baker sagte den berüchtigten Satz: „We don’t have a dog in this fight.” Der Balkankonflikt berührte Amerikas Interessen nicht. Im Gegenteil: Ein Eingreifen gegen Serbien hätte Russland verstimmt. Das Verhältnis zwischen den Großmächten hatte Vorrang für Bush – klassische Realpolitik. Mit Bill Clinton übernahm ein Vertreter einer anderen Denkschule das Ruder amerikanischer Außenpolitik. Clinton war ein liberaler Institutionalist, der Bushs Realpolitik als zynisch kritisierte. Für Clinton gehörten Amerikas machtpolitische Interessen und seine moralisch-demokratischen Werte zusammen. Daher warf er Bush schon im Wahlkampf vor, tatenlos zugesehen zu haben, als die chinesische Führung 1989 die Demokratiebewegung auf dem Platz des Himmlischen Friedens in Peking blutig niederschlug. Auch gegenüber Slobodan Miloševićs menschenverachtender Kriegspolitik forderte Clinton ein entschlosseneres Einschreiten. Clinton sah den Frieden als unteilbar an – die reine Perspektive auf nationale Interessen und die Beziehungen zwischen den Großmächten war ihm zu eng. Dies ist auch die Grundlage für seinen Institutionalismus. Clinton machte sich das Schlagwort der 1990er Jahre zu Eigen: Globali­ sierung. Die voranschreitende weltweite Vernetzung von Märkten, Gesellschaften und Ideen spiegelte sich in seinem außenpolitischen Ansatz. Es war ein gemeinschaftlicher, ein multilateraler Ansatz. Es ging um die Vernetzung von Staaten, das Zusammenwirken kleiner und großer Mächte zur friedlichen Konfliktlösung und, vor allem, zum gemeinsamen wirtschaftlichen Wachstum. So trug Clinton maßgeblich dazu bei, zahlreiche internationale Institutionen neu zu schaffen oder zu revitalisieren. Man denke zum Beispiel an die im Jahr 1994 46 gegründete Welthandelsorganisation WTO oder die nordamerika­ nische Freihandelszone NAFTA, die Kanada, Mexiko und die USA umfasst. Auch die NATO, von vielen als Relikt des Kalten Krieges abgetan, wurde unter Clinton durch die Osterweiterungspolitik mit neuem Leben gefüllt. Ähnliches gilt für das pazifische Freihandels­ forum APEC. Diese Institutionen halfen den USA, ihre wirtschaftlichen und politischen Interessen besser durchsetzen zu können. Denn bei genauem Hinschauen wird deutlich, dass die USA die einzige Macht sind, die in all diesen Institutionen vertreten ist – und zwar an führender Stelle. Der Ökonom Fred Bergsten nannte dieses Modell einmal „steerer of the steerers” – die USA als der Steuermann der Steuermänner, die Spinne im Netz. Ein schönes Beispiel für diese Vernetzung ist auch die Zahl von 270 Handelsabkommen, die Clinton in seiner Amtszeit schloss – mehr als jeder andere Präsident. Mit dieser klugen insti­ tutionellen Politik begünstigte Clinton nicht nur die Globalisierung, sondern auch das enorme Wirtschaftswachstum der USA jener Zeit. Zum Liberalismus Clintons gehören also zum einen der multilaterale, institutionelle Ansatz sowie die Betonung von Handel und Wirtschaft in der Außenpolitik. Zum anderen hat er aber auch eine sicherheitspolitische Seite. Denn seine Kritik an Bush, den Diktatoren und Feinden der Menschenrechte nicht entschlossen genug entgegenzutreten, übersetzte Clinton in eine interventionistische Politik. Unter seiner Führung kämpften amerikanische Soldaten im Kosovo, in Somalia, in Haiti und anderswo. Die humanitäre Intervention, der Krieg nicht für unmittelbare amerikanische Interessen, sondern zur Durchsetzung westlicher Wertvorstellungen, wurde zu einem Kennzeichen der Amtszeit Clintons. Insgesamt sandte er – mit wechselhaftem Erfolg – das amerikanische Militär in mehr Auslandseinsätze als jeder andere Präsident vor oder nach ihm! Ein Faktum, das oft übersehen wird, wenn die „Militarisierung” der Außenpolitik unter George W. Bush beklagt wird. In der Tat begann Bush Junior seine Amtszeit als klassischer Realpolitiker in den Fußstapfen seine Vaters. Im Wahlkampf hatte er Clinton und die Demokraten für ihre lose Hand bei der Nutzung des amerikanischen Militärs scharf kritisiert. Bush lehnte großspurige Bemühungen um nation building ab und forderte, Amerika müsse als eine „bescheidenere Nation” auftreten – im Rückblick ganz erstaunliche Worte! 47 Doch die Terrorangriffe vom 11. September 2001 veränderten nicht nur Amerika, sondern auch die Außenpolitik George W. Bushs. Er wandelte sich vom Realpolitiker zu einem Anhänger neokonservativer Ideen. Nach dem Realismus von Bush Senior und dem Liberalen Institutionalismus von Clinton bekam nun die dritte (und letzte) große Denkschule der amerikanischen Außenpolitik Gelegenheit, ihren praktischen Wert zu beweisen. Der Neokonservatismus lässt sich am besten als eine Verbindung von extremem Idealismus mit extremem Realismus beschreiben. Im Kern geht es ihm um die Durchsetzung westlicher Ideale von Freiheit, Demokratie und Menschenrechten – denn nach neokonservativer Überzeugung kann Amerika nur in einer solchen verwestlichten Welt dauerhaft sicher und prosperierend existieren. Die Durchsetzung liberaler Ideale soll jedoch nicht mit den üblichen Mitteln liberaler Denker erreicht werden – also dem Völkerrecht, den Vereinten Nationen, der zivilisierenden Wirkung von Multilateralismus und Verflechtung –, sondern mit „realistischen” Mitteln: militärischer Gewalt, Handeln auf eigene Faust, Unilateralismus. Der französische Professor Pierre Hassner nannte Bush daher einen „Wilsonian in Boots”1: einen Anhänger Präsident Woodrow Wilsons, der die Welt „safe for democracy” machen wollte – aber in Militär­ stiefeln. Der Geschichtswissenschaftler John Lewis Gaddis meint das gleiche, wenn er sagt, Bushs Politik sei „Fukuyama plus force”2. Francis Fukuyama vertrat als erster die These, dass mit dem Ende des Kalten Krieges das Ende der Geschichte erreicht sei. Wenn man Geschichte mit Hegel als den Kampf großer Erzählungen, großer Ideologien versteht, ist das durchaus plausibel: Nachdem Faschismus und Kommunismus diskreditiert waren, blieb nur noch die liberale Demokratie übrig. Über kurz oder lang, sagte Fukuyama, würden alle Staaten zu dieser Gesellschaftsform gelangen. Nach den Angriffen von 9/11 stellte Bush mit Blick auf den internationalen Terrorismus und den Nahen Osten fest, dass offenbar noch nicht alle Fukuyama gelesen hatten. Er beschloss, was Neokonservative schon lange gefordert hatten, nachzuhelfen: „Fukuyama plus force.” Dieser Politik liegt eine bestimmte Analyse der Ursachen des inter­ nationalen Terrorismus zugrunde. Nach 9/11 wollte Bush nicht nur Al Qaida und seine Unterstützer bestrafen, sondern auch eine langfristige Lösung erreichen, indem er den Terrorismus an der Wurzel 48 packte. Bush glaubte nicht, dass die wichtigste Ursache des Terrorismus die Armut in unterentwickelten Regionen der Welt war. Die Drahtzieher von 9/11 kamen aus vermögenden Familien. Die wichtigsten Unterstützer des internationalen Terrorismus waren vergleichsweise wohlhabende Länder wie Saudi-Arabien oder Iran – und nicht etwa die wirklich armutsgeplagten Staaten des subsaharischen Afrika. Deswegen lehnte Bush die Meinung mancher Entwicklungspolitiker ab, man könne den Terrorismus langfristig bezwingen, indem man die Entwicklungshilfe massiv erhöhe. Auch glaubte er nicht, dass verletzter Stolz und die Nachwirkungen westlicher Kolonialherrschaft den Terrorismus auslösten – dies waren vielleicht begünstigende, aber nicht ursächliche Faktoren. Bush zufolge liegt die wichtigste Ursache für den internationalen islamistischen Terrorismus in der repressiven politischen Ordnung der meisten Staaten des Nahen und Mittleren Ostens. Darüber hinaus ist die demographische Struktur in diesen Gesellschaften ganz anders als in den westlichen – nämlich überwiegend jung und männlich ge­prägt. Tausende junger muslimischer Männer haben keine Chancen auf echte Bildung, echte wirtschaftliche Entwicklung und echte politische Gestaltungsfreiheit. Dies sind gute Bedingungen für die radikalen Prediger eines verdrehten Islam, die diese jungen Menschen für ihre eigenen politischen und ideologischen Zwecke instrumentalisieren wollen. Deswegen, so Bushs Schlussfolgerung, musste man die politische Dynamik im Nahen und Mittleren Osten ändern, um langfristig dem internationalen Terrorismus den Nährboden zu entziehen. Auch wenn man über diese Analyse der Ursachen des internationalen Terrorismus sehr geteilter Ansicht sein kann und Bushs Umsetzung im Irak von schrecklichen Fehlern und Folgen begleitet war, hat er im Kern auf eine Problematik hingewiesen, der in Deutschland zu wenig Beachtung geschenkt wird: Die bedrohliche Verbindung von fanatisierten terroristischen Gruppen, anti-westlichen Diktaturen und der zunehmenden Verbreitung von Massenvernichtungswaffen erfordert neue politische und militärstrategische Antworten. Im Gegensatz zu den Realisten und den liberalen Institutionalisten haben die Neokonservativen zumindest eine solche Antwort parat gehabt. Deswegen ist diese Denkschule, trotz der bekannten Konsequenzen der BushPolitik, noch längst nicht diskreditiert, sondern wirkt weiterhin in Washington. 49 Diese grob skizzierten außenpolitischen Strategien – der Realismus von Bush Senior, der liberale Institutionalismus von Clinton und der Neokonservatismus von Bush Junior – bilden den Hintergrund, vor dem sich der neue amerikanische Präsident positionieren muss. Schon im Wahlkampf hat sich Barack Obama als liberaler Institutionalist präsentiert, als außenpolitischer Nachfolger Clintons. Er hat darauf hingewiesen, dass Amerika stärker im Zusammenwirken mit Verbündeten agieren müsse als unter Bush Junior, die Rolle der Vereinten Nationen gestärkt werden müsse und militärische Stärke nicht automatisch politische Lösungen produziere. Daher müssten auch mit unliebsamen Staaten wie Iran oder Kuba direkte diploma­ tische Verhandlungen aufgenommen werden. Die Handschrift Clintons sieht man auch in Obamas außenpolitischen Personalentscheidungen wie der Außenministerin Hillary Clinton und dem Stabschef Rahm Emanuel, der seine politische Karriere als „Clintonite” begann. Ebenso haben die drei einflussreichen regionalpolitischen Sondergesandten – Richard Holbrooke für Afghanistan und Pakistan, George Mitchell für Nahost und Dennis Ross für Iran – schon in Clintons Außenpolitik Schlüsselrollen innegehabt. In der Sicherheitspolitik setzt Obama auf erfahrene Leute, die allerdings aus Sicht der Demokraten einen sehr konservativen Zug haben: Den republikanischen Verteidigungsminister Robert Gates hat Obama gleich von Bush übernommen, und als Nationalen Sicherheitsberater hat er sich General James Jones ausgesucht, der Oberkommandierender der NATO war und für McCain Wahlkampf gemacht hat. Das zeigt auch, dass Obama die schwierige außenpolitische Situation mit zwei Kriegen – Afghanistan und Irak – entschlossen angehen wollte und dafür auch bereit war, den links-pazifistischen Flügel seiner Wählerschaft zu enttäuschen. Dass der ehemalige Vizeprä­ sident Dick Cheney Obama für die Zusammensetzung seines außen­ politischen Teams hoch gelobt hat, dürfte jedenfalls all denen zu denken geben, die sich eine grundsätzliche Transformation der amerikanischen Außenpolitik erhofft haben. Um die Richtung der außenpolitischen Entscheidungen Obamas erfassen zu können, sollen nun einige der wichtigsten Politikfelder schlaglichtartig untersucht werden. 50 Konkrete Politikfelder Afghanistan Die wichtigste außenpolitische Aufgabe sieht Obama im Einsatz in Afghanistan, das den zentralen Schauplatz im Kampf gegen den Terrorismus darstellt. Von Afghanistan gingen die Angriffe vom 11. September aus. Der Einsatz ist von einem UNO-Mandat gedeckt und involviert die NATO und weitere Bündnispartner wie Australien und Japan. Ziel ist es, einen afghanischen Staat zu schaffen, der aus eigener Kraft überlebensfähig ist und dem internationalen Terrorismus keinen Unterschlupf mehr bietet. Dazu müssen sowohl die gewaltbereiten Extremisten bekämpft als auch die zivilen Strukturen des Staates aufgebaut und geschützt werden. Für die Durchführung dieser Aufgaben hat Obama die Truppen in Afghanistan 2010 massiv aufgestockt. Unterstützt wird er dabei durch die NATO-Verbündeten. Auch die Bundesrepublik hat 2010 weitere Truppen nach Afghanistan entsendet. NATO Seit ihrer Gründung 1949 hat die NATO drei Phasen durchlaufen. Die erste dauerte bis zum Ende des Kalten Krieges. In dieser Phase bestand kein Zweifel am Daseinszweck der NATO: Sie diente der Abschreckung und der Eindämmung des Sowjetkommunismus in Europa. Mit dem Ende des Kalten Krieges schien das Bündnis zunächst ebenfalls obsolet – es brauchte eine neue Aufgabe. Diese fand die NATO in der Osterweiterung, die die zweite Phase des Bündnisses markiert. Durch die Aufnahme ehemaliger Staaten des Warschauer Paktes ermöglichte die NATO deren Entwicklung in Richtung Demokratie und Marktwirtschaft. Die Sicherheitsgarantie der NATO war dafür unabdingbar. Sie half so, in den Worten Präsident Bush Seniors, ein „Europe whole and free” zu schaffen. Die dritte Phase begann 1999 mit dem Kosovokrieg oder spätestens mit der Reaktion auf 9/11. Die NATO wurde nun zu einem Sicher­ heitsakteur außerhalb des eigenen Bündnisgebietes – „out of area or out of business”, nannte dies der amerikanische Senator Lugar. Unter den Bedingungen der Globalisierung haben sich auch die Bedrohungen für den Westen globalisiert. 9/11 zeigte auf tragische Weise, dass Ereignisse in Afghanistan unmittelbaren Einfluss auf die Sicherheit des Westens haben können. Es reichte nicht mehr aus, 51 Sicherheit als defensives Abwarten bis zu einem konventionellen Angriff auf das Bündnisgebiet zu verstehen. Die NATO definierte sich nun zunehmend über ihre Missionen, die Stabilität in Regionen jenseits des Bündnisgebietes projizieren sollten – zum Schutz west­ licher Sicherheitsinteressen. Die unterschiedlichen Aufgaben aus diesen drei Phasen der NATO sind heute gleichzeitig wirksam. Der Kern der NATO besteht immer noch in Artikel V, der Beistandsverpflichtung gegen Angriffe von außen. Dies wird insbesondere in Osteuropa, zum Beispiel im Baltikum, als die Hauptaufgabe der NATO angesehen, weil man dort russischen Revisionismus befürchtet. Zugleich hat die NATO auch gegenwärtig die Aufgabe der politischen Stabilisierung Mittel- und Osteuropas durch die Erweiterung, nicht nur angesichts der umstrittenen Kandidaten Ukraine und Georgien, sondern auch auf dem Balkan. Die dritte Phase der Missionen außerhalb des Bündnisses mag im Zeitalter der globalisierten Bedrohungen die prominenteste sein – aber sie läuft parallel zu den anderen beiden Aufgaben. Obama ist sich der verschiedenen „Gesichter” der NATO bewusst und bekräftigt alle drei. So ist er z.B. für die Aufnahme Georgiens und der Ukraine ins Bündnis, auch wenn er diese Politik nicht so brachial ver­ folgen wird wie Bush Junior es tat. Zudem hat er erklärt, das amerikanische Militär zu erweitern. Mit dieser Truppenaufstockung soll eine Umstrukturierung der Streitkräfte – auch innerhalb der NATO – einhergehen. Ziel ist es, kleinere Einheiten zu schaffen, die in Krisengebieten rasch und effektiv eingreifen können. Die „dritte Phase” ist bei Obama also auch auf der strukturellen Ebene des Militärs angekommen. Russland In der Russlandpolitik gibt sich Obama als Pragmatiker. Er sieht in Russland weder einen Freund noch einen Feind. Für ihn ist Russland eine Großmacht, mit der man auf Basis eigener Interessen verhandeln kann und muss. Dabei ruht Russlands Status auf drei Säulen: seinem Sitz im UN-Sicherheitsrat, seinen Atomwaffen und seinem Energiereichtum. Letztere ist allerdings angesichts des sinkenden Ölpreises und der zu geringen Re-Investitionen in die eigene Förderungsindustrie brüchig geworden. Zudem leidet Russland an seiner einseitigen wirtschaftlichen Ausrichtung, seinem repressiven und ungerechten politischen System und einer rapide schrumpfenden 52 Bevölkerung. Obama hat erkannt, dass diese Schwächen Russlands nicht Grund zur triumphierenden Schadenfreude sind, sondern erst recht Anlass, die ausgestreckte Hand zur Anbindung an den Westen zu reichen. In seiner Verhandlungsbereitschaft bezüglich der in Polen und Tschechien geplanten Raketenabwehr zeigt sich dieses Verständnis. Zugleich wird er jedoch darauf bestehen, dass Russland Konflikte mit seinen Nachbarn friedlich regelt und ihnen das Recht auf Selbstbestimmung – also auch die freie Bündniswahl – zugesteht. Irak Ein anderes wichtiges Thema ist der Irak, auch wenn er weitgehend aus den Schlagzeilen verschwunden ist. Das ist nicht ohne Ironie. Denn es beweist den bemerkenswerten Erfolg, den die Truppenaufstockung und der Strategiewechsel im Frühjahr 2008 gezeitigt haben. Obama war gegen diese neue Strategie, die Bush mit der ebenso erheblichen wie unpopulären Unterstützung durch John McCain und General Petraeus durchgesetzt hat. Das Ergebnis, die weitgehende Befriedung des Irak, erlaubte es dann allerdings Obama, eines seiner wichtigsten Wahlversprechen einzuhalten: den Abzug amerikanischer Truppen aus dem Irak, ohne ein Chaos in der Region zu hinterlassen. Als die US-Streitkräfte 2010 den Irak verlassen haben, blieben allerdings vorerst noch rund 50 000 amerikanische Soldaten vor Ort, um die Stabilität der irakischen Regierung zu gewährleisten. Iran Das vielleicht schwerwiegendste außenpolitische Problem, dem sich Obama in seiner ersten Amtszeit stellen muss, ist das Nuklearprogramm des Iran. Im Kern hat sich Obama hier bislang nicht anders positioniert als Bush Junior. Genau wie der ehemalige Präsident nennt Obama einen mit Atomwaffen ausgerüsteten Iran „inakzep­tabel”. Damit schließt auch Obama militärische Maßnahmen als letztes Mittel gegenüber dem Iran nicht aus. Zu beunruhigend sind die kriegerische Rhetorik der iranischen Führung gegenüber Israel und die Gefahr eines nuklearen Wettrüstens in der gesamten Region. Die Türkei, Saudi-Arabien und Ägypten haben bereits signalisiert, auf eine iranische Bombe mit eigener Nuklearisierung zu antworten, um das Machtgleichgewicht in der Region und die eigene Sicherheit zu gewährleisten. Niemand kann sich diese Aufrüstung im Pulverfass Nahost wünschen. Zugleich jedoch mangelt es an Alternativen – es ist zweifelhaft, 53 ob militärische Mittel den Iran an der Aufrüstung hindern können, von den unkalkulierbaren Risiken eines solchen präventiven Angriffs ganz abgesehen. Und auch die diplomatischen Bemühungen haben bislang nicht gefruchtet. Die Charme- und Sanktionsoffensive der fünf Mitglieder des UN-Sicherheitsrates und Deutschlands gegenüber dem iranischen Regime haben noch keine signifikanten Ergebnisse erzielt. Obama wird daher vermutlich den direkten Weg suchen und erstmals seit der iranischen Revolution auf höchster Ebene unmittelbare diplomatische Kontakte zwischen den USA und dem Iran knüpfen. Es bleibt aber unklar, was Obama dem Iran in diesen Gesprächen anbieten könnte, um ihn von der Nuklearisierung abzuhalten. Gegenwärtig scheinen die Iraner in jedem Fall in der stärkeren Position zu sein – hinter vorgehaltener Hand überlegen die meisten westlichen Sicherheitsexperten daher auch nicht mehr, wie der Iran von der Bombe abzuhalten sei, sondern wie man möglichst friedenssichernd mit einem nuklearen Iran umzugehen habe. Nahostkonflikt Wenn man über Iran und Irak spricht, kann man den Nahostkonflikt zwischen Israel und den Palästinensern nicht ausblenden. Obama fällt die Positionierung in dieser Frage schwer. Schon im Wahlkampf hat er mit unklaren Aussagen zum Endstatus Jerusalems das Misstrauen der amerikanischen Juden geweckt. Das verstärkte sich noch, als die Hamas eine dubiose Wahlempfehlung für Obama aussprach. Im Wesentlichen folgt Obama jedoch der von Bush Junior seit der Konferenz von Annapolis im Jahr 2007 vorgegebenen Linie: Demnach soll es eine Zwei-Staaten-Lösung geben, die USA sollen als ehrlicher Makler die Verhandlungen führen und dabei auch Nachbarstaaten wie Syrien einbeziehen, aber sich nicht an der praktischen Umsetzung, der Implementierung des denkbaren Abkommens beteiligen – zumindest nicht durch eine militärische Schutztruppe in neutralen Gebieten oder dergleichen. Es ist zu begrüßen, dass Obama diese Schritte schon zu Beginn seiner Amtszeit in Angriff nahm. Clinton und Bush haben jeweils bis zum Ende ihrer zweiten Amtszeit mit den entscheidenden diplomatischen Vorstößen – Camp David II und eben Annapolis – gezögert. In beiden Fällen waren sie da als Präsidenten politisch schon zu geschwächt, um noch Erfolge erzwingen zu können. Insofern verdient Obamas Entschlossenheit, mit dem Sondergesand- 54 ten Mitchell schon zu Beginn seiner Amtszeit den Nahostkonflikt auf die Agenda zu setzen, Respekt. Besonderer Optimismus ist dennoch nicht angezeigt: Zu viele andere außenpolitische Baustellen – von den innen- und wirtschaftspolitischen Herausforderungen ganz zu schweigen – erfordern dringender die Energie des Präsidenten. Auch die harte Haltung des israelischen Premiers Netanjahu, der nicht einmal eine Zwei-Staaten-Lösung diskutieren mag, gibt wenig Anlass zur Hoffnung, zumal er nur eine sehr instabile politische Mehrheit aufweisen kann. Ähnliches gilt für die zersplitterte palästinensische Führung. Unter den gegenwärtigen Bedingungen erscheint ein rascher Verhandlungsfrieden zwischen Israel und Palästinensern aussichtslos – egal wie stark sich der amerikanische Präsident in den Konflikt einbringt. Zu diesem Überblick über die wichtigsten außenpolitischen Herausforderungen und ersten Akzentsetzungen Obamas könnte man noch viele weitere Beispiele anführen – etwa in der Entwicklungshilfe, der Politik gegenüber Lateinamerika oder in der Pazifikstrategie der USA. Für Deutschland und Europa ist jedoch die Zukunft der transatlantischen Partnerschaft und der Grundkonstanten amerikanischer Macht von größtem Interesse. Fünf Thesen zur transatlantischen Partnerschaft 1.Das Zerwürfnis, das die transatlantische Partnerschaft 2003, auf dem Höhepunkt der Irak-Kriegs-Debatte, so tief gespalten hat, ist überwunden. Die Partner stehen wieder enger zusammen, vielleicht sogar enger als vor der Krise. Denn die Extrempositionen, die auf beiden Seiten des Atlantiks damals die Politik bestimmt haben, sind inzwischen beide diskreditiert. Die Hardliner in Washington, die dachten, Amerika könne ganz alleine die Welt im eigenen Sinne gestalten, sprechen nicht län­ger für die amerikanische Regierung. William Kristol, Richard Perle, Donald Rumsfeld und andere Propheten amerikanischer Alleingänge haben die Grenzen der vermeintlichen amerikanischen Übermacht im Irak und in Afghanistan aufgezeigt bekommen. Die Zeiten der „Wer nicht für uns ist, ist gegen uns”- Rhetorik und der selbstherrlichen Bemerkungen über das „Alte und Neue Europa” sind vorbei. Übrigens hat sich die amerikanische Außenpolitik schon in der zweiten Amtszeit 55 Bushs gewandelt. Allerdings brauchte es ein neues Gesicht im Weißen Haus, bis die Europäer dies so recht bemerkt haben. Auf der anderen Seite hat sich aber auch die Einstellung der europäischen Regierungen gewandelt. Noch 2003 hat ein deutscher Bundeskanzler davon gesprochen, eine „Achse Paris-Berlin-Moskau-Peking” schmieden zu wollen, um der amerikanischen „Übermacht” Einhalt zu gebieten. Eine aberwitzige und leichtfertige Politik, die nicht nur zur Spaltung der transatlantischen Partnerschaft, sondern auch zur Spaltung Europas beigetragen hat. Inzwischen betreibt eine andere deutsche Regierung eine kluge Interessenpolitik und sucht auch wieder die Nähe zu den USA sucht. Das Gleiche gilt für Frankreich, den zweiten europäischen Schlüsselakteur. Noch wichtiger ist allerdings, dass Obama in Europa von einer großen Welle der Sympathie getragen wird. 200 000 Menschen haben ihn bei seinem Wahlkampfauftritt im Juli 2008 in Berlin bejubelt, obwohl er Dinge gefordert hat, wie zum Beispiel ein stärkeres militärisches Engagement Deutschlands in Afghanistan, denen die meisten Deutschen nicht zustimmen. Das zeigt: Der vermeintliche Anti-Amerikanismus der letzten Jahre war vor allem ein Anti-Bushismus. Die Menschen in Europa freuen sich, mit Obama das „gute Amerika”3 zurückbekommen zu haben, wie die Wochenzeitung „Die Zeit” getitelt hat. Manche dieser Erwartungen und Hoffnungen mögen blauäugig sein oder bald enttäuscht werden. Aber zunächst einmal ist es eine große Chance auf eine wirkliche Erneuerung der transatlantischen Freundschaft. 2.Die USA bleiben auf absehbare Zeit die stärkste Macht der Welt. Wer durch die großen Buchhandlungen in Deutschland oder in den USA streift, wird Stapel von Büchern finden, die vom Ende des amerikanischen Zeitalters künden. Von Peter Scholl-Latour über Fareed Zakaria bis zu Parag Khanna: Es herrscht kein Mangel an Bestsellern, die erklären, dass Amerika im Abstieg begriffen ist und dass die Welt zukünftig multipolar sein wird. Aufstrebende Staaten wie die „BRIC”-Länder – Brasilien, Russland, Indien und vor allem China – würden zukünftig die internationale Politik stärker mitbestimmen denn je. Einiges davon ist prinzipiell richtig. Die Globalisierung ermöglicht es ehemals rückständigen Staaten – z.B. China und Indien – wirtschaft- 56 lich aufzuholen. Ihre neue wirtschaftliche Stärke vermögen sie auch in politischen Einfluss umzumünzen. Das sieht man zum Beispiel an den Treffen der G20: Die Gruppe der westlichen Industrienationen, die G8, spiegelt die Wirklichkeit der ökonomischen und politischen Machtverteilung nicht länger wider. Die Krise schafft sich neue Institutionen. Dieser Aufstieg neuer Akteure geht einher mit der schwindenden Kraft der Supermacht USA. Sie ist gebeutelt von der Finanzund Wirtschaftskrise und hat den hohen ökonomischen und politischen Preis für die missglückten Waffengänge im Irak und in Afghanistan zu zahlen. All das bedeutet jedoch noch keinen fundamentalen Wandel der Weltordnung. Gerade die Wirtschaftskrise zeigt, dass manche der vermeintlichen Herausforderer der USA, wie z.B. Russland, noch viel stärker betroffen sind als Amerika. Im Gegenteil, die starke Vernetzung der Volkswirtschaften führt zu einer wechselseitigen Abhängigkeit. So hat die chinesische Regierung angesichts ihrer immensen Dollar-Reserven zwar einen beträchtlichen Einfluss auf die nach Geld dürstende amerikanische Wirtschaft. Zugleich jedoch ist China in seinem Wachstum so stark auf die florierende Kaufkraft der ameri­ kanischen Wirtschaft angewiesen, dass es diese Macht nicht wirklich politisch nutzen kann. Grob vereinfacht gilt: Die gegenwärtige Wirtschaftskrise schwächt die USA, aber die aufsteigenden Mächte mindestens gleichermaßen. Im Ergebnis bleibt der relative machtpolitische Vorsprung der USA erhalten. Dies gilt umso mehr für die nicht-ökonomischen Aspekte der Macht. Manche ziehen aus der schwierigen Situation im Irak und in Afghanistan den Schluss, dass militärische Macht irrelevant geworden sei, weil sie die politischen Probleme vor Ort nicht lösen könne. Das stimmt so allerdings nicht: Militärische Stärke, die hard power, bleibt die Grundlage staatlicher Macht. Denn die Kernaufgabe des Staates ist es, sich gegenüber anderen Staaten behaupten und so die Sicherheit seiner Bürger garantieren zu können. Daraus bezieht der Staat seine Legitimation nach außen und innen. Deswegen bleibt militärische Stärke die wichtigste, wenn auch nicht die einzige Kategorie, um die Macht eines Staates zu messen. Und in dieser Hinsicht ist das Bild eindeutig: Die USA geben für ihre Sicherheit und Verteidigung fast so viel Geld aus wie der Rest der Welt zusammen. Ihr Vorsprung an schierer Masse, aber auch an technologi- 57 scher Innovation ist auf absehbare Zeit von keinem Staat der Welt einholbar. Allein die Vereinigten Staaten sind in der Lage, militärische Macht zügig und im globalen Maßstab zum Einsatz zu bringen – man denke nur an die unvergleichliche Flotte amerikanischer Flugzeugträger oder die technologische Überlegenheit der US-Kampfjets. Das wirklich Erstaunliche ist, dass die USA diese militärische Potenz finanziell relativ leicht schultern. Der US-Verteidigungshaushalt seit 2001 lag bei ca. 6 Prozent des amerikanischen Bruttosozialprodukts, also der Gesamtstärke der amerikanischen Volkswirtschaft. Zu Zeiten des Kalten Krieges, unter Ronald Reagan, lag der Anteil bei neun, unter Kennedy sogar bei fünfzehn Prozent! Daher ist davon auszugehen, dass die USA ihre militärische Überlegenheit auch unter Bedingungen der Wirtschaftskrise aufrechterhalten können. Ein dritter Faktor amerikanischer Vormacht ist die amerikanische Kultur. So ist die soft power des amerikanischen Kinos, der amerikanischen Lebensart und der amerikanischen Musik in jeden Winkel der Erde vorgedrungen. Noch wichtiger ist allerdings die Rolle der politischen Kultur in Amerika. Denn im Gegensatz zu den Gesellschaften Chinas oder Russlands profitiert die amerikanische Gesellschaft, die zugleich flexibel und durchlässig ist, von ihrer inneren Freiheit, ihrem Unternehmergeist und ihrer Stabilität. Amerikaner haben ihre enorme Kraft zur Selbsterneuerung wieder und wieder unter Beweis gestellt – zum Beispiel nach dem Bürgerkrieg im 19. Jahrhundert und nach der Großen Depression in den 1930er Jahren. In China, dem wichtigsten machtpolitischen Herausforderer der USA, kann von diesen Qualitäten nur sehr eingeschränkt die Rede sein – wie sich das chinesische politische System in einer echten Krise behauptet, ist noch völlig ungewiss. Die Propheten des amerikanischen Niedergangs unterschätzen die Kraft Amerikas zum Kurswechsel, zur Erneuerung und zur Selbstbehauptung. Dies zeigt sich auch in der Debatte um den amerikanischen Niedergang selbst, die gewissen Konjunkturzyklen unterliegt. So hat der britische Historiker Paul Kennedy – nicht verwandt mit der Präsidentenfamilie – 1987 einen Bestseller mit dem Titel „Aufstieg und Fall der Großen Mächte” veröffentlicht. Darin untersucht er am Beispiel verschiedener Imperien wie dem römischen und dem britischen, wie es dazu kommt, dass solche Großmächte irgendwann ihren Zenith überschreiten und zerfallen. Kennedy findet die Antwort im imperial overstretch, der „imperialen Überdehnung”. Er sagt, dass es in der 58 Natur von Imperien liegt, sich immer weiter auszudehnen – bis das Zentrum die Kosten für die Aufrechterhaltung der Peripherie nicht mehr aufbringen kann, weil es dekadent geworden ist oder irgendwann die Kosten-Nutzen-Relation in Schieflage gerät. Dann beginnt das Imperium an den Rändern zu zerfallen: Die Großmacht steigt machtpolitisch ab. Angesichts der Haushaltsdefizite der USA, der gewachsenen innenpolitischen Spannung der Reagan-Jahre und der geostrategischen Fortschritte der Sowjetunion in der sogenannten „Dritten Welt” bescheinigte Kennedy auch den USA im Jahr 1987 den imperial overstretch und sagte den baldigen weltpolitischen Abstieg voraus. Eine These, die sehr breite Zustimmung fand und auch heute noch findet. Zwei Jahre nach dem Erscheinen dieses Buches fiel die Mauer, die USA wurden zur einzigen Supermacht und erlebten in den 1990er Jahren einen beispiellosen Wirtschaftsboom mit gewaltigen Haushaltsüberschüssen. 1997 schrieb Paul Kennedy daher einen Kommentar für eine britische Tageszeitung, in dem er sich für seine These entschuldigt: Es tut mir leid, dass ich soviel Aufregung verursacht habe, ich lag offensichtlich grundfalsch, die USA sind ein besonderer Fall. Wie man sieht, begleitet die Niedergangsthese die USA schon eine ganze Weile, und sie unterliegt selbst Phasen des Aufstiegs und des Niedergangs. Die Welt sollte besonnen bleiben und Amerika nicht voreilig abschreiben. 3. Die Vereinigten Staaten garantieren den Fortbestand eines internationalen Systems, von dem die Deutschen in überpro­ portionalem Maße profitieren. Internationale Politik funktioniert nach Regeln. Manche davon sind ausdrücklich niedergelegt, z.B. im Völkerrecht. Andere Regeln sind stillschweigend anerkannt, als eine Art gentlemen’s agreement oder code of conduct. All diesen Regeln ist jedoch gemeinsam, dass sie wertlos wären, bliebe ein Verstoß gegen sie folgenlos. Die USA sind nicht nur der Urheber des gegenwärtigen Regelsystems, wie es sich z.B. in den Vereinten Nationen manifestiert, sondern auch die einzige Macht, die diese Regeln im globalen Maßstab durchzusetzen imstande ist. Das Prinzip des freien Handels ist dafür ein Beispiel. Die Möglichkeit, Güter und Rohstoffe international auszutauschen, ohne dass es zu 59 Betrug, Piraterie oder dergleichen kommt, beruht auf der Durchsetzungsfähigkeit des internationalen Systems. Dies ist eine der wichtigsten Grundlagen des deutschen Wohlstandes: In den letzten Jahren war Deutschland ein ums andere Mal „Exportweltmeister”, hat also Güter von einem höheren Wert exportiert, als jedes andere Land der Welt. Deutschland lebt vom Freihandel. Zugleich leistet es vergleichsweise wenig, insbesondere was die militärisch-sicherheitspolitische Komponente betrifft, das Funktionieren dieses Systems zu gewährleisten. Dafür tun die USA eindeutig am meisten. Der kluge Kolumnist der New York Times, Thomas Friedman, hat es einmal so ausgedrückt: „The hidden hand of the market will never work without the hidden fist of the U.S. military.”5 Die unsichtbare Hand des Marktes – nach Adam Smith – wird ohne die versteckte Faust des US-Militärs nicht funktionieren. Wenn die amerikanische Marine die Offenheit und Sicherheit der Seehandelswege nicht gewährleistet, tut es keiner. Das führt noch einmal zur Frage der Machtstellung der USA und der Diskussion über ein entstehendes multipolares System, in dem es mehr als eine Führungsmacht gibt. Gerade in den deutschen Medien ist die Debatte über Multipolarität oft von großer Sympathie begleitet. „Multi” klingt gerade für deutsche Ohren erst einmal sehr positiv, es klingt nach Gerechtigkeit und Vielseitigkeit: Alle dürfen mitspielen, alle sind gleich. Gilt das aber auch für die Weltpolitik? Wollen wir wirklich eine Welt, in der die Kommunisten in Peking und die „lupenreinen Demokraten” im Kreml auf Augenhöhe mit Amerika agieren? Können wir ein internationales System wollen, in dem China und Russland regionale Einflusssphären unter ihrer Vormacht errichten? Wäre dieses System unseren Interessen so dienlich wie das jetzige? Wäre es mit unseren Wertvorstellungen vereinbar? Multipolarität könnte sich sehr schnell als eine weniger friedfertige, weniger demokratische und weniger prosperierende Ordnung entpuppen, als wir uns das jetzt vorstellen. Daher sollten wir vorsichtig sein mit dem, was wir uns wünschen. Denn wir wollen, dass Amerika weiterhin seine Rolle als Stabilisator und Garantiemacht des internationalen Systems spielt. Gerade das hat viele Europäer so gegen Präsident Bush aufgebracht: Bush ist nicht für den Status quo eingetreten, sondern wollte eine revolutionäre Veränderung des internationalen Systems! Seine Auslegung des Völkerrechts und seine Vision für den Nahen und Mittleren Osten zielten auf eine Neuordnung des Systems, nicht seine Stabilisierung, auf die wir in Europa hoffen. 60 Nun waren die Vereinigten Staaten schon seit ihrer Gründung immer eine revolutionäre Macht und keine Status-quo-Macht. Schon im Revolutionskrieg zur Befreiung vom britischen Imperium ist das angelegt, und man kann es über die ganze amerikanische Geschichte verfolgen. In seinem Buch über ihren weltpolitischen Aufstieg nennt Robert Kagan die USA nicht zu Unrecht – und mit einiger Sympathie – die „Dangerous Nation”6, die gefährliche Nation. Denn Amerika war immer angetrieben von der Suche nach besseren Verhältnissen, angetrieben auch von einem sehr ernsten, aufklärerischen Libera­ lismus. Wenn man den Liberalismus – der ja ironischerweise aus Europa kommt – ernst nimmt, kann man sich mit der gegenwärtigen Weltordnung nicht zufriedengeben. Es gibt genügend Länder, wo Demokratie, Menschenrechte und andere Werte des Liberalismus Einzug halten können. Und der Anspruch des Liberalismus, wie auch des christlichen Menschenbildes, ist naturgemäß universell. Das ist die Spannung, die das transatlantische Verhältnis auch in der Gegenwart aushalten muss; das ist die Balance, die auch Präsident Obama finden muss: einerseits politisch klug zu sein und das bestehende internationale System zu bewahren, andererseits aber auch den revolutionären, den missionarischen Impuls des Westens nicht zu vernachlässigen. 4. Die USA haben die Grenzen ihrer militärischen Macht erfahren. Im Irak und in Afghanistan sowie im Umgang mit dem iranischen Atomprogramm ist deutlich geworden, dass auch eine historisch unvergleichliche militärische Macht nicht immer politische Lösungen erzwingen kann. Im Gegenteil, eine zu rücksichtslose Anwendung militärischer Macht kann sogar politische Lösungen erschweren und dadurch eigene Ziele konterkarieren. Das heißt keineswegs, dass auf militärische Mittel verzichtet werden kann, sondern dass militärische, zivile und diplomatische Mittel stärker vernetzt werden müssen. So spricht man heute zum Beispiel in der NATO ganz selbstverständlich von einer Strategie der „Vernetzten Sicherheit”. Politische Lösungen erfordern also – angesichts des transnationalen Charakters der Herausforderungen heute mehr denn je – internationale Zusammenarbeit. Obama hat das verstanden, wie seine Vorschläge zur Iran-Politik oder seine Afghanistan-Pakistan-Strategie zeigen. Er hat auch verstanden, dass die USA ihre politische Legitimität verspielen, wenn sie sich 61 eigenmächtig über internationales Recht hinwegsetzen oder sich eben nicht als Garantiemacht, sondern als Gegner der internationalen Ordnung gebärden. Obama weiß auch, dass Legitimität, so wenig messbar sie auch sein mag und so wenig nachvollziehbar manchmal ihre Ursachen erscheinen mögen, ein hohes politisches Gut ist. Daher dürften wir in Zukunft unter Obama eine echte Stärkung der internationalen Institutionen, aber vor allem eine Stärkung der transatlantischen Kooperation erwarten. Diese Stärkung der transatlantischen Kooperation kann jedoch nicht einseitig erfolgen. Wie Obama beim NATO-Gipfel im April 2009 gesagt hat: „Amerika ändert sich; aber die Welt muss sich auch ändern.”7 5.Deutschland und Europa müssen sich genauer überlegen, was ihre weltpolitischen Interessen sind, und eigene Initiativen entwickeln, wie diese Interessen durchgesetzt werden sollen. Viele Veranstaltungen, die sich mit dem amerikanischen Präsidenten beschäftigten, stehen unter dem Titel: „Was haben wir von Barack Obama zu erwarten?” oder „Was bedeutet der Wechsel im Weißen Haus für die transatlantische Partnerschaft?” oder einer ähnlichen Variation dieses Grundmusters. Dieser starre Blick auf Washington erscheint fragwürdig. Natürlich ist es von besonderer Bedeutung, wer ins Weiße Haus einzieht, und natürlich war nach den Bush-Jahren die Sehnsucht nach einem Wandel in Amerika besonders groß. Aber dennoch zeugt die Fokussierung auf die Frage „Was haben wir von Obama zu erwarten?” von einem grundsätzlichen Problem: Wir verstehen unsere Politik in Reaktion auf die Politik der USA. Wer aber immer nur reagiert, kann kein guter Partner sein. Es passt auch nicht zum europäischen Anspruch auf Gleichberechtigung mit den USA. Vor allem aber stellt es die europäischen Regierungen vor immense innenpolitische Probleme. Denn wer immer nur abwartet, welche Initiativen aus Washington kommen, hat letztlich nur die Wahl zwischen Zustimmung und Ablehnung. In beiden Fällen jedoch ist er politisch geschwächt: Entweder erscheint die Regierung als blinder Gefolgsmann amerikanischer Politik oder als quengelnder Neinsager, der gleichwohl keine besseren Alternativen zu den amerikanischen Ideen vorschlagen kann. In jedem Fall wird es schwer, die beschlossene Politik den eigenen Wählern gegenüber zu rechtfertigen. 62 Daher ist es wichtig, dass Deutschland seine eigenen außenpolitischen Interessen definiert. Was wollen wir erreichen in Afghanistan, in unserer Partnerschaft mit Russland? Wozu soll die NATO in Zukunft dienen? Und wie wollen wir diese Ziele erreichen? Welche Strategie halten wir für erfolgversprechend, und welche Mittel sind wir bereit einzusetzen? Über diese Fragen müssen sich Deutsche und Europäer Klarheit verschaffen, damit sie dem amerikanischen Präsidenten als wichtigstem Verbündeten mit eigenen Vorschlägen entgegenkommen können. Das wird nicht immer in Harmonie geschehen. Man wird über Interessen und Strategie streiten. Aber das auf diesem Wege erzielte Ergebnis ist dafür auch wirklich belastbar und politisch stabil. Es ist offensichtlich, dass viele Hemmnisse solchen Initiativen entgegenstehen. Sowohl innerhalb der einzelnen Staaten als auch auf europäischer Ebene. So ringt die EU nicht zufällig seit langem um eine gemeinsame Außenund Sicherheitspolitik. Jedoch ist klar, dass zumindest auf der Ebene der einzelnen Staaten eine solche Entwicklung eigener Vorschläge zur Gestaltung der internationalen Politik unabdingbar ist, wenn sich Europa in der transatlantischen Partnerschaft dauerhaft Relevanz und Mitbestimmungsmöglichkeiten sichern will. Wenn wir den Anspruch haben, als gleichberechtigter Partner ernst genommen zu werden, müssen wir auch ernstzunehmende Ideen und Angebote vorweisen können. Amerika erwartet das von uns. Obama hat es 2009 in Straßburg wieder gesagt: „Amerika wünscht sich ein starkes Europa, um die weltpolitischen Herausforderungen gemeinsam meistern zu können.”8 Wir sollten von uns selbst und unseren Regierungen nicht weniger erwarten. 1| Hassner, Pierre: „The United States: The Empire of Force or the Force of Empire?”, in: Chaillot Papers, Nr. 54, September 2002, S. 43. 2| Gaddis, John Lewis: Surprise, Security, and the American Experience, Cambridge 2004, S. 90. 3| DIE ZEIT, Titel, Nr. 45, 2006. (2. November 2006). 4| Kennedy, Paul: The Rise and Fall of the Great Powers, New York 1987. 5| Friedman, Thomas L.: The Lexus and the Olive Tree. Understanding Globalization, New York 2000, S. 464. 6| Kagan, Robert: Dangerous Nation, New York 2006. 7| Obama zitiert in der New York Times vom 3. April 2009. 8| Obama in einer Pressekonferenz mit dem französischen Präsidenten Nicolas Sarkozy am 3. April 2009. (http://www.america.gov/st/texttransenglish/2009/April/20090403125451xjsnommis0.270866.html)