Das Drama des 21. Jahrhunderts - Parteien

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Burkhard Wehner
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Das Drama
des 21. Jahrhunderts
Wie Archivar Schmidt es sah
II
Inhalt
Vorwort
1
Vorgeschichten
5
Staatstheater
Generation Sichtflug
Das 20. Jahrhundert
5
7
13
2000 – 2024 Ein schleichender Weltkrieg und andere Krisen
17
Jahrhundertauftakt
Bewusstseinsstörung
Exkurs Wirtschaft
Russland und die Ukraine
Afrika
Die arabische Welt
Amerika
Israel und das historische Unrecht
China und Indien
Und Europa?
Noch einmal Wirtschaft
Zwischenstand
2025 – 2049 Hilflose Demokratie, Neues Denken
Parteienzuwachs
Was geht wie lange gut?
Dauerkonflikt um Staatsgrenzen
Flüchtlingsströme und territoriale Integrität
Kurze Begegnung
Scheidungsrecht für Staaten
Neues Denken in China
Eine Jahrhundertpartei?
Das digitale Hiroshima
Flächengewinne der Demokratie
Wankendes Vorbild Europa
Das Elend der Parteien
Hundertjahrfeiern
Sinnstiftungsversuche
Kleine Staatsreparaturen
17
23
26
31
41
51
64
75
81
85
94
97
104
104
117
122
125
127
130
136
151
155
166
172
185
199
207
218
III
2050 – 2074 Globale Erschöpfung
223
Mächtige Senioren
Neue Hoffnungsträger
Rentnerrevolution?
Das Yang-Konzept
Noch mehr Ideologiefreiheit
Die Krise der Archive
Abschied von Hauser
Ringen um Rohstoffe
Ölkartell: Die Bösen tun Gutes
Jahrhundertereignis Klimawandel
Schwache Cyberwehr
Mit Milliardären aus der Systemkrise?
Chinesische Visionen
Noch einmal Euphorie
Yang, China und die Tagmakraten
Wie Constanze es sah
2075 -… Ist das Jahrhundert noch zu retten?
227
230
242
246
250
256
263
273
281
285
294
298
308
328
333
337
342
Europas letzter Versuch
Altfall Griechenland
Deutsche Zustände
Denkwürdige Zusammenkunft
Kleine Neuerungen
Stillstände
Demokratiedämmerung
Epilog
342
346
347
350
365
368
372
382
1
Vorwort
Ein Buch über dieses Jahrhundert zu schreiben wäre mir allein nie den Sinn
gekommen. Ein Protokoll zu dem halben Jahrhundert zwischen 2025 und 2075, eine
Zusammenstellung von Aufzeichnungen und Gedanken zu dieser kurzen Epoche, das
immerhin hatte ich mir nach langem Zögern zugetraut, und daran hatte ich
schließlich zu schreiben begonnen. Ich wollte es so beginnen lassen, wie es hier im
Abschnitt über das zweite Jahrhundertquartal zu lesen ist:
Der Paukenschlag zum Auftakt des ersten Jahrhundertquartals war der Anschlag auf
das World Trade Center gewesen, der Auslöser des Weltkriegs gegen den Terror, der
ein Teil des schleichenden Dritten Weltkriegs war. Das zweite Jahrhundertquartal
begann weniger aufsehenerregend. Nach der Jahrtausendwende war die Welt aus
dem schönen Traum gerissen worden, mit der Vorherrschaft von Demokratie und
Marktwirtschaft sei die Zeit ewigen Friedens und Wohlstands angebrochen. Dieser
Traum war ausgeträumt, und die Erwartungen waren gedrückt.
Statt mit einem Paukenschlag begann das zweite Jahrhundertquartal mit einem lang
anhaltenden Trommelwirbel, der die Krisen der Zeit wie in einem großen politischen
Welttheater aneinanderreihte. Aber man täte diesem zweiten Jahrhundertquartal
Unrecht, wenn man nicht auch anerkennte, dass die Demokratie in dieser Zeit ihre
beste Phase erlebte. Es gab Ausnahmen, es gab China, es gab noch Nordkorea, es
gab muslimische Gottesstaaten und Emirate, es gab gescheiterte Staaten ohne
etablierte Staatsordnung, es gab noch einige wenige bekennende Autokratien, und
fast überallsteckte die politische Auseinandersetzung tief im populistischen Sumpf,
aber immer weniger Staaten bekannten sich noch offen dazu, keine Demokratie im
üblichen Sinne zu sein. Zumindest dem Schein nach orientierten sich mehr Staaten
denn je am Beispiel westlicher Demokratien. Spätere Historiker dürften den Zenit
der modernen Demokratie auf das frühe zweite Quartal des 21. Jahrhunderts
datieren.
2
Keine der Krisen, die das erste Jahrhundertquartal geprägt hatten, war zu Beginn
des zweiten Quartals wirklich gelöst, einige Konflikte waren mit militärischen und
diplomatischen Mitteln vorerst eingefroren worden, aber fast alle schrieben sich in
den Anfängen des zweiten Quartals neu in die Weltgeschichte ein.
Es waren dann andere – von denen hier noch die Rede sein wird –, die mich
drängten, mich hier doch auch auf die davorliegenden Jahrzehnte einzulassen. Ich
dürfe nicht so mit der Tür ins Haus fallen, war der Einwand, nicht mit Andeutungen
und Gedanken, die für mich im Lauf der Zeit selbstverständlich geworden seien, für
viele andere aber noch immer nicht. Ich solle mir also die Mühe machen, zumindest
noch ein paar Seiten über das erste Jahrhundertviertel voranzustellen. Diesem
Drängen gab ich am Ende nach.
Eine Geschichte des Jahrhunderts soll dies natürlich trotzdem nicht werden, nicht
einmal in Ansätzen. Ich bin kein Historiker. Ich will weniger über die Ereignisse
dieses Jahrhunderts schreiben als darüber, wie Menschen, wie Bürger und politische
Akteure in diesem Jahrhundert gedacht haben. Ich weiß, auch das ist beinahe
vermessen, wenigstens dann, wenn man dabei aus eigener Erinnerung schöpfen will.
Aber ich habe ein gutes Gedächtnis, und ich habe sogar ein eigenes kleines Archiv.
Keines, wie ich es in meinem Berufsleben verwaltet habe, als Archivleiter des
SPIEGEL, nur eines mit privaten Aufzeichnungen, die ich, Archivarseele, die ich
nun einmal bin, akribisch verwahre. Wann ich wie und was als politischer Mensch
gedacht habe, das finde ich wohlsortiert auch in meinen Dateien und Zettelkästen.
Schrankfüllend ist es nicht. Im Beruf musste ich detailbesessen sein, aber damit war
meine Neigung zum Detail für dieses Leben beinahe erschöpft. Im sonstigen Leben
wollte ich die Welt eher aus der Vogelperspektive betrachten, aber immer auch
geerdet durch archivarisches Faktenwissen.
Menschen werden noch immer nicht alt genug, um ein Jahrhundert aus eigenem
Erleben beschreiben zu können, aber ich bin immerhin in diesem Jahrhundert
aufgewachsen und mit ihm ziemlich alt geworden. Ich könnte mit diesem
3
Jahrhundertporträt noch warten, bis das Jahrhundertende näherkommt, aber zwei
Gründe sprechen dagegen. Erstens weiß ich nicht, wie lange ich als mittlerweile
Achtzigjähriger zu einer solchen Arbeit noch fähig wäre. Zweitens könnte dieses
Jahrhundert tatsächlich schon reif für eine abschließende Betrachtung sein. Würde
nämlich der Rest des Jahrhunderts die überfällige Zeitenwende bringen, würde dies
den Rahmen dieses Textes ohnehin sprengen. Dann hätte der Rest seinen Platz – als
dessen Vorspiel gewissermaßen – eher in einem Porträt des 22. Jahrhunderts. Oder
aber das letzte Jahrhundertviertel wird – ich fürchte, so wird es kommen – für dieses
Jahrhundertporträt wenig Neues bringen.
Dieses Jahrhundert hat natürlich auch mein eigenes politisches Bewusstsein geprägt,
also bin ich Teil dessen, was ich hier beschreibe. Also muss ich mir auch darüber im
Klaren sein, wie mein eigenes Denken sich in den Etappen dieses Jahrhunderts
verändert hat. Das im Nachhinein zu verfolgen war fast ein Glückserlebnis. Ich weiß
jetzt, dass ich nicht noch einmal so denken darf, wie ich in früheren
Jahrhundertabschnitten gedacht habe, aber ich weiß natürlich auch, dass viel zu viele
es immer noch tun.
Als früherer Archivar falle ich aus der Rolle, wenn ich so etwas schreibe. Von einem
Archivar erwartet man Fakten, keine Meinung, kein Urteil, und diese Erwartung
habe ich in meinem Arbeitsleben lange erfüllen wollen. Aber gerade weil man von
mir keine Meinung erwartete, genoss ich die denkbar größte innere Meinungsfreiheit.
Ich nehme das als ein Privileg.
Die schreibenden Kollegen haben dieses Privileg nicht. Nur wer meinungsstark
schreibt, schreibt interessant, und interessant wirkt nur, was den Resonanzboden
bestehender Vorurteile zum Schwingen bringt. Das bringt die schreibenden Kollegen
immer wieder in Versuchung, sich Vorurteile zu eigen zu machen. Solcher
Versuchung war ich nie ausgesetzt. Von einem Archivar erwartet niemand, dass er
Vorurteile bedient. Das verleiht innere Freiheit, es hat allerdings auch seinen Preis:
Wer keine Vorurteile hat, der findet selten Gleichgesinnte.
4
Aber das war bei mir natürlich nicht von Anfang an so, ich wurde schließlich nicht
als Archivar geboren. Ich war achtundzwanzig, als ich in der
Dokumentationsabteilung des SPIEGEL – ich nennen sie hier einfach SPIEGELArchiv – meine erste Stellung antrat, und natürlich hatte ich damals schon politische
Meinungen und Urteile, und natürlich waren das großenteils Vorurteile. Ich könnte
daher über die Zeit davor, über das zwanzigste und das frühe einundzwanzigste
Jahrhundert, nicht so vorurteilsfrei schreiben, wie ich es möchte, wenn ich nicht das
Glück gehabt hätte, im Archiv auf Hauser zu treffen, meinen Mentor, den großen
Entzauberer von Vorurteilen. Aber darüber später.
Kollase, den 25.04.2077
PS: Dieser Text wird wohl überwiegend Leser finden, die nach der Jahrhundertmitte
geboren sind. Trotzdem wünsche ich mir natürlich, dass auch einige Ältere, vielleicht
auch einige aus meiner Generation der um die Jahrtausendwende Geborenen, sich die
Mühe des Lesens machen werden, auch wenn sie darin nur wenige eigene
Meinungen bestätigt finden.
Wem täte es nicht gut, sich im hohen Alter doch noch einen Reim auf dieses
ungereimte Jahrhundert zu machen?
5
Vorgeschichten
Staatstheater
Irgendwo las ich, dass man sich jung fühlen muss, um für junge Leute zu schreiben,
und sich alt fühlen muss, um für Alte zu schreiben. Das gilt auch für das Schreiben
einer Geschichte des 21. Jahrhunderts. Ich kann nicht so tun, als wäre ich noch jung,
aber vielleicht hilft es, hier mit meiner Zeit als junger Mensch zu beginnen, auch
wenn ich damals manchmal meinte, nicht ganz in meine Zeit zu passen.
Meine Erinnerung setzt mit der Nacht der Jahrtausendwende ein. Ich musste für ein
Foto posieren: Mein Kindsgesicht todmüde vor einem vom Feuerwerk taghell
erleuchteten Berliner Nachthimmel. Zum Glück war unten auf dem Foto das
Brüstungsrohr unserer Dachterrasse zu sehen, sonst wären es wirklich nur der
beleuchtete Himmel und ich gewesen. Unter dem Foto in der Handschrift meiner
Mutter: Matthias und das neue Jahrtausend feiern Geburtstag. Ich, Matthias Schmidt,
bin am 1. Januar 1996 geboren.
Es gibt andere peinliche Jugendfotos von mir, aber dieses war für mich eines der
peinlichsten. Neujahrsgeborene gehen ohnehin mit einer Last ins Leben, nun war
meiner Kindheitserinnerung noch dieses Jahrtausendwendespektakel aufgebürdet.
Ich hätte das Foto später vernichten mögen, aber das habe ich – irgendwie bin ich
eben doch ein Zauderer – immer wieder aufgeschoben, bis heute. Das Foto wird
diese Welt wohl nach mir verlassen.
Vielleicht war es auch wegen dieses Fotos, dass ich mich später bei Feiern oft fragte,
ob denn der Anlass der richtige sei. Man soll sich nicht zu früh freuen, das hatte ich
früh gelernt, aber dann gilt doch auch: Man soll nicht zu früh feiern. Wie kann man
guten Gewissens eine Jahrtausendwende feiern, wenn man für das neue Jahrtausend
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neues Unheil fürchten muss? Ich weiß, dass die wenigsten Jungen sich mit solchen
Gedanken befassen, aber die meisten Alten tun es leider auch nicht.
Später habe ich das Feiern dann etwas besser verstehen gelernt. Bei jungen
Menschen feiert man in die Zukunft hinein: In einem Jahr bist du schon sooooo groß.
Bei deinem nächsten Geburtstag bist du schon ein Schulkind. Nächstes Mal darfst du
schon wählen. Nächstes Jahr hast du schon deinen Führerschein. Nächstes Jahr hast
du schon dein Abitur. Nächstes Jahr studierst du schon.
Ganz anders bei alten Menschen. Sie feiern in die Vergangenheit hinein. Die späten
runden Geburts- und Hochzeitstage und Jubiläen – keine Rede mehr von
Herausforderungen, von Zielen und Plänen, von Zukunft überhaupt, höchstens noch
ein trotziges: Auf weitere soundso viele Jahre. Ansonsten Erinnerungen, alte
Geschichten, Erlebtes, Miterlebtes, Überstandenes, Geleistetes, einzelne
Glücksmomente. Erlittenes? Schwamm drüber.
Ich weiß, von privatem Feiern soll hier am allerwenigsten die Rede sein, aber
politische Feiern, Staatsfeiertage, haben damit Gemeinsamkeiten. All die Feiern von
politischen Jahrestagen sind Feiern in die Vergangenheit hinein. Mein Vater war
noch bei Feiern zu Jahrestagen der Oktoberrevolution dabei gewesen. Großes
Staatstheater mit Blick in die Vergangenheit, so sagte es einmal mein Großvater.
Natürlich wurde dabei auch kurz über Zukunft geredet, aber dafür versetzte man sich
erst einmal weit in die Vergangenheit. So fühlte sich die Gegenwart wie eine
strahlende Zukunft an, und die wirkliche Zukunft kam nur als Floskel vor.
Die Oktoberrevolution feiert niemand mehr, aber ist es mit dem Staatstheater unserer
Zeit, unseres Jahrhunderts nicht ähnlich? All die Jahrestage von lange
zurückliegenden Ereignissen, bei denen man sich in eine graue Vorzeit versetzt, um
sich umso emphatischer zur Gegenwart zu gratulieren. Fühlen die meisten
politischen Jahrestage, die wir heute feiern, sich nicht an wie diamantene
Hochzeiten? Aber was gibt es in der Politik noch oder was könnte es geben, das man
wie Kindergeburtstage, wie Geburtstage der Jugend feiern kann? Hat die Demokratie
uns nicht alle, Alte wie Junge, schon politisch vergreisen lassen? In diesem
7
Jahrhundert standen uns Hundertjahrfeiern – hundert Jahre deutsches Grundgesetz
und anderes – bevor, die genau diesen Gedanken aufdrängten.
Generation Sichtflug
Politische Vergreisung – das sind fast schon wieder Gedanken eines alten Mannes.
Wie war es, als ich achtzehn war? Ich versuche, an diese Zeit zu denken. Der Blick
ging damals in die Zukunft, die naheliegende eigene vor allem. Was wollte ich
werden? Was würde ich studieren? Ich ging die Sache damals ziemlich systematisch
an und stellte mir all die gängigen Fragen. Welcher Beruf gäbe deinem Leben Sinn?
An welchem hättest du Spaß? Wofür hättest du Talent? Was würde für Spannung
sorgen? Was gäbe dir Sicherheit? Womit ließe sich gutes Geld verdienen? Und
welches Studienfach wäre zu all dem der Schlüssel?
Vieles konnte ich vornherein ausschließen. Ich schaute in den Spiegel und wusste:
Andere sehen besser aus, du gehörst nicht ins Rampenlicht. Ich hörte mir zu und
wusste: Andere reden besser, flüssiger, überzeugender, also wirst du – Streitigkeiten
anderer langweilen dich sowieso – kein Anwalt, auch kein Politiker. Und ich horchte
in mich hinein und wusste: Andere sind durchsetzungsstärker, also wirst du kein
Manager, kein Unternehmer. Technik interessiert dich nur mäßig, also wirst du kein
Ingenieur. Naturwissenschaften hast du in der Schule gemieden, also wirst du kein
Chemiker, kein Biologe, kein Physiker. Zeichnen können andere viel besser, also
wirst du kein Künstler, kein Gestalter, kein Architekt. Du kannst kein Blut sehen,
also wirst du kein Arzt. Du bist ungeduldig, also wirst du kein Lehrer.
Schließlich ging ich zur Berufsberatung. Der Rat war: Sie sind noch nicht reif, sich
zu entscheiden, Sie brauchen eine Orientierungsphase, studieren sie erst mal was
Allgemeinbildendes.
Was das denn sein könnte, fragte ich.
Schauen Sie sich mal bei den Geistes- und Sozialwissenschaften um, war die
Antwort.
8
Ich durchforstete die Websites der Universitäten. Von den mehr als 200
Studiengängen – tausende spezialisierte Unterstudiengänge nicht mitgezählt –
schloss ich zwei Drittel sofort aus, mehr als 60 allgemeinbildende blieben übrig.
Viele mit klingenden Namen, sehr viele, von denen ich nie gehört hatte, viele, unter
denen ich mir nichts vorstellen konnte. Studiengangerfinder, dachte ich, das wäre
mein Beruf. Ich war in einem schwierigen Alter.
Ich schob die Entscheidung vor mir her. Ein guter Freund wollte Medizin in Halle
studieren, also entschied auch ich mich erst einmal für Halle. Welche anderen
Gründe sprachen dafür? Ich erinnere mich an keine, an Gründe, die
dagegensprachen, schon eher. Mein Freund entschied sich dann doch für München.
Für mich zu spät, ich blieb bei Halle.
Die Entscheidung für Politik – genauer gesagt, die so genannte Wissenschaft davon –
hatte ich buchstäblich in letzter Minute getroffen. Jemand hatte mir von Graf erzählt,
der in Halle Politikwissenschaft lehrte. Graf sei anders als die meisten, ein hoch
interessanter Mann, für angehende Politologen Grund genug, nach Halle zu gehen.
Warum also nicht Politikwissenschaft in Halle?
Im Nebenfach habe ich dann – allgemeinbildend – Geschichte, Soziologie und
Philosophie studiert. Mit Halle hatte ich dann nach zwei Jahren meinen Frieden
gemacht. Natürlich war Halle mir zu klein und zu provinziell und die Stimmung zu
depressiv, und die Wochenenden waren zu lang, um dort bleiben, und fast immer zu
kurz, um zu Freunden nach München, Heidelberg oder Hamburg fahren zu wollen.
Aber irgendwann wurde Halle mir dann doch vertraut genug. Ähnlich mochte es
lange vorher Graf gegangen sein. Er lehrte seit über zwanzig Jahren in Halle, schien
aber mit seinen Gedanken dort nie ganz angekommen zu sein. Von vielen Studenten
wurde er „Der Fremde“ genannt. Aber Halle brauchte so einen. Er war das Glanzlicht
im Hallenser akademischen Alltag.
Nach sieben Jahren Halle war ich dann so weit, dass ich wusste, was ich hätte
werden wollen: Stadtplaner. Zu spät. Nun musste ich als studierter Politologe ins
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Berufsleben eintreten. Aber was ließ sich daraus machen? Ich wusste es nicht, und
die meisten Kommilitonen auch nicht. Wir alle wussten nur, dass wir viel zu viele
waren für die Jobs, in denen wir unser Studienwissen anwenden konnten. Wenn wir
uns den akademischen Stil schnell genug abgewöhnten, hatte ein Dozent einmal
gesagt, könnten wir z.B. Journalisten werden oder Redenschreiber für Manager. Es
war spannend, und noch fühlte es sich gut an. Noch hatte ich nichts zu verlieren.
Als Student hatte ich oft darüber gelesen, welche Gedanken Ältere sich über unsere
Studentengeneration machte. Damals wurde in fast jeder Dekade eine neue
Generation ausgerufen, und unsere nannte man seltsamerweise Generation Z. Der
Tonfall, in dem man über uns schrieb, war ärgerlich, aber vieles Geschriebene war
richtig. Wir waren viel mit uns selbst beschäftigt. Die Wenigsten waren politisch
ernsthaft interessiert, auch unter den Politikstudenten, und wenn, dann ohne jegliche
Leidenschaft. Zeit für politisches Engagement hatten wir nicht oder nahmen wir uns
nicht. Die Bereitschaft, Lebenszeit für politische Ziele zu opfern, wächst eben – so
hat Graf es einmal gesagt – am ehesten aus Empörung, und empört waren wir nicht.
Empörung und Zorn herrschten anderswo.
„Euer Wohlstand frisst eure Zeit.“ So sagte Graf es in einer Vorlesung kurz vor
seiner Emeritierung, einer denkwürdigen Vorlesung, in der er aussprach, was keiner
seiner Kollegen je gewagt hätte. Er begann im üblichen akademischen Tonfall. Dann,
ganz spontan, ganz offensichtlich ungeplant, vielleicht sogar ungewollt, zuerst im
Tonfall einer beiläufigen Anmerkung, dann immer erregter, für Augenblicke wie in
unterdrücktem Zorn, rechnete er mit uns ab, mit seinen Studenten, nein mit einer
ganzen Studentengeneration. Und dann, fast am Schluss: Ihr seid die Generation
Sichtflug.
Generation Sichtflug. Das wurde bei uns ein geflügeltes Wort. "Na, du Sichtflieger",
so pflaumten wir einander amüsiert an. Ich nahm es nicht so locker. Hatte Graf nicht
irgendwie Recht? Ja, irgendwie waren wir eine Generation Sichtflug. Aber hatte er
uns denn Besseres gelehrt? Den politischen Instrumentenflug? Nein, das hatte auch
er nicht. Sein kaum verhohlener Zorn traf, ohne dass er es merkte, auch ihn selbst.
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Aber Graf legte kurz darauf noch einmal nach. Alle wussten, dass es sein allerletzter
Auftritt in Halle sein würde, der Hörsaal quoll über bis weit in die Flure hinein. Er
fing wieder streng akademisch an mit Anmerkungen zur politischen Theorie der
Gegenwart. Dann brach er unvermittelt ab, ließ seinen Blick in die Weite des
Hörsaals schweifen, dann sagte er:
– Aber das ist für euch natürlich alles graue Theorie.
Für euch, sagte er. Er hatte, solange ich ihn kannte, nie einen Studenten geduzt, nun
dieses „für euch“.
– Ihr wisst ja, fuhr er dann fort, dass ihr die Generation Sichtflug seid.
Dann wurde sein Tonfall schärfer, fast schneidend.
– Aber ihr macht nicht einfach nur Sichtflug, ihr macht Sichtflug im Nebel. Ohne
Kompass, ohne Orientierung. Und trotzdem gut gelaunt.
Dann der Zwischenruf eines Studenten: Woher kommt denn der Nebel?
Großes Gelächter im Hörsaal. Darauf Graf – jetzt siezte er uns wieder:
– Es ist der Nebel der Begriffe. Von überall her. Von den Medien, von Parteien, von
Regierungen, in Wahlkämpfen.
Dann, nach einer kurzen, kunstvollen Pause:
– Aber auch von den nebulösen akademischen Begriffen.
Wieder ein langer, weiter Rundblick in den Hörsaal.
– Den einen Rat gebe Ihnen noch mit: Behalten Sie die wenigen Prozente des
Lehrstoffs, die wichtig sein könnten, die Sie vielleicht zu etwas besseren
Staatsbürgern machen. Und vergessen Sie möglichst schnell den ganzen Rest.
Machen Sie den Kopf frei für Neues, das im wirklichen Leben hilft.
Im Saal eine fast unheimliche Stille. Dann ein anschwellendes Klopfen auf die
Tische.
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Dann wieder Graf:
– Ich wünsche Ihnen viel Weitsicht auf Ihrem weiteren Lebensweg. Alles Gute.
Er schob die vor ihm liegenden Papiere zusammen und steckte seine Brille ein. Alle
im Hörsaal blieben sitzen. Dann standen die Ersten auf, keiner ging. Dann fingen
einige an zu klatschen, dann immer mehr, dann standen fast alle, fast alle klatschten,
einige riefen "bravo".
Graf blieb stehen, kämpfte sichtlich mit den Tränen, dann machte er eine
beschwichtigende Handbewegung. Das Klatschen ebbte ab. Dann sein allerletzter
Satz:
– Ich sage das noch einmal: Vergessen sie möglichst schnell möglichst viel von dem,
was Sie hier gelernt haben.
Dann ging er, die Standing Ovations sichtlich genießend, mit einem verschmitzten
Lächeln. Es war der bewegendste Moment meiner Zeit in Halle. Vielleicht der
einzige wirklich bewegende.
Aber zu was hatten wir Graf eigentlich so heftig applaudiert? Zu seiner unverhofften
Wahrhaftigkeit? Dazu, dass unser Studium größtenteils Zeitverschwendung war, all
die schönen Demokratie- und sonstigen Theorien eingeschlossen? Wir wussten es
nicht. So begeistert wir von Grafs Auftritt gewesen waren, so schnell war er
vergessen. Am nächsten Tag tauchten die Gedanken wieder in den Alltag ein, die
nächste Seminararbeit, die nächste Klausur, das anstehende Praktikum, die
Fertigstellung der Bewerbungsmappe und so weiter, und schon waren die Standing
Ovations für Graf nur noch ein aus dem Zusammenhang gerissener
Erinnerungsfetzen. Eine Zehnsekundenaufnahme davon auf YouTube war nach ein
paar Tagen gelöscht. Drei Tage nach seiner Abschiedsvorlesung hatte Graf Halle für
immer verlassen.
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Wenn ich mich richtig erinnere, sah ich Constanze – die Cramer, wie viele sie
nannten – zum ersten Mal in einer von Grafs Vorlesungen. Constanze Cramer.
Politik und Informatik im Nebenfach, Hauptfach Ökonomie. Ich war im dritten von
vierzehn Semestern, sie in ihrem vorletzten, dem siebten. Ein älterer Kommilitone
neben mir machte eine Kopfbewegung zu ihr hin. „Schau mal!“ Man kannte sie. Eine
Erscheinung. Auffallend schön, auffallend athletisch, auffallend weiblich, auffallend
schwarzes langes Haar, einschüchternd groß, manchmal auf hohen Absätzen,
auffallend gepflegt, auffallend gut gekleidet, auffallend geschminkt. Auf den ersten
Blick eine Allerweltseleganz wie aus Modejournalen, ein Karrieretyp. Eine von
jenen, die einmal von Weitem gesehen zu haben mir eigentlich vollauf genügt hätte.
Im ersten Moment konnte man sie auch für einen akademischen Jungstar halten, eine
angehende Professorin. Alles an ihr, ihre Körperhaltung, ihre Mimik, ihre Gestik,
ihre Blicke, sagte: Kommt mir nicht zu nahe; ich weiß, ihr würdet gern, aber tut es
nicht. Dazu passte ihr immer in voller Länge, nie in Kurz- oder Koseform
ausgesprochener Vorname. Immer Constanze, niemals Connie oder sonstwas. Bei
uns Politologen gab es keine Frauen und auch keine Männer, die es mit einer wie ihr
hätten aufnehmen mögen. "Bei solcher Frau bist du als Mann doch immer nur der
Kofferträger." Nur einmal – ich saß ihr in Grafs Seminar näher als sonst – erahnte ich
in ihrer Miene für einen kurzen Moment Tiefgründigeres.
Auch in Grafs Seminar war sie immer wortgewandt und schlagfertig, sie
argumentierte glänzend, aber wenn sie sprach, dann in angestrengtem, fast schrillem
Tonfall. Einer Erscheinung wie ihr hätte man eine wohlklingendere Stimme
gewünscht. Aber dann hätte man vielleicht auch sie spontan zur Generation Sichtflug
gezählt. Das wäre, wie ich später herausfand, ein großer Fehler gewesen. Ich habe ihr
viel zu verdanken, auch für dieses Buch.
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Das 20. Jahrhundert
Die Geschichte orientiert sich nicht am Kalender. Ein kalendarisches Jahrhundert,
auch das einundzwanzigste, als zusammenhängende Epoche zu behandeln ist im
Grunde, ich weiß es, schlicht Unsinn. Wenn man unser Jahrhundert als historische
Epoche betrachten will, dann hat diese eher mit dem letzten Jahrzehnt des
20. Jahrhunderts begonnen, mit dem Zusammenbruch der sozialistischen
Staatenwelt.
Ich fange daher mit einer Anmerkung zum zwanzigsten Jahrhundert an. Wie haben
Menschen im vorigen Jahrhundert politisch gedacht? Was haben sie mit ihrem
Denken angerichtet, und was haben sie damit – im Guten wie im Schlechten –
verhindert? Welche Fortschritte gab es im politischen Bewusstsein? In
Geschichtsbüchern wird man vieles anders lesen, aber gerade deswegen will ich hier
aufschreiben, wie Hauser es mir schon vor 50 Jahren zu sehen geholfen hat.
Das zwanzigste Jahrhundert – nicht das kalendarische – hatte einigermaßen klare
Konturen. Die Zeit bis zur Jahrhundertmitte war das wohl dunkelste Kapitel der
Menschheitsgeschichte, die Zeit der Weltkriege, die Zeit massenmörderischer
Despotien und die Zeit menschenverachtender Ideologien. Es war die Zeit von
kolonialistischer Ausbeutung und Rassismus, wozu, um nur ein Beispiel zu nennen,
das lange geleugnete und fast vergessene Terrorregime in Belgisch Kongo mit seinen
ca. 10 Millionen Opfern gehörte. Und es war auch – und das wird hier eine
herausragende Rolle spielen – das Jahrhundert in politischem Leichtsinn, politischer
Ignoranz, in Siegerwillkür und kolonialistischer Überheblichkeit gezogener
Staatsgrenzen. Daneben war es aber auch die Zeit, in der eine vergleichsweise
zivilisierte politische Ideologie, die Ideologie der Demokratie, sich global
durchzusetzen begann.
Das Ende des Zweiten Weltkriegs war natürlich eine historische Zäsur. Im
nachfolgenden Ost-West-Konflikt steigerten sich die militärischen
Bedrohungsszenarien zu atomaren Weltuntergangsszenarien. Auch dem militärisch
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Stärkeren drohte nun schlimmstenfalls die vollständige Vernichtung, und militärische
Überlegenheit bewahrte nicht mehr vor Vernichtungsangst. Vor allem in der
westlichen Welt war das Weltkriegsende daher auch eine Bewusstseinswende. Das
politische Bewusstsein wurde zuallererst zu einem Welt- und
Atomkriegsverhinderungsbewusstsein. Das war das Verbindende dieser Ära.
Auf diesem Entwicklungsstand war die westliche Welt mit sich zufrieden.
Gegenüber dem Rest der Welt konnte sie immerhin einen politischen
Zivilisierungsvorsprung für sich reklamieren, der nach Jahrzehnten und teilweise
nach Generationen und Jahrhunderten zu bemessen war. Auch der sozialistischen
Staatenwelt sah man sich natürlich moralisch weit überlegen. Und da diese erst mit
jahrzehntelanger Verzögerung kollabierte, wurde auch die Selbstzufriedenheit der
westlichen Welt weit über ihre Zeit hinaus konserviert. Sonst wäre es spätestens in
den siebziger Jahren Zeit für die Einsicht gewesen, dass dem Zivilisierungsschub der
Nachkriegszeit ein neuer folgen muss.
Mit dem politischen Bewusstsein ging es in der späteren Nachkriegszeit kaum noch
voran. Den Schreckensregimen der ersten Jahrhunderthälfte folgten Diktatoren wie
Franco und Salazar, terroristische Militärjuntas wie in Argentinien, kommunistische
Schreckensherrscher wie Mao Zedong, Pol Pot und Ceausescu, archaische Despoten
wie Idi Amin und Saddam Hussein und Völkermorde wie in Ruanda. Es wurden –
auch von demokratischen Weltkriegssiegermächten – weiter konventionelle Kriege
geführt, u.a. in Korea, Vietnam und Afghanistan, allein in diesen Ländern mit mehr
als acht Millionen Todesopfern. Dies wurde im Westen nicht etwa als zivilisatorische
Entgleisung gesehen, sondern eher als natürliche Fortsetzung der Geschichte. Die
Beschränkung der Atommächte auf konventionelle Kriegführung galt in dieser Zeit
schon als Ausweis zeitgemäßer zivilisatorischer Reife.
Solche Beispiele zeichnen ein düsteres Bild dieser Epoche, aber in der westlichen
Welt wurde die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dennoch nicht als düstere Zeit
erlebt. Man lebte weiter im Bewusstsein, dass zumindest in der eigenen Welt das
Schlimmste verhindert und das Mögliche im Großen und Ganzen erreicht wurde. Die
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westlichen Staaten führten gegeneinander keine Kriege, die noch verbliebenen
Despoten der westlichen Welt wurden schließlich gestürzt, und es gab vor allem
keinen Atomkrieg. Die konventionellen Kriege fanden woanders statt, wenn auch
immer wieder mit militärischer, finanzieller und geheimdienstlicher Beteiligung
etablierter Demokratien. Ansonsten blieben die westlichen Staaten ganz darauf
konzentriert, in der eigenen Welt den erreichten Status zu bewahren.
Nichts anderem diente auch die europäische Integration. Dass der Weg zur
politischen Einigung Europas aber nicht nur Konflikten vorbeugen, sondern sich
später selbst als konfliktträchtig erweisen würde, ahnte damals niemand. So wurde in
der westlichen Welt eine zwischenstaatliche Nachkriegsordnung festgezurrt, die den
durch die Weltkriege geschaffenen Status bewahrte. Als dann zehn Jahre vor der
Jahrtausendwende endlich die sozialistischen Regime des Ostens kollabierten, war
man in der westlichen Welt sicherer denn je, die denkbar höchste Stufe politischer
Zivilisierung erreicht zu haben. Nach zwei Weltkriegen und jahrzehntelangem
kaltem Krieg schien die Zeit der großen weltgeschichtlichen Dramen vorbei und die
Zeit reif für ein entspanntes neues Jahrhundert. Europa würde auf absehbare Zeit
friedlich und demokratisch vereint sein, und der Rest der Welt würde zur politischen
Zivilisierung des Westens aufschließen. Wir haben unsere großen politischen und
wirtschaftlichen Probleme gelöst, glaubte man, zumindest die grundsätzlichen, wir
haben die sozialen Konflikte hinreichend entschärft, und nach unserem Vorbild wird
nach und nach auch die restliche Welt es schaffen.
Auch die zwischenstaatliche Friedensordnung schien zumindest dem Prinzip nach
fest gefügt zu sein, nicht nur für Europa und den Westen. Die Staatengemeinschaft
hatte sich auf die Unverletzlichkeit bestehender Staatsgrenzen als vermeintlich
friedenswahrendes Prinzip geeinigt, auf das so genannte Prinzip der territorialen
Integrität. Damit hatten bestehende Staaten einen Anspruch auf Unveränderlichkeit
ihrer Staatsgrenzen. Da die meisten Kriege bis dahin mit Übergriffen auf
Staatsgrenzen begonnen hatten, versprach man sich von der Durchsetzung dieses
Prinzips eine vollends nichtkriegerische Zukunft.
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Fast über die gesamte zweite Jahrhunderthälfte hinweg gab es aber militante
Konflikte, die nicht in dieses Bild passten. Es gab innerstaatliche Konflikte wie in
Nordirland, im Baskenland, in Kaschmir und vielen anderen Krisenregionen, die im
Kern Konflikte um Staatsgrenzen waren und damit auch Konflikte um das Prinzip
der territorialen Integrität. Ähnliche Konflikte gab es fast permanent in Afrika, wo
sie allein in den neunziger Jahren Millionen Todesopfer forderten. Und Europa, das
das kriegerische Zeitalter zumindest für sich selbst überwunden glaubte, erlebte
schon bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Jugoslawien-Kriege und
andere ähnliche Gewaltkonflikte. Dies zeigte, wie brüchig die politische
Zivilisierung auch in Europa noch immer war. Diese Kriege waren nicht, wie viele
damals glaubten, die letzten Nachwehen eines kriegerischen zwanzigsten, sie waren
vielmehr der unheilvolle Auftakt zu einem unfriedlichen 21. Jahrhundert.
Aber die westliche Welt ließ sich von ihrer Selbstzufriedenheit zum
Jahrtausendausklang nicht ablenken. Die Sektkorken sollten knallen. So feierte man
ziemlich unbesorgt in ein verstörendes neues Jahrhundert hinein.
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2000 – 2024 Ein schleichender Weltkrieg und andere Krisen
Jahrhundertauftakt
Meine Großeltern würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, wie ihr
Jahrhundert hier auf ein paar Seiten abgefertigt wird. Auch meine Eltern haben die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als große Selbstverständlichkeit erlebt wie fast
alle damals. Sie waren stolz darauf, was in ihrer Zeit überwunden, erkämpft und
verteidigt worden war, und sie wollten sich diese Zeit nicht kleinreden lassen. Mir
fällt der distanzierte Blick natürlich leichter. Für mich ist auch die zweite Hälfte des
20. Jahrhunderts eine Zeit, in der Menschen – auch die im so genannten Westen –
sich von Überzeugungen haben tragen lassen, die sich heute mit Vernunft nicht mehr
erklären lassen.
Aber nun endlich zu unserem, dem 21. Jahrhundert, in dem ich mein Berufsleben als
Archivar verbracht habe. Dass ich Archivar geworden bin, ist eigentlich ein Zufall.
Eigentlich hatte ich doch eher Redakteur werden wollen. Bis irgendwann ein älterer
Freund mir sagte, auch etwas wie Archivarbeit sollte man als Redakteur einmal
gemacht haben.
Das Wort Archivarbeit hatte bei mir keinen guten Klang. Archive sind eben keine
Orte, in die es viele lebenshungrige Mitt- oder Endzwanziger zöge. Aber dann war da
diese von Hauser verfasste verführerische Stellenanzeige des SPIEGEL.
Dann das Bewerbungsgespräch. Ich ging auf das einschüchternde Verlagsgebäude in
der Hamburger Hafen City zu und dachte: Hier wärest du ein winziges Rädchen einer
großen Maschinerie, das kannst du nicht wollen. Dann stand ich vor Hausers fast
bescheidenem Büro, die Tür stand offen, hinter einem großen, hellen Schreibtisch ein
schlanker Mann mit etwas gedrungener Figur, schmalem Gesicht, fast filigraner
Hornbrille und dichtem, leicht gewelltem dunklem Haar. Mit einer Geste bat er mich
herein, lenkte mich auf den spartanischen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Ein eher
stiller Typ, dachte ich, kein autoritärer Chef, nicht unsympathisch. Dann sah er mich
18
einen kurzen Moment lang mit einem eindringlichen, bis ins Innerste ausforschenden
Blick an, dann hörte ich seine helle, freundliche Stimme sagen:
– Ich bin Jan Hauser.
Als wäre damit alles gesagt.
Aber ein paar Sätze später waren wir schon in einem intensiven Gespräch, und nach
wenigen weiteren Sätzen wussten wir beide: Wir vertrauten einander. Und dann
seine Begeisterung für die Archivarbeit. Nirgendwo sind Sie so unabhängig wie hier,
erklärte er mir, nirgendwo erfährt man Überraschenderes, nirgendwo kann man
klarer denken. Ganz verstand ich es damals noch nicht, aber es machte mir Mut
weiterzufragen, so naiv und so direkt, wie es nur ein Anfänger tun kann.
– Aber was bewirkt man als Archivar? Welchen Einfluss hat man?
– Mehr, als Sie vermuten, sagte er. Vielleicht mehr als die meisten Redakteure.
Ich sah ihn erstaunt an, und genau das hatte er offenbar erwartet.
– Manche, die sich hier bewerben, wollten eigentlich Redakteur werden. Sie auch?
Ich tat, als müsse ich überlegen.
– Ich selbst wollte es nie, sagte er. Hier arbeitet man viel freier. Als Redakteur ist
man immer auch gefangen.
– Worin?
– Im Zeitgeist? In der Aktualität? In Vorgaben des Verlags?
Er sah mich auffordernd an, als warte er auf meine Bestätigung. Dann sagte er:
– Außerdem hat man hier im Archiv den Blick ins Weite.
– Weit in die Vergangenheit, meinen Sie?
– Das hängt ganz von Ihnen ab, sagte er.
Dabei sah er mich wieder mit seinem eindringlichen Hauser-Blick an, einem
Seelenfängerblick, verführerisch und auftrumpfend zugleich, der Menschen für
19
Augenblicke sprachlos machen kann. Ich will dich, sagte mir der Blick in diesem
Moment, ich will dich für unser Archiv, ich will dich als Kollegen.
Ich senkte den Blick und horchte in mich hinein. Dann spürte ich, wie meine Miene
sich ganz ohne mein Zutun zu einem stummen, widerstandslosen „Du kriegst mich“
formte.
Hauser lehnte sich mit entspanntem Stöhnen zurück.
– Ich glaube, Sie passen zu uns.
Kurzes Schweigen.
– Vor allem wegen Ihrer breiten Allgemeinbildung.
Er beugte sich wieder vor.
– Allerdings…
über meinen Kopf hinwegsehend
– …ein bisschen mehr Wirtschaftswissen hätte nicht geschadet.
Dann:
– Aber egal, dafür haben wir jemand anderes.
Dann gab er sich einen Ruck, richtete sich auf, sah mich mit befreitem Lächeln an.
– Also? Sind wir uns einig?
So fing alles an. So kam ich zum SPIEGEL-Archiv, so kam ich mit Jan Hauser
zusammen, ohne den ich kein Archivar geworden wäre oder doch einer, wie die
meisten Menschen sich Archivare vorstellen, ohne den mein politisches Bewusstsein
noch heute ein ganz anderes wäre, als es geworden ist, und ohne den ich nicht einmal
auf den Gedanken hätte kommen können, dieses Buch zu schreiben.
Die meisten Menschen machen sich von einem Archiv wie unserem falsche
Vorstellungen. Sie meinen, wir archivierten nur Informationen, die unseren
20
Redakteuren beim Schreiben nützlich sind. Hauser hat mir erklärt, dass das bei uns
von Anfang an anders war: Wir archivierten nicht nach dem Kriterium Nützlichkeit,
darüber dürften wir uns kein Urteil anmaßen. Es gebe immer wieder unscheinbare
Informationen, die erst nach Jahrzehnten in ihrer Bedeutung erkannt würden, und
manche davon würden nirgendwo anders als in Archiven wie unserem zu finden sein.
Auch darin liege der Sinn unserer Arbeit.
Natürlich ist man als Archivar zuerst einmal Quellensammler, eine Art Buchhalter
des Zeitgeschehens. Im Umgang mit Informationen war ich immer auch passionierter
Systematiker. Mein Gedächtnis ist ein systematisches Privatarchiv, manche meinten
damals sogar, es sei ein Autistengedächtnis. Aber ich hatte nicht nur ein Bild davon,
was in diesem Jahrhundert politisch getan und gedacht wurde, mein Gedächtnis
versuchte auch zu speichern, was zu tun, zu denken oder zu dokumentieren
möglicherweise versäumt wurde.
Insofern sah ich als Archivar vieles anders, als andere es taten. Zum Aktuellen
musste ich professionelle Distanz halten, daran gewöhnte ich mich. Beruflich lebte
ich insofern in der Vergangenheit. Aber manches Mal bin ich aus dieser Rolle
gefallen. Manchmal habe ich der Redaktion Archiveinträge aufgedrängt, die mir für
mögliche spätere Artikel wichtig erschienen, auch sehr viel spätere. „Wozu denn
das?“, war dann oft die erstaunte Antwort, und darauf hätte ich antworten mögen:
„Das werdet ihr noch sehen.“ Habe ich natürlich nicht.
Seit ich im Archiv arbeitete, vom Beginn des zweiten Jahrhundertquartals an,
hinterließen politische Ereignisse bei mir viel tiefere Spuren als vorher. Ich versuchte
nun auch, mir ein möglichst klares Bild vom Denken und vom Handeln von
Politikern meiner bisherigen Lebenszeit zu machen. Dabei zehrte ich natürlich auch
von Erinnerungen aus zweiter Hand, aber es ist genug Zeit vergangen, um daraus
allzu Einseitiges herauszufiltern.
Deutschland war zur Jahrtausendwende noch immer in der Rolle des
schuldbeladenen Weltkriegsverlierers. Nicht noch einmal auffallen in der
21
Weltgeschichte, das war noch immer eine Maxime deutscher Politik. Nicht negativ
auffallen, aber auch nicht mit dem Anspruch, besser zu sein als traditionsreichere
Demokratien. So waren die anderen mit Deutschland einigermaßen zufrieden und
erst recht Deutschland mit sich selbst. Anders ging es den
Weltkriegssiegerdemokratien. Sie taten sich, auch wenn sie es sich selbst noch kaum
eingestanden, schwer mit ihrem schleichenden Bedeutungsverlust. Keine guten
Voraussetzungen für eine vernunftgesteuerte Weltpolitik.
So war man zur Jahrtausendwende im so genannten Westen vor allem mit sich selbst
beschäftigt. „Es geht uns besser denn je“, dachte man, oder „Es könnte uns viel
schlechter gehen.“ Großen Veränderungswillen gab es nicht. Gedanken wie „Könnte
es uns und anderen nicht noch besser gehen?“ oder „Wie lange wird es uns noch so
gut gehen?“ waren Gedanken von Spielverderbern. Man wollte nicht in längeren
Zeiträumen denken als gewohnt. Meine Generation, die Generation Sichtflug nicht,
aber auch nicht die Generationen der Älteren.
Vielleicht war ich bis weit in die erste Jahrhunderthälfte hinein einfach noch zu jung,
um besondere Erwartungen an unser Jahrhundert zu haben. Erst Jahre nach meinem
Eintritt ins Archiv begann ich, Vergleiche zwischen unserem und dem 20.
Jahrhundert anzustellen. Wie weit sind Menschen, Staaten und die Staatenwelt im
letzten Jahrhundert vorangekommen, fragte ich mich nun, und um wie viel weiter
könnten sie in diesem Jahrhundert vorankommen? Fragen, mit denen ich mich
ziemlich allein fühlte. Bis ich darüber mit Hauser sprach.
Anfang unseres Jahrhunderts war bei Älteren die größte Sorge noch immer: Nicht
noch eine Jahrhunderthälfte wie die vorletzte, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Ich selbst hatte diese Sorge nie. Der Anspruch hätte doch sein müssen: nicht noch
eine Jahrhunderthälfte wie die jüngste, die fünf Nachkriegsjahrzehnte. Also habe ich
später die erste Hälfte unseres Jahrhunderts immer wieder an der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts gemessen. Je länger ich dies tat, desto besorgter wurde ich. Das
habe ich aber, so gut ich konnte, für mich behalten.
22
Wem hätte ich es auch anvertrauen sollen? Kein Redakteur hätte darüber schreiben
wollen. Ein einziges Mal habe ich mich damit vorgewagt, und die Antwort war:
„Dafür finden wir keine Leser.“ Der Kollege hatte natürlich Recht. Dass die
Geschichte der politischen Zivilisierung mit der Ausbreitung der Demokratie
abgeschlossen sei, glaubte inzwischen niemand mehr, aber man sah sich dem Ziel
doch immer noch nah. „Was erwartest du eigentlich?“, sagte der Kollege noch, „so
viel Fortschritt in so kurzer Zeit gab es noch nie.“ Auch das mochte richtig sein, aber
die Antwort darauf wäre gewesen: „Es gab in so kurzer Zeit auch noch nie so viele
neue Probleme.“ In dieser Zeit war der Niedergang des demokratischen
Parteiensystems längst unübersehbar, aber selbst das änderte nichts an der
herrschenden Selbstzufriedenheit.
Das gehört aber schon nicht mehr hierher, es gehört in die Geschichte späterer
Jahrhundertabschnitte.
23
Bewusstseinsstörung
Dieses kleine Jahrhundertporträt soll vor allem eine Bewusstseinsgeschichte sein.
Auch deswegen kann man dabei nicht über den barbarischen Jahrhundertauftakt
hinweggehen, den islamistischen Anschlag auf das New Yorker World Trade Center
im September 2001. Was haben die Täter dabei gedacht, was ihre Inspiratoren, was
ihre Sympathisanten? Was haben diejenigen gedacht, die auf diesen Anschlag
politisch reagierten, die dabei im Namen der Opfer zu handeln meinten und selbst zu
Tätern wurden? Wer hat bei all dem wie weit über die Folgen seines Handelns
nachgedacht, wer wie weit über die Folgen des Handelns der Anderen? Ein
Problemknäuel, das die Welt zu überfordern schien.
Erst einmal aber zu einer anderen fast unentwirrbaren Geschichte, über die ich im
Archiv lange recherchiert habe, zu den Jugoslawien-Kriegen der frühen neunziger
Jahre des letzten Jahrhunderts. Heute wissen wir, dass dies exemplarische Kriege zur
Lösung einer Jahrhundertaufgabe waren: der Entflechtung falsch zusammengesetzter
Staaten.
Dass Jugoslawien nach dem Zusammenbruch des Sozialismus nicht als
zusammenhängender Staat zu halten sein würde, war den Beteiligten offenbar rasch
klar. Niemand schien aber zu wissen, wie man einen solchen Staat friedlich auflöst.
Also gab es über die neunziger Jahre hinweg Krieg, genauer gesagt mehrere Kriege,
in die auch NATO-Staaten verwickelt waren.
Das Ergebnis, der Zerfall Jugoslawiens in Serbien, Kroatien und fünf weitere
eigenständige Nachfolgestaaten, war eigentlich für alle vorhersehbar. Warum
brauchte es dafür dann aber diese Kriege, eine Intervention der NATO und ein
anschließendes endlos langes Besatzungsregime im Kosovo und in Bosnien? Und
was, wenn überhaupt etwas, hat man daraus gelernt? Und wenn man nichts oder zu
wenig gelernt hat: Konnte das der Auftakt einer Abfolge ähnlicher Kriege sein,
womöglich einer langen Ära von Kriegen zur Auflösung von Staaten? Und konnte es
wirklich sein, dass niemand, weder Politiker noch Bürger noch Experten, sich
24
ernsthaft diese Frage stellte? War die Welt womöglich in der Hand politischer
Schlafwandler, ähnlich wie sie es vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen war?
Genau diesen Anschein hatte es. Unser Jahrhundert begann ähnlich unheilträchtig
wie das vorherige.
Ein schlichter Rückfall in ein Denken wie hundert Jahre zuvor war dies aber nicht,
davon hat mich auch die Archivarbeit überzeugt. Wer sich mit den JugoslawienKriegen näher befasste, dem musste klar sein: Die Kriege des 21. Jahrhunderts
würden ganz andere sein als die großen Kriege der Vergangenheit. Die meisten
großen Kriege waren Ausbrüche überschießenden Machtgefühls gewesen. Wenn
man andere Staaten besiegen und damit Macht und Einfluss über fremde
Staatsgebiete ausweiten konnte, warum dann nicht? Gelohnt haben sich die großen
Kriege dieser Art aber auf sehr lange Sicht fast nie, und in der Welt des 21.
Jahrhunderts war dies weniger denn je zu erwarten. Dass auch unser Jahrhundert eine
Ära von Eroberungskriegen sein würde, war kein plausibles Szenario.
Nun aber Kriege wie die um Jugoslawien. Viele hieran Beteiligte waren natürlich
noch ganz in altem Denken befangen, hatten also Eroberung und Unterdrückung als
Kriegsziele im Sinn. Im Kern ging es bei diesen Kriegen aber um etwas ganz
anderes. Hier wollte kein Despot oder Monarch oder ideologisch verblendetes
Regime seinen Herrschaftsbereich ausweiten. Hier wollten werdende Demokratien
sich Staatsgrenzen schaffen, in denen es unter ihren Bürgern genügend spontanen
Zusammenhalt geben würde und damit die Voraussetzungen für innerstaatlichen
Frieden. Das waren verständliche, vernünftige und alles andere als unmoralische
Anliegen. Trotzdem war die Staatenwelt hierauf völlig unvorbereitet. Konzepte für
eine friedliche Erfüllung dieser Anliegen hatte die Weltpolitik nicht. Die aus der
Geschichte gezogenen Lehren reichten hierfür offensichtlich nicht aus.
Heute wissen wir, dass die Staatenwelt auch aus den Jugoslawienkriegen keine
Lehren gezogen hat, nicht einmal diese, die sich unmittelbar aufdrängte: Wo
Autokraten stürzen, die ihr Staatsvolk nur mit eiserner Faust hatten zusammenhalten
können, leben bei den Bürgern generationenalte Zusammengehörigkeitsbedürfnisse
25
und Fremdheitsgefühle neu auf. Wenn diese Bedürfnisse missachtet werden, kommt
es zu schweren innerstaatlichen Konflikten. Nur eine herausragende politische
Zivilisierung kann dann noch verhindern, dass die Zusammensetzung von
Staatsvölkern mit Gewalt, Terror, Bürgerkrieg oder Krieg neu ausgekämpft wird. Für
diese einfache Wahrheit war die Zeit noch nicht reif.
Man muss wohl froh sein, wenn in einem Jahrhundert wenigstens einige wenige
politische Ideologien und Dogmen überwunden werden. Das vorige Jahrhundert war
damit beschäftigt, Ideologien wie Kolonialismus, Imperialismus, Kommunismus,
Rassismus und Geschlechterdiskriminierung zu überwinden oder zumindest
abzumildern. Würde im 21. Jahrhundert wenigstens der alte ideologische Umgang
mit Staatsgrenzen überwunden werden? Diese Frage hatte mich in meiner Zeit im
Archiv immer wieder beschäftigt, und sie begleitet mich bis heute.
Zum politischen Bewusstsein nach der Jahrtausendwende an dieser Stelle nur noch
dies: In dieser Zeit war viel von Globalisierung die Rede, also auch davon, dass fast
überall auf der Welt ähnliche Informationen und gleiches Wissen verfügbar würden.
Dies, so glaubte man, würde zu einer globalen Angleichung der politischen
Zivilisierung führen. Diese Auffassung war zum Ende des 20. Jahrhunderts geradezu
zum Dogma geworden. Aber eine Ideologie sah man hierin natürlich nicht, allenfalls
eine Ideologie zur Überwindung von Ideologien, also ein denkbar harmlose.
Aber es war eben doch eine Ideologie, und diese hatte, wie sich zeigen sollte, ähnlich
fatale Auswirkungen wie die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Sie war Wegbereiterin
für die größte politische Katastrophe des ersten Jahrhundertviertels, den Krieg der
USA und Großbritanniens gegen den Irak und den mörderischen Flächenbrand, der
ihm im Nahen Osten folgte. Möglich wurde dieser Krieg nur, weil Figuren wie
George W. Bush und Tony Blair ernsthaft glaubten, ein besiegter und vom Diktator
Saddam befreiter Irak würde sich ähnlich rasch modernisieren, sich also ähnlich
rasch zu einer stabilen modernen Demokratie entwickeln können, wie die
Nachkriegs-Bundesrepublik es getan hatte. Bush, Blair und ihre zahllosen
Gesinnungsgenossen und Sympathisanten hatten aber, wie die Nachkriegsgeschichte
26
des Irak dann zeigte, vom Modernisierungspotential des Irak und vergleichbarer
Länder nicht die geringste Ahnung. Nach dem Sturz Saddam Husseins offenbarte
sich im Irak ein politischer Bewusstseinsstand, der eher Parallelen zum
Dreißigjährigen Krieg nahelegte als zur Situation Deutschlands nach dem Zweiten
Weltkrieg. Der vermeintliche Befreiungskrieg wurde damit zum exemplarischen Fall
eines gescheiterten Modernisierungskrieges. Der Nachkriegs-Irak wurde formal
demokratisiert, aber als Demokratie war er von Anfang an nicht lebensfähig. Er
zerfiel in Bürgerkriegen, die noch archaischer geführt wurden als im zerfallenden
Jugoslawien. Die westlichen Modernisierer, die Krieg für eine höhere Stufe
politischer Zivilisierung zu führen vorgaben, standen damit in der Wirkung ihres
Tuns moralisch auf dem Niveau ihrer Kriegsgegner. Nach dem Zerfall des Irak gab
es keine politische und militärische Weltmacht mit glaubhafter moralischer Autorität
mehr. Die Welt war in der politischen Zivilisierung zurückgefallen.
Exkurs Wirtschaft
An meinem zweiten Arbeitstag im Archiv stellte Hauser mich den Kollegen vor. Alle
freundlich, einige beinahe herzlich. Die meisten schienen hoch konzentriert zu sein,
manche introvertiert, manche etwas verschroben, wie die meisten Menschen sich
Archivare wohl vorstellen. Vielleicht ist wirklich etwas Wahres daran, dass typische
Archivare leicht autistische Züge haben. Aber wenn Hauser auf sie zuging, hellte
sich bei fast allen die Miene auf.
Am Ende unseres Rundgangs standen wir, Hauser und ich, vor einer geschlossenen
Tür am Ende eines langen Flurs. "Hier sind wir in der Abteilung Wirtschaftsordnung
", sagte Hauser. Er ging hinein, ich einen Schritt hinter ihm. Im Raum nur ein
Schreibtisch, dahinter eine junge Frau mit auffallend kurzem schwarzem Haar,
markanter Brille. Sie sah kurz auf, schaute Hauser aus dem Augenwinkel an, sagte
ein kurzes "hallo?".
– Ihr neuer Kollege.
– Ach so, sagte sie. Dann, mit einem freundlichen Lächeln, noch einmal: Hallo!
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Ich sagte nichts, sah sie eine Weile unschlüssig an. Ein bekanntes Gesicht?
Sie erwiderte meinen Blick, zögerte, zog die Augenbrauen hoch, dann, mit
geweitetem Blick, ein Anflug von Lächeln.
– Haben wir uns schon mal gesehen?
Diese Stimme! Die angestrengte, etwas schrille und kratzige Stimme von Constanze
Cramer.
Ich rührte mich nicht. Dann stand sie auf, kam auf mich zu, streckte die Hand aus.
Was tun? Mich in Luft auflösen? Ihre Hand griff schon nach meiner, da stand sie vor
mir mit ihrem jetzt kurz geschnittenen Haar und ihrer markanten Brille, so
selbstbewusst wie früher, so imposant wie früher und ebenso elegant wie früher.
Aber unnahbar? Nein. Nicht unnahbar, nicht einschüchternd, nicht abweisend. Hatten
wir uns alle in ihr getäuscht?
– Vielleicht im Seminar?, fragte ich mit viel zu leiser Stimme. In Grafs Seminar?
– Ja, genau.
– Constanze Cramer? Frau Cramer?
– Constanze.
– Matthias. Matthias Schmidt.
– Ja, jetzt erinnere ich mich.
Ach, ihr kennt euch?, fragte Hauser. Dabei sah er uns abwechselnd mit dem gütigen
Blick eines Vaters an, der zusieht, wie sein Kind einen Freund von früher trifft.
– Ihr werdet öfter miteinander zu tun haben.
– Würde mich freuen, sagte Constanze. Dann setzte sie sich wieder an den
Schreibtisch.
Als wir gegangen waren, sagte Hauser: Sehr selbstbewusste Frau.
Ja, genau, hätte ich sagen mögen, aber ich traute mich nicht. Tagelang ging mir diese
Bemerkung Hausers durch den Kopf. Würde er das später einmal auch über mich
sagen: Sehr selbstbewusster Mann, dieser Schmidt? Würde ich das wollen? War ich
von Constanze, der sehr selbstbewussten, der Cramer, schon wieder eingeschüchtert
28
wie damals als junger Student? Von der Constanze, die Informatik und Ökonomie
studierte, Fächer, die ich mir nicht zugetraut hätte? Die fast doppelt so schnell
studiert hatte wie ich? Die, wie sie bald erzählen würde, vier Jahre bei einer
Unternehmensberatung gearbeitet hatte, zu einem Gehalt, das ich vielleicht nie im
Leben erreichen würde, vier Jahre ein Leben aus dem Koffer, 13-Stunden-Tage, 60Stunden-Wochen, die vielen Reisezeiten nicht mitgerechnet, und die dabei gelernt
hatte, sich ganz ungeniert unbeliebt zu machen? Die also nicht nur eine Erscheinung
war, sondern auch ein Arbeitstier, konsequent und durchsetzungsstark? Die gerade
einmal drei Jahre älter war als ich, mir aber mindestens sechs Jahre Berufs- und
vielleicht auch Lebenserfahrung voraushatte?
Aber warum saß sie nun hier im Archiv? Warum machte sie nicht Karriere im
Management? Warum nicht, wie es damals viele erwartet hatten, eine
Hochschulkarriere? Viele Jahre später hat sie mir auch das freimütig erklärt: Starke
Erscheinung mit schwacher Stimme, so habe man an der Hochschule über sie
geredet. Man habe sie sehen und man habe Texte von ihr lesen wollen, aber ihr
zuhören wollen habe man nicht. Das habe sie gerade noch früh genug gemerkt.
– Und?, fragte ich. Hast du es bedauert?
– Nein, sagte sie. Die Erinnerung an Grafs Abschiedsvorstellung hat es mir
leichtgemacht.
Spezialistin für Wirtschaftsordnung im SPIEGEl-Archiv zu sein ist ein ziemlich
einsamer Job. Die Archivarbeit allein brachte uns selten zusammen, aber wir
schafften uns unsere Gelegenheiten. Wenn wir uns trafen, dann bestimmte natürlich
meistens Constanze die Themen, und natürlich ging es dann oft um Wirtschaft. Ich
versuchte dann, wenigstens höfliches Interesse zu zeigen, und sie dankte es mir mit
immer mehr Geduld. Sie konnte einem Laien wie mir Wirtschaftsthemen so
leichthändig, so gut gelaunt und mit so wenigen Worten verständlich machen wie
niemand sonst. Hätte sie mir diesen Nachhilfeunterricht nicht gegeben, würde ich
29
mich heute nicht trauen, hier kurz etwas Eigenes zur Wirtschaftsentwicklung in
unserem Jahrhundert anzumerken.
Aber sind Wirtschaftsfragen für die Bewusstseinsgeschichte unseres Jahrhunderts
überhaupt wichtig? Oder sind sie zumindest dann eher unwichtig, wenn eine Epoche
vom Scheitern großer historischer Projekte wie Friedenswahrung oder globaler
Modernisierung geprägt ist? So würde ich vielleicht noch heute denken, wenn die
Gespräche mit Constanze nicht gewesen wären.
In meinen ganz jungen Jahren glaubte ich, politische Stimmungen seien von nichts so
abhängig wie von der Wirtschaftslage. Constanze erklärte mir, dass das einmal so
gewesen sein mag, aber nicht mehr so ist. Die meisten Bürger sind zufrieden, solange
es für sie wirtschaftlich nicht bergab geht. Solange es nur überschaubaren
Minderheiten wirtschaftlich schlecht geht, will die demokratische Mehrheit keine
großen politischen Veränderungen. Wer will es ihr verübeln? Dass eine ganz andere
Politik mehr Wohlstand für alle bringen könnte, lässt sich schwer beweisen.
Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts begann eine schwere Finanzmarkt- und
Bankenkrise, und in Teilen Europas folgte ihr eine lange Staatsverschuldungs- und
Wirtschaftskrise. In manchen Medien war die Rede davon, dass in dieser Krise
Marktwirtschaft und Kapitalismus versagt hätten, aber wirklich ernst nahmen das nur
wenige. Die große Mehrheit der Bürger war gelassener. In Deutschland sowieso,
aber selbst in den Staaten, die die Krise viel stärker zu spüren bekamen, blieben
große politische Veränderungen aus. Was hätte sich, von einer etwas strengeren
Kontrolle der Banken abgesehen, politisch auch ändern sollen, um Krisen solcher Art
zu verhindern? Auch Constanze hatte darauf noch keine Antwort.
Eine Zeitlang glaubte ich, in Kreisen der Wissenschaft wisse man dies genauer, aber
dann hat Constanze es mir so erklärt: Es gebe zwei verschiedene Arten von
Wirtschaftswissenschaften, und beide führten in dieser Frage nicht weiter. Die eine,
im Elfenbeinturm der Theorie, beschäftige sich vor allem mit sich selbst, die andere
mische sich in die Politik ein. Die eine, die theoretische, sei intellektuell auf
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höchstem Niveau, die andere sei auf dem Niveau der Politik, der sie sich andiene.
Die eine sei für politische Fragen unbrauchbar, die andere gebe politischen Rat, wie
ihre Geld- und Auftraggeber ihn suchten. So sei es schon immer gewesen, sagte sie,
und so werde es sicher auch bleiben. Ich habe sie dann gefragt, ob die Wissenschaft
nicht doch dazulerne und in Zukunft besser vor Wirtschaftskrisen werde bewahren
helfen. Sie wisse von Krisen, erklärte sie, die durch Wirtschaftstheorien verursacht
wurden, aber von keiner, die durch Wirtschaftstheorie verhindert wurde. Sie glaube
auch nicht, dass sich daran viel ändern werde. Ob es wirklich alles so einfach sei,
fragte ich sie noch, und ihre schnippische Antwort war: Nein, aber für einen Laien
wie dich ist es das Wesentliche.
Aber genug davon, mehr als ein kleiner Exkurs in Wirtschaftsfragen soll hier nicht
sein. Womit ich nicht sagen will, dass Wirtschaft für das politische Bewusstsein in
diesem Jahrhundert doch eher nebensächlich sei. Natürlich erleichtert
Wohlstandswachstum auch Fortschritte in der politischen Zivilisierung. Aber
wirtschaftlicher Fortschritt wird, wie mir Constanze einmal erklärte, nicht von der
Politik und nicht von Politikern gemacht. Politiker behaupteten oft das Gegenteil, die
meisten glaubten es sogar, aber es sei nicht so. Politik könne wirtschaftlichen
Fortschritt behindern oder zulassen, aber machen könne sie ihn nicht.
– Noch nicht?, fragte ich.
– Schon das Zulassen des Fortschritts ist eine hohe Kunst.
So redete sie. Kurze, knappe Erläuterungen, gekrönt von einem Satz wie ein
Schlusswort, der mich erst einmal sprachlos machte, der mir dann aber immer
plausibler erschien. Das war ihr großes Talent. Ob sie einige ihrer Talente als
Archivarin nicht doch vergeude, fragte ich sie einmal, und auch darauf gab sie eine
Antwort, die mir allmählich immer plausibler wurde:
Ja, sagte sie, das habe sie sich natürlich auch gefragt. In der Unternehmensberatung
habe sie gelernt, Dinge genau auf den Punkt zu bringen. Da müsse man zeigen, dass
man manches auch ganz anders sehen kann, als die Mandanten es schon viel zu lange
31
gesehen hätten, und dabei gehe es weniger um die richtige Lösung als um die
Möglichkeit einer Lösung, und da dies, was die Kunden nicht gleich merken dürften,
oft eher diffuse Botschaften seien, fast wie in der Politik, sei es umso wichtiger, sie
knackig zu präsentieren. „Es muss sitzen. Es muss ein kleiner Schock sein." Das,
meinte sie, sei ihr meistens gelungen. Es klang so engagiert, als würde sie nichts
lieber tun wollen als genau solche Arbeit, und doch so distanziert, als erzählte sie
von einem früheren Leben.
Wieso sie dann nicht dabei geblieben sei, fragte ich.
– Auch solches Leben wollte ich einmal gelebt haben. Aber man zahlt einen Preis.
– Welchen?
– Ich bin hier in der Reha. Das Archiv ist meine Reha.
Viel klüger fühlte ich mich danach nicht, aber ich fühlte, dass, was die Wirtschaft
angeht, viele doch viel weniger klug waren, als sie glaubten. Ein gutes Gefühl. Die
Wirtschaftsentwicklung unseres Jahrhunderts hat ihm Recht gegeben.
Russland und die Ukraine
Mit der Arbeit im Archiv hatte ich mich bald angefreundet. Begeisterung war es
nicht, aber wann immer ich über Alternativen nachdachte, fühlte ich mich dort
bestens aufgehoben. Was kein Wunder war, wenn man einen Hauser als Chef hatte.
Zwischen Hauser und mir wuchs eine Vertrautheit, die unseren großen
Altersunterschied manchmal fast vergessen ließ. Aber Hauser überraschte auch
immer wieder mit irritierenden Bemerkungen. Einmal sagte er beiläufig, er kenne das
Archiv fast auswendig. Ich sah ihn ungläubig an. Nein, sagte er, natürlich nicht
buchstäblich das ganze Archiv, aber das, worauf es ankomme. Die Schätze des
Archivs sozusagen. Die Augenöffner. Von einer Million Archivinformationen seien
das höchstens ein paar Dutzend. Über die Jahrzehnte habe er ein Gespür dafür
32
entwickelt, welche das sein könnten. Lernen könne man das nicht, sagte er, lehren
könne man es auch nicht, man könne eben nur ein Gespür dafür entwickeln
Nur ein paar Dutzend von einer Million Archivinformationen seien Augenöffner?
Pflegten wir also doch einen Riesenberg von Karteileichen, in dem es nur sporadisch
Spuren von Bedeutsamkeit gab? Ich fragte Constanze, ob sie es nach ihren
zweieinhalb Jahren Archiverfahrung auch so sehe.
Ja, sagte sie, im Archiv einen wirklichen Schatz zu finden, das sei fast wie ein
Lottogewinn. Archivarbeit erfordere nun einmal Geduld.
– Aber wenn es wirklich so ist, fragte ich, machen wir dann nicht etwas
grundsätzlich falsch?
– Vielleicht, sagte sie. Einen Unternehmensberater sollte man vielleicht nicht darauf
ansetzen.
Was der denn sagen würde, wollte ich fragen, aber dann wusste ich schon selbst die
Antwort. Er würde eine große Reorganisation vorschlagen. Constanze hatte mir ja
geschildert, wie es geht. Ein langer diffuser Bericht, am Ende eine knackige
Botschaft: Das Archiv muss schrumpfen, das Archiv muss sich ganz und gar in Frage
stellen.
Weiter wollte ich es mir damals noch nicht ausmalen, auch wegen Hauser nicht. Das
Archiv in Frage zu stellen hieße, Hauser in Frage zu stellen, und nichts lag mir
ferner.
Hauser war nicht nur ein kollegialer Chef für uns alle, auch im Umgang mit
Redakteuren, meinte ich, zeige er sicheres Gespür. Trotzdem war sein Verhältnis zur
Redaktion nicht ohne Spannungen. Jahre später, lange nachdem ich sein Nachfolger
geworden war, hörte ich im Vorbeigehen einen unserer Chefredakteure sagen:
„Einen zweiten Hauser hatten wir uns eigentlich nicht gewünscht, oder?“ Nach
Hochachtung für einen früheren Kollegen klang das nicht.
Hatte es also eine Seite Hausers gegeben, von der ich nichts ahnte? Hatten sich
Redakteure irgendwann von Hauser falsch informiert gefühlt oder sogar manipuliert?
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Hatte er Archivinformationen für sich behalten? Hatte er Informationen
weitergegeben, von denen er wusste, dass sie falsch waren? War er so bei der
Chefredaktion in Misskredit geraten? Nichts davon wollte ich glauben.
Dann erinnerte ich mich, wie Hauser einmal Archive mit Geheimdiensten verglichen
hatte. Geheimdienstler, hatte er gesagt, arbeiteten diskret und unauffällig, deswegen
werde ihre Macht weit unterschätzt, und ähnlich sei es bei Archivaren. Ein
Geheimdienstchef könne Regierungschefs und Minister ins offene Messer laufen
lassen, er könne ihnen Macht über andere geben, er könne, das wisse ich doch, sogar
Kriegsbereitschaft wecken und Kriegsausbrüche verhindern helfen, und daran habe
sich nichts geändert. Ein Archivleiter sei ein Geheimdienstchef im Kleinen. Auch er
könne Menschen, vor allem natürlich Redakteure, ins offene Messer laufen lassen
und Menschen Macht über andere geben. Ganz unauffällig. Ich fragte ihn, ob er es
schon einmal getan habe, und er antwortete, das glaube er nicht.
Archivare, fuhr er dann fort, könnten herausfinden, wer welche Archivinformationen
genutzt, also auch, wer welche Informationen Kollegen und Lesern vorenthalten hat.
Deswegen seien viele Redakteure vor Archivaren auf der Hut, auch ich würde das
noch erleben.
Sprach er aus Erfahrung? War er womöglich ein kleiner Intrigant? Hatte er sogar
mitgemischt, als einige Jahre vorher zwei Chefredakteure entlassen wurden? Und
hatte ein Gespräch, das wir über Information und Desinformation im Krieg geführt
hatten, nicht auch damit zu tun? Redaktionen gehe es im Krieg nicht viel anders als
Regierungen, hatte er gesagt. Man erwarte von ihnen, dass sie wissen und schreiben,
wer im Krieg die Guten und wer die Bösen seien. Auch wenn sie es nicht wüssten,
werde der Druck irgendwann zu groß, dann lege die Redaktion sich fest, auch wenn
ein fundiertes moralisches Urteil noch unmöglich sei. Und wie diese Festlegung dann
ausfalle, das hänge auch von Informationen aus dem Archiv ab.
Ich fragte nach einem Beispiel, und darauf gab er eine lange Antwort über den
Anschluss der Krim an Russland und den Bürgerkrieg in der Ostukraine.
34
Alle Regierungen, alle Geheimdienste, alle politischen Parteien und alle Medien
hätten in dieser Sache ebenso viel desinformiert wie informiert. Moskau habe es
getan, Kiew ebenso und die Staaten des Westens kaum weniger. Wir vom Archiv,
sagte er, gaben uns damals alle Mühe, Information von Desinformation
unterscheiden zu helfen, aber genützt hat es wenig. Die Redaktion habe sich Beweise
dafür gewünscht, dass Putin böswilliger Friedensstörer und Kriegstreiber war, die
Regierungen des Westens und der Ukraine dagegen dem Frieden dienten. Nur zwei
Redaktionskollegen – es tue ihm immer noch leid um sie – hätten sich daran nicht
gehalten.
An dieser Stelle kann ich nicht anders, als einen ersten Ausschnitt aus Hausers
Aufzeichnungen einzuflechten, auf die ich zwei Jahre nach seinem Ausscheiden aus
dem Archiv gestoßen bin. Ich hätte mir gewünscht, Hauser hätte mir diese
Aufzeichnungen selbst anvertraut, aber ich fand sie rein zufällig bei einer Recherche
im Archiv. Sie waren noch vollkommen unberührt, augenscheinlich noch von
niemandem gelesen oder auch nur durchgeblättert oder angeschaut. Hauser hatte am
Tag seiner Verabschiedung ein einziges Exemplar dieser Aufzeichnungen ins Archiv
gestellt, als unauffällige Hinterlassenschaft, als wollte er es dem Zufall überlassen,
ob sie je von jemandem gelesen würden. Ich hatte das Glück, ihr Finder und erster
Leser zu sein. Auch mit diesen Aufzeichnungen ist Hauser für mich dann zu einem
Zeitzeugen des ersten Vierteljahrhunderts geworden.
Natürlich hat Hauser darin auch einiges über Russland und Russlands Rolle im
Ukrainekonflikt geschrieben, und natürlich hatte er dazu eine Meinung, die damals
alles andere als die gängige war.
Als Archivar hätte ich mir manchmal doch gewünscht, Überflüssiges und Nebensächliches
aus dem Archiv herauszuhalten und dem, was ich für das Besondere hielt, einen bevorzugten
Platz zu geben. Aber ich habe es nicht getan. Auch zum Ukraine-Konflikt mussten wir
natürlich wahllos das viele Redundante archivieren, das westliche Politiker, Organisationen,
Ämter und Medien hierzu absonderten und das die Rollen von Gut und Böse fast immer auf
die gleiche Art verteilte. Eine Zeitlang waren "Russlandversteher" und "Putinversteher"
35
unter Journalisten Schimpfworte. Die anderen, die Nichtversteher also, waren die
selbstsichere Mehrheit, auch bei uns.
Russland als Restgebilde der Sowjetunion, das den Verlust der Großmachtrolle nicht
verkraftet und sich Teile der Ukraine einverleiben will, um sich dabei doch noch einmal als
Großmacht zu inszenieren – das war im Westen die gassenläufige Deutung. Aber was war
daran stimmig? Richtig war das innere Bild von Russland als verstörter Ex-Großmacht.
Geschwächte nationale Identität, bedrohtes politisches Selbstbewusstsein und ein Verlangen
nach Ersatzbefriedigungen, dazu ein Präsident Putin, der für eben diese Gefühle ein sicheres
Gespür hatte. Populistische Rhetorik und Symbolik, autokratischer Führungsstil, neuer
Nationalismus, neue Feindseligkeit gegenüber Minderheiten jeglicher Art,
Durchsetzungskraft vor Rechtsstaatlichkeit, neue Religiosität, das waren – nach einer kurzen
Phase versuchter Verwestlichung – die Quellen des politischen Empfindens im
postsowjetischen Russland. Putins Nachfolger werden dieser Linie auf absehbare Zeit
folgen. Amerika verkraftet den Entzug der Weltmachtrolle etwas besser, schon wegen seiner
viel längeren demokratischen Geschichte, aber Ähnlichkeiten werden bleiben.
Und die Ukraine? Opfer verschleppten russischen Großmachtwahns? So wollten die
Regierenden im Westen es sehen, aber plausibel war es nie. Als dort die inneren Unruhen
mit Protesten in Kiew begannen, war die Ukraine, innerlich zerrissen und wirtschaftlich
rückständig, schon fast ein gescheiterter Staat. Seit der Ausgliederung aus der Sowjetunion
immer wieder inkompetente, korrupte und abgewählte Staatsführungen, die der Westen zum
Teil dennoch hofierte. Dann im Winter 20013/14 der Kiewer Bürgeraufstand gegen den
Präsidenten Janukowitsch, in dem sich alles andere offenbarte als landesweit staatstragende
Gemeinsamkeiten. Auch im Archiv finden sich die Belege für eine ganz andere Sicht der
Dinge: Die Staatsgrenzen der Ukraine waren ähnlich willkürlich gezogen wie die
Staatsgrenzen vieler ehemaliger Kolonien. Also war die Bevölkerung dieser Ukraine nicht
dafür gemacht, auf Dauer in einem gemeinsamen Staat zu leben. In Teilen des Landes war
diese Ukraine für die Mehrheit der Bevölkerung nicht zur politischen Heimat geworden.
Dort herrschte gegenüber dem eigenen Staat ein spontaner und ganz und gar legitimer
Widerwille, auch wenn die dafür gebräuchliche Bezeichnung keinen guten Klang hat:
Separatismus.
36
Das Weitere will ich zusammenfassen: Die Krim sei Russland zugefallen, weil die
Krim-Bewohner es so wollten. Russland habe dabei unauffällig und fast gewaltlos
geholfen, also hinlänglich zivilisiert, ohne gewalttätiges Großmachtgehabe. Es habe
sich, im Gegenteil, taktisch klug für die Freiheit von Bürgern eingesetzt, über ihre
Staatszugehörigkeit selbst zu bestimmen. Selbst wenn Russland hier das moralisch
Richtige aus niederen Motiven getan habe, bleibe es doch das moralisch Richtige,
und wer das moralisch Richtige tue, dürfe dafür nicht mit Sanktionen bedroht und
bestraft werden. Genau das aber hätten die westlichen Demokratien bekanntlich
getan. Sie hätten eine Sanktionsmaschinerie in Gang gesetzt, um Russland für einen
legitimen Einsatz für das Selbstbestimmungsrecht der Krim-Bewohner zu bestrafen.
Hausers Fazit des Krim-Konflikts: Hier sei eine falsch gezogene, konfliktträchtige
Staatsgrenze ohne Blutvergießen nachhaltig korrigiert worden, ohne dass dadurch
größere neue Minderheitenprobleme geschaffen seien. Dies sei geradezu ein
historischer Glücksfall. Selten in der Geschichte sei eine umstrittene Grenze so
reibungslos im Sinne der Bürger korrigiert worden. Einer Figur wie Putin könne man
vieles vorwerfen, aber die Loslösung der Krim von der Ukraine ganz sicher nicht.
Die Welt habe ja erlebt, wie kurz danach in der arabischen Welt um umstrittene
Grenzen ganz anders, nämlich mit schlimmstem Terror und Krieg gekämpft wurde,
vorher habe sie dies in den Jugoslawienkriegen erlebt, und die Welt werde sich
wundern, wie oft sich dies noch wiederholen werde. Spätere Historiker würden sich
einmal fragen, warum der Westen die von Russland unterstützte Loslösung der Krim
damals nicht als friedenswahrende Bereinigung der politischen Landkarte gewürdigt
habe.
Und dann Hausers Kommentar zum Konflikt um die Ost-Ukraine:
Die Krim ließ sich von der Ukraine mit einem sauberen chirurgischen Schnitt
abtrennen. Im Fall der Ost-Ukraine war dies anders. Russlands Rolle war hier
dubioser. Vielleicht hatte Putin, geblendet von der Leichtigkeit der Operation Krim,
die Komplikation dieses Konflikts unterschätzt, als er die ostukrainischen
Separatisten bestärkte. Er könnte geglaubt haben, auch hier könne nach einem rasch
37
anberaumten Referendum die ukrainische Staatsgrenze schnell und friedlich
korrigiert werden. Es gab zwar ein Referendum in der Region Donezk, in dem eine
überwältigende Mehrheit für die Abspaltung von der Ukraine votierte. Aber welcher
Grenzverlauf würde der richtige sein? Wie sollten die Minderheitenrechte im
abgespaltenen Gebiet geregelt werden? Und sollte das abgespaltene Gebiet ein
vollständig eigenständiger Staat werden, mit eigener Armee und eigener Währung,
oder sollte er auf eine eigene Armee, eine eigene Währung und womöglich noch auf
andere Zuständigkeiten verzichten? Oder sollte die Ostukraine sich ganz und gar
Russland anschließen? Die ostukrainischen Separatisten zu unterstützen, ohne diese
Fragen zu Ende gedacht zu haben, war höchst fahrlässig. Insofern trifft Putin und
seine Mitstreiter große Mitschuld am Leid im ostukrainischen Bürgerkrieg.
Nicht weniger Schuld tragen aber die ukrainische Staatsführung und deren westliche
Unterstützer, diejenigen also, die den Ostukrainern eine freie Entscheidung über ihre
Staatszugehörigkeit verweigern wollten. Das Ergebnis dieser Verweigerung: nach
einem opferreichen Bürgerkrieg ein schwelendes Staatsgrenzenproblem und damit
ein neuer schwelender Konfliktherd in Europa. Aber was konnte man vom
ukrainischen Staat damals anderes erwarten? Von einem Staat in der denkbar
kompliziertesten politischen Lage, um dessen Führung sich in dieser Zeit nur
politische Anlernlinge bewarben, darunter ein Boxweltmeister und ein
Schokoladenfabrikant, noch blutigere Laien also als die Staatslenker sonstiger, auch
westlicher Demokratien? Präsident wurde damals – als das in der Tat kleinere Übel
– zuerst der Schokoladenfabrikant, der dann aber natürlich in jeder nur denkbaren
Hinsicht überfordert war.
Dass auch der Westen in diesem Konflikt nicht flexibler reagierte, lässt sich ebenso
wenig mit Vernunftgründen erklären. Erklärbar ist es nur mit Dogmengläubigkeit.
Nach dem Dogma der territorialen Integrität sollte jedem Staat die Unverletzlichkeit
seiner Grenzen garantiert sein, auch dann, wenn er, wie die Ukraine es tat, einem
Teil seiner Bürger das Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit
verweigert. Alles, was die Grenzen bestehender Staaten eigenmächtig in Frage
38
stellte, also auch die von Separatisten abgehaltenen Referenden und Wahlen in der
Ostukraine, wurde demnach von westlichen Regierungen für illegitim erklärt, nicht
zuletzt unter Berufung auf das Völkerecht. Von Regierungen also, die selbst, allen
voran die USA, das Völkerrecht immer wieder nach Gutdünken auslegten.
Natürlich ist das Dogma der territorialen Integrität aus leidvoller historischer
Erfahrung entstanden. Die Erfahrung war, dass die meisten Kriege von
Staatsführungen ausgingen, die eigenmächtig und gewaltsam Staatsgrenzen
verändern wollten. Vom Dogma der territorialen Integrität versprach man sich, dass
es den bisher wichtigsten aller Kriegsgründe aus der Welt schaffen und damit eine
weitestgehend friedliche Welt schaffen würde. Das war sicherlich gut gemeint, aber
es hat alles andere als nachhaltigen Frieden gebracht. Auch in der Ukraine wurde
im Namen dieses Dogmas ein Krieg der Regierung gegen eigene Bürger geführt, die
frei über ihre Staatszugehörigkeit entscheiden wollten.
Wie werden künftige Historiker hierüber einmal urteilen? Mit Entsetzen über das
politische Denken in unserem Jahrhundert? Hoffentlich.
Wie Hauser es hier formulierte, klang es so wohltuend selbstverständlich. Ich war
beim Ukraine-Konflikt immer unsicher gewesen, welche Seite – wenn überhaupt
eine – moralisch im Recht ist. Wie hatte ich übersehen können, dass das Dogma der
territorialen Integrität mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker unvereinbar ist?
Schon einmal, als ich erfuhr, dass sogar der greise Helmut Schmidt den Anschluss
der Krim an Russland mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker verteidigt hatte,
war ich diesem Gedanken nahegekommen. Hatte die Staatengemeinschaft sich also
mit dem Dogma der territorialen Integrität ein globales Denkverbot auferlegt? War
die Auffassung, ein Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit sei mit
dem Frieden unter den Völkern unvereinbar, ein fataler historischer Irrtum? Genau
das mochte Helmut Schmidt in seinen letzten Jahren gedacht haben. Aber was
bedeutet es dann, dass es nach Helmut Schmidts Tod ausgerechnet Donald Trump
war, der sich den westlichen Vorurteilen in der Causa Krim entschlossen
entgegenstellte und deren Anschluss an Russland rechtfertigte? Wie konnte es
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angehen, dass Schmidt und Trump, der eine altersweiser Staatsmann und
Intellektueller, der andere kruder, scheinbar bildungsferner politischer Novize, sich
vom herrschenden westlichen Denken in dieser Frage übereinstimmend absetzten?
Ich erinnere mich noch, wie schon Graf uns in einem Einführungsseminar in Halle
genau diese Frage stellte. Die Antwort darauf blieb er allerdings schuldig. „Denken
Sie darüber mal nach“, sagte er nur mit bedeutungsvoller Miene, aber – nichts
anderes erwartete er natürlich – keiner von uns tat es.
Als ich im SPIEGEL-Archiv zum ersten Mal Recherchen zum diesem Thema
anstellte, stieß ich auf den seit Mitte des 20. Jahrhunderts andauernden ZypernKonflikt. Seit Jahrhunderten lebten im Norden des Inselstaates mehrheitlich Türken,
im bevölkerungsreicheren Süden mehrheitlich Griechen. Die Türken fühlten sich von
der griechischen Mehrheit seit jeher schlecht behandelt. Als die griechische Mehrheit
den Anschluss Zyperns an Griechenland anstrebte, war dies für die türkische
Minderheit natürlich ein Schreckensszenario. Der Konflikt hierüber wurde zwei
Jahrzehnte lang mit beiderseitigem brutalem Terror geführt, ein opferreicher Konflikt
also, in dessen Verlauf Hunderttausende innerhalb des Landes und aus dem Land
flüchteten und vertrieben wurden. Schließlich besetzte die Türkei 1974 Nordzypern,
das sich daraufhin zu einem unabhängigen Staat ausrief. Die Türkei half damit den
türkischen Zyprioten, über ihre Staatszugehörigkeit frei zu entscheiden, und
intervenierte so gesehen für die Freiheit und gegen das Dogma. Allerdings war
hiernach die Vorgeschichte schon mit zu viel Gewalt und Unrecht, mit zu vielen
Verbrechen beider Konfliktparteien belastet, als dass das Problem allein mit
Referenden über die Staatszugehörigkeit noch hätte gelöst werden können. Erst nach
fast einem halben Jahrhundert komplizierter Vermittlungsarbeit, begleitet von einer
ganz allmählichen politischen Bewusstseinsveränderung, konnte zur
Staatszugehörigkeit der Zyprer wenigstens eine provisorische Übereinkunft erzielt
werden. Selbst in diesem vergleichsweise übersichtlichen Fall reichte also eine
Generation nicht aus, um die Denkblockade in Sachen Separatismus auch nur
ansatzweise zu lösen. Der auf Zypern jahrzehntelang herrschende Terror und die
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Invasion Nordzyperns durch die Türkei lassen sich sogar als Vorboten der neuen Ära
des Unfriedens deuten, die mit den Jugoslawien-Kriegen der neunziger Jahre
begonnen hat.
Aber auch hierzu war Hauser, wie ich bald herausfand, mit seinen Gedanken schon
viel weiter. Gegen Ende seiner Aufzeichnungen schrieb er:
Nicht der Separatismus ist maßlos und radikal, sondern dessen Unterdrückung. Nicht
Radikalisierung führt zum Separatismus, sondern die Verweigerung separatistischer
Anliegen führt zur Radikalisierung. So war es auch in Zypern, in Jugoslawien und in der
Ukraine. Aber es gibt Beispiele dafür, dass es anders geht. Tschechien und die Slowakei z.B.
haben sich friedlich voneinander getrennt, weil beide Seiten es so wollten, weil keine Seite
dogmatisch verblendet war und weil zudem der künftige Grenzverlauf ziemlich unstrittig
war. So einvernehmlich hätte es auch mit der Krim ausgehen können, wenn die dogmatische
Verblendung nicht gewesen wäre.
Aber auch in Russland war das Bewusstsein in Sachen Separatismus natürlich nicht weiter
fortgeschritten. Russland trat für das separatistische Selbstbestimmungsrecht da ein, wo es
um die Interessen von Russen ging. Wenn es um die Bewahrung eigener Staatsgrenzen ging,
um den Separatismus von Minderheiten im eigenen Staat, beharrte auch Russland auf dem
Dogma der territorialen Integrität. Damit rechtfertigte es seine brutal geführten Kriege in
Tschetschenien und anderen abtrünnigen Regionen. Im opportunistischen Umgang mit
völkerrechtlichen Dogmen standen Russland und der Westen einander also kaum nach.
Der Westen hätte hierbei moralische Überlegenheit wiedergewinnen können. Er hätte z.B.
die Zustimmung zum Anschluss der Krim davon abhängig machen können, dass Russland
auch in Tschetschenien und anderen Landesteilen Referenden über die Staatszugehörigkeit
zulässt. Auch wenn Russland Jahrzehnte gebraucht hätte, um sich ernsthaft hierauf
einzulassen: Ein erster Schritt in Richtung einer neuen Weltfriedensordnung hätte dies
werden können.
Die Rückwärtsgewandtheit des Denkens in Sachen Staatsgrenzen bezeugte in dieser Zeit
kaum ein Politiker so unverblümt wie Putin, als der den Zerfall der Sowjetunion als die
größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Damit zeigte er, wie
schwach auch bei ihm, der sein politisches Handwerk besser beherrschte als die meisten
41
Staatslenker des Westens, das Vorstellungsvermögen für langfristige politische
Veränderungen ausgeprägt war. Die Sowjetunion war ein auf Zwang gegründetes
künstliches Staatsgebilde gewesen, also konnte ihr Zerfall keine geopolitische Katastrophe
sein. Die friedliche Auflösung der Sowjetunion hat vielmehr diverse Kriege vermeiden
helfen, wie sie im zerfallenden Jugoslawien geführt wurden. Wenn die Auflösung der
Sowjetunion eine Katastrophe zur Folge hatte, dann war es die in Russland entstandene
politische Sinnleere. Westliche Vorstellungen von Demokratie konnten diese Leere nicht
füllen. So war es kein Wunder, dass sich im politischen Bewusstsein Russlands
postsowjetische, chauvinistische, zaristische und westlich-demokratische Denkfiguren
irrational und unberechenbar verknäuelten.
Natürlich stutze ich, wenn ich so etwas las. Meinte Hauser wirklich, die westliche
Demokratie sei für Russland nicht die passende Staatsform? Ganz fremd war mir der
Gedanke nicht, aber noch zu fremd, als dass ich ihm damals hätte nachgehen wollen.
Vielleicht hätte ich mich näher damit befasst, wenn ich mich schon damals gefragt
hätte, welche ethnischen und religiösen Minderheiten Russland auf Dauer die Treue
halten würden. Konnte man sich dessen z.B. bei den mehr als 20 Millionen
russischen Muslimen sicher sein, aus denen schon eine Generation später fast 30
Millionen werden sollten? Würden diese sich in Russland nicht früher oder später als
unwillkommene Minderheiten fühlen und über ihre Staatszugehörigkeiten neu
entscheiden wollen? Auszuschließen war das schon damals nicht. Sicher war nur,
dass diese Minderheiten sich von politischen Dogmen nicht ewig würden
einschüchtern lassen.
Afrika
Es gäbe an dieser Stelle noch viel über die zwei gemeinsamen Jahre im Archiv zu
erzählen, in denen Hauser und ich einander so nahe kamen. Aber dies ist nicht die
Geschichte von Hauser und mir, es soll vor allem eine kurze Bewusstseinsgeschichte
des Jahrhunderts sein, soweit möglich sogar eine Weltgeschichte, und daher muss
hier erst einmal von anderen Weltregionen die Rede sein, in denen sich im ersten
42
Jahrhundertviertel ähnliche Dramen abspielten wie die gerade geschilderten, Dramen
also um Fragen der Staatszugehörigkeit.
Im demokratischen Europa galt Streit um Staatsgrenzen lange als ein Problem von
gestern. Es komme nicht darauf an, so war die herrschende Meinung, in welchem
Staat man als Bürger lebe, es komme nur darauf an, dass Staaten die
Minderheitenrechte wahrten.
Dies konnte zur herrschenden Meinung werden, weil in Westeuropa nur noch ein
kleiner Teil der Bürger von dem Problem betroffen war. Die Kriege der
Vergangenheit bis hin zu den Jugoslawienkriegen hatten in Europa viele
Willkürgrenzen korrigiert, und in der Tat war auch der Umgang mit Minderheiten
zivilisierter geworden. Aber durfte man Ostukrainern, Krimbewohnern und anderen
deswegen vorschreiben, sich unerfüllte Staatszugehörigkeitswünsche zu versagen?
Darüber, sagte Hauser einmal, dürfe sich doch niemand ein Urteil anmaßen, ohne die
Betroffenen selbst gehört zu haben. Ob ich denn selbst einmal mit Betroffenen
darüber geredet hätte. Und als ich darauf nicht antwortete: Ich könnte ja einmal einen
Griechen fragen, was heute geschähe, wenn Griechenland oder Teile davon noch
immer türkisches Staatsgebiet wären, aber die Antwort könne ich mir sicher auch
denken. Ich könnte auch einmal einen Finnen fragen, was Finnen heute täten, wenn
ihr Land noch immer zu Russland gehörte. Die Finnen würden dies, da sei er ganz
sicher, selbst dann nicht tatenlos hinnehmen, wenn Russland Minderheitenreichte
ähnlich respektierte wie westeuropäische Staaten. Falsche Staatsgrenzen seien nun
einmal keine von selbst heilenden Wunden, und sie würden es wahrscheinlich nie
werden. Die vielen Kriege in Europa hätten viele Staatsgrenzen korrigiert, aber, das
wisse ich doch auch, damit sei die Frage der Staatszugehörigkeit auch in Europa
nicht für immer und nicht überall vom Tisch, auch nicht im Europa der Europäischen
Union.
Nach solchen Gesprächen mit Hauser war ich immer wieder verblüfft, in welcher
politischen Ahnungslosigkeit ich, nein wir alle, unsere ersten Lebensjahrzehnte
verbracht hatten.
43
Mit Hausers Hilfe hatte ich den Separatismus neu verstehen gelernt, aber es gab noch
einen anderen politischen Begriff, den ich ebenso neu verstehen lernen musste:
Parallelgesellschaften. Dieser Begriff war in der westlichen Welt ebenso negativ
besetzt, er löste ebensolche Abwehrreflexe und ebensolche Empörung aus wie der
des Separatismus. Es hat lange gedauert, bis ich Hausers Ausführungen dazu
wirklich ernst nahm, und noch länger, bis sie mir ganz und gar einleuchteten.
Wir wollen keine Parallelgesellschaften in unserem Land. Darüber herrschte in
Deutschland und vielen anderen Ländern Einvernehmen. Dieser Spruch ging
konservativen Politikern am leichtesten über die Lippen, aber Widerspruch gab es
dagegen auch anderswoher nicht. Was aber, fragte Hauser, waren die Alternativen?
In vielen Ländern sei längst ein Zustand erreicht, in dem es nur noch darum gehe, ob
sich Parallel- oder ob sich Gegengesellschaften im eigenen Land bilden würden.
Gegengesellschaften bedeuteten unvermeidlich Gewalt und Terror.
Parallelgesellschaften dagegen stünden für die Chance auf ein friedliches
Nebeneinander. Notfalls müsse der Staat Parallelgesellschaften sogar gezielt fördern,
um daraus nicht Gegengesellschaften entstehen zu lassen. Nur so werde in manchen
Ländern der innerstaatliche Frieden künftig noch zu wahren sein. Diese Länder
müssten lernen, Parallelgesellschaften nicht als Schreckensszenarien zu betrachten,
sondern als ein Befriedungskonzept.
Ich gestehe, dass ich mir erst mehr als dreißig Jahre später ernsthaft die Frage stellte,
wie mit staatlicher Förderung funktionierende Parallelgesellschaften entstehen
können.
Aber genug erst einmal davon. An dieser Stelle muss von Afrika die Rede sein. Auch
die Probleme Afrikas hätte ich in meinen ersten Lebensjahrzehnten fast ignoriert,
wären nicht die Flüchtlings- und Migrantenströme gewesen, die in manchen
europäischen Ländern schon Parallelgesellschaften und teilweise sogar militante
Gegengesellschaften heranwachsen ließen.
44
Afrika hatte Hauser immer am Herzen gelegen. In seiner Jugend hatte er mit seiner
Familie ein Jahr lang in Kenia gelebt, eine Erfahrung, sagte er, die ihn gelehrt habe,
die Welt des wohlhabenden Westens mit dem nötigen Abstand zu betrachten. Zu
Afrika hat er solchen Abstand nicht immer gewahrt. Manche seiner Aufzeichnungen
zum Afrika des ersten Jahrhundertviertels lesen sich wie verzweifelte Klageschriften,
aber ich will hier etwas nüchterner bleiben. Hier geht es mir darum, ob die
herrschenden politischen Ideologien in Afrika Ähnliches anrichteten wie im Westen
und anderswo in der Welt. Die Antwort nehme ich vorweg: Genau so war es
natürlich. Und so ist es noch immer.
Ich will mich den Problemen Afrikas auf einem Umweg nähern, dem Umweg über
den Fall Ukraine. Die Ereignisse dort verstanden zu haben kann helfen, das Afrika
des ersten Jahrhundertviertels zu verstehen. Deswegen ist hier aus Hausers
Erinnerungen noch ein Abschnitt zu Jugoslawien und der Ukraine am Platz. Er
beginnt – ganz und gar untypisch für Hauser – mit einem Zitat aus einer Zeitung.
Im Juli 214 las ich in einer deutschen Tageszeitung diesen Beitrag Carl Bildts, des
schwedischen Außenministers, der im Jugoslawien-Konflikt lange für die UNO tätig
gewesen war: (FAZ vom 7./8.Juli 2014)
„…Die meisten Grenzen Europas wurden mit Blut gezogen, im Laufe von
Jahrhunderten brutaler Konflikte, ethnischer Säuberungen und
Bevölkerungsbewegungen. Diesen abgeschlossenen Prozess wieder zu öffnen
hieße, erneutem Blutvergießen Tür und Tor zu öffnen. Daher wurde in den
Turbulenzen nach dem Kalten Krieg ein fundamentales Prinzip formuliert: Das
Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wurde anerkannt, alle
existierenden Grenzen mussten jedoch respektiert werden. Jede Veränderung
bedürfte der Zustimmung.
Dieses Prinzip wurde … von der EU in der Jugoslawien-Krise… bekräftigt. Wir
haben auf der territorialen Integrität Kroatiens bestanden und es abgelehnt, eine
Auflösung Bosniens in Erwägung zu ziehen. Die Grenze zwischen nördlichem
Kosovo und Südserbien sollte bleiben.
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"Alle existierenden Grenzen müssen respektiert werden" und "Jede Veränderung
bedürfte der Zustimmung". So also denken die Carls Bildts dieser Welt, so denkt die
UNO, so denkt die Staatengemeinschaft, und danach hat die ganze Welt sich zu
richten. Welche Anmaßung! Als ich diese Sätze las, fiel es mir wie Schuppen von den
Augen. Das Drama um die Ukraine glich im Prinzip nicht nur dem JugoslawienKonflikt, sondern auch vielen anderen mit Krieg, Bürgerkrieg und Terror
ausgetragenen Konflikten. Ich dachte an Kaschmir, an Nordirland, an den Kaukasus,
an die Tamilen in Sri Lanka, an Tibet, an die Kurden, an Aceh in Indonesien, an
Libyen, Irak und Syrien, an den Sudan und Ruanda und viele andere aktuelle und
potentielle Konfliktregionen. In all diesen Fällen ging es um die Frage, wer mit wem
in einem gemeinsamen Staat leben wollte und wer mit wem besser nicht. Und es ging
darum, sich dies von niemandem vorschreiben zu lassen.
Könnte also der Jugoslawien-Konflikt der Beginn einer neuen weltgeschichtlichen
Bereinigung von Staatsgrenzen gewesen sein? Der Anfang einer langsamen Lösung
vom Dogma der territorialen Integrität von Staaten und damit der Anfang eines
langen Kampfes für die Freiheit der Bürger, in freien Wahlen Staatsgrenzen
korrigieren und über ihre Staatszugehörigkeit entscheiden zu können? Könnten also
die Jugoslawienkriege der Auftakt zu einem Weltkrieg in Etappen gewesen sein, zu
einem Dritten Weltkrieg, der unser Jahrhundert prägen wird wie die ersten beiden
Weltkriege das vorherige?
Ich wusste darauf natürlich keine Antwort, aber ich versuchte nun, im Archiv erst
einmal mein Wissen aufzubessern. Ich fand heraus, dass es mehr als hundert aktive
separatistische Bewegungen in der Welt gab, um ein Vielfaches mehr, als ich
vermutet hatte. Aber wer im Archiv zu suchen weiß, der erfährt auch, dass
separatistische Neigungen noch viel weiter verbreitet sind. Es gab mindestens so
viele latente separatistische Bewegungen wie aktive.
Bei diesen Recherchen wurde mir allmählich klar: Selbst die stabilsten Staaten der
Welt können sich nicht sicher sein, dass sich nicht irgendwann, und sei es nach
Jahrhunderten, ein Teil ihrer Bürger von ihnen lösen will. Bei den Konflikten um
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Staatsgrenzen wird es daher nie ein Ende der Geschichte geben. Wenn das aber so
ist, dann darf die Welt nie nachlassen, ihren Umgang mit diesen Konflikten weiter zu
entwickeln und weiter zu zivilisieren. Sonst kann es keine friedliche Welt geben.
Das war bei Hauser der beinahe kühle Prolog zu einer leidenschaftlichen Schilderung
mehrerer afrikanischer Dramen des frühen 21. Jahrhunderts. Hier, in einer
Geschichte des politischen Bewusstseins, soll so viel Leidenschaft nicht sein. Hauser
schrieb über Afrika noch ganz in der politischen Gefühlslage seiner Zeit, aber
inzwischen sieht man die Ereignisse natürlich distanzierter. Deswegen fasse ich
Hausers Schilderung hier auf meine Weise zusammen.
Beginnen will ich mit dem Fall Sudan. Der unabhängige Staat Sudan war eine der
unheilvollen Hinterlassenschaften des Kolonialismus. Seine Grenzen waren – nach
langer kriegerischer Vorgeschichte – Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von
Europäern mit dem Lineal auf die afrikanische Landkarte gezeichnet worden. Dieser
Sudan wurde von Anfang an von schweren inneren Konflikten heimgesucht. Der
überwiegend christliche Süden führte gegen den dominanten arabisch-muslimischen
Norden einen jahrzehntelangen Sezessionskrieg. Viele Hunderttausende starben,
Millionen wurden vertrieben. 2011 konnte der Süden des Landes schließlich eine
Volksabstimmung über seine Eigenständigkeit durchsetzen. Dabei gab es natürlich
eine überwältigende Mehrheit für die Gründung des eigenen Staates.
Warum mussten, bevor es zur ersten Teilung dieses fehlkonstruierten Staates kam,
Millionen Menschen leiden und sterben? Waren auch sie Opfer einer Ideologie?
Opfer des von der Staatengemeinschaft, auch vom Westen und allen demokratischen
Staaten vertretenen Dogmas der territorialen Integrität? Und damit Opfer des lange
vorher begonnenen, sich in Etappen vollziehenden Dritten Weltkriegs? Eine
plausiblere Erklärung dieser Tragödie gibt es nicht. Mitverursacher dieser Tragödie
sind demnach die Staaten, die dieser Ideologie Eingang ins Völkerrecht verschafft
haben und danach nicht von ihr lassen mochten. Also vor allem die demokratischen
Staaten des Westens.
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Ist der Sudan aber nicht ein Extremfall, der nur mit der rückständigen politischen
Zivilisierung Afrikas zu erklären ist? Die politische Gewaltbereitschaft war in
Ländern wie dem Sudan natürlich höher als im weltkriegsgeläuterten Westeuropa.
Trotzdem drängen sich die Parallelen zu innereuropäischen Konflikten der jüngeren
Vergangenheit auf, vom Zypernkonflikt bis zum Fall Jugoslawien.
Die Fälle Sudan und Jugoslawien haben noch etwas gemeinsam: Bei beiden waren
die Probleme der Staatszugehörigkeit mit einer einmaligen Aufteilung des
Staatsgebiets keineswegs gelöst. Im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina schwelten
danach Minderheitenkonflikte weiter, die nur durch ein unabsehbar langes
Besatzungsregime eingefroren konnten. Auch im Nord- und im Südsudan war durch
die Teilung kein innerstaatlicher Frieden hergestellt. Die zwischen diesen Staaten
gezogene neue Staatsgrenze war wiederum ein Willkürkonstrukt, das sich über den
Willen eines Großteils der Bürger hinwegsetzte. Darfur und zwei weitere Regionen,
deren Bewohner mit denen des Südsudans lange und verlustreich für ihre
Unabhängigkeit gekämpft hatten, wurden dem Staatsgebiet des Nordsudan zugeteilt.
In diesen Regionen schwelte der Bürgerkrieg blutig weiter. Nicht besser war es im
Südsudan. Dieser erwies sich bald als unfreiwillige Zwangsgemeinschaft zweier
einander seit jeher fremder Volksgruppen, der Dinka und der Nuer. Der Konflikt
zwischen diesen Gruppen wurde durch Waffenstillstände und durch improvisierte
Machtteilungen zwischen Stammesführern zeitweilig entschärft, aber gelöst wurde
auch er nicht.
Nach ähnlichem Muster wurden auch in Ländern östlich des Südsudans Bürgerkriege
und Bürgerkriege geführt, der Unabhängigkeitskrieg Eritreas und der erbitterte
Bürgerkrieg in Somalia, der Hungersnöte mit Hunderttausenden Todesopfern zur
Folge hatte. Auch in diesem Krieg spielte die Frage, wer mit wem in welchen
Grenzen einen gemeinsamen Staat würde betreiben wollen, eine wichtige Rolle.
Weitere Bürgerkriegs- und Terrorszenarien spielten sich in den Folgejahrzenten in
vielen anderen Regionen Afrikas ab, darunter Nigeria, Mali, Äthiopien, Kenia,
Burundi und Kongo, und immer wieder ging es dabei auch um die Frage, welche
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Stammes-, Religions- oder sonstige Gemeinschaften weiter in einem gemeinsamen
Staat leben wollten. Immer wieder war der Befund, dass Staatsvölker, die in
Kolonien und Diktaturen als Zwangsgemeinschaften lange funktioniert hatten, bei
allmählicher Demokratisierung und Liberalisierung auseinanderdrifteten. Der
beunruhigendste Befund für Afrika war, dass mit Nigeria ausgerechnet sein
bevölkerungsreichstes Land – dank seiner Ölförderung zugleich eines der
wohlhabendsten –, in seiner nationalen Einheit besonders gefährdet war. Es waren
immer wieder Landesteile mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, in denen
Separatisten mit Gewalt und Terror für die Loslösung vom nigerianischen
Vielvölkerstaat kämpften.
In Nigeria war es lange vorher schon zu einem der tragischsten Konflikte dieser Art
gekommen. Mit seiner ethnisch, sprachlich und konfessionell äußerst inhomogenen
Bevölkerung war Nigeria von Beginn an, seit seiner 1960 erlangten Unabhängigkeit,
eine Brutstätte innerer Konflikte. Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit kam es zum
Sezessionskrieg um das abtrünnige Biafra, der in einen Völkermord mündete und
fast drei Millionen Menschen das Leben kostete. Auch dieser Krieg muss im
Nachhinein als Teil oder Vorläufer des schleichenden Dritten Weltkriegs um die
Korrektur falsch gezogener Staatsgrenzen verstanden werden.
Wie unheilvoll die westliche Welt in diesem neuen Weltkrieg von Anfang an agierte,
wurde hier so deutlich wie kaum irgendwo sonst. Den Krieg um Biafra führte
Nigerias Regierung mit Billigung und mit militärischer und finanzieller
Unterstützung zahlreicher westlicher Staaten. Natürlich wollte kein westlicher Staat
bekennen, mitschuldig zu sein an nigerianischen Staatsgrenzen, innerhalb deren ein
friedliches und gewaltfreies Miteinander unmöglich war. Und erst recht wollten
westliche Staaten vermeiden, dass das Dogma der territorialen Integrität
ausgerechnet in Afrika ins Wanken geriet. Sie zogen es vor, für dieses Dogma in
Afrika Kriege zu führen und führen zu lassen, denen Millionen von Menschen zum
Opfer fielen.
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Auch in den Folgejahrzehnten blieben politische Bewusstseinsfortschritte aus, die
Afrika vergleichbare Tragödien erspart hätten. Ende des vorigen Jahrhunderts kam es
zum Völkermord in Ruanda, einem innerstaatlichen Konflikt zwischen den Stämmen
der Hutus und Tutsis, dem fast eine Million Menschen zum Opfer fielen. Auch in
diesem Konflikt war eine falsche, von den Bürgern nicht gewollte Zusammensetzung
eines Staatsvolks die Hauptursache. Und auch in der Entstehungsgeschichte und im
Verlauf dieses Konflikts haben westliche Staaten Mitschuld auf sich geladen. Auch
dies ist eine der afrikanischen Tragödien, die zur leidvollen Vorgeschichte unseres
kaum weniger leidvollen Jahrhunderts gehören.
Im Gefolge des ruandischen Bürgerkriegs, bei dem große Teile der ruandischen
Bevölkerung nach Kongo flohen, erlebte dann auch Kongo immer wieder neu
aufflackernde blutige Bürgerkriege, für die eine ungewollte Zusammensetzung des
kongolesischen Staatsvolkes mitursächlich war. Diese Kriege haben mittelbar und
unmittelbar vermutlich Millionen Todesopfer gefordert, ohne dass damit das Land
befriedet und die zugrundeliegenden Konflikte gelöst wären.
Die schon damals gängige Sicht der Dinge war natürlich, dass die Täter in solchen
Tragödien im Zweifel und fast immer die Separatisten seien. Man müsse doch einen
Staat nicht auseinanderreißen, so meinte man, nur weil ein Teil seiner Bürger sich
einen anderen Pass wünsche. Das Beispiel Schweiz mit seinen vier
Sprachgemeinschaften zeige ja, was bei gutem Willen der Beteiligten möglich sei.
Dazu soll hier ein wörtliches Zitat von Hauser genügen: Wer die Schweiz als den
Normalfall annimmt, an dem der Rest der Welt, auch Afrika, sich gefälligst zu
orientieren habe, der ist mit seinen Gedanken nicht in diesem Jahrtausend.
So viel zur Rolle westlicher Dogmen in afrikanischen Tragödien. Natürlich haben
westliche Staaten in postkolonialen Zeiten nicht nur Unheil über Afrika gebracht, sie
haben auch zu helfen versucht. Aber auch hierzu hatte Hauser eine besondere
Meinung, und auch damit, denke ich, verriet er – wie mit allem, was er über Afrika
50
schrieb – ein ziemlich sicheres Gespür. Deswegen will ich hier noch diesen
Ausschnitt aus seinen Aufzeichnungen zu Afrika anschließen:
Wie viel hat die Entwicklungshilfe westlicher Staaten Afrika genützt? Ein Bruchteil
davon hat die Lebensbedingungen der Menschen eine Zeitlang, fast nichts davon hat
sie nachhaltig verbessert. Ein Teil wird in die Verwaltung nicht lebensfähiger
Staaten gepumpt, ein Teil von korrupten Eliten abgezweigt, ein Teil versandet in
unfähigen Bürokratien, viel wird – das habe ich mit eigenen Augen gesehen – für in
fernen Geberländern ersonnene Projekte verpulvert, die unter afrikanischen
Bedingungen nicht funktionieren können. Einen beträchtlichen Teil verbraucht
zudem die Selbstorganisation.
Es ist nicht einmal abwegig, dass die bisherige Entwicklungshilfe mehr Schaden als
Nutzen gestiftet haben könnte. Ganz sicher hat sie viele falsche Hoffnungen geweckt
und damit in Afrika viele Energien fehlgelenkt. Aber viel schlimmer ist natürlich
dies: Dass Helferländer – Biafra war eines der frühen Beispiele – mit Militärhilfe
Leid über Afrika gebracht haben, das durch keine noch so großzügige
Entwicklungshilfe wiedergutzumachen war. Mit ihren Waffenlieferungen waren
westliche Helferländer in den Machterhalt vieler skrupelloser afrikanischer Regime
und in fast alle afrikanischen Kriege und Bürgerkriege verstrickt, oft sogar – wie in
Biafra, Ruanda und im Sudan – auf beiden Seiten eines Konflikts zugleich. Westliche
Kolonialmächte haben Afrika zuerst mit falschen Staatsgrenzen durchzogen, dann
haben sie die Hand dazu gereicht, solche falschen Staatsgrenzen mit brutalster
Waffengewalt zu verteidigen.
Was hätte anderes getan werden müssen? Natürlich Hilfe zum Aufbau von Staaten
und Staatsordnungen, die unter afrikanischen Lebensbedingungen bestmöglich
funktionieren. Aber sollten das Demokratien nach westlichem Muster sein? Ein
einfaches Ja darauf verbietet sich längst. Man kann für Afrika nur hoffen, dass eine
hilfreichere Antwort vor der nächsten Welle von Krieg und Terror gefunden wird.
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Ja, auch das konnte Hauser: Abgründe ausleuchten, dass es einem für Momente die
Sprache verschlug. Dabei blitzte aber auch auf, was Hauser mit dem weiten Blick des
Archivars gemeint hatte, dem Blick auch weit in die Zukunft. Er sah, wie langsam
das politische Bewusstsein seit dem Ende des Kolonialismus vorangekommen war,
und er fragte sich, ob es im kommenden halben Jahrhundert schneller gehen könnte.
Seine Antwort war negativ.
Die arabische Welt
In meinen jungen Jahren waren – soweit ich mich damit befasste – die großen
politischen Konflikte dieser Welt für mich Einzelereignisse. Jeder Konflikt schien
seine eigenen Ursachen zu haben, und für den Umgang mit jedem Konflikt musste
demnach Politik ein eigenes Konzept entwickeln. Erst Hausers Aufzeichnungen
haben mir die Augen dafür geöffnet, dass die meisten dieser Konflikte, besonders die
gewaltsamen, ähnlichen Mustern folgen. Sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen,
mich hier mit so vielen Weltregionen zu befassen. Du übernimmst dich, hätte ich
gedacht, und du versuchst zusammenzubringen, was nicht wirklich zusammengehört.
Nun also auch noch die arabische Welt? Ja, es muss sein. Eine der Ursachen fast aller
großen Konflikte sei Phantasielosigkeit, schreibt Hauser, Phantasielosigkeit sei
weltweit unerschöpflich, und allein das sei ein großer globaler Erklärungszusammenhang. Schon deswegen verzettele man sich nicht, wenn man sich mit
vielen Konflikten zugleich befasse. Solche Aussagen erschienen mir damals noch
reichlich abstrakt, aber später bewahrten sie mich vor vielen vorschnellen Urteilen.
Über die arabische Welt des ersten Jahrhundertviertels hat Hauser in vielen Details
geschrieben, immer wieder mit der Empörung des zeitgenössischen Betrachters. So
viel Detail soll hier nicht sein und auch nicht so viel – dafür liegt vieles mittlerweile
zu weit zurück – Empörung. Zumindest dieser eine Absatz aus Hausers
Aufzeichnungen passt aber unverändert hierher:
Wenn schon nicht in Afrika, hätte dann nicht zumindest in der arabischen Welt zu Beginn des
Jahrhunderts eine Modernisierung nach westlichem Muster gelingen sollen? Als es Anfang
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2011 in mehreren arabischen Ländern zu Massenprotesten gegen die herrschenden Regimes
kam, galt dies im Westen als Ausbruch eines endlich erwachten Modernisierungswillens.
Man wollte darin einen „arabischen Frühling“ erkennen, mit dem im arabischen Raum die
Zeit der Demokratisierung nach westlichem Muster anbreche. Die Bürger müssten nur ihre
Despoten mit der notwendigen Entschlossenheit stürzen, wo nötig mit militärischer Hilfe des
Westens, und sich dann demokratische Verfassungen nach westlichem Muster geben. Und
man glaubte auch, die danach zu wählenden arabischen Regierungen und ihre Bürger
würden sich dem Dogma der territorialen Integrität unterwerfen. Staatsgrenzen würden also
unangetastet bleiben. So werde in der arabischen Welt die Demokratie den innerstaatlichen
Frieden bringen, und das Prinzip der territorialen Integrität werde den Frieden zwischen
den Staaten wahren. Die arabische Welt werde demnach in der ersten Hälfte unseres
Jahrhunderts einen ähnlichen Weg nehmen wie Europa in der zweiten Hälfte des 20.
Jahrhunderts.
Grundlegender hatte der Westen nicht irren können. Wenn schon nichts anderes, hätte der
westlichen Welt zumindest dies von vornherein zu denken geben müssen: Die arabische Welt
hatte in der jüngeren Vergangenheit kein einziges Jahrzehnt ohne Krieg erlebt, keine einzige
anhaltende Phase des Friedens, wie sie fast überall in Europa und der übrigen westlichen
Welt schon zur Selbstverständlichkeit geworden waren. Dementsprechend weit lag dieser
Teil der Welt in der politischen Bewusstseinsentwicklung zurück. Die Folge war absehbar:
Der so genannte arabische Frühling war der Anfang einer entsetzlichen Tragödie.
So weit Hauser, und ich muss dem nichts hinzufügen. Was er hier schreibt, ist ja zur
traurigen Gewissheit geworden.
Ich will hier für diesen Teil der Welt erst einmal die Entwicklungen im ersten
Jahrhundertviertel aus Hausers Sicht, aber mit eigenen Worten kurz rekapitulieren.
Nicht für Ältere wie mich, die all das noch gut in Erinnerung haben, aber für die
Jüngeren, die sich hiervon vielleicht nur ein einfaches und einseitiges Bild haben
machen können. Alles handelt hier vom, wie Hauser es nannte, unermesslichen
Unglück in der arabischen Welt und davon, wie westliche Vorstellungen von
Demokratie und Völkerrecht vor diesem Unglück versagten. Dabei betrachte ich die
arabischen Staaten, so willkürlich ihre Grenzen noch immer gezogen sind, erst
53
einmal je für sich. Das war zwar damals irreführend und ist es noch heute, aber es
macht die Sache einfacher. Diese Staaten existieren ja dem Namen nach noch immer.
Ägypten
Nachdem Anfang 2011 der tunesische Autokrat Ben Ali außer Landes
geflohen war, verloren kurz danach auch die Bürger Ägyptens die Geduld mit
ihrer Staatsführung. In Kairo und anderen Städten kam es zu
Massenprotesten gegen das seit drei Jahrzehnten herrschende
scheindemokratische Mubarak-Regime. Die Lage war explosiv. Schließlich
sahen selbst die ägyptischen Militärs keinen anderen Ausweg mehr, als
Mubarak, eigentlich einen der Ihren, zu entmachten und es mit
demokratischen Wahlen zu versuchen.
Die Präsidentschaftswahl gewann ein islamistischer Kandidat, die
Parlamentswahl gewann seine islamistische Partei. Das war nicht, was ein
Großteil der Bürger, was das ägyptische Militär, was die Mehrheit der
ägyptischen Beamtenschaft und was auch die westliche Welt sich erhofft
hatten. Dieses Wahlergebnis spaltete das Land.
Das Militär machte schließlich kurzen Prozess. Der demokratisch gewählte
islamistische Präsident und die von Parlament gewählte islamistische
Regierung wurden gewaltsam abgesetzt, ein einflussreicher General ließ sich
mit Rückdeckung der Streitkräfte zum neuen Präsidenten wählen, viele
hundert politisch aktive Islamisten wurden in Massenprozessen zum Tode
verurteilt.
Damit herrschte de facto wieder ein Militärregime, nunmehr aber ein
unverbrauchtes, vom Misskredit der Mubarak-Ära geläutertes und damit
vorerst stabiles. Die Einlassung auf ein demokratisches Verfahren nach
westlichem Muster hatte Ägypten keinen Schritt vorangebracht, auch nicht in
54
der politischen Zivilisierung. Der Wille, es mit solcher Art Demokratie noch
einmal zu versuchen, war damit auf absehbare Zeit erloschen.
Libyen
Irgendwann, das war leicht vorhersehbar, würde auch in Libyen ein Großteil
der Bürger ihren Despoten nicht mehr ertragen können. Anfang 2011, nach
über vierzigjähriger Gaddafi-Herrschaft, kam es, vom Osten des Landes
ausgehend und mit verdeckter Unterstützung westlicher Regierungen, zu
Protesten, die sich rasch zu einer starken Rebellenbewegung ausweiteten.
Luftstreitkräfte mehrerer NATO-Staaten unterstützten die Rebellen mit
zehntausenden Kampfflugzeugeinsätzen, natürlich in der Erwartung, den
Übergang in eine geordnete demokratische Zukunft herbeizubomben.
Die westliche Militärintervention – sie forderte mehr Todesopfer als der
gesamte jahrzehntelange Terror des Gaddafi-Regimes – führte zum Sturz
und zur Ermordung Gaddafis, aber danach versank das Land in blutige
Anarchie. Statt zu einer blühenden Demokratie wurde Libyen zu einem
innerlich zerrissenen, ohnmächtigen und regellosen, einem so genannten
gescheiterten Staat. Auch in diesem Libyen waren die Bürger von keinerlei
Willen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit getragen.
Welche Hilfe konnten westliche Staaten in dieser Situation noch leisten? Bald
zeigte sich, dass keine der innerlibyschen Konfliktparteien der Nach-GaddafiZeit sich westlichen Werten und Verfahren ernsthaft verpflichtet sah. Für
westliche Demokratisierungshilfe fehlte es an geeigneten seriösen
Adressaten. Die in Libyen engagierten westlichen Staaten waren also mit
ihrem politischen Latein am Ende. Sie hatten das militärische Know-how
gehabt, um einen Gaddafi stürzen zu helfen, aber ihnen fehlte jegliches
politische Know-how, um auf den Trümmern des Gaddafi-Regimes einen
besser funktionierenden neuen Staat entstehen zu lassen.
55
Was war hier unter Berufung auf westliche Werte erreicht worden? Die
Antwort ist: weniger als nichts. Die Post-Gaddafi-Ära brachte den
allermeisten Libyern weniger Sicherheit, weniger Wohlstand und weniger
Lebensqualität als die Zeit der Gaddafi-Despotie. Und niemand schien zu
wissen, wie dies zu ändern war.
Wie anders wären westliche Staaten mit Gaddafi und seinem Regime
umgegangen, wenn sie geahnt hätten, dass sich dessen düstere
Prophezeiung in Sachen Flüchtlingsströmen bewahrheiten würde? Dass also
ein künftiges zerfallenes, zerstrittenes und schwaches Libyen ein
Anschwellen der Migrantenströme nach Europa weder aufhalten können
noch wollen und daher zum Haupttransitland für viele Millionen legal oder
illegal nach Europa strebender Afrikaner werden würde?
Sicher ist nur: Klüger hätten die westlichen Staaten auch dann nicht
gehandelt.
Syrien
Der so genannte arabische Frühling führte in Ägypten zum Scheitern der
Demokratie, in Libyen führte er zum Staatszerfall, aber eine noch viel
größere Tragödie erlebte Syrien. In Teilen des Landes kam es zu Aufständen
gegen die seit vier Jahrzehnten andauernde Despotie von Vater und Sohn
Assad. Wie in Libyen, wollte der Westen hierin zunächst den Aufstand eines
politisch heranreifenden Staatsvolkes gegen seinen Unterdrücker erkennen,
einen Aufstand also, der Assad unweigerlich stürzen und aus Syrien bald
eine funktionsfähige Demokratie machen würde. Anders als in Libyen,
trauten NATO-Staaten sich hier aber nicht, militärisch zu intervenieren. Das
militärische und politische Risiko erschien zu groß, auch weil das AssadRegime mit Russland verbündet war.
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Im anschließenden Bürgerkrieg zeigte sich, dass auch die Rebellion in Syrien
alles andere war als der Aufstand eines im Widerstand gegen das Regime
einigen Staatsvolkes. Das Land zerfiel in eine Region mit mehrheitlich
regimetreuer Bevölkerung und Regionen, in denen andere
Bürgerkriegsparteien erbittert um Macht und Vorherrschaft kämpften, fast alle
mit verdeckter Unterstützung westlicher, arabischer oder anderer Staaten,
wobei die fundamentalistische sunnitische Terrororganisation Islamischer
Staat bald zum militärisch, finanziell und auch nach Anhängerzahl stärksten
Akteur wurde. Auch hier brach also mit der Rebellion alles andere an als
Fortschritt in der politischen Zivilisierung. In diesem Bürgerkrieg kämpften
Rebellen ebenso unerbittlich gegeneinander wie gegen das Assad-Regime,
und all diese Kämpfe wurden mit äußerster Härte und Grausamkeit geführt.
Dem Krieg fielen fast eine halbe Million Menschen zum Opfer, mehr als zehn
Millionen – mehr als die Hälfte der vormaligen Bevölkerung – wurden zu
Flüchtlingen im eigenen Land oder flohen außer Landes. Von diesem
Flüchtlingsstrom sahen sich nicht nur Syriens Nachbarstaaten in ihrer
Stabilität bedroht, sondern auch ein Teil Europas.
Auch hier verlief also alles ganz anders, als ein blauäugiger Westen es
zunächst erwartet hatte. Ein syrisches Volk, das geeint in einem von Assad
befreiten Syrien leben wollte, gab es nicht. Auch Syrien war ein Staat
gewesen, der nur mit der eisernen Faust eines Despoten hatte
zusammengehalten werden können und mit der Schwächung des Despoten
unweigerlich zerfallen musste. Despoten wie Assad waren sich dessen
immer bewusst, und ihre Herrschaftsmethoden waren immer auf diesem
Wissen gegründet. Eben deswegen waren sie so lange gegenüber
denkbaren Alternativen das kleinere Übel geblieben. Für ein Syrien mit
einem geschwächten oder gar ohne einen Assad war der blutige Zerfall
vorgezeichnet und damit die Herausbildung neuer Staatsgebilde, deren
Grenzen in langen Bürgerkriegen auszukämpfen sein würden.
57
In einem Fall wie Jugoslawien war einigermaßen vorhersehbar gewesen,
entlang welcher Grenzen das Land in Einzelstaaten zerfallen würde, und
daher waren die Kriege zur Auflösung Jugoslawiens noch vergleichsweise
glimpflich verlaufen. Im Fall Syrien aber waren die Vorstellungen über die
Aufteilung syrischen Staatsgebiets viel verworrener. Diese Vorstellungen
konkretisierten sich großenteils erst in einem Prozess grausamer
konfessioneller und ethnischer Säuberungen, an dem als Täter und Opfer
Araber und Kurden, Sunniten und Schiiten, Alawiten, Christen und andere
ethnische und konfessionelle Gruppen und Minderheiten beteiligt waren.
Dieser mörderische Prozess hätte allenfalls dann ein absehbares vorläufiges
Ende finden können, wenn die Konfliktparteien nicht noch von äußeren
Mächten, von arabischen Staaten, Iran, der Türkei, Russland und dem
Westen gegeneinander aufgehetzt und aufgerüstet worden wären.
Selten hat daher ein Staat im Bürgerkrieg eine so totale Zerstörung erfahren.
Natürlich wäre jede politische Lösung dieses Konflikts für fast alle Beteiligten
unvergleichlich glimpflicher gewesen. Aber wie Hauser sagte: Die verfügbare
politische Phantasie – und auch die verfügbare Vernunft – war hierfür viel zu
schwach, auch im Westen. Nach der Rebellion entstand auch auf syrischem
Territorium nichts anderes als ein von kriegsmüden Kämpfern notdürftig
gedeckeltes Pulverfass.
Was haben westliche Staaten getan, um diese Tragödie wenigstens
abzumildern? Die Antwort ist: so gut wie nichts. Sie haben stattdessen über
viele Jahre wechselnde Bürgerkriegsparteien mit Waffen beliefert, und sie
haben unbewohnte und bewohnte Gebiete bombardiert, weil sie von den
falschen Rebellen besetzt waren.
Hätten westliche Staaten anderes und Besseres getan, wenn sie frühzeitig
geahnt hätten, dass auch von Syrien aus Millionen Migranten nach Europa
drängen würden? Hätte wenigstens dies westliche Politiker dazu gebracht,
politische Dogmen des vergangenen Jahrhunderts ernsthaft in Frage zu
58
stellen? Und vielleicht auch dazu, nach historischer Mitschuld an der
arabischen Tragödie zu fragen? Hausers Antwort darauf wäre natürlich, dass
die große Konstante westlicher Politik weiterhin die Phantasielosigkeit war.
Europas politische Führung ängstigte sich mehr vor der Abkehr von
politischen Dogmen als vor den Folgen der Massenmigration. Dass Teile
Europas durch diese Massenmigration den Herkunftsländern der Migranten
in manchem ähnlicher werden könnten, war ein verbotener Gedanke.
Irak
Die Tragödie Syriens, schon für sich genommen eine der schlimmsten des
ersten Jahrhundertviertels, verschmolz mit der des Irak. Dessen Zerfall folgte
einer ähnlichen Logik, er war von ähnlichen Gräueln geprägt, er forderte
ähnlich viele Opfer, er überschnitt sich geographisch mit dem Zerfall Syriens,
aber er hatte auf ganz andere Weise begonnen. Den Sturz des Despoten
hatten westliche Streitkräfte besorgt. Die USA und Großbritanniens hatten
den Irak unter falschem Vorwand angegriffen, dabei die irakischen
Streitkräfte weitgehend ausgeschaltet, das Land besetzt, Saddam Hussein
festgenommen und ihn von irakischen Staatsorganen hinrichten lassen.
Die danach bis 2011 andauernde Besatzung des Irak war geprägt von
ständigem Terror, allgegenwärtiger Gewaltkriminalität, von
bürgerkriegsartigen religiösen und ethnischen Konflikten und immer wieder
auch von Terroranschlägen auf westliche Besatzungstruppen. Als diese 2011
abzogen, war der Irak formell eine eigenständige Demokratie, die sich nach
westlichen Vorstellungen stabilisieren sollte. Auch diese Illusion zerstob aber
sehr rasch. Auch den Bürgern des Irak fehlte es am Willen zur gemeinsamen
Staatszugehörigkeit. Der stärkere Wille war der Wille zur Trennung, wie
blutig diese auch zu erkämpfen wäre.
59
Auch im Irak waren die Motive der verfeindeten Bevölkerungsgruppen, ihrer
Milizen und ihrer Geldgeber vielfältig und zeitweise schwer zu entwirren.
Auch hier kämpften u.a. Araber gegen Kurden, Sunniten gegen Schiiten und
sunnitische Gruppierungen gegeneinander. Dieser Bürgerkrieg erwuchs aber
auch aus der Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit einer Männergeneration, die
nach der Saddam-Despotie über ein Jahrzehnt lang von Krieg, Besatzung,
Terror und Bürgerkrieg geprägt worden und für die danach eine Sinnerfüllung
ohne Feindbilder und Gewaltkonflikte kaum noch vorstellbar war. Auch dies
trug dazu bei, dass die Terrororganisation Islamischer Staat über lange Zeit
große Teile irakischen und syrischen Territoriums unter ihre Kontrolle bringen
konnte. Dabei half ihr, dass sie mit der Errichtung eines sunnitischen Kalifats
ein scheinbar klares Ziel in Sachen staatlichen Zusammenhalts und
Staatsgrenzen vorgab. Hier mischten sich also, begünstigt durch die heillose
Vorgeschichte, legitime Zusammengehörigkeitsbedürfnisse von
Staatsbürgern auf mörderische Weise mit archaischem Religionsverständnis
und niedersten Gewalt- und Racheinstinkten. So blieb vom Irak nur ein
politisch, wirtschaftlich und auch kulturell gescheiterter Phantomstaat, auf
dessen Trümmern sich dann im weiteren Bürgerkrieg allmählich mehrere
eigenständige staatsähnliche Gebilde entwickelten.
Ich will es hier bei diesen kurzen Skizzen zu einzelnen arabischen Staaten belassen
und nicht auch noch auf kriegerische Auseinandersetzungen jener Zeit im Jemen und
anderen arabischen Staaten eingehen. Praktisch nirgendwo in der arabischen Welt,
auch nicht in Saudi-Arabien, den Golf-Emiraten und im arabischen Nordafrika,
herrschte ein politisches Regime, von dem man erwarten konnte, dass es bis weit in
die zweite Jahrhunderthälfte würde bestehen können. Hauserscher Weitblick zeigte:
In der arabischen Welt spielten sich keine isolierten Dramen einzelner Staaten ab,
sondern dies war ein großes gesamtarabisches Drama mit wiederkehrenden Mustern.
Vor allem aber war es Teil des großen Weltdramas um falsch gezogene
Staatsgrenzen und erzwungene Staatszugehörigkeiten.
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Als ich ein zweites und drittes Mal in den Hauserschen Aufzeichnungen darüber las,
durchlebte ich noch einmal, wie mich vor Jahren die Nachricht vom Tod eines
älteren Studienfreundes aufgewühlt hatte. Er war Journalist gewesen. Schon als
Student ein ruheloser Geist, nach dem Studium ein Praktikum bei SPIEGEL, dann
ein Jahr bei einer Presseagentur, dann beim Rundfunk, danach Freiberufler,
spezialisiert auf Reportagen aus Krisengebieten.
Wenn ein bekannter Fernsehjournalist in einem Krisengebiet getötet wird, erfährt
davon die Welt, der Tod eines Freiberuflers ist den Medien selten eine Nachricht
wert. Spiegel-Online, wo ich davon erfuhr, immerhin einen Vierzeiler. Ich war
tieftraurig, aber ich verdrängte es rasch. Erst als ich dann Hausers Aufzeichnungen
über die arabische Welt las, recherchierte ich dazu weiter. Im Netz verstreut fanden
sich zum Tod meines Freundes Dutzende Beiträge. Er war im heftig umkämpften
früheren Grenzgebiet zwischen Irak und Syrien getötet worden. Ein gewaltsamer
Tod, so viel war klar, alles andere blieb im Nebel kriegs- und bürgerkriegstypischer
Desinformation. Schiitische und sunnitische Milizen, Geheimdienste, ein USDrohnenkommando, gewöhnliche Kriminelle, ein missgünstiger Kollege, ein
enttäuschter arabischer Liebhaber, ein schießwütiger Polizist, all das waren
mutmaßliche Täter. Es gab einfach zu viele, die, wo immer sich die Gelegenheit bot,
Gegnern einen Mord in die Schuhe schoben, auch weil sie selbst etwas zu vertuschen
hatten. Wer behauptet, im arabischen Drama die Wahrheit zu kennen, der lügt, hatte
Hauser einmal gesagt. Hier begann ich es zu verstehen.
Nur Eines war in diesem Drama klar: Die westliche Vorstellung, arabische Despotien
würden sich in ihren bestehenden Staatsgrenzen zu friedlichen Demokratien
wandeln, war kläglich gescheitert. Erst recht gescheitert war natürlich die
Vorstellung, solche friedliche Demokratisierung ließe sich durch Militärintervention
und Besatzung erzwingen. Wenn es eine erste plausible Lehre aus diesen
Geschehnissen gab, dann konnte es nur diese sein: Demokratisierung und das
Festhalten an willkürlichen Staatsgrenzen waren auf Dauer nicht miteinander
vereinbar. Von dieser Einsicht war die Staatengemeinschaft aber noch weit entfernt.
61
Sie sah zu, wie die arabisch-muslimische Zivilisation zusammenbrach, wie die
arabischen Bürgerkriegsstaaten in Hoffnungslosigkeit versanken und wie mit den
Flüchtlingsströmen Armut, Entwurzelung und Elend sich auch in deren
Nachbarstaaten ausbreitete und auch bis hin nach Europa. Hier blieb nur die vage
Hoffnung, dass sich irgendwann geläuterte Nachkriegsgenerationen nach neuen
Regeln aus diesem Elend würden befreien wollen.
So viel zu den Tragödien der arabischen Welt im ersten Jahrhundertviertel. Waren
diese etwas anderes als die Fortsetzung des schleichenden Dritten Weltkriegs, der im
20. Jahrhundert in Afrika und Europa begonnen hatte? Nein. Hauser sah es schon
damals so, ich erkannte es Jahre später. Der Versuch, der arabischen Welt die
Demokratie aufzuzwingen, war gescheitert, und ebenso der Versuch, für Frieden
durch Festschreibung von Staatsgrenzen zu sorgen, durch das Dogma also der
territorialen Integrität.
Die westliche Welt ließ trotzdem nicht davon ab, dass die von Kolonialmächten
gezogenen Staatsgrenzen im Nahen Osten Bestand haben sollten. Diese Grenzen
hatten schließlich fast ein Jahrhundert lang gehalten, Zeit genug, so meinte man, um
unter Staatsbürgern letztlich doch den nötigen Zusammenhalt wachsen zu lassen.
Aber auch hier zeigte sich, dass ein Jahrhundert eine kurze Zeitspanne sein kann,
wenn es um den Willen und Unwillen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit geht.
Auch nach einem Jahrhundert ohne Krieg und Bürgerkrieg kann politisch
Trennendes, seien es ethnische, konfessionelle, kulturelle, ideologische, sprachliche
oder andere Differenzen, neu aufbrechen oder neu entstehen und einen Staat
zerreißen. Je demokratischer ein Staat sich organisiert, desto anfälliger wird er dafür.
So hat Hauser es damals in seinen Erinnerungen beschrieben:
Solange ein autokratisches System wirklich stark geführt ist, mit Charisma und repressiver
Gewalt zugleich, wird die Staatsgrenzenfrage von den Bürgern selten offensiv gestellt, auch
wenn es an spontanem Zusammengehörigkeitswillen mangelt. Zu den vielen historischen
Beispielen hierfür gehörten zeitweilig die österreichisch-ungarische Monarchie, das
62
Zarenreich und kurzzeitig sogar die Sowjetunion. Die Bürger solcher Regimes entwickeln
ein gemeinsames Untertanenbewusstsein, das über viele Differenzen hinweg miteinander
verbindet. Eine Demokratie kann solche Art Gemeinsamkeit nicht bewahren. Wird ein
solches autokratisches System demokratisiert, müssten sich daher neue staatstragende
Gemeinsamkeiten formieren. Wenn dies innerhalb bestehender Staatsgrenzen gelingt, ist das
ein Glücksfall. Solch seltenes Glück aber für selbstverständlich zu nehmen ist politische
Brandstiftung.
Die Grenzen im heutigen Europa, sagte Hauser in einem späteren Gespräch, seien
über Jahrhunderte mit viel Blut gezogen worden, dies geschehe nun auch im Nahen
Osten, und es sei dort noch längst nicht abgeschlossen. Solange falsche Grenzen mit
Blut verteidigt würden, könnten richtige Grenzen nicht ohne Blutvergießen gezogen
werden. So werde es im Nahen Osten weitergehen, und die demokratische Welt
werde dabei weiter mitmischen, die USA, die NATO, Staaten der EU und sogar die
Vereinten Nationen. Selbst wenn eine richtigere Grenze einmal erkämpft worden sei,
könne der Weg zum förmlichen Frieden noch sehr weit sein. Ein Beispiel wie
Nordzypern zeige, wie die Welt Staaten, die nach der Dogmatik des Völkerrechts
keine sein dürfen, mehr als ein halbes Jahrhundert ignorieren könne, nur um ihre
Dogmen nicht ins Wanken zu bringen. Der schleichende Dritte Weltkrieg unserer
Zeit werde daher neue gefährliche Provisorien hervorbringen und damit neue
politische Brandherde.
Ich fragte Hauser, ob es vielleicht doch etwas übertrieben sei, von einem
schleichenden Weltkrieg zu sprechen.
Nein, sagte er damals, es sei ja schon jetzt ein Jahrhundertkrieg, und allein aus dem
Archivmaterial lasse sich leicht zusammenrechnen, dass es auch nach den
Opferzahlen ein wirklicher Weltkrieg sei. Trotzdem habe er Verständnis für jeden,
der daran zweifele. Ein Dritter Weltkrieg vor aller Augen, und kaum jemand will
offen darüber reden und darüber schreiben, das könne doch eigentlich nicht sein, so
habe er ja zu Anfang auch gedacht.
Ob denn auch er mit niemandem darüber gesprochen habe, fragte ich.
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Bei der Arbeit fast nie, sagte er, nur ein einziges Mal, eher aus Versehen, als eine
Redakteurin von ihm etwas zur Lage in Syrien und dem Irak wissen wollte. Da sei es
aus ihm herausgerutscht: Das sei ein Stück Dritter Weltkrieg, und ob sie nicht einmal
darüber schreiben wolle? Wie bitte?, habe sie gefragt, und er darauf: Doch, wir
erleben einen schleichenden Dritten Weltkrieg. Da habe sie ihn wie einen
Außerirdischen angesehen. Es werde schon nicht so schlimm wie der Zweite
Weltkrieg werden, habe sie dann gesagt. Nein, ganz so schlimm nicht, habe er
geantwortet, insofern könne man eigentlich beruhigt sein.
Solchen Wortwechsel habe er sich nicht ein zweites Mal zumuten wollen.
Dass dieser Dritte Weltkrieg ein Krieg um Staatsgrenzen ist und dass der Verlauf von
Staatsgrenzen nie ein für alle Mal geregelt sein werde, dass also die Frage, wer mit
wem in einem gemeinsamen Staat leben wolle, ein ewiges Menschheitsthema sei,
auch in Europa, das hatte er mir ja schon früher erklärt. Aber diese Erkenntnis war
noch nicht die Lösung des Problems, das wusste natürlich auch Hauser. Konnte es
überhaupt eine Lösung geben? Wie dachte Hauser darüber? Ich brauchte einige Zeit,
bis ich mich traute, ihm diese Frage zu stellen:
– Wie könnte denn dieser Dritte Weltkrieg beendet werden?
– Er wird zu Ende sein, wenn die Staaten sich Regeln für die friedliche Korrektur
von Staatsgrenzen gegeben haben.
Er schwieg eine Weile, sah etwas verlegen an mir vorbei, als müsse er mir eine
schmerzliche Wahrheit eröffnen.
Dann sagte er:
– Wird der Westen einmal die Größe haben, der arabischen Welt beim Aufbau einer
anderen als der westlichen Demokratie zu helfen?
In diesem Moment schien es mir, als stellte er sich diese Frage zum ersten Mal. Aber
das dürfte, wie ich später herausfand, ein Irrtum gewesen sein.
64
Amerika
Dass Hausers Aufzeichnungen eine Fundgrube von Übungen in Weitsicht waren,
hatte ich nicht anders erwartet. Erstaunt war ich dann aber doch darüber, wie sich
fast alles in einen großen Zusammenhang fügte. Auch das, was er über Amerika
schrieb.
Innerhalb der westlichen Welt verlief – vom aus islamischen Ländern
überschwappenden Terror einmal abgesehen – das erste Jahrhundertviertel eher
harmlos, fast wie eine Fortsetzung der geschichtslosen Zeit vor der
Jahrtausendwende. Auch dem im letzten Quartalsjahrzehnt anschwellenden
Populismus war keine Geschichtlichkeit zu eigen.
So begann der Abschnitt, in dem zum ersten Mal von Amerika die Rede war. Und
weiter:
Man sollte Geschichtlichkeit, wie man sie aus der Vergangenheit kennt, sich und
anderen nicht wünschen. Geschichte in diesem Sinne hatte fast immer mit
Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Diskriminierung und politischer Verblendung und
mit dem leidvollen Kampf um deren Überwindung zu tun. So gesehen, könnte man
sich doch eher Geschichtslosigkeit wünschen. Die Geschichtslosigkeit westlicher
Demokratien in den letzten Jahrzehnten war aber alles andere als eine
Wunscherfüllung. Sie war das Ergebnis von Phantasie- und Tatenlosigkeit und von
mangelnder Voraussicht.
Amerika zum Beispiel. Das Land, das sich in seiner Geschichte immer als Vorbild
oder sogar als Heilsbringer verstand, als Vorreiter der Befreiung von Monarchie
und Despotie, der Verbreitung von Demokratie und als moralisch überlegene Weltund Supermacht, auch wenn es in dieser Rolle so viel vermeidbares Unheil gebracht
hat. Im Innern hatte Amerika sich – selbst nach dem Erscheinen Donald Trumps auf
der politischen Bühne – im ersten Jahrhundertviertel kaum gewandelt, natürlich
auch dadurch nicht, dass es sich permanent im Krieg befand. Dieselben zwei
Parteien und ihre Präsidenten wechselten einander im Regieren ab, und dies in
65
demselben antiquierten Verfahren wie seit jeher. Schon dies ließ Fortschritte im
politischen Bewusstsein kaum erwarten.
Auch die Anschläge vom 11. September 2001 führten nicht zu einer Neu-, sondern
eher zu einer Rückbesinnung. Sie hatten Amerika in seinem nationalen
Selbstbewusstsein gekränkt und schufen ein ungekanntes Gefühl von Verletzlichkeit.
Wie konnten wir, fragte man sich, wir, die einzige verbliebene Supermacht, mit so
einfachen Mitteln so markerschütternd getroffen werden? Die politischen Reflexe
waren: nicht in der Opferrolle verharren, die alte Unverletzlichkeitsgewissheit
wiederherstellen und auch das alte Gefühl der Überlegenheit, beides möglichst
entschlossen, möglichst rasch, beides mit den bekannten und vermeintlich bewährten
Mitteln militärischer, technologischer und wirtschaftlicher Übermacht. Hieraus
wuchs dann der Glaube, zu moralischer Prinzipientreue weniger denn je verpflichtet
zu sein. Amerika sah sich moralisch legitimiert, einen Weltkrieg gegen den Terror zu
führen und dabei ein improvisiertes Weltkriegsrecht anzuwenden, das u.a. eine
globale Überwachung elektronischer Kommunikation und gezielte Tötungseinsätze
auf fremden Staatsgebieten erlaubte. Die Frage aber, die nach der Tragödie vom 11.
September am ehesten das politische Bewusstsein hätte voranbringen können, kam in
Amerika nur wenigen in den Sinn: Warum ausgerechnet wir? Warum ziehen
ausgerechnet wir, die wir eine so hohe politische Moral für uns beanspruchen, in
Teilen der Welt solchen Hass auf uns? Und weil diese Frage ungestellt blieb,
verhärtete sich nach diesen Anschlägen das politische Bewusstsein nicht nur in
Amerika.
Veränderungsdruck kam von woanders her. Amerika musste sich, so sehr es auch für
den Weltkrieg gegen den Terror aufrüstete, der Rolle als einzige Weltmacht und
einziger Weltpolizist nach und nach entwöhnen. Die Welt war zu groß und das
globale Machtgefüge war zu vielfältig geworden, um mit den Mitteln der USA noch
die weltpolitische Führungsrolle spielen zu können. Dieser Entzug vom Rauschmittel
weltpolitischer Allmacht verstörte nicht nur Amerikas Politiker, es verstörte auch
seine patriotisch gesinnten Bürger.
66
Ein paar Absätze später nahm er diesen Gedanken so wieder auf:
Ich fragte einen unserer Amerikakorrespondenten, ob es der politischen Zivilisierung
Amerikas guttäte, wenn ihm die Bürde der Supermachtrolle genommen würde.
– Vielleicht, sagte er, aber die Welt würde davon nicht besser.
– Warum?, fragte ich.
– Weil es noch immer kein Land gibt, das besser auf die Welt aufpassen würde.
– Braucht die Welt denn noch einen Aufpasser?
– Unbedingt.
Ich wusste, dass er Recht hatte, aber dieses schroffe Unbedingt überraschte mich.
Ein Ja oder ein Leider hätte ich erwartet, und ich hätte dann fragen mögen, wie
lange die Welt noch einen Aufpasser brauchen würde. Aber dieses Unbedingt klang
wie ein „Davon habt ihr Archivare doch keine Ahnung“.
Kurz danach mailte er mir: Denk auch an Russland.
Ich wusste natürlich, was er meinte. Russland als die Supermacht, die erst recht
keine mehr war und erst recht darunter litt.
Die Weltmachtrolle ist eine Droge zuallererst für die Regierenden, aber sie wird es
mit der Zeit auch für das Volk. Das geschwächte Imperium ist wie eine alternde Diva
auf Entzug von Glanz und Ruhm. Es greift zu Ersatzdrogen. Wie die Diva gegen das
Vergessenwerden notfalls Skandale inszeniert, so inszeniert das geschwächte
Imperium Konflikte mit noch besiegbaren Feinden.
Amerikas Irak-Krieg gehörte zu diesem Entzugsszenario und auch Russlands
Tschetschenien-Kriege. Die beiden scheidenden Supermächte haben den Irak und
Tschetschenien auf dem Gewissen, unter anderem. Sie haben den zeitigen Rückzug
auf die bescheidenere weltpolitische Rolle, in der sie noch gebraucht wurden,
verpasst, und viele Hunderttausende haben dies mit dem Leben bezahlt. Und
schlimmer: Die beiden Supermächte haben damit die politische Zivilisierung im
67
eigenen Land, aber auch in den Opferländern weit zurückgeworfen. Dass Konflikte
wie die im Irak und in Tschetschenien auch gewaltlos lösbar sein würden, erschien
nun unvorstellbarer denn je.
In der Rückschau überrascht das natürlich nicht mehr, aber vorher hatte ich es
nirgendwo mit dieser Selbstverständlichkeit geschrieben gesehen. Hauser hatte es
mir ja schon erklärt: Archivare können sich leichter eine unabhängige Meinung
bilden als andere. Sie müssen in ihrer politischen Meinung keine Rücksichten
nehmen, nicht auf Leser, Politiker, Informanten, Verleger oder andere. Außerdem
wissen sie mehr.
Über Amerika im ersten Jahrhundertviertel schreibt Hauser noch vieles, zu dem ich
aus eigenem Erleben nichts hinzuzufügen habe, zum Beispiel, wie unter Obama die
politische Rhetorik eine Zeitlang etwas zivilisierter wurde, aber die reale Politik sich
kaum änderte. Ein Schwarzer als Präsident, das habe das Bewusstsein in der
Rassenfrage etwas vorangebracht, aber in nichts anderem.
Dann schreibt er, wie unter Donald Trump neue Spielarten rückwärtsgewandten
Denkens in die Politik eingezogen seien. Make Amerika Great Again – vor allem mit
diesem Slogan habe Trump die Mehrheit der Wähler für sich gewonnen, was
natürlich erst recht Politik mit dem Blick in die Vergangenheit erwarten ließ. Die
Sehnsucht nach Rückkehr zu alter Größe und Großartigkeit, das hieß auch: weiter die
verkrampfte Großmachtattitüde, weiter die Interventionsbereitschaft zur
Verteidigung liebgewonnener, aber veralteter Dogmen und weitere Willkür im
Umgang mit dem Völkerrecht, aber weder der Wille noch die Kraft, für eine
Erneuerung veralteten Völkerrechts zu streiten. Um das zu leisten, schreibt er,
müsste Amerika sich neu erfinden.
Dass einer wie Trump amerikanischer Präsident wurde, war für Hauser keine
Überraschung. Ein Wahlergebnis, schrieb er, das einen Trump zum Präsidenten
mache, sei natürlich auch ein Spiegel der Gesellschaft. Wer Trump für den
Niedergang an politischer Zivilisierung verantwortlich machten wolle, der
68
verwechsele daher Ursache und Wirkung. Diesen Niedergang, wenn es ihn denn
gegeben habe, hätten die in ihren Ritualen und Dogmen erstarrte Parteiendemokratie
und deren Akteure der vorangegangenen Ära zu verantworten.
Und dann:
Mit der Wahl von Trump ist schließlich auch die amerikanische Demokratie in die
Protestwähler-Falle geschnappt. Die Protestwähler haben ja im Prinzip Recht: Ihr
Land könnte viel besser regiert werden, als die etablierten Parteien und Politiker es
tun. Aber sie wissen nicht, wie, deswegen lassen sie sich auf Populisten vom Schlage
eines Trump ein. Man beobachtet es ja immer wieder: Die Demokratie sichert zwar
einen friedlichen Machtwechsel, aber nicht, dass damit die Macht in bessere Hände
gelegt wird. Ganz und gar nicht.
Und weiter:
Aber wie wäre es einem hypothetischen Anti-Trump im Präsidentenamt ergangen? Einem
Präsidenten also, der seinem Wahlvolk im politischen Bewusstsein vorübergehend enteilte?
Er hätte keine Chance. Im Wahlvolk tun neben altem weltpolitischem Sendungsbewusstsein
noch andere alte ideologische Rauschmittel ihre Wirkung. Und auch beim politischen
Rausch gilt: Erst wenn der Leidensdruck unerträglich wird, wächst die Bereitschaft zum
Entzug. Auch bei der Weltmacht Amerika. Noch leidet es zu wenig.
Und dazu an anderer Stelle noch:
Was passiert, wenn Amerika als Weltmacht von Staaten verdrängt wird, die wirtschaftlich,
technologisch und militärisch aufschließen, nicht aber in der politischen Zivilisierung? Von
China und anderen? Man mag an die Folgen noch nicht denken.
Seine Supermachtrolle wird Amerika nicht halten können, aber könnte es nicht auf andere
Weise dominant bleiben? Könnte Amerika in der Zeit nach Trump, nach der Entzauberung
seiner populistischen Heilsversprechen, eine Weltrolle einnehmen, die mehr auf moralischer
Führungskraft gegründet ist als auf militärischer, wirtschaftlicher und technologischer? Auf
einem Know-how in gewaltfreier Konfliktlösung beispielsweise? Auf einem Vorsprung in
politischer Vermittlungs- und Problemlösungskompetenz ? Dafür müsste es schneller an
69
moralischer Autorität gewinnen, als es an militärischer und wirtschaftlicher Dominanz
verliert. Das ist natürlich nur ein Traum.
Ich weiß, was viele Leser solcher Texte einwenden würden. Meinungsstark und
faktenarm, würden sie sagen, wo bleibt die nüchterne Neutralität eines Archivars?
Parteiische Spekulation, die zu Recht im Archiv verstaubt. Aber ich weiß eben: Mehr
Faktenwissen als Hauser hatte damals kaum jemand. Fundierter hätte kaum jemand
spekulieren können.
Und Hauser hat ja nichts übertrieben, im Gegenteil. Ich bin natürlich kein
Amerikaexperte, aber ich kann mich in das politische Bewusstsein vieler Amerikaner
hineinversetzen. Ich habe als Zwanzigjähriger zwei Semester an der New York
University studiert – besser gesagt, verbracht –, und bei Graf habe ich zwei Seminare
über Amerika besucht, eines davon über „Amerikas politisches System und seine
Nahostkriege“. Ein ziemlich trockenes Seminar, wären da nicht Grafs gelegentliche
messerscharfe Kommentare gewesen. Es war Sommersemester. Am letzten
Seminartermin, einem heißen Hallenser Julitag, lud Graf uns in ein nahegelegenes
Gartencafé ein. Ein Kommilitone referierte kurz über die politischen
Entscheidungsprozesse im Jahr 2011 vor den amerikanischen Luftangriffen auf
Libyen. Dann übernahm Graf. Die offene Gartencaféatmosphäre beflügelte ihn. Sein
Tonfall, seine Mimik, seine Wortwahl, alles war anders als gewohnt, schneidiger,
selbstbewusster, aber auch mit einer ungewohnten Härte. Ob wir denn eine
Vorstellung davon hätten, fragte er, mit welchem Bildungs- und Kenntnisstand
Mitglieder des US-Kongresses Kriegsvollmachten erteilten.
Natürlich hatte keiner von uns sich je solche Frage je gestellt, daran hatte auch
Trumps Präsidentschaft nichts geändert.
– Dann informieren Sie sich mal hier, sagte er.
Er notierte auf einer Serviette eine Internetadresse und ein Passwort und ließ sie
herumgehen. Es war die Webadresse einer kleinen privaten Stiftung.
70
– Keine präzise empirische Studie, aber methodisch klug aufgebaut. Das Ergebnis ist
schlüssig: Der Abstand zwischen dem Bildungsstand von Kongressmitgliedern und
dem von Durchschnittsbürgern hat sich in den Jahrzehnten, die die Studie abdeckte,
deutlich verringert. Insofern kann der Kongress immer weniger geistige Führung
leisten.
Keiner von uns reagierte.
– Regt Sie das nicht auf?
Graf sah sich in der Runde um. Wieder keine Reaktion. Schließlich sagte ich:
– Ganz wohl ist einem dabei natürlich nicht.
– Na, hoffentlich, sagte er. Es bedeutet doch: Mit Katastrophen wie dem Irak-Krieg
oder Unterlassungen in Sachen Klimaschutz ist weiterhin zu rechnen.
Er ließ den Satz kurz auf uns einwirken.
– Aber sie sollten sich die Studie ganz genau ansehen. Wie viele Stunden, Tage,
Wochen, Monate, meinen Sie, müssten Parlamentarier sich auf Entscheidungen über
Krieg und Frieden ober über Maßnahmen zum Klimaschutz vorbereiten?
Wieder nur betretene Mienen.
Für einen Moment schien Graf in Gedanken versunken. Dann fragte er:
– Wie viel Zeit würden Sie denn für solche Entscheidungen brauchen?
Wieder keine Antwort.
– Mehr als für eine Seminararbeit oder weniger?
– Mehr, sagten einige.
– Mindestens einige Monate, sagte ich schließlich.
– Zeit oder Arbeitszeit?, fragte Graf.
– Reine Arbeitszeit natürlich.
71
– Und nun schätzen Sie mal, wie viel Vorbereitungszeit die Kongressabgeordneten
sich für die Entscheidung über den Irak-Krieg genommen haben, vom Zeitunglesen
und Hörensagen natürlich abgesehen.
In der Runde wieder nur Schulterzucken.
– Die Studie sagt: Im Durchschnitt nicht einmal sechs Stunden. Die meisten
Abgeordneten haben außer Zeitungen und Vorlagen ihrer Fraktion keine weiteren
Erkenntnisquellen studiert. Mehr als zwei Dritteln der Kongressmitglieder reichte
das für ein Ja zum Krieg.
– Und die anderen?, fragte ein Kommilitone. Die Neinsager?
– Die haben sich im Durchschnitt eine knappe Stunde mehr genommen.
Einen Moment lang kostete Graf unsere stumme Überraschung aus. Dann sagte er:
– Wenn man die Terminpläne von Parlamentariern kennt, kann einen das kaum
überraschen.
Und nach einer wohlbedachten Pause:
– Viel mehr Vorwissen sammelt auch der Präsident nicht für solche Entscheidungen.
Viel tiefgründiger entscheidet auch der nicht.
Wir fühlten uns alle ertappt. Während des ganzen Seminars war keiner von uns auch
nur entfernt auf die Idee gekommen, sich solche Fragen zu stellen.
– So funktioniert Demokratie, sagte Graf fast genüsslich.
Und dann:
– Und glauben Sie nicht, dass es in Deutschland viel besser ist. Auch unsere
Demokratie ist in Wahrheit eine Dilettantendemokratie.
Dann stand er auf und wünschte uns allen entspannte Semesterferien. Fast schon im
Weggehen sagte er dann noch:
72
– Und glauben Sie erst recht nicht, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern
wird.
Ich muss gestehen, dass auch diese mahnenden Worte Grafs bei mir kaum Spuren
hinterließen. Umso eindrücklicher kamen sie mir zu Beginn des zweiten
Jahrhundertquartals in Erinnerung, als auch mir langsam dämmerte, dass die Wahl
Trumps ins Präsidentenamt kein Betriebsunfall der Demokratie war. Hauser hatte
damals gehofft, die Wahl Trumps werde die Schwäche der Demokratie einer
breiteren Öffentlichkeit vor Augen führen, aber das, sagte er mir später, sei natürlich
naiv gewesen.
Das Niveau der politischen Auseinandersetzung verbesserte sich in der Zeit nach
Trump nur wenig, politischer Streit wurde weiter verbittert und unerbittlich
ausgetragen. Von Trumps Projekt „Make Amerika Great Again“ war kaum
Greifbares geblieben, und mit Amerikas Weltmachtstatus schwand nun auch immer
mehr vom vormals einenden patriotischen Überschwang. Der Respekt vor den
etablierten Parteien blieb auf historisch niedrigem Niveau. Damit aber waren Tür und
Tor offener denn je für populistische Botschaften innerhalb, aber zunehmend auch
außerhalb der etablierten Parteien.
Natürlich waren es vor allem Populisten, die an der Vorstellung eines wirtschaftlich,
militärisch und moralisch dominierenden Amerika weiterhin trotzig festhielten, auch
wenn sie die damit verbundenen finanziellen Lasten konsequenter mit verbündeten
Staaten teilen wollten. Aber je weniger sie mit dieser Weltmachtattitüde noch
überzeugen konnten, desto entschlossener setzten die Populisten auf das andere
große Thema, das Donald Trump erfolgreich enttabuisiert hatte: die wachsende
kulturelle, ethnische und wirtschaftliche Disparität ihres Landes.
Die führenden Persönlichkeiten der beiden etablierten Parteien waren sich seit
Trumps Aufstieg darin einig, nicht noch einmal einen wie Trump aus ihrer Mitte in
höchste Staatsämter aufsteigen zu lassen. So ehrenwert aber diese
Verhinderungsstrategie an sich war, so vorhersehbar ihr Ergebnis: Die Populisten
73
begnügten sich nicht mehr damit, ihren Einfluss in den etablierten Parteien
auszubauen. Als Umfragen ihnen in immer mehr Wahlkreisen Chancen auf
eigenständige Mehrheiten einräumten, gründeten sich zwei neue Parteien, von denen
die eine Wähler vor allem von den Demokraten, die andere vor allem von den
Republikanern abwerben wollte.
Was blieb danach den beiden etablierten Parteien, als sich im Kampf um
Wählerstimmen auf ein ähnliches Niveau einzulassen wie die Populisten? Was
anderes als der Versuch, sich ihrerseits Mehrheiten auch durch offene
Geringschätzung unbeliebter Minderheiten zu sichern, sich der Angst vor
Überfremdung anzunehmen und so auf allen Seiten Ressentiments zu schüren? Noch
verhinderte das Mehrheitswahlrecht eine Zersplitterung der Parteienlandschaft, aber
ausschließen mochte sie kaum noch jemand. Es bahne sich an, warnten einige der
nachdenklichsten Köpfe Amerikas, was im 20. Jahrhundert niemand mehr für
möglich gehalten hätte: ein inneramerikanischer Kulturkampf.
Welche Gruppen sich dabei in vorderster Front gegenüberstehen würden, ob dies
Konservative und Liberale sein würden oder Arme und Reiche, christliche
Fundamentalisten und islamische, Weiße, Schwarze, Hispanics und Asiaten,
Protestanten, Katholiken, Juden und Muslime, Verteidiger und Gegner des
Sozialstaats, der Todesstrafe, des privaten Waffenbesitzes, des Klimaschutzes und
der Atomenergie oder ob sich nicht ganz neue kampfbereite Wertegemeinschaften
herausbilden würden, das war nicht absehbar. Dass aber alle Amerikaner sich in allen
politischen Angelegenheiten auch in Zukunft Mehrheitsentscheidungen fügen
würden, wie auch immer sie ausfielen, daran keimten erste Zweifel auf.
Es war, wenn ich mich richtig erinnere, Graf, der dazu einmal sinngemäß diesen
Kommentar gab: Es gebe viele innerlich zerrissene Staaten auf der Welt, aber bei
mindestens ebenso vielen werde sich die innere Zerrissenheit erst noch zeigen. Die
Welt werde noch lernen müssen, dass es ein Glück sei, wenn die innere Zerrissenheit
eines Staates nichts Schlimmeres als gewöhnlichen Separatismus zur Folge habe, der
74
ja relativ einfach, nämlich durch die Korrektur von Staatsgrenzen zu befrieden sei. In
vielen Ländern seien die Probleme noch viel komplizierter.
Dem folgte eine Aufzählung von Staaten, die hiervon irgendwann betroffen sein
könnten. Amerika war einer von ihnen.
Uns Studenten erschien das damals viel zu abstrakt und spekulativ, aber dann
schilderte Graf, wie nach der Wahl Trumps kleine kalifornische Bürgerinitiativen für
eine Abspaltung Kaliforniens von den Vereinigten Staaten geworben hatten. Das
seien zunächst nur Gedankenspiele gewesen, räumte er ein, und ein seriöses
politisches Projekt könne hieraus frühestens nach einigen Jahrzehnten wachsen, aber
man müsse solche Anfänge sehr ernst nehmen. Würde die Mehrheit der Amerikaner
dauerhaft eine Politik im Geiste Donald Trumps wollen, dann könnten irgendwann
Teile der Vereinigten Staaten tatsächlich einen anderen, eigenständigen Weg gehen
wollen.
So viel vorerst zum Amerika des ersten Jahrhundertviertels. Dies hätte hier in der Tat
genügen sollen, wäre nicht ein späteres Gespräch mit Hauser gewesen, in dem ich
etwas mehr über die von ihm so genannten Schätze des Archivs erfahren wollte. Ich
hatte ihn gefragt, ob diese Schätze wirklich verborgen oder ob sie einfach nur leicht
zu übersehen seien.
- Sehr oft Letzteres, antwortete er. Manche stehen sogar im SPIEGEL, aber kaum
einer merkt es.
Warte, sagte er dann, ich zeige dir etwas.
Dann zog er mich an seinen Bildschirm heran.
- Schau hier. Im SPIEGEL Nr. 46, 2016. Ein Zitat aus der chinesischen „Global
Times“.
Ich beugte mich vor und las:
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Wenn jemand wie Donald Trump Präsident werden kann, dann stimmt etwas mit der
politischen Ordnung nicht.
Diesen Satz, sagte Hauser, habe er sich damals Dutzende Male vorgelesen. Es sei der
mit Abstand klügste Kommentar zu Trumps Wahl, auf den er damals gestoßen sei.
Im Westen habe das natürlich niemand ernst genommen. Aber etwas Richtiges werde
ja nicht dadurch falsch, dass es in einer chinesischen Zeitung stehe.
Ich war zu überrascht, um zu antworten, brachte nur ein nichtssagendes „interessant“
heraus.
– Das, ergänzte Hauser, sollte immer mehr Menschen klar werden: Eine politische
Ordnung wie die der Vereinigten Staaten birgt große Gefahren.
Israel und das historische Unrecht
Warum hatte ich Hauser oft nicht auf Anhieb verstanden, wenn er über das
Staatsgrenzenproblem sprach? Vielleicht, weil ich noch nicht ahnte, dass der
Umgang mit Staatsgrenzen für ihn nur ein Beispiel für ein allgemeineres Problem
war. Hauser glaubte, dass fast alle politischen Prinzipien Notbehelfe sind, dass fast
alle ein Verfallsdatum haben, so fundamental sie vorübergehend auch erscheinen
mögen. Würden sie dennoch als fundamental anerkannt, dann seien sie schwerlich
noch mit friedlichen Mitteln zu erschüttern, egal, als wie unvollkommen,
unzeitgemäß und konfliktträchtig sie sich im Lauf der Zeit auch erwiesen hätten. So
sei es mit dem Dogma der der territorialen Integrität, das – so Hauser damals
wörtlich – sich als dunkler Schatten über unser Jahrhundert gelegt habe, und so
könne es sogar mit Grundprinzipien unserer Demokratie sein. Wäre ich Hauser in all
dem von Anfang an gefolgt, wäre unsere Verständigung leichter gewesen.
Die Welt hat zu lange so getan, als komme der Wille, Staatsgrenzen zu korrigieren,
nur von skrupellosen Staatsführungen. Er kommt natürlich auch von den Bürgern.
Das Dogma der territorialen Integrität enthält Bürgern Freiheiten vor. Es ist insofern
76
ein Dogma der Unfreiheit, und es ist daher auch ein Dogma, das den Frieden
gefährdet und Kriege und Bürgerkriege riskiert. Zumindest auf lange Sicht werden
die Bürger über ihre Staatszugehörigkeit möglichst frei entscheiden wollen, das sah
Hauser glasklar, und er glaubte, dass der Kampf um diese Freiheit zu einem
politischen Leitmotiv dieses Jahrhunderts werden würde. Würde es also bei
kommenden politischen Gewaltkonflikten vor allem um diese Freiheit gehen? War
das Zeitalter der Eroberungs-, Bestrafungs- und Präventivkriege der vergangenen
Jahrhunderte vorbei, und hatte nun eine lange Ära des Kampfes für die freie Wahl
der Staatszugehörigkeit begonnen? Das schien unausweichlich, aber noch war dies
nirgendwo als Reformziel formuliert worden.
Es hat lange gedauert, bis mir klar wurde, dass auch das Problem Israel hiermit zu
tun hatte. Ich hatte das Israel- und Palästina-Problem immer für einen Sonderfall
gehalten, und das ist es sicher auch. Nie war ich auf irgendein Dokument, einen
Kommentar oder ein Ereignis gestoßen, das mir das Gefühl gab: Hier ist das Problem
gründlich verstanden. Alle politischen Begriffe, alle Rhetorik, alle Theorie perlten
daran ab. Das Problem schien zu kompliziert zu sein, als dass politisches Denken es
erfassen, und natürlich erst recht zu kompliziert, als dass gewöhnliche Politik es
lösen könnte. Zugleich schien es, dass die Welt und die unmittelbaren
Konfliktparteien, also Israel, seine Nachbarstaaten und die
Palästinenserorganisationen, sich mit der Unlösbarkeit des Problems im Grunde
abgefunden hatten. Regelmäßig aufflackernder Terror, permanente Terrorangst, sich
wiederholende begrenzte Kriege, permanent scheiternde, weil als oberflächlich
erkannte Vermittlungsversuche anderer Staaten und sogar die Empörung der
Konfliktparteien übereinander waren fast zur Routine geworden.
Vor diesem Hintergrund verfestigten sich auch die konflikttreibenden Vorurteile.
Dazu gehörte, dass die israelische Seite unter Berufung auf ihr überlegenes
zivilisatorisches Niveau meinte, ein Terroropfer auf der eigenen Seite sei moralisch
gegen Dutzende oder Hunderte Terroropfer auf der Gegenseite aufzuwiegen. So
verharrten die Parteien in gegenseitigem sprachlosem Misstrauen, und der
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Friedenswille trat hinter die Angst zurück, in einem eventuellen Friedensprozess
könnte die Gegenseite einen unverdienten Vorteil erringen. Keine der Parteien
entwickelte eine realistische Vorstellung davon, wie eine einvernehmliche
Dauerlösung aussehen könnte. Und auf beiden Seiten galten Menschen, die auch nur
in Gedanken neuartige Friedenskompromisse erkunden wollten, als Verräter.
Was diesen Konflikt so einzigartig machte, ist aber noch etwas anderes. Es ist die
Rolle des historischen Unrechts. Beide Konfliktparteien, Israelis wie Palästinenser,
reklamierten für sich, dass ihre Militanz der Korrektur erlittenen historischen
Unrechts dient. Beide Seiten sahen sich vor der Geschichte in der Opferrolle, und
beide verlangten von der jeweils anderen, diese ihre Opferrolle anzuerkennen. Die
Israelis leiteten hieraus her, dass der gewaltsam erkämpfte Status quo allenfalls ein
moralischer Gleichstand sei, die Palästinenser, dass der Staat Israel ewig auf
moralischem Unrecht gegründet bleiben werde.
Natürlich ist das von beiden Seiten erlittene historische Unrecht unbestreitbar.
Welche Rolle konnten die daraus hergeleiteten Ansprüche aber in einer
Friedenslösung spielen? Wie waren sie zu bemessen, zu gewichten und
möglicherweise gegeneinander aufzurechnen? Auch darüber habe ich mit Hauser
einige Male gesprochen. Solange die Parteien noch Sinn darin sähen, hierum zu
kämpfen, sagte er, würden sie es tun. Zu einer friedlichen Aufrechnung könne es nur
kommen, wenn das Kämpfen für beide Seiten offenkundig aussichtlos sei.
Aber Hauser war kein Fatalist, er gab sich auch hierbei nicht ohne hoffnunggebenden
Gedanken zufrieden. Ich will ihn noch einmal direkt zu Wort kommen lassen, mit
dem Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs, das mir noch immer gut in Erinnerung ist:
– Es gibt ein Thema, sagte Hauser, um das ich sehr lange, bis vor wenigen Jahren
sogar, in meinen Gedanken einen großen Bogen gemacht habe: historisches Unrecht.
Das Thema war mir zu kompliziert.
– Zu kompliziert?, fragte ich. Sogar dir?
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– Zu kompliziert oder zu brisant oder beides. Man kann darüber nicht offen reden
oder schreiben, ohne sich Feinde zu machen. Man würde immer von irgendwem
beschuldigt, für die falsche Seite Partei zu ergreifen.
– Nicht von mir, das weißt du.
– Natürlich, sonst säßen wir hier nicht zusammen. Ich fange mal so an: Die
Menschheitsgeschichte ist eine Unrechtsgeschichte, also ist die Welt voll von
historischem Unrecht. Je weiter ihr historisches Gedächtnis zurückreicht, desto eher
fühlen Nationen, Volksgruppen, Ethnien, Glaubens-, Kultur- und
Sprachgemeinschaften sich mit historischem Unrecht belastet. Desto eher sehen sie
sich im Recht, von ihnen selbst oder ihren Vorfahren erlittenes Unrecht gegen selbst
begangenes oder noch zu begehendes Unrecht aufzurechnen. Das hat sich in der
zivilisierteren Welt etwas abgemildert, aber ganz frei davon sind auch die
Zivilisiertesten noch nicht.
– Deutschland hat viel historisches Unrecht begangen.
– Das zu seinem Glück nicht mit gleichem Unrecht vergolten wurde. Aber der Fall
Deutschland zeigt auch, wie kompliziert das Thema Wiedergutmachung ist. Die
Reparationen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt wurden, haben
das Land überfordert. Das hat neue Kriegsbereitschaft geweckt.
– Man darf mit Wiedergutmachungsforderungen nicht zu weit gehen?
– Wer den Gegner vernichtet, bekommt von ihm nichts zurück, wer ihn schwächt,
bekommt wenig. Klüger ist es, wenn man es dem Gegner einigermaßen gutgehen
lässt.
– Der sich dann aber seiner moralischen Verantwortung entziehen könnte.
– Ja, aber vollständige Wiedergutmachung kann man eben auch mit Gewalt nicht
erzwingen. Die symbolische Wiedergutmachung ist ohnehin wichtiger.
– Willy Brandts Kniefall in Warschau?
79
– Ein Lehrstück für die Geschichtsbücher. Es hat viel mehr bewirkt als Milliarden an
Wiedergutmachung.
– Ein Lehrstück auch für Israel?
– Vielleicht. Israel ist aber ein viel schwierigerer Fall. Dort kann es nur Frieden
geben, wenn der Staat Israel sich dazu bekennt, dass auch er auf historischem
Unrecht gegründet ist. Erst wenn das einmal ausgesprochen ist, vor der
Weltöffentlichkeit, glaubhaft unwiderruflich, werden Schritte zu einer Einigung
überhaupt vorstellbar. Aber ebenso müsste natürlich die andere Seite das vom
jüdischen Volk erlittene historische Unrecht anerkennen.
– Der gemeinsame Kniefall eines Palästinenserführers und eines israelischen
Präsidenten?
– Etwas in der Art.
– Ein Kniefall in Gaza für die Opfer israelischer Angriffe? Ein gemeinsamer Besuch
in Auschwitz, Hand in Hand? Ein palästinensischer Gandhi neben einem israelischen
Willi Brandt? Meinst du das?
– Ich weiß, es erscheint utopisch, aber einen anderen Weg zum Frieden gibt es nicht.
Wenn die Symbolik geschafft ist, dann wird der Frieden nicht an ein paar
Quadratkilometern strittigen Territoriums scheitern und nicht an einigen Milliarden
Dollar Wiedergutmachung. Dann wird es auch viel Hilfe Dritter geben.
– Warum sollte Israel ohne Zwang Wiedergutmachung zahlen?
– Selbst die großzügigste israelische Wiedergutmachung würde nur einen Bruchteil
dessen ausmachen, was Israel an Ausgaben für ständige Kriegsbereitschaft auf Dauer
erspart bliebe.
– Aber dass Israelis und Palästinenser sich über einen Geldbetrag einigen und dann
eine halbwegs stabile Freundschaft beginnt…
– wie zwischen Deutschland und seinen Nachbarn zum Beispiel,
80
– …das glaubst du doch selbst nicht.
– Ja, hier ist eben alles noch viel komplizierter. Wirklich zur Besinnung werden
beide Seiten erst kommen, wenn beide wissen, dass sie einander vernichten könnten.
– Ein Gleichgewicht des Schreckens?
– Wenn du so willst. Dann erst tritt die Frage in den Hintergrund, ob die andere Seite
unverdiente Vorteile erlangt. Dann geht es um Lösungen, die allen Beteiligten
nützen. Und dann könnte sogar die Suche nach allgemeinen Regeln beginnen, aus
denen sich solche Lösungen ergeben.
– Regeln für den Umgang mit historischem Unrecht?
– Ja. Eine Aufgabe für die Staatengemeinschaft. Wenn die Staatengemeinschaft
irgendwann das Dogma der territorialen Integrität aufgibt, dann ist sie so weit, auch
Regeln für den Umgang mit historischem Unrecht zu entwickeln.
– Berechnungsformeln für Entschädigungen?
– Orientierungshilfen dafür, unter anderem. Man wird z.B. feststellen, dass jüngeres
historisches Unrecht schwerer wiegt als älteres, an lebenden Generationen
begangenes schwerer als an früheren Generationen begangenes.
– Keine leichte Aufgabe für die Staatengemeinschaft.
– Natürlich nicht. Deswegen wird sie auch nicht so bald gelöst werden. Nicht in
deinem Jahrhundert.
Mir stockte kurz der Atem. „Nicht in deinem Jahrhundert“, das kam so beiläufig und
doch so endgültig und abweisend heraus. Das 21. Jahrhundert kurz abgefertigt als
hoffnungsloser Fall, und ich als Teil davon. Ich schaffte es danach nicht, das
Gespräch wieder in Gang zu bringen. Wir tauschten noch ein paar holprige Sätze aus,
bis er mich an der Tür verabschiedete.
– Hat gutgetan, mit dir zu reden, sagte er noch, und dann zuallerletzt: Die
kompliziertesten Probleme werden immer als letzte gelöst. Bevor Israelis und
81
Palästinenser sich verständigen, muss erst einmal eine neue Ordnung in die arabische
Welt kommen.
Womit er natürlich u.a. meinte, dass die arabische Welt vom Dogma der territorialen
Integrität befreit sein müsste.
Nach diesem Gespräch habe ich den Israel-Konflikt umso aufmerksamer verfolgt.
Um zur Besinnung zu kommen, hatte Hauser gesagt, müssten beide Seiten überzeugt
sein, dass die jeweils andere Seite sie vernichten könnte. Das hieß: Vor der
Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung muss die Fähigkeit zur gegenseitigen
Vernichtung kommen.
Ich wusste damals nicht, ob ich darauf hoffen oder es fürchten sollte.
Zumindest dies wurde mir danach über schlagartig klar: Die jüngsten Bürgerkriege in
der arabischen Welt hatten ein kaum entwirrbares Knäuel neuen historischen
Unrechts geschaffen und damit neuen Hass geschürt, der auch kommende
Generationen prägen würde. Auch dieser Hass würde sich ohne neue Regeln für den
Umgang mit historischem Unrecht in immer neuen Gewaltexzessen entladen.
China und Indien
Natürlich war spätestens im ausgehenden 20. Jahrhundert die kommende Dominanz
Chinas in der Welt absehbar, aber vorbereitet hat sich die Welt darauf nicht. Für den
Westen war China auch im ersten Viertel unseres Jahrhunderts fast noch ein
Kuriosum. Ein kommunistischer Staat, beherrscht von einer kommunistischen Partei,
mit einer höchst erfolgreichen kapitalistischen Wirtschaft, das erschien wie ein
Widerspruch in sich. Fast alle kommunistischen Staaten dieser Welt waren vor dem
Ende des 20. Jahrhunderts wirtschaftlich kollabiert, und übrig blieben ein bitter
armes Nordkorea, ein verarmtes Kuba und ein boomendes China, dessen
Wirtschaftsleistung schon die der USA überholt hatte.
Noch in meinen ersten Jahren als Archivar verfolgte ich das Geschehen in China nur
beiläufig in den Medien. Ich malte mir die weitere Entwicklung etwa so aus: Chinas
82
Wirtschaft war vom Joch der staatlichen Lenkung großenteils befreit, der Wohlstand
war rasch gewachsen, aber nun leide das Volk immer mehr unter dem Joch der
politischen Bevormundung. Also sei nach dem wirtschaftlichen bald auch der
politische Systemwechsel fällig, der Wechsel zur Demokratie nach westlichem
Muster. Je schneller die Wirtschaft wachse, desto eher.
Bis ich auch darüber mit Hauser sprach.
Meine Ungeduld verstehe er, erklärte Hauser, aber es sei komplizierter, als ich
meinte, und auch langwieriger.
Manchmal gehe es aber doch sehr schnell, erwiderte ich, so überraschend schnell wie
der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Demokratisierung in Osteuropa. Aber
Hauser sah es natürlich ganz anders. Ob unsere Art von Demokratie für dieses China
überhaupt ein Segen wäre, sagte er – und dabei sah er mich an wie ein von seinem
Schüler enttäuschter Lehrer – daran habe er seine Zweifel. Ich wisse doch, in wie
vielen Ländern die Demokratisierung in einer Tragödie geendet habe, zumindest im
ersten Versuch: Ägypten, der Irak, Libyen, die Ukraine und so weiter, Deutschland
nach dem Ersten Weltkrieg nicht zu vergessen, und in Russland sei ja eine Art von
Demokratie entstanden, die dem Einparteiensystem Chinas in vielem ähnlicher sei
als westlichen Demokratien.
Dann ließ er einen langen Monolog folgen. Auch China sei ein Staat, dessen Grenzen
nicht für die Ewigkeit gemacht seien, schon weil sie im Lauf der Geschichte
willkürlich und selbstherrlich gezogen wurden. Mehr als 100 Millionen Bürger des
heutigen China gehörten Minderheiten an, die sich ihrem Staat nicht spontan
verbunden fühlten, Uiguren, Tibeter und andere. Und auch die ethnischen Chinesen
sprächen verschiedene Sprachen, auch wenn sie eine gemeinsame Schriftsprache
hätten, und keiner wisse, wie loyal diese Sprachgemeinschaften einem chinesischen
Zentralstaat gegenüber auf Dauer bleiben würden. Auch für China werde daher das
Dogma der territorialen Integrität nicht ewig zu halten sein. Je überstürzter eine
Demokratisierung komme, desto wahrscheinlicher sei es, dass das Land an seinen
83
Rändern ungeordnet zerfalle. Auch auf dem Territorium Chinas könnten also
irgendwann weitere Episoden des Dritten Weltkriegs ausgetragen werden. Ob China
in seinen heutigen Grenzen als demokratischer Staat westlicher Prägung auf Dauer
friedlich regiert werden könne, sei mehr als ungewiss. Eine westlich geprägte
Demokratie sei für dieses China womöglich eine noch schlechtere Staatsform als die
kommunistische Einparteienherrschaft.
Ich wandte natürlich sofort ein, dass es für Einparteiensysteme fast nur noch
abschreckende Beispiele gebe. Es gebe aber auch abschreckende Beispiele für
demokratische Mehrparteiensysteme, erwiderte Hauser, darüber seien wir uns ja
einig. Außerdem sei der Unterschied zwischen einem Einparteiensystem und einem
Mehrparteiensystem viel geringer als allgemein angenommen. In demokratischen
Staaten seien die Unterschiede zwischen den halbwegs seriösen Parteien ja immer
geringer geworden, diese Parteien seien daher im Grunde nur Varianten einer
Einheitspartei.
Ob er nicht doch etwas übertreibe, fragte ich.
– Vielleicht, sagte er. Aber was etwas übertrieben ist, ist deswegen ja nicht falsch.
– Ist nicht Indien ein Gegenbeispiel?, fuhr ich fort. Müsste nicht, wenn er mit China
Recht habe, Indien schon längt auseinandergefallen sein?
Die Geschichte Indiens, antwortete er, sei doch alles andere als eine
Erfolgsgeschichte der Demokratie. Als Demokratie sei Indien im Grunde nie gut
regiert worden, was einer der Gründe dafür sei, dass es wirtschaftlich so weit hinter
China zurückbleibe. Außerdem habe Indien seit dem Zweiten Weltkrieg vier Kriege
um den Verlauf von Staatsgrenzen geführt, drei Kriege mit Pakistan und einen Krieg
mit China, und es habe mehrere separatistische Bewegungen in verschiedenen Teilen
des Landes niedergeschlagen. Auch all dies seien Vorläufer des schleichenden
Dritten Weltkriegs gewesen, und dieser werde sich auch in Indien noch fortsetzen,
auch wenn er dort hoffentlich weniger gewalttätig ausgetragen würde als in anderen
Teilen der Welt.
84
Dann gab er mir noch einen kurzen Nachhilfeunterricht zur politischen Situation
Indiens. Indiens Bevölkerung sei ethnisch, sprachlich und konfessionell etwa so
heterogen wie die des gesamten europäischen Kontinents. Dass dieses Indien
zentralistisch regiert werde, sei nicht das Resultat eines spontanen Willens aller
Inder. Die Autorität der indischen Zentralregierung werde daher auf Dauer ähnlich
fragil sein, wie es bei einer vom Atlantik bis zum Ural zuständigen europäischen
Zentralregierung der Fall wäre. Spätestens wenn die Bürger des heutigen Indiens die
letzten Reste politischer Untertanenmentalität abgeschüttelt hätten, würden sie sich
ernsthaft fragen, wer von ihnen mit wem weiterhin in einem gemeinsamen Staat
leben wolle. Dann aber gehe die Geschichte Indiens in seinen heutigen Grenzen
ihrem Ende entgegen.
Wann das sein werde, fragte ich. In diesem Jahrhundert, im nächsten, im
übernächsten?
Das, erwiderte er, komme darauf an, wie lange die Bürger dieser Welt sich in ihren
Freiheitsansprüchen noch von alten Dogmen einschüchtern lassen. Dazu wage er
keine Prognose.
Ob er denn über die Zukunft Chinas schon einmal mit Chinesen und über die
Zukunft Indiens mit Indern gesprochen habe, fragte ich.
– Hast du schon einmal mit Deutschen über die Zukunft Deutschlands gesprochen?
Auch das typisch Hauser: Eine Frage mit einer erhellenden Gegenfrage zu
beantworten. Wie weit in die politische Zukunft denn Deutsche dächten, hätte er
auch fragen können, oder: Wie weit denken Deutsche über die nächste Wahlperiode
hinaus? Fragen, auf die die Antwort sich erübrigt. Aber meine Frage muss ihn doch
auch nachdenklich gemacht haben. Kurz danach erzählte er mir, dass sich einige
Monate vorher eine Chinesin bei ihm als Praktikantin beworben hatte. Vielleicht
hätte er sie einstellen sollen, sagte er, vielleicht habe er da einen Fehler gemacht.
Dabei sah er weit über meinen Kopf hinweg, als sei ihm gerade eine Erkenntnis
85
gekommen, die mich nichts angehe. Aber dann, seinen Blick nun fest auf mich
gerichtet: Pass auf, dass du nicht irgendwann solche Fehler machst.
Vielleicht wäre ich mit Tian, meinem späteren chinesischen Kollegen und Freund,
nicht zusammengekommen, wenn diese Bemerkung Hausers nicht gewesen wäre.
Und Europa?
Hauser lebte allein. Manchmal fragte ich mich, ob auch das ein Grund für seine
abgründige politische Skepsis sein könnte. War er am Ende nur ein grantelnder
politischer Kauz, der sich von der Welt alleingelassen fühlte und die Welt dafür mit
Geringschätzung bestrafte? Und mit wem außer mir teilte er überhaupt seine
politischen Gedanken? Und könnte es mir später womöglich ähnlich gehen? Mit
wem würde ich die Gedanken teilen können, die Hauser mir nahebrachte? Mit
Constanze zumindest, darauf hoffte ich schon damals.
Hauser ließ die Welt des frühen 21. Jahrhunderts gern wie ein einziges Krisengebiet
erschienen. Aber war nicht – neben Amerika – wenigstens Westeuropa eine
Ausnahme? Ja, auch hier hatte es Krisen gegeben, zuerst eine ernste
Wirtschaftskrise, die in einigen europäischen Ländern noch immer schwelte, dann
den bedrohlichen Aufstieg populistischer Parteien und ihrer Anführer, dann –
spätestens mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU – den Ansehensverlust des
Projekts geeintes Europa. Aber war die wirtschaftliche Entwicklung nicht inzwischen
auch in Südeuropa auf einem einigermaßen stabilen Pfad eingeschwenkt? Und war
die Entzauberung der Populisten mit ihren leeren Versprechungen in den meisten
Ländern Europas nicht schon absehbar? Und würde nicht schon deswegen die
Europäische Union wieder auf einen stabileren Entwicklungspfad einschwenken,
vielleicht einen stabileren denn je? Und wird das Projekt Europa sich nicht umso
besser entwickeln, als ihm die Bürde der idealistischen Überhöhung genommen ist?
Waren insofern die jüngsten europäischen Krisen nicht Nebensächlichkeiten,
untergeordnete Randerscheinungen des Weltgeschehens und in der
Geschichtsschreibung Europas allenfalls ein Fußnote wert? Würde nicht zumindest
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die jüngste Geschichte Westuropas davon überstrahlt bleiben, dass letztlich überall
Demokratie und Frieden eingekehrt waren und ein einigermaßen stabiler Wohlstand
erreicht war? Und davon, dass die Europäische Union so weit nach Osteuropa
hineingewachsen war und weiter wachsen würde?
Ja, meinte Hauser, mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei die Gegenwart
natürlich nicht zu vergleichen, aber die Frage sei eben, ob dieser Fortschritt
ausreiche. Für das Dreivierteljahrhundert nach dem Zeiten Weltkrieg reiche er wohl,
auch wenn die Politik in dieser Zeit viel Unheil angerichtet oder tatenlos
hingenommen habe. Noch lebten wir in einer Zeit, in der die meisten Bürger Europas
sich mit dem, was Politik leiste, letztlich doch zufrieden gäben. Er hoffe aber, dass
das nicht so bleiben werde.
Ich fragte ihn, ob man solche Unzufriedenheit wirklich erhoffen oder nicht eher
befürchten sollte. Viele an meiner Stelle hätten ihm sicher diese Frage gestellt, und
von vielen hätte Hauser solche Frage sicher erwartet. Nicht von mir. Er sah mich mit
einer Miene an, in der sich Enttäuschung und Streitlust mischten.
Dann legte er los, in einem Tonfall, in dem ich ihn nie gehört hatte. Ob mir denn
nichts wirklich nahegehe, nicht der fast globale offene und latente Terror, nicht die
großen Flüchtlingsdramen dieser Welt, nicht die unzivilisierten Parallel- und die
noch unzivilisierteren Gegengesellschaften in halbwegs zivilisierten Staaten, nicht
die durch Massenimmigration gesteigerten wirtschaftlichen, politischen und
kulturellen Spannungen, nicht der – natürlich auch damit zusammenhängende –
Niedergang der politischen Kultur, wie er ihn lange Zeit kaum mehr für möglich
gehalten habe.
Aber dann, in Sekundenschnelle, war er wieder der souveräne, kontrollierte Hauser.
Gefasst und ruhig sprach er davon, dass es ja in Europa Länder gebe, Griechenland
und Italien zähle er dazu, die in den letzten hundert Jahren fast nie ordentlich regiert
worden seien. Und dass die Bürger sich dies so lange hätten gefallen lassen, weil sich
keine serösen Alternativen anboten. Immerhin seien ja aber in vielen europäischen
87
Staaten politische Parteiensysteme zusammengebrochen, auch in Deutschland
scheine es ja so weit zu sein. In ihrer Ratlosigkeit hätten die Bürger sich zunehmend
getraut, Macht auch populistischen Anlernlingen zu übertragen, die außer
rhetorischem Talent kaum etwas zu bieten hätten. Berlusconi sei der erste Gipfel
dieses Desasters gewesen, und dann hätten es immer mehr ahnungslose Populisten in
hohe Staatsämter geschafft. Das eigentliche politische Wunder unserer Zeit sei für
ihn, mit welcher die Gelassenheit auch politisch scheinbar gebildete Bürger diesen
Niedergang hinnähmen. Einen Hoffnungsschimmer sehe er allein darin, dass das
Nichtwählen noch weiter zunehme, auch in Deutschland, und dass es sich von dem
Unterschichtenphänomen, das es lange gewesen war, zum Ausdruck seriöser
politischer Geisteshaltung entwickele.
Ich brachte kein Wort des Widerspruchs heraus, wie er es wohl erwartet hatte, und er
legte noch einmal nach:
- Die Populisten werden sich natürlich nach und nach selbst entzaubern. Dieser Spuk
wird irgendwann vorbei sein. Aber glaube nicht, dass danach wieder alles werden
wird, wie es war. Die Anderen, die Nichtpopulisten, waren ja schon vorher
entzaubert. Und sie werden es bleiben.
Dabei nickte er mit dem Kopf, als wolle er mir eine Antwort ersparen.
Woher, dachte ich wieder einmal, nahm er die Gewissheit, mit der er solche Thesen
vertrat? Und aus welcher politischen Grundhaltung leitete er sie her? Dieses eine und
einzige Mal wagte ich ihn zu fragen, welcher politischen Richtung er denn früher
einmal angehört habe.
– Meinst du etwa, rechts oder links?
Dabei winkte er mit einer wegwerfenden Geste ab. So etwas, sagte er dann, sei ihm
zum Glück erspart geblieben. Sonst wäre er auch als Archivar am falschen Platz.
Aber ganz könne man sich nie davor schützen, sagte er dann, irgendeiner politischen
Richtung zugerechnet zu werden. Zum Beispiel in der Zuwanderungsfrage. Die
denkbar dümmste Antwort, da sei er ganz sicher, auf das demographische Desaster
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großer Wohlstandsnationen sei es, die Geburtenlücke hauptsächlich durch
Zuwanderung schließen zu wollen. Mit dieser Meinung stehe er aber weder rechts
noch links, er stehe nur für langfristiges Denken, längerfristiges zumindest, als so
genannte Rechte oder Linke es zeigten.
Dann erklärte mir im Kontext Europa noch einmal das Problem der Staatsgrenzen,
wie er es vorher zu anderen Weltregionen erklärt hatte: dass auch die EU-Staaten
sich starre Staatsgrenzen verordnet hätten und dass sogar die EU sich im Grunde als
Staatswesen mit unrevidierbaren Grenzen habe verstehen wollen. Die EU habe
insofern ihre eigene Entwicklung als Einbahnstraße angelegt, nicht ahnend, dass
diese Einbahnstraße eine Sackgasse ist. Dies zeuge, wie schon der Austritt
Großbritanniens gezeigt habe, von einem denkbar schwachen Vorstellungsvermögen
für den Wandel politischer Bedürfnisse. So etwas sei noch nie und nirgendwo sehr
lange gutgegangen und werde auch in Zukunft nirgendwo lange gutgehen.
Aber die EU, wandte ich ein, sei doch eine Union demokratischer Staaten und damit
ganz und gar auf demokratischen Prinzipien gegründet. Er meine doch sicher nicht,
dass es mit der Demokratie nicht lange gutgehen werde.
Das wisse er nicht, erwiderte er, aber auch das Beispiel EU zeige doch, wie wenig
Orientierung das Demokratieprinzip für sich genommen biete. Die EU könne einmal
das historische Projekt werden, das die Augen für die begrenzten Möglichkeiten der
Demokratie öffne.
Mir schwirrte der Kopf. Hauser sah, dass ich keine Antwort herausbrachte, und fuhr
unbeirrt fort:
– Du hast ja Recht, über solche Dinge muss sich noch kein Bürger Gedanken machen
und auch kein Politiker, der in Zeiträumen von ein paar Amts- oder Mandatsperioden
denkt. Übrigens auch kein Journalist, der über das schreiben will, was momentan
seine Leser bewegt. Wer interessiert sich heute schon für die Probleme der zweiten
Jahrhunderthälfte?
Auch darauf brachte ich natürlich keine Antwort heraus.
89
– Und Schottland?, fuhr Hauser fort. Was sagst du eigentlich zu Schottland?
– Ja, sagte ich, die Schotten geben keine Ruhe mit ihrer Unabhängigkeit, die
Schotten sind ein Problem.
Hausers Miene verzog sich. Dann, mit einer für ihn ganz ungewohnten Heftigkeit:
– Das Problem sind doch nicht die Schotten.
Er schloss kurz die Augen, als hielte er meine Ignoranz nicht aus, dann sah er mich
an wie in Erwartung einer Entschuldigung, und dann, wieder gewohnt souverän und
gelassen:
– Oder meinst du, die Schotten dürften nicht unabhängig sein wollen?
Dann hielt er einen kurzen Monolog über die Bedeutung des schottischen
Unabhängigkeitsreferendums von 2014. Dieses Referendum sei zwar zu früh
gekommen, um erfolgreich zu sein, trotzdem sei es der Beginn einer Zeitenwende
gewesen. Aber wie es mit beginnenden Zeitenwenden so sei: kaum jemand bemerke
sie, weil nur wenige sie bemerken wollten. Der Groschen falle dann erst Jahre,
Jahrzehnte oder sogar Generationen später.
Ob er sich damals denn wirklich ein unabhängiges Schottland gewünscht habe, fragte
ich.
Er sei kein Schotte, sagte er, ihm persönlich sei es egal, aber er habe den Schotten
Umstände gewünscht, unter denen sie sich einen mehrheitlichen Wunsch nach
Unabhängigkeit ganz ohne Ängste, ohne Missgunst und ohne organisierte
Widerstände hätten erfüllen können.
Das lag mir damals noch zu fern, um es sofort zu verstehen. Die Welt war anderswo
zu sehr aus den Fugen geraten und die Angst vor fundamentalistischem,
nationalistischem und separatistischem Terror in diesen Jahren zu gegenwärtig, als
dass ich dem friedlichen schottischen Unabhängigkeitsstreben große politische
Bedeutung hätte zuerkennen mögen. Erst als ich später Hausers Gedanken zur
schottischen Unabhängigkeit noch einmal in seinen Aufzeichnungen nachlas, kam
90
mir dieses Gespräch wieder in den Sinn. Vielleicht ist es gut so. Hauser hätte mir die
schottische Frage damals kaum so überzeugend erklären können wie im folgenden
Abschnitt seiner Aufzeichnungen, auch wenn dieser nur aus Stichwortnotizen
besteht.
Wahlbeteiligung
Beim Referendum weit über 80 Prozent, so hoch wie lange nicht mehr bei demokratischen
Wahlen. Das zeigt: Von der Frage, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben will,
fühlen die Bürger sich stärker berührt als von allen anderen Wahlentscheidungen. Ist
demnach die Freiheit, in dieser Frage direkt entscheiden zu können, nicht die elementarste
aller politischen Freiheiten? Worüber, wenn nicht darüber, sollen Volksentscheide
abgehalten werden?
Eine wirklich reife Demokratie werden wir also erst haben, wenn Referenden über die
politische Unabhängigkeit eine Selbstverständlichkeit sind. Das schottische Referendum war
immerhin ein kleiner Schritt dahin.
Vorgeschichte
Die Schotten brauchten für ihr Referendum die Zustimmung der britischen Zentralregierung.
Diese gab die Zustimmung nur mit einer Hinterlist. Die Referendumsfrage durfte nur eine
einfache Ja/Nein-Frage sein: Soll Schottland ein unabhängiges Land sein, ja oder nein. Eine
unzumutbare Vereinfachung. Danach konnte London einigermaßen sicher sein, dass dieses
Referendum scheitern würde.
Wahlkampf
Natürlich wurde im Wahlkampf getäuscht und getrickst, verharmlost und dramatisiert,
aufgebauscht und heruntergespielt, wie man es bei Wahlen gewohnt ist. Die
Unabhängigkeitsgegner waren dabei im Vorteil. Sie konnten Ängste vor vermeintlich
unkalkulierbaren Risiken schüren, vor einer Aussperrung Schottlands aus der EU und aus
dem Währungsgebiet des britischen Pfundes und des Euro, vor einem Exodus internationaler
Großunternehmen, vor militärischer Schutzlosigkeit, vor verfallenden Rentenansprüchen an
die britische Rentenversicherung und generell vor Verarmung. Solche nebulösen Ängste
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dürften die Wahl entschieden haben. Dazu kam das Last-minute-Angebot der britischen
Regierung, Schottland künftig etwas mehr politische Eigenständigkeit einzuräumen.
Das andere Szenario
Die Schotten haben der britischen Regierung die Zustimmung zum Referendum mühsam
abgerungen. Es hätte auch anders kommen können. Eine selbstsicherere Zentralregierung
hätte die Zustimmung vermutlich verweigert. Dann hätten die Schotten womöglich ein
illegales Referendum abgehalten, das eine Mehrheit für die Unabhängigkeit ergeben hätte.
Aber was wäre geschehen, wenn Schottland sich danach für unabhängig erklärt hätte?
Wirtschaftssanktionen? Militärisches Eingreifen? Oder doch die Duldung der illegalen
Abspaltung? Alles natürlich – nach herrschendem Politikverständnis – unvorstellbar. Es
wäre also, so oder so, etwas zuvor Unvorstellbares passiert. Ein Gewinn für die politische
Vorstellungskraft allemal.
Schlussfolgerungen
Die Frage der schottischen Unabhängigkeit ist natürlich nicht für immer vom Tisch. Das
Referendum war insofern eine ermutigende Niederlage. Dass die britische Zentralregierung
dieses Referendum zugelassen hat, könnte also weitreichende, sogar unabsehbare politische
Folgen haben, nicht nur für Großbritannien.
Natürlich werden Staaten und Staatenbündnisse, auch Organisationen wie die UNO und die
EU, davon erst einmal nichts wissen wollen. Und natürlich wurden selbst die
naheliegendsten Schlussfolgerungen unter den Teppich gekehrt. Zum Beispiel: Warum wollte
die ukrainische Regierung den Bewohnern der Krim und des Donbass verweigern, was die
britische Regierung den Schotten zugestanden hat? Warum also durfte es kein legales
Unabhängigkeitsreferenden auf der Krim und im Donbass geben? Warum hat die
ukrainische Regierung stattdessen Krieg im eigenen Land geführt? Warum haben die
Staaten des Westens, warum hat auch Großbritannien sie darin noch großsprecherisch
bestärkt? Warum haben sie Russland dafür bestrafen wollen, dass es solche Referenden
unterstützt hat? Hoffnungslose Verstrickungen in Widersprüche.
Wie geht es weiter?
Das schottische Referendum war ein politischer Tabubruch. Die Katalanen wollten ihnen
darin folgen, auch sie wollten ein legales Referendum über die Unabhängigkeit, aber der
92
spanische Staat hat es ihnen verwehrt. Dies aber hat das katalanische
Unabhängigkeitsstreben eher gestärkt als geschwächt.
Auch im Scheitern könnte das schottische Referendum also geholfen haben, das
Selbstbestimmungsrecht der Bürger über ihre Staatszugehörigkeit zu stärken. Irgendwann
sollte das Prinzip gelten: Grenzen sind zu verändern, wenn die Bürger es so wollen.
Irgendwann muss dafür aber ein wegweisendes Beispiel gegeben werden. Wo, wenn nicht in
Europa, sollte dies passieren?
So weit Hausers Kommentare zum schottischen Unabhängigkeitsreferendum. In das
gebundene Exemplar seiner Aufzeichnungen hatte er hierzu noch eine Ergänzung
eingeheftet:
Was kann alles geschehen, wenn Separatismus nicht mehr geächtet ist? Ist dieser Gedanke
irgendwo zu Ende gedacht worden? Wenn die Bürger einer Minderheitsregion wie
Schottland sich für unabhängig erklären dürfen, dann muss dies natürlich auch für
Mehrheitsregionen gelten, beispielsweise für England. Dann könnte z.B. England seinen
Austritt aus dem vereinigten Königreich erklären, was nichts anderes als der Hinauswurf
von Schottland, Wales und Nordirland wäre. So etwas würde vielleicht nie geschehen, aber
dürfte die Staatengemeinschaft es ausschließen? Wenn sie es mit der Freiheit und dem
Selbstbestimmungsrecht ganz und gar ernst meinte, dürfte sie es nicht.
Mir wurde schummrig bei dem Gedanken, was Europa und der Welt an politischer
Bewusstseinsentwicklung noch bevorstand. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in
der islamistischer und sonstiger Terror das politische Denken so sehr ablenkte – und
in der Europa diesen Terror noch immer nicht als Begleiterscheinung des
schleichenden Dritten Weltkriegs verstehen wollte.
Erstaunlich kurz war dann Hausers spätere Notiz zum britischen Referendum über
den Verbleib in der EU im Jahr 2016. Nicht die knappe Mehrheit für den Austritt aus
der EU sei dabei das wichtige Ereignis gewesen, sondern dass es das Referendum
überhaupt gegeben habe. Auch dafür, meinte er, dürfte nicht zuletzt das schottische
Unabhängigkeitsreferendum den Weg bereitet haben. Wenn man dies weiterdenke,
93
dann sehe man die Welt schon auf eine lange Epoche derartiger Referenden
zusteuern.
Aber hier soll natürlich nicht der Eindruck entstehen, als wäre dies im Europa des
ersten Jahrhundertquartals womöglich das wichtigste politische Thema gewesen.
Spätestens in der zweiten Hälfte dieses Quartals wurde erst einmal ein anderes
Problem für Europa weitaus brisanter, nämlich die Migrationsströme. Auf den ersten
Blick mag dies ein völlig andersartiges Problem sein als
Unabhängigkeitsbestrebungen und Separatismus, aber dieser Eindruck täuscht. Auch
Migrationsströme werfen, wenn sie ein kritisches Maß überschreiten, in den
aufnehmenden Ländern die Frage auf, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat
leben will. Auch diese Frage lässt sich dann am ehesten noch mit Referenden
friedenswahrend lösen.
Aber von solchen Überlegungen war der Umgang europäischer Staaten mit dem
Migrationsproblem natürlich weit entfernt. Er war stattdessen gefangen in Dogmen,
europäischen Normen, Verfassungsnormen und Moralvorstellungen aus Zeiten, in
denen ein politisch so brisanter Migrationsdruck das Vorstellungsvermögen von
Bürgern und Politikern noch weit überstieg. Die Migration wurde so zu einem
weiteren schwelenden Jahrhundertproblem.
Ich will dazu nur noch einen der damals fast beiläufig vorgetragenen Gedanken
Hausers nachtragen, der sich mir dennoch sofort einprägte. Ein mögliches politisches
Verdienst von Populisten, sagte Hauser, liege darin, dass sie das Eis brächen für die
Abkehr von einem überholten politischen Dogma. Ein populistisches
Machtintermezzo könne insofern auch positive Nebenwirkungen haben, wenn es
denn früh genug beendet würde.
Auch daran hätte ich Hausers tiefen Pessimismus ermessen können, was die
Erneuerungsfähigkeit westlicher Demokratien angeht.
94
Noch einmal Wirtschaft
Herzlich war das Verhältnis zwischen Hauser und Constanze nicht, das merkte ich
sofort. Respekt hatten sie voreinander, auch das war klar, aber wenn sie einander im
Archiv begegneten, tauschten sie nichtssagende Blicke aus, als hüteten beide sich,
wahre Gefühle füreinander preiszugeben. Constanze, Ökonomin, junge ExUnternehmensberaterin mit dem – auch im Archiv kaum zu verbergenden –
dominanten weiblichen Naturell, das war auch für einen wie Hauser nicht einfach.
Auch er musste sich mühen, von ihr nicht eingeschüchtert zu sein.
Hauser kam aus einer Lehrerfamilie und war gelernter Philosoph, seine späte
Dissertation hatte er über „Spuren der Geschichte des utopischen Denkens im
politischen Diskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ geschrieben. Constanzes
Eltern betrieben eine Gaststätte, in der sie bis zum Ende Ihres Studiums immer
wieder als Kellnerin gearbeitet hatte. Schon deswegen hätte man meinen können,
hier würden zwei einander eher fremde Mentalitäten aufeinanderstoßen. Aber
Constanze kehrte fast nie ihr Wirtschaftswissen hervor und Hauser nie seinen
philosophischen Hintergrund. Er sei vielleicht der letzte Philosoph, sagte er einmal,
der in einem Archiv wie unserem arbeite, und selbst er würde wohl keinen gelernten
Philosophen mehr einstellen. Womit er wohl auch meinte, dass eine Ökonomin für
das Archiv im Zweifel wertvoller sei. Auch das ein Grund, warum sie jahrelang doch
so gut zusammengearbeitet hatten.
Warum es nicht immer so blieb, weiß ich bis heute nicht genau, aber ich weiß, dass
nicht alle es mit Hauser so leicht hatten wie ich. Hauser war kein Dogmatiker, aber
so umgänglich er ansonsten war, so kompromisslos war er in Sachen Berufsethos.
Archivare, meinte Hauser, müssten vollständig neutral sein, in der Archivarbeit dürfe
man sich von keinen Neigungen und Abneigungen und keinen Schuld- und
Verdienstzuschreiben auch nur im Geringsten beeinflussen lassen, sonst würde das
Archiv, auch ohne dass die Beteiligten es wollten oder merkten, tendenziös,
zumindest in Nuancen, und nicht einmal das sei tolerabel. Archivar sollte eigentlich
95
nur sein, wer noch in keinem Konflikt eine Partei für alleinschuldig befunden und
wer noch nie eine politische Partei gewählt habe. Er wusste, wie schwer selbst ihm
diese Neutralität manchmal fiel, aber umso strenger war er hierin mit sich selbst und
mit anderen.
Hauser hatte vielleicht erwartet, dass Constanze als Ökonomin seinem
Neutralitätsideal am ehesten entsprechen würde. Constanze kam dem so nahe wie
andere Archivare auch, aber nicht viel näher. Für Hauser war das eine Enttäuschung.
In vielem dachten Hauser und Constanze trotzdem ähnlich, sie dachten sogar, was
ich in meiner Anfangszeit im Archiv noch nicht ahnte, auf ähnlichem Niveau.
Hauser glaubte nicht, dass sich in unserem Jahrhundert noch viel ereignen werde, zu
dem der Schlüssel nicht in dessen erstem Quartal liege oder noch weiter in der
Vergangenheit. Als Ökonomin sah Constanze es ganz ähnlich. Nach der ersten
großen Weltwirtschaftskrise, erklärte sie mir, habe fast ein halbes Jahrhundert lang
die Überzeugung überwogen, dass die Wirtschaftsentwicklung vom Staat gelenkt
werden müsse, danach fast ein halbes Jahrhundert lang der Glaube an die
Selbstregulierung der Märkte. Dieser Streit habe irgendwann einmal geklärt werden
müssen, und das sei nach der kleinen Weltwirtschaftskrise zu Beginn unseres
Jahrhunderts wohl endlich der Fall. Heute weiß ich, dass es ganz so einfach nicht
war, aber ich weiß auch, dass Constanze damit in wenigen Worten das Wesentliche
getroffen hat. Deswegen versuche ich meinem Laiengedächtnis an dieser Stelle
abzuringen, was sie mir zu den Wirtschaftsproblemen des ersten Jahrhundertviertels
erläutert hat:
Die kleine Weltwirtschaftskrise der ersten Dekade habe als Bankenkrise begonnen,
dann seien ihr in Europa Staatsverschuldungskrisen gefolgt und schließlich in großen
Teilen Europas langwierige wirtschaftliche Strukturkrisen mit hoher Arbeitslosigkeit.
Zehn Jahre später hätten diese Krisen im Großen und Ganzen als ausgestanden
gegolten, aber das sei ein Irrtum gewesen. Das sei nur so erschienen, weil
Notenbanken und Regierungen alle Register der Symptomverschleierung gezogen
hätten.
96
Das Grundproblem sei eigentlich simpel. Die Vermögenden dieser Welt, Personen,
Institutionen, Unternehmen und einige Staaten, hatten mehr Geldvermögen gebildet,
als gewinnbringend angelegt werden konnte. Dies habe es in der Geschichte schon
mehrfach gegeben, und die natürlichste Bereinigung solcher Krise sei ein Crash, in
dem Geldvermögen vernichtet wird. Das sei ganz einfach zu erklären. Geldvermögen
seien nichts anderes als Forderungen an Schuldner, und wenn Schuldner in einem
Crash zahlungsunfähig würden, dann gehe überschüssiges Geldvermögen unter. Die
Zahlungsunfähigkeit von Schuldnern sei daher nicht etwa das Problem, dass es in der
Krise zu vermeiden gelte, sondern es sei die Lösung. Zumindest sei es ein wichtiger
Teil der Lösung.
Überschüssiges Geldvermögen könne aber nicht nur in einem Crash vernichtet, es
könne auch durch Inflation entwertet werden, die Wirkung sei letztlich die gleiche.
Auch Inflation sei daher nicht das, was man in einer solchen Krise fürchten müsse,
auch Inflation könne ein wichtiger Teil der Lösung sein. In einer solchen Krise führe
daher alles Gerede von Inflationsgefahren in die Irre. Es sollte vielmehr von
Inflationshoffnungen die Rede sein.
Warum war das aber nicht der Fall? Constanzes dazu: Wie man für das richtige Maß
an Inflation sorge, das habe man damals nicht gewusst, was wiederum mit dem
Festhalten an alten Dogmen zu erklären sei. Auch Ökonomen seien eben nicht gegen
Ideologien und Vorurteile gefeit.
Hier lag eine wichtige Gemeinsamkeit mit Hauser. Ähnlich wie Hauser die Politik
blind an Dogmen wie der territorialen Integrität festhalten sah, sah Constanze
Ökonomen, Finanzpolitiker und Zentralbanken in Dogmen der Crash– und
Inflationsvermeidung verstrickt. Nach Hauser kann die Verstrickung in solche
überholten Dogmen über Generationen oder Jahrhunderte andauern. Constanze war
weniger pessimistisch. Ökonomen, meinte sie, seien eher pragmatisch, die
Überwindung alter Dogmen schafften sie in einer Generation. Damals hielt ich das
für glaubhaft.
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Ich will mich hier nicht zu weit in die Ökonomie hineinwagen, aber das Folgende
scheint mir an dieser Stelle einfach und verständlich genug zu sein. In neuerer Zeit,
meinte Constanze, werde die Forderung nach Staatsentschuldung selbst in
wirtschaftlichen Krisenzeiten wieder dogmatisch hochgehalten. Nach diesem Dogma
sollten verschuldete Staaten auch in der Krise möglichst rasch ihre Schulden
zurückzahlen, auch das sei ein notwendiger Beitrag zur Krisenbewältigung. Aber
auch dies, meinte Constanze, sei falsch. Wenn Staaten Schulden zurückzahlten
müssten die Empfänger das zurückerhaltene Geld anderswo anlegen, also in der
Privatwirtschaft. Aber es herrsche ja gerade deswegen Krise, weil in der
Privatwirtschaft nicht mehr genügend Geld rentierlich angelegt werden könne. Wenn
ausgerechnet in der Krise zusätzliches Geldvermögen in die Privatwirtschaft dränge,
dann werde die Krise dadurch weiter verschärft. Die Rückführung von
Staatsschulden könne in solcher Krise also alles noch schlimmer machen.
Solche Gedanken, sagte Constanze damals, gälten allerdings noch als Ketzerei.
Sie erschienen mir aber logisch schlüssig, erwiderte ich.
Das sind sie auch, sagte sie.
Zwischenstand
Natürlich hatte ich in dieser Zeit noch immer ein anderes Bild von Politik als Hauser
und natürlich auch ein ganz anderes als heute. Hätte ich schon als Dreißigjähriger
einen Rückblick auf das erste Jahrhundertviertel zu schreiben versucht, wäre wenig
Überraschendes dabei herausgekommen. Es gab einfach zu wenig, von dem ich
damals überrascht oder gar entgeistert gewesen wäre. Ich war eben noch sehr jung.
Wie hätte ich, frage ich mich manchmal, als 18- oder 19-Jähriger auf Gedanken wie
die obigen reagiert? Das Meiste wäre mir sicher so fremd erschienen wie den meisten
anderen. Insofern hat es in den letzten 50 Jahren doch kleine Bewusstseinsfortschritte
gegeben, nicht nur bei mir. Allein in der Entgeisterung, wie Hauser sie mir nach und
nach vermittelt hat, liegt schon viel Fortschritt.
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Auch Hausers Entgeisterung über die Politik westlicher Staaten hat sich wohl erst
beim Abfassen seiner Aufzeichnungen ganz entfaltet. Je näher er dem Ende seiner
beruflichen Neutralitätspflicht kam, desto freieren Lauf wird er seinen kritischen
Gedanken gelassen haben. Er gehört nicht zu denen, die in vormaligen
Staatsmännern wie Adenauer, de Gaulle, Kennedy, Brandt oder Schmidt seither
unerreichte Vorbilder sahen, und doch verkörperten die Spitzenpolitiker seiner Zeit
für ihn einen Niedergang der politischen Kultur. Mit den Bushs, Blairs, Berlusconis
und Sarkozys habe es begonnen, schreibt er in seinen Aufzeichnungen, einer Ära
notorisch inkompetenter Politikdarsteller, die die geistige und moralische
Orientierungslosigkeit von Demokratien verkörperten, und auch wenn es einige
westliche Demokratien, darunter Deutschland, mit ihrem Führungspersonal weniger
schlimm getroffen habe, habe doch auch dort nur niedriges politisches Mittelmaß
geherrscht. Der schillernden Generation Berlusconi & Co. seien im allerbesten Fall
biedere politische Handwerker gefolgt, auch in Deutschland. An diesem
schleichenden Niedergang, sagte er, werde sich auch nichts ändern, denn bei
sinkendem Renommee der Politiker strebten immer weniger herausragende junge
Menschen noch politische Karrieren an. Die Qualität des politischen
Führungspersonals werde also immer prekärer, und das ausgerechnet in einer Zeit, in
der politische Führung immer mehr Kompetenz, Mut und Phantasie erfordere. Und
an anderer Stelle weiter: Die Führungsschwäche der Politik bewege immer mehr
Bürger dazu, entweder den Wahlen fernzubleiben oder ihre Stimme Parteien zu
geben, die statt politischer Problemlösungen nur diffuse Stimmungsmache zu bieten
hätten. Weil zudem die Mittelmäßigkeit des politischen Personals den Eindruck
vermittele, Politik könne eigentlich jeder, fühlten sich noch die ahnungslosesten
Bürger berufen, in solchen Parteien mitzuwirken. Auch das ziehe das Niveau des
politischen Denkens und Handelns weiter herunter. Führungsfiguren von
historischem Rang bringe eine solche politische Kultur jedenfalls nicht hervor.
Für Hauser war das ausgehende erste Jahrhundertquartal in Westeuropa eine Zeit der
Stagnation von Politik und politischem Bewusstsein gleichermaßen. Ich kann mich
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selbst davon nicht ganz ausnehmen. Wir waren umgeben von Krisenherden und
einem schleichenden Dritten Weltkrieg, wirtschaftlich ging es schleppend voran,
Politikmüdigkeit und Nichtwählen breiteten sich weiter aus, die etablierten Parteien
verloren zunehmend Wähler an Rechtspopulisten oder wurden selbst populistischer,
die EU steckte spätestens seit dem Austritt Großbritanniens in einer ausweglosen
Sackgasse, und die soziale Ungleichheit nahm weiter zu. Trotzdem verharrte das
politische Bewusstsein in unserem Teil der Welt in schlafwandlerischer
Selbstgerechtigkeit. War das die neue und, wie Hauser sie nannte, unheimliche
Normalität, auf die wir uns für lange Zeit einzustellen hatten?
Nach Hauser ließe die Demokratie nichts anderes erwarten. Eine der Schwächen der
Demokratie sei, dass sie sich mit der Überwindung alter Dogmen systematisch
schwertue, nicht nur beim Dogma der territorialen Integrität. Aber Hauser sah auch
dies mit der denkbar größten Nüchternheit. Die Schuld an der politischen Stagnation
trügen nicht, wie es in politischen Debatten immer wieder suggeriert werde, einzelne
Politiker. Als Diener des Systems könnten diese nur in den Mechanismen des
Systems denken und handeln, und diese Mechanismen ließen ihnen wenig
Spielraum. Mit persönlichem Versagen und persönlicher Schuld sei daher gerade in
demokratischer Politik wenig zu erklären. Aber selbst damit hatte Hauser sich vom
politischen Bewusstsein seiner Zeit ziemlich weit entfernt. Die Unheimlichkeit der
politischen Normalität ging nur Wenigen unter die Haut, selbst nachdem Donald
Trump Teil dieser Normalität geworden war.
Es gibt einen Politikernamen, der an dieser Stelle unbedingt genannt werden muss:
Karl-Theodor zu Guttenberg. Als Studenten verbanden wir mit diesem Namen kaum
eigene Erinnerungen, aber in Grafs letzten Vorlesungen spielte er eine wichtige
Rolle. Guttenberg, so Graf, war genau der Mann gewesen, der den Anschein hätte
wahren können, mit der deutschen Demokratie könne es so weitergehen wie bisher.
Der Mann also, der noch einmal die Illusion hätte nähren können, dass Politik
eigentlich ganz leicht sei. Der Mann, der selbst unüberwindbar erscheinende
Schwierigkeiten mit unnachahmlicher Selbstverständlichkeit weglächelte und damit
100
jeden Zweifel an der Stärke der Demokratie im Keim erstickte. In wirklich
schwierigen Zeiten, so Graf, – und die sehe er schon als Folge der
Massenimmigration kommen -, werde auch im demokratischen Deutschland
irgendwann der Ruf nach einer starken Führungsfigur laut werden, z.B. einer
deutschen Le Pen. Dann müsse Deutschland dankbar sein, wenn sich stattdessen ein
Guttenberg anbiete.
Als ich Hauser einmal davon erzählte, schloss er an Grafs Gedanken ganz spontan
an. Im Grunde habe schon Berlusconi in diese Politikerkategorie gehört, als eine Art
Guttenberg der kulturellen Unterschicht, aber auch die Renzis, Tsipras, Orbáns &
Co. gehörten dazu, zu den Politikern also, die ihren Dilettantismus und ihre
Überforderung mit Elan, Rhetorik und einer je eigenen Art von Charisma
überspielten, und ebenso die Trumps, Erdogans und Putins dieser Welt, auch sie
letzten Endes ja Gewächse der Demokratie. Gerade in schwierigen Zeiten werde die
Demokratie immer wieder solche Figuren hervorbringen, und der Zufall würde
darüber bestimmen, aus welchem politischen Lager sie erwüchsen. Auch
Deutschland, sagte Hauser, werde irgendwann seinen neuen Guttenberg erleben,
einen linken oder rechten, und vielleicht werde sich sogar der leibhaftige KarlTheodor in der Politik zurückmelden. Das sei schon deswegen nicht
unwahrscheinlich, weil Berufspolitiker, die unfreiwillig oder freiwillig aus der
Politik ausschieden, sehr bald merkten, dass sie außer Politik nicht viel anderes
könnten und – abhängig geworden vom Gefühl der eigenen Wichtigkeit – nicht viel
anderes mehr wollten. Insofern sei es, so Hauser, keineswegs ein Glück für
Deutschland gewesen, dass Guttenberg seine politische Karriere wegen der
Schummeleien bei seiner Doktorarbeit hatte abbrechen müssen. Das dicke Ende
komme noch.
Damit, erklärte Hauser später, sei auch deswegen zu rechnen, weil Guttenberg nach
seinem unfreiwilligen Rückzug aus der Politik zumindest in der Immigrationsfrage
politisch unbelastet geblieben sei. Gegenüber dem Imageschaden, den fast die
101
gesamte aktive politische Klasse in dieser Frage erlitten habe, sei Guttenbergs alte
Plagiatsgeschichte geradezu eine Petitesse.
So viel zur politischen Bewusstseinslage in Deutschland. Aber welches politische
Bewusstsein herrschte anderswo in der Welt? Wie weit waren globale
Gemeinsamkeiten in der politischen Zivilisierung gediehen? Natürlich hoffte man im
Westen noch immer, dass der Rest der Welt zum westlichen Stand der politischen
Zivilisierung weiter aufschließen werde. Selbst damit aber, so beschreibt es Hauser,
wäre noch wenig gewonnen. Denn damit würde der Rest der Welt ja genau die
Dogmen übernehmen, die für den schleichenden Dritten Weltkrieg und andere
politische Katastrophen ursächlich seien.
Aber der Stand der politischen Zivilisierung war natürlich von Land zu Land und
auch innerhalb von Ländern höchst unterschiedlich. Auch innerstaatlich war das
Zivilisierungsgefälle damals wie heute großenteils nach Generationen und teilweise
sogar nach Jahrhunderten zu bemessen, was es fast unmöglich macht, mit rationalen
Argumenten demokratische Wahlen zu gewinnen. Und wie schwer eine rationale
Verständigung zwischen Staaten sehr unterschiedlicher politischer
Zivilisierungsniveaus sein kann, das hat sich auch in den gewaltsamen Konflikten
des frühen 21. Jahrhunderts gezeigt.
Am größten war das Gefälle der politischen Zivilisierung natürlich im Verhältnis zu
islamistisch geprägten Staaten. Es spielt kaum eine Rolle, ob man hierbei die
politische Gewaltbereitschaft von Islamisten mit derjenigen christlicher Kreuzzügler
vergleicht oder derjenigen westlicher Weltkriegstreiber, ob man also den
Zivilisierungsrückstand nach Generationen oder Jahrhunderten bemisst. In jedem
Fall erfordert der politische Umgang mit solchen Entwicklungsdiskrepanzen einen
zeitlichen Denkhorizont, der demokratischen Politikern fremd ist.
Auch in Hausers Aufzeichnungen finden sich einige Anmerkungen zum politischen
Bewusstsein von Islamisten. So zitiert er z.B. einen algerischen
Fußballnationalspieler, der im Sommer 2014 vor der Weltöffentlichkeit bekundete, er
102
und seine Mitspieler hätten bei einem Weltmeisterschaftsspiel „für alle Muslime der
Welt“ gekämpft. Es sei natürlich besser, schreibt Hauser, Religionskämpfe würden
symbolisch auf dem Fußballfeld ausgetragen als mit Waffengewalt, aber eine solche
Äußerung könne doch so verstanden werden, dass sich im Sport ein globaler
politischer Religionskampf fortsetze. Man dürfe sich nicht wundern, wenn die
Reaktionen hierauf nicht gerade auf hohem zivilisatorischem Niveau lägen. Die
Auseinandersetzung mit dem politischen Islam lasse daher auch den Westen in der
politischen Zivilisierung zurückfallen. Nicht der Islam an sich, aber doch der
politische Islam stehe daher der politischen Zivilisierung der Welt im Weg.
Aber würde auch der politische Islam womöglich doch ein kurzlebiges
Bewusstseinsphänomen sein? War das nach dem Zusammenbruch des Sozialismus
ausgerufene globale Ende der Geschichte vielleicht doch nur um eine oder zwei
Generationen verschoben? Setzte die Welt nicht doch zum Endspurt der politischen
Zivilisierung an, in den sich auch die noch rückständigen Teile der Welt bald
einfinden würden?
Hausers Antwort war natürlich ein klares Nein. Allein die anhaltenden Kriege und
Bürgerkriege um Staatszugehörigkeiten und Staatsgrenzen, schrieb er, straften solche
Erwartung Lügen. Fortschritte in der politischen Zivilisierung sehe er bestenfalls im
Schneckentempo kommen. Seine einleuchtende Begründung: Die politisch leidlich
zivilisierten Staaten hätten einen immer geringen Anteil an der Weltbevölkerung.
Diese Staaten würden daher auch in der Weltpolitik eine immer geringere Rolle
spielen, zivilisatorisch weniger entwickelte Staaten dagegen eine immer größere. Im
Weltdurchschnitt gesehen werde es schon deswegen mit der politischen Zivilisierung
bergab gehen.
Ich fragte ihn einmal, was das für das Selbstbestimmungsrecht von Bürgern über ihre
Staatszugehörigkeit und über Staatsgrenzen bedeute.
Natürlich nichts Gutes, sagte er.
103
Und dann überraschte er mich mit einem Gedanken, den ich zwar nicht auf Anhieb
verstand, der mir später aber als einer der wichtigsten politischen Gedanken meiner
Lebenszeit erschien: Die so empfundene Kälte des globalen Kapitalismus werde bei
immer mehr Menschen ein Bedürfnis nach stärkeren politischen
Gemeinschaftserlebnissen entstehen lassen, wozu auch die Solidarität in erstarkten
staatlichen Solidargemeinschaften gehöre. Umso wichtiger werde es dann für die
Bürger aber werden, über die Zusammensetzung solcher Gemeinschaften frei
entscheiden zu können.
Hauser sah, wie ich mich mühte, diesem Gedanken zu folgen.
Es möge altmodisch klingen, sagte er dann, für manche sogar reaktionär, aber eine
passendere Formulierung falle ihm dafür nicht ein: Gerade im globalen Kapitalismus
müsse der Staat den Bürgern eine fühlbare politische Heimat sein.
Mit Nationalismus und Patriotismus im alten Sinne, sagte er schließlich noch, habe
das aber nichts zu tun.
Dazu gab Hauser mir später noch eine Erläuterung, die mich jahrzehntelang immer
wieder beschäftigt hat und die mir heute, in meinem neunten Lebensjahrzehnt,
aktueller erscheint denn je: In einem Staat, der nicht auch politische Heimat sei, seien
die Bürger keine spontane, dauerhaft starke Solidargemeinschaft. In einem solchen
Staat mangele es daher an sozialer Gerechtigkeit.
Und in einem seiner späteren tief pessimistischen Momente fügte er dem noch hinzu:
Diese Voraussetzungen für einen starken Sozialstaat würden im 21. Jahrhundert
weiter erodieren, und er fürchte, das sei unumkehrbar.
Aber was hülfe es heute, fast vierzig Jahre später, dieses Unumkehrbare noch zu
beklagen?
104
2025 – 2049 Hilflose Demokratie, Neues Denken
Parteienzuwachs
Das Folgende lasse ich hier so stehen, wie es im Vorwort vorweggenommen ist:
Der Paukenschlag zum Auftakt des ersten Jahrhundertquartals war der Anschlag auf
das World Trade Center gewesen, der Auslöser des Weltkriegs gegen den Terror, der
ein Teil des schleichenden Dritten Weltkriegs war. Das zweite Jahrhundertquartal
begann weniger aufsehenerregend. Nach der Jahrtausendwende war die Welt aus
dem schönen Traum gerissen worden, mit der Vorherrschaft von Demokratie und
Marktwirtschaft sei die Zeit ewigen Friedens und Wohlstands angebrochen. Dieser
Traum war ausgeträumt, und die Erwartungen waren gedrückt.
Statt mit einem Paukenschlag begann das zweite Jahrhundertquartal in einem lang
anhaltenden Trommelwirbel, der die Krisen der Zeit wie in einem großen politischen
Welttheater aneinanderreihte. Aber man täte diesem zweiten Jahrhundertquartal
Unrecht, wenn man nicht auch anerkennte, dass die Demokratie in dieser Zeit ihre
beste Phase erlebte. Es gab Ausnahmen, es gab China, es gab noch Nordkorea, es
gab muslimische Gottesstaaten und Emirate, es gab gescheiterte Staaten ohne
etablierte Staatsordnung, es gab noch einige wenige bekennende Autokratien, aber
immer weniger Staaten bekannten sich noch offen dazu, keine Demokratie im
üblichen Sinne zu sein. Formal orientierten sich mehr Staaten denn je am Beispiel
westlicher Demokratien. Spätere Historiker dürften den Zenit der modernen
Demokratie auf das frühe zweite Quartal des 21. Jahrhunderts datieren.
Keine der Krisen, die das erste Jahrhundertquartal geprägt hatte, war zu Beginn des
zweiten Quartals wirklich gelöst, einige Konflikte waren mit militärischen und
diplomatischen Mitteln vorerst eingefroren worden, aber fast alle schrieben sich in
den Anfängen des zweiten Quartals neu in die Weltgeschichte ein. Der schleichende
Dritte Weltkrieg brachte sich in vielen Krisenherden in Erinnerung. Eine neue
Intifada in Palästina, opferreicher als alle bisherigen. Ein wieder aufflammender
105
Bürgerkrieg im Norden Nigerias. Gewaltsame Konflikte zwischen Religionsgruppen
in Indien. Terror in Pakistan. Brutale Unterdrückung von Widerstandsbewegungen in
Ägypten, Algerien, den Golfstaaten, im Iran und anderswo. Fast die gesamte
arabische Welt war weiterhin ein Pulverfass, und das würde, so viel war klar,
zumindest eine weitere Generation so lang bleiben. Die Staatsgrenzenfrage blieb
unabsehbar weit von einer Friedenslösung entfernt, viele Millionen Vertriebene
sannen weiter auf Rückkehr und Rache. Die Flucht des jordanischen Königs aus dem
eigenen Land war ein neues Menetekel für die gesamte arabische Welt. Erstmals
formierte sich eine staatenübergreifende gesamtkurdische Bewegung in der Türkei,
im Iran und auf den früheren Staatsgebieten des Irak und Syriens. Die Türkei spielte
sich mehr denn je als die neue führende Ordnungsmacht des Nahen Ostens auf, mit
den gleichen zynischen Methoden wie die einstmaligen Supermächte in Zeiten des
kalten Krieges, mit militärischer Unterstützung also auch für unzivilisierteste
Rebellen und Autokraten. Viele westliche Demokratien, besonders natürlich in
Europa, wurden von abermals anschwellenden Flüchtlingsströmen bedrängt, was
immer stärkere Bürgerproteste zur Folge hatte. Gescheiterte Staaten Afrikas wie
Somalia, Libyen und andere hatten ihre Lage kaum verbessert. Derweil hatte der
mittlerweile jahrzehntelange Krieg westlicher Staaten gegen den Terror außer
gesteigertem Hass kaum etwas bewirkt, auch in Europa.
Die Schwäche vieler Demokratien ließ mafiöse Organisationen stärker werden denn
je, in Russland, der Ukraine, Mexico, Italien und vielen anderen Staaten der Welt,
und sie ließ weitere staats- und rechtsfreie Regionen innerhalb funktionierender
Staaten entstehen. In großen Teilen der Welt waren Geldkapitalbildung und
Verschuldung wieder außer Kontrolle und standen die Finanzmärkte wieder am Rand
des Kollapses. Vor die Wahl gestellt zwischen Crash und Langzeitkrise, entschieden
die Regierungen und großen Zentralbanken der Welt sich abermals für Letzteres. Die
strukturschwachen Staaten des Euroraums schlingerten weiter in wirtschaftlicher
Stagnation. Die Europäische Zentralbank kämpfte immer noch einen verzweifelten
Kampf, um diesen Staaten mit lockerem Geld aus der Krise zu helfen. Die
106
Finanzmärkte wetteten wieder auf ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone, aber die
EZB setzte dem abermals mit einer bedingungslosen Garantieerklärung für die
Krisenstaaten des Euroraums ein vorläufiges Ende. EZB und europäische
Regierungen präsentierten der Öffentlichkeit die schwelende Finanzkrise als das
immer noch kleinstmögliche Übel und damit als Erfolg. Noch wollte die Mehrheit
der Bürger ihnen glauben.
All dem zum Trotz stand die westliche Demokratie in ihrem Zenit. In der
Demokratie gehe eben alles langsam, sollte Hauser später sagen, sehr langsam sogar,
und wenn sie untergehe, werde auch das sehr langsam geschehen, so langsam, dass
die Menschen es nicht einmal als Untergang wahrnehmen. Oberflächlich gesehen
war in der westlichen Welt die Lage zu Beginn des zweiten Quartals tatsächlich
unauffällig, auch in Europa. Sicher, es gab immer wieder Terroranschläge, es gab
gewalttätige Unruhen in französischen Migrantenvorstädten, in England und
anderswo in Europa, in milderer Form auch in Deutschland, aber daran hatte die
Mehrheit der Bürger sich fast schon gewöhnt. Die Franzosen reagierten, wie lange
befürchtet, mit der Wahl einer rechtsextremen Präsidentin, die dann gegen die Krise
aber kaum mehr als unversöhnliche Rhetorik aufbot.
Wenn man genau hinhörte, war aber auch im demokratischen Westeuropa ein
politische Trommelwirbel zu spüren, auch wenn er sich aus großenteils leisen
Einzeltönen zusammensetzte. Die Parteiensysteme in den meisten Staaten waren
weiter zerbröselt, die Bildung von Regierungskoalitionen war immer
unberechenbarer geworden und das Wählen für die Bürger damit mehr denn je zum
Lotteriespiel. Die Wahlbeteiligung ging fast überall weiter zurück, teilweise sogar
dramatisch, in immer mehr Ländern bis weit unter 50 Prozent. Fast überall gründeten
rhetorisch begabte Charismatiker neue politische Parteien, darunter auch Kuriositäten
wie die Parteien der Lesben und Schwulen, die für ein immer noch
anerkennungsbedürftiges Lebensgefühl standen, aber umso weniger für konkrete
politische Inhalte.
107
Ein wichtigeres Ereignis war die Gründung der ersten muslimischen Parteien.
Muslimisch Soziale Union – MSU, diese Namensgebung der muslimischen Partei in
Deutschland war ein geschickter Schachzug. In der Bundestagswahl 2029 verfehlte
sie mit 3,9 Prozent noch deutlich den Einzug in den Bundestag, aber ihr langfristiges
Stimmenpotential lag nach der starken Zuwanderung muslimischer Migranten in den
vorangegangenen 15 Jahren schon deutlich höher. In den Altparteien begann man,
die Koalitionsmöglichkeiten nach einem eventuellen Einzug der MSU in den
Bundestag auszuloten. Die Schlussfolgerungen waren niederschmetternd. Dass die
MSU schon damals bei renommierten Verfassungsrechtlern Gutachten bestellt hatte,
die die 5-Prozent-Hürde für muslimische Parteien für verfassungswidrig erklären
würden, wusste man in den Altparteien noch nicht.
Die AfD, die Alternative für Deutschland, hatte das Schicksal vieler populistischer
Parteien ereilt, die Selbstzerstörung durch innere Spaltung. Ihr Gründer, der
politische Zauberlehrling Bernd Lucke, hatte sich mit vergleichsweise seriösen
Anliegen in das Abenteuer der Parteigründung gestürzt, aber am Ende – nach
langwieriger Läuterung – gestand er öffentlich ein, die Mechanismen im
demokratischen Parteienwesen gründlich verkannt zu haben. Nachdem die Mehrheit
ihrer Parteibasis sich Luckes früh entledigt hatte, schlachtete die AfD die
gewachsene Brisanz des Zuwanderungsthemas viele Jahre lang erfolgreich für ihre
Zwecke aus. Auf Dauer konnte sie aber ihre personelle und inhaltliche
Substanzlosigkeit damit nicht verschleiern. Sie wurde aufgerieben von
innerparteilichen Schuldzuweisungen für ausbleibende Wahlerfolge.
Mit der Marginalisierung der AfD war die deutsche Parteienlandschaft natürlich
keineswegs bereinigt. Als das Scheitern der AfD absehbar wurde, gründeten sich die
Deutschen Demokraten. Sie machten fast alles richtig, was die Gründer der AfD
falsch gemacht hatten. Sie überstürzten nichts, sie nahmen nur Mitglieder auf, die
sich in ihren Zielen und Vorurteilen weitgehend einig waren und ebenso in der
Unterstützung ihres Vorsitzenden: Karl-Theodor zu Guttenberg.
108
Die Deutschen Demokraten nahmen die Leitthemen der AfD sinngemäß auf, sie
machten sich dabei dank Guttenberg aber weit weniger angreifbar. Schon in den
ersten Umfragen nach ihrer Gründung lagen die Deutschen Demokraten bei 5 % der
Wählerstimmen. Wieder loteten die Altparteien die theoretischen
Koalitionsmöglichkeiten neu aus. Die Lage war verzweifelter denn je.
Aber erst einmal zurück zu Hauser, ohne dessen Beistand ich bei diesen Ereignissen
die politische Orientierung wohl vollends verloren hätte. Viele von Hausers
Erklärungen zum politischen Geschehen waren mir allerdings noch immer nicht auf
Anhieb klar, und vieles davon hätte ich nicht einmal wiedergeben können, so
geduldig er es mir auch erklärt hatte. Anders wurde es erst in den späten zwanziger
Jahren. Bei einem Gespräch mit einem Studienfreund merkte ich plötzlich: Jetzt
redest du ja fast wie Hauser. Ich hatte dem Freund von Hausers Gedanken zum
Staatsgrenzenproblem erzählt. Er meinte, das sei im Grunde rückwärtsgewandtes
Denken. Es gehe doch nicht mehr darum, wie Staatsgrenzen zu korrigieren seien, das
Ziel müsse doch sein, Staatsgrenzen überflüssig zu machen.
Ja, sagte ich, das könne so sein, aber was tun in den tausend Jahren, bis es so weit
ist?
So ähnlich hätte Hauser es sagen können. Es war ein gutes Gefühl. Ich spürte: Ich
kann schon argumentieren wie Hauser, ich muss mir Argumente wie die Seinigen
nicht mühsam abringen. Jetzt kommen sie mir auch spontan.
Hauser war immer noch ein Chef, wie man ihn sich nur wünschen kann, vor allem
seinetwegen habe ich die Arbeit im Archiv fast immer gemocht. Der Gedanke, „nur“
– wie ich es zu Anfang empfunden hatte – ein Archivar zu sein, war nach zwei
Jahren Archivarbeit längst verflogen. Aber soll man deswegen keine neuen
Herausforderungen suchen? Will man deswegen, wie Hauser, den allergrößten Teil
seines Berufslebens in ein und demselben Archiv verbringen? Das waren noch
unfertige Gedanken, aber Hauser erahnte sie. Als wir einmal gemeinsam vor einem
Monitor mit den Tücken der Archivsoftware kämpften, sagte er: "Man kann natürlich
109
auch mit anderer Arbeit glücklich werden." Man könne es, sagte er, aber es klang
wie ein „Du könntest es“.
Ein paar Monate später zeigte ein Freund mir das Stellenangebot der A-E-B-Stiftung,
einer neuen parteinahen Stiftung in Berlin. Auch dabei ging es um Archivarbeit, aber
nicht nur. Also, dachte ich, würde die Arbeit dort vielseitiger sein und lebensnäher.
Ich schickte eine Mail, bekam rasch eine vielversprechende Antwort, kurz danach die
Einladung zum Vorstellungsgespräch. Auf der Fahrt nach Berlin
Aufbruchsstimmung. Dann das Gespräch, mit Leuten, dachte ich, mit denen sich gut
auskommen ließe.
Eine Woche später kam die Einladung zu einem zweiten Gespräch. Wir trafen uns
wieder in derselben Viererrunde, wieder war die Stimmung gut, und sie machten mir
ein konkretes Angebot. Darauf hätte ich natürlich vorbereitet sein sollen, aber ich
war es nicht. Ich dankte nur höflich, versprach, mich am nächsten Tag zu melden.
Auf der Rückfahrt tauschte ich dann Dutzende SMS mit meiner Freundin. Alle ihre
Antworten ermutigten mich. Kurz vor der Ankunft in Hamburg tippte ich ein: Soll
ich's so abschicken: Dank für Ihr Angebot, das ich sehr gern annehme? Ihre Antwort:
Genehmigt.
Am nächsten Morgen bei Hauser dann das kleinlaute Bekenntnis, dass ich gehen
wolle.
Aber bei Hauser keine Spur von Enttäuschung, auch kein Wort, um mich zum
Bleiben zu bewegen. Hatte ich das vielleicht doch erwartet? Vielleicht darauf
gehofft? Er hatte mich und meine Arbeit immer geschätzt, und nun kein einziges
Wort des Bedauerns, nur dieser klare, offene, bejahende Blick. Ob er mir zu dem
Wechsel wirklich rate, fragte ich ihn dann doch, und seine typische Hauser-Antwort
war: Du könntest vom Regen in die Traufe kommen, aber auch das wäre eine
unschätzbare Erfahrung.
Wer war die A-E-B-Stiftung? Hauser, das offenbarte er mir kurz danach, wusste
mehr darüber als ich. Um Mitarbeiter warb die A-E-B mit dem Slogan
110
„Überparteilich für Deutschlands Parteien“. Parteinahe Stiftungen hatte es natürlich
schon sehr lange gegeben, jede der größeren Parteien hatte ihre eigene, jede von
ihnen strikt im Dienst ihrer Partei, und lange war es ihnen blendend gegangen. Aber
in den zwanziger Jahren war es für die Parteien und damit für deren Stiftungen
finanziell immer enger geworden. Mitte der Zwanziger beauftragten schließlich die
beiden größten Stiftungen fast gleichzeitig eine Unternehmensberatung mit einer
Kostenanalyse. Beide Stiftungen, ohne es zu wissen, dieselbe Firma.
Die Feststellung der Berater: Die parteinahen Stiftungen machten großenteils die
gleiche Arbeit, auch wenn sie die Ergebnisse für verschiedenen Zielgruppen
aufbereiteten. Ihr Vorschlag: Lagern Sie Archive und Recherche in eine gemeinsame
Organisation aus, und beschränken Sie sich dann auf die Auswertung in Ihrem Sinne.
Genau so, aus schierer Geldnot, wurde es dann von den Unionsparteien und der SPD
beschlossen. Auch die Grünen wurden in das Konzept eingebunden.
Hausers bissiger Kommentar dazu:
– Die bestehenden Stiftungen schrumpfen zu Einrichtungen der gehobenen
Propaganda. Vor zwanzig oder dreißig Jahren hätte es darüber einen Aufschrei
gegeben, aber in eurer Generation nimmt man das ja gelassener.
Und dann, im Ton respektvoller:
– Warum sollte man sich auch über scheinbar Unabwendbares aufregen?
Ob er denn wirklich meine, fragte ich dann, dass die Arbeit bei der A-E-B für mich
eine unschätzbare Erfahrung sein würde.
– Auf jeden Fall, sagte er.
Am vorletzten Arbeitstag saß ich mittags allein in der Cafeteria. Jemand legte von
hinten die Hand auf meine Schulter. Ich drehte mich um, sah das befreite Lächeln
von Constanze.
111
Ob dies wirklich mein vorletzter Tag sei, fragte sie. Und ob ich wirklich zu dieser
Stiftung nach Berlin ginge.
– Ja, sagte ich.
Nur dieses einfallslose Ja, sonst nichts. Constanze, die Cramer, hatte die Hand auf
meine Schulter gelegt, mich befreit angelächelt, sich neben mich gesetzt, wollte mit
mir reden, und mir fiel nichts anderes ein als ein peinliches Ja.
Sie ließ mich endlose Sekunden warten, dann sagte sie;
– Warst ein sehr guter Kollege. Das weißt du.
Dann folgte ein langer, schnell gesprochener Monolog, als müsse sie sich beeilen,
um mir, solange ich noch da bin, sagen zu können, was dringend zu sagen war. Sie
habe gehofft, sagte sie, ich würde noch eine Zeit bleiben, aus demselben Grund, aus
dem sie selber bisher geblieben war, wegen Hauser. Sie habe von Hauser bei Weitem
nicht alles gelernt, was man von ihm lernen könne, aber sie wisse, dass er mir
gegenüber offener und mitteilsamer gewesen sei, insofern sei ich ihr ein Stück
voraus, vielleicht sei ich deswegen schon jetzt bereit für einen Wechsel. Und ob ich
wisse, an wen Hauser sie erinnere, an Graf natürlich, und ob auch ich manchmal
noch an die Sache mit der Generation Sichtflug dächte. Darüber habe sie oft
nachgedacht in den letzten Jahren, und inzwischen sei sie ziemlich sicher, dass
Hauser in dieser Sache ganz ähnlich denke wie Graf. Irgendwann, vielleicht schon in
zehn oder zwanzig Jahren, solle über diese unsere Generation einmal ein Buch
geschrieben werden, und ob ich mir so etwas zutraute. Wir, sagte sie dann, sie und
ich, seien beide nicht gerade typische Exemplare dieser Generation, was wir zum
Teil Graf, aber natürlich auch Hauser zu verdanken hätten, und gerade deswegen sei
ich möglicherweise der Richtige, um später einmal solch ein Generationenporträt zu
schreiben. Wenn ich Hilfe dabei brauchte, könne sie versuchen zu helfen.
Ich war verblüfft, geschmeichelt, geängstigt, eingeschüchtert, verlegen, alles
zugleich, aber Constanze sah mich nur mit geradem, unaufgeregtem Blick an.
112
Wer weiß, sagte ich nach einer Weile, aber so etwas sei in meiner Lebensplanung
nicht vorgesehen.
In ihrer auch nicht, sagte sie, aber Generation Sichtflug sei doch schon einmal ein
schöner Buchtitel.
Ich war überwältigt von diesem Monolog, der mich den immer noch leicht
irritierenden Klang ihrer Stimme völlig überhören ließ. Constanze, die Cramer, der
ich mich immer unterlegen gefühlt hatte, der ich nie ebenbürtig sein würde, diese
Constanze und ich, wir waren jetzt Kollegen auf Augenhöhe.
Sie stand auf.
– Wir verlieren uns nicht aus den Augen, sagte sie dann, zu mir herabsehend, dann
beugte sie sich – das Unterlegenheitsgefühl flutete zurück – zu mir herunter und
umarmte mich kurz.
– Wir verlieren uns nicht aus den Augen, wiederholte sie. Versprochen?
– Ja, sagte ich. Von mir aus versprochen.
Als ich mich von Hauser verabschieden wollte, lud er mich – es war das erste Mal –
für den Abend zu sich nach Hause ein. Nur auf ein halbes Glas Bier, meine Zeit sei ja
jetzt, so kurz vor dem Umzug, sicher knapp, sagte er – wie immer in seiner
freundlich nüchternen Art, aber diesmal mit einem beinahe herzlichen Lächeln.
Hauser lebte in einer kleinen, bis an die Decken mit Büchern vollgestopften
Dachgeschosswohnung eines wuchtigen, die umliegenden Gebäude leicht
überragenden Altbaus in Eppendorf. Er habe, sagte er, fast immer allein gelebt. Das
Alleinleben sei beileibe nicht leicht, aber als Alleinlebender habe man mehr Zeit zum
Nachdenken als andere, und das sei für ihn ein unschätzbarer Vorteil.
– Und den hast du genutzt, sagte ich.
113
Ich glaube, das Kompliment tat ihm gut. Er sagte nichts, sah mich nur abwartend an,
so ruhig, als habe er unbegrenzt Zeit für mich.
Dann führte er mich – es war Spätsommer – auf seine Dachterrasse, von wo wir weit
über die Dächer der Stadt in die tiefe Abendsonne sahen.
– Der weite Blick, sagte ich. Auch hier, zu Hause.
– Ja, hier übe ich ihn manchmal.
– Üben musst du ihn nicht mehr.
– Doch, das ist eine Lebensaufgabe. Genau das wollte ich dir noch sagen. In Berlin,
bei deiner neuen Arbeit, wird es damit schwer werden.
Wieder so eine Bemerkung von Hauser, die sprachlos machte, die ich danach lange
vergaß, bis sie mir, fast auf den Tag genau zwei Jahre später, wieder in den Sinn
kam, als wäre es gestern gewesen.
In Berlin kamen unsere Zwillinge zur Welt. Danach war es mit dem weiten Blick
sowieso vorbei. Kinder sind ein großes, vielleicht das allergrößte Glück, aber auch
Glück, das lernte ich schnell, kann, wenn es zu groß wird, eine Last sein. Hauser ließ
seine Gedanken zu Hause ins Weite schweifen, meine Gedanken steckten im Alltag
fest. Wenn die Zwillinge stundenlang schrien, waren sie dann ernsthaft krank, oder
bekamen sie nur neue Zähne? Würde morgen der Durchfall ausgestanden, der
Schnupfen kuriert sein? Würden wir Eltern uns womöglich bei den Kindern
anstecken? Würde die Vertretung der Tagesmutter sie wirklich von der Krippe
abholen kommen? Würden nächste Woche die Großeltern nach Berlin kommen und
für ein paar Tage einspringen? Und wie lange würden wir, würde ich solches Leben
schadlos durchhalten, ein Leben ohne Zeit für Gedanken, wie Hauser sie dachte?
Wenig Zeit zum Nachdenken zu haben muss aber kein Fluch, es kann auch ein Segen
sein. Es kommt auf die Umstände an. In der Zeit in Berlin war es auch ein Segen. In
die Arbeit bei der A-E-B-Stiftung fand ich schnell hinein. Alles war fast, wie ich es
114
erwartet hatte, kein Grund zum Grübeln also, freundliche Kollegen und eine Arbeit,
deren Sinn leicht zu fassen war. Parteinahe Stiftungen dienen Parteien, also tat die
A-E-B es auch, also auch deren Archiv. Ich arbeitete nun also für politische Parteien,
und so steckte ich mitten im politischen Leben der Republik. Tatsächlich
lebensnäher, so empfand ich es, als bei Hauser im Verlagsarchiv. Ich könnte vom
Regen in die Traufe kommen, hatte Hauser gesagt, aber nichts davon spürte ich.
Nicht, bevor ich Mesäcker traf.
Martin Mesäcker war achtundzwanzig, seit Schülerzeiten Parteimitglied der CDU,
hatte Jura studiert und Parteikarriere gemacht, und er hatte schon beste Aussichten
auf ein Bundestagsmandat. Rechts-, Innen– und Außenpolitiker sei er, so stellte er
sich mir vor, als er seinen kurzen Dienst im Archiv der A-E-B antrat. Es habe gerade
so gepasst, sagte er, dass er sechs Wochen bei der A-E-B arbeiten könne, fast ein
Muss sei das für einen Politiker, der irgendwann einmal auch in
Stiftungsangelegenheiten mitentscheiden werde. Und da er nun einmal hier sei, wolle
er auch kurz ins Archiv der A-E-B hineinschnuppern. Ich merkte mir: Mesäcker, der
Schnupperer.
Aber Mesäcker war auch ein begnadeter Rhetoriker. Einer, der zu fast allen
politischen Themen eine Meinung kundtat und dabei alle in Grund und Boden reden
konnte. Ein Meister der rhetorischen Improvisation. Ein Sprechblasenartist, so
nannte ihn ein Kollege, einer, der gelegentlich originell formuliere, aber nie mit
einem originellen Gedanken aufgefallen sei und es auch nie tun werde. In Sachen
Mesäcker war dieser Kollege, ein Sympathisant der Grünen, parteiisch, aber er hatte
Recht. Behalte den Mesäcker im Auge, sagte er, der wird Karriere machen. Danach
war ich dankbar, Mesäcker kennengelernt zu haben. Es half mir, das Geschäft der
Politik besser zu verstehen.
Der Kontakt zu Hauser war schon zu Beginn meiner Berliner Zeit abgebrochen, aber
darüber machte ich mir keine Gedanken. Natürlich gab es – auch in Berlin lag die
Kopie seiner Aufzeichnungen zuhause immer griffbereit – kurze Momente, in denen
ich an ihn dachte, aber ich vermisste ihn nicht. Ich hatte ja nicht einmal Zeit dafür.
115
Bis ich, nach fast zwei Jahren, an einem Herbstsonntag, wir waren zurück von einem
Kurzurlaub an der Ostsee, die Post durchsah. Obenauf eine Ansichtskarte mit
Alpenpanorama. Die Rückseite eng und schwer leserlich beschrieben. Hausers
Schrift! In diesem Moment lebte alles wieder auf, waren die Gedanken wieder genau
da, wo sie bei der letzten Begegnung mit Hauser gewesen waren.
Hauser machte Urlaub in einer Almhütte in Tirol. Für den Urlaub, schrieb er, suche
er sich Orte, an denen man einen besonders klaren Kopf bewahrt, und dieser sei so
einer. Ein paar klare Gedanken seien ihm oben auf der Alm schon gekommen, und
vielleicht der wichtigste von allen sei: Ich könnte einmal sein Nachfolger werden.
Verlier es nicht aus den Augen, stand darunter.
Ich las diese Sätze ein Dutzend Mal. Nichts hätte mich mehr überrascht, nichts mehr
erschreckt, nichts hätte mich mehr berührt. Es war typisch Hauser. So kurz und
knapp und klar formuliert, aber wenn ich darüber nachdachte, waberte eine
Gedankenwolke durch den Kopf. War, was er mir schrieb, eine Prognose? War es
eine Warnung? War es ein Auftrag? Und was meinte er eigentlich mit „Nachfolger“?
Nachfolger in seiner Art zu denken? Oder womöglich Nachfolger als Archivleiter?
Oder beides? Er hätte es mir sagen oder er hätte es mir mailen können, dann wäre es
eine Aufforderung zum Dialog gewesen, aber nun kam es als Postkarte, und ich war
damit allein.
Schließlich schickte ich ihm eine kurze Mail: Habe mich sehr gefreut über deine
Postkarte. Wir sollten darüber reden.
Die Antwort kam – ganz untypisch für Hauser – erst acht Wochen später.
– Du wirst bald eine Einladung vom Verlag bekommen. Überleg dir gut, was du tust.
Es geht, wie gesagt, um meine Nachfolge.
Und ein paar Stunden später noch dies:
– Egal, was und worüber du mit wem sprichst, besser kein Wort über mich.
116
Am nächsten Tag ging ich zur Arbeit wie in Trance. Die Selbstverständlichkeit, mit
der ich fast zwei Jahre lang meinen Dienst bei der A-E-B getan hatte, war dahin.
Ich sollte mich um Hausers Nachfolge bewerben? Und wenn ja, wie war es dazu
gekommen? Hauser hatte doch noch ein paar Berufsjahre vor sich. War er ernsthaft
krank? Hatte er Fehler gemacht? Hatte er am Ende doch echte Feinde? Nichts davon
mochte ich mir vorstellen.
Nach Monaten erst erfuhr ich dann von einem alten Kollegen die Vorgeschichte.
Hauser habe sich Freiheiten herausgenommen, die man von einem Archivleiter nicht
erwartet, auch nicht als angehendem Ruheständler. Die Verlagsleitung habe das
offenbar als Chance gesehen, sie habe ihm rasches Ausscheiden mit großzügiger
Abfindung angeboten. Danach hätten viele natürlich auf Constanze als Nachfolgerin
gewettet. "Dass du dann ins Gespräch kamst, war eine taktische Meisterleistung von
Hauser."
Zwei Wochen nach Hausers letzter Mail kam die Einladung des Verlags. Auf der
Fahrt nach Hamburg flimmerten die Gedanken. Warum ich? Wer sonst war im
Rennen? Vielleicht doch auch Constanze? Arbeitete sie überhaupt noch im Verlag?
Und wenn nicht, wäre sie, eine gute Archivarin, erfahrener als ich, mir weit voraus in
IT-Kenntnissen, eine kluge Ökonomin, nicht trotzdem die Bessere? Andererseits:
Hatte Hauser mir nicht immer das Gefühl gegeben, ich sei ihm mindestens so wichtig
wie sie, die Cramer? Es war eine Achterbahn der Gefühle. Angst, Kleinmut,
Hochmut, Nervosität, Stolz, zitternde Knie. Wollte ich die Stelle wirklich? War
Hauser überhaupt damit glücklich gewesen? Du bist noch viel zu jung. Nein, du
schaffst das schon. Die Chance deines Lebens. Nein, es könnten noch bessere
kommen. Wollten wir überhaupt weg von Berlin? Du hast nichts zu verlieren. Sei
zuversichtlich. Bleibe gelassen.
Dann das Gespräch. Sie empfingen mich zu dritt, Verlagsleiter, Personalchefin,
Chefredakteur, in der obersten Etage. Ich brachte nur abgebrochene Sätze heraus.
Wollte es mit selbstbewusstem Lächeln gutmachen, auch das misslang. Warum
117
fragten sie so viel? Warum genügte ihnen nicht, was sie über mich, den früheren
Mitarbeiter, schon wussten? Warum diese bleiernen Mienen? Warum schaute der
Chefredakteur auf die Uhr? Wartete schon der nächste Bewerber? Am Ende dann,
alle Zuversicht war längst dahin, die Frage: Sind Sie an der Position interessiert?
Ich zuckte zusammen. Eine Routinefrage? Eine Ermutigung? Ich gab die dämlichste
aller denkbaren Antworten: „Sie werden bestimmt einen Besseren finden.“ Die Drei
sahen einander kurz an, nickten einander zu, Chefredakteur und Verlagsleiter
schmunzelten. Dann die Personalchefin: „Das glauben wir nicht.“
Ich rang nach Luft. Dann – das sagte man mir später – sah ich mit einem ansteckend
strahlenden Lächeln in die Runde. Die Personalchefin stand auf, dann die beiden
anderen, dann auch ich, dann gaben wir einander die Hand. "Herr Schmidt,…", sagte
die Personalchefin. "Ja?" "Nächste Woche bekommen Sie einen Vertragsentwurf."
Dabei drückte sie meine Hand noch eine Spur fester.
Sechs Wochen danach war ich zurück im Archiv. Ich war jetzt der neue Hauser.
Was geht wie lange gut?
Auf Hausers Aufzeichnungen stieß ich an meinem zweiten Arbeitstag als
Archivleiter. Noch heute fühlt es sich an, als sei ich damals mit schlafwandlerischer
Sicherheit auf sie zugesteuert. Aber dieses Gefühl trügt. Es war, auch wenn ich lange
nicht daran glauben mochte, wirklich purer Zufall.
Heute weiß ich, dass ich es Hauser gleich hätte sagen sollen. Damals habe ich lange,
am Ende viel zu lange darüber nachgedacht. Hatte Hauser, fragte ich mich, die
Aufzeichnungen so unauffällig im Archiv platziert, damit sie späteren Findern
vorbehalten blieben? Würde er also irritiert sein, wenn ich offenbarte, wie rasch ich
sie gefunden hatte? Würde es ihm womöglich peinlich sein? Oder egal? Ich fand
darauf keine Antwort. Irgendwann war dann der Zeitpunkt verpasst, zu dem ich es
noch ohne Peinlichkeit hätte offenbaren können. Also verschwieg ich es. Ihm und
allen anderen. Vorerst.
118
"Versuch nicht, der neue Hauser zu sein." Das war einer von Hausers ersten Sätzen,
als wir uns wiedersahen. Ich hatte ihm Mails geschickt, Nachrichten auf die Mailbox
gesprochen, aber erst Wochen nach meiner Rückkehr ins Archiv kam eine Antwort:
Gratuliere zu allem, schrieb er, und wenn du irgendwann den Kopf wieder freier
hast, sollten wir uns treffen.
Als ich dann vor seiner Wohnungstür stand, war mir, als wären seit dem letzten Mal
nur Tage vergangen. Natürlich fragte er zuerst, wie es im Archiv gehe, und ich
antwortete, ich müsse meine neue Rolle erst noch üben. Dann sagte er, ich würde
vieles neu und anders machen müssen als er. Was denn das Neue sei, fragte ich, und
er antwortete, das maße er sich nicht an zu wissen, wissen müsse ich es nun selbst.
Ich müsse es zumindest immer besser wissen, schränkte er dann ein, und dann kam
dieses: Versuch nicht, der neue Hauser zu sein. Wieder so ein Hauser-Satz zum
Nachdenken. Eine Mahnung, natürlich, und vielleicht eine Warnung, dass man auch
als Archivleiter scheitern könne. Aber es bedeutete auch: Von nun an sei ich nicht
mehr der junge Unerfahrene, der sich auf ihn verlasse, ich, Matthias Schmidt, würde
nun ebenso eigene Wege gehen wie er früher. Und dann sagte er: "Du wirst viel mehr
kämpfen müssen, als ich es musste." Aber ich war noch zu naiv, um wegen solcher
Äußerung besorgt zu sein.
Am Ende des Gesprächs fragte ich, ob er sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem
Verlag nicht bedaure. "Nein" sagte er, "es war eine befreiende Niederlage." Wieder
so ein Hauser-Satz. Ja, bedeutete es, sein Ausscheiden sei eine Niederlage gewesen,
er habe sich tatsächlich unbeliebt gemacht, aber letztlich sei es vor allem eine
Befreiung. "Ich bin ein freierer Mensch denn je", sagte er, "und ich kann freier
denken denn je." Und nach einer kurzen Pause: "Und ich tue es."
Er sah mich an, als erwartete er einen Kommentar, aber was hätte ich antworten
sollen?
– Wer, fuhr Hauser dann fort, wenn nicht Pensionäre, ist in diesen Zeiten frei im
Denken? Und wer, wenn nicht Pensionäre, soll in diesen Zeiten Neues denken?
119
– Politisch, meinst du.
– Ja, natürlich. Den Jüngeren ist die Zeit für freies Denken zu knapp geworden.
– Also die Rentnerrevolution?
Hauser lachte auf, lauter und tatsächlich befreiter, als ich es früher bei ihm erlebt
hatte.
– Darauf war ich noch nicht gekommen. Schöner Gedanke.
Ich ging beschwingt nach Hause. Oder, kam mir unterwegs in den Sinn, zählte er
auch mich zu den Jungen, die sich nicht die Zeit für unabhängiges Denken nehmen?
Zählte er mich also zu der zukunftsblinden Generation Sichtflug, mit der Graf so
verbittert abgerechnet hatte? Und wenn ja, war ich dann nicht wenigstens als Vater
noch nicht einmal zweijähriger Zwillinge vorübergehend entschuldigt? Aber egal.
Viel wichtiger war, dass Hauser nun – nicht mehr als Chef, sondern als Freund und
mit altersweisem Widerspruchsgeist – wieder, das hoffte ich, eine Art Mentor für
mich würde sein können
Genau so ist es dann tatsächlich gekommen, und so ging es bis weit ins zweite
Jahrhundertviertel hinein. Auch meine Gedanken über diese Zeit wurden von langen
Gesprächen mit Hauser geprägt und von spontanen Einfällen, die er mir oft in kurzen
Mails erläuterte.
Ich fange hier an mit einem Gedanken, genauer: einer Frage, die Hauser in diesen
Jahren besonders am Herzen lag. Was geht in der politischen Welt wie lange gut?
Wie lange können welche politischen Regimes sich noch halten? Wie lange können
welche Regeln der Politik noch funktionieren? Wie lange kann die politische
Landkarte bleiben, wie sie ist? Wie stabil ist unser Land, wie stabil ist unser Staat?
Wie stabil ist die Staatsordnung, die wir die demokratische nennen? Wie stabil sind
andere Staatsordnungen? Wie stabil also ist unsere Welt, politisch gesehen? Und
wann werden welche Veränderungen in welchen Teilen der Welt unabwendbar?
120
Gelegentlich fragte er mich hierzu nach meiner Meinung. Zum Beispiel: Wie lange,
meinst du, kann sich das kommunistische Regime in Nordkorea noch halten, wie
lange das Regime in Kuba, wie lange das in China? Natürlich hatte ich darauf keine
spontanen Antworten parat, und natürlich hatte Hauser selbst in solchen Fällen
zumindest plausible Vermutungen. Wer hätte vor vierzig Jahren gedacht, fragte er,
dass heute immer noch kommunistischen Parteien an der Macht sein würden? Und
wie viel Zeit bleibt ihnen noch?
– Nicht sehr viel, sagte ich.
– Noch zwanzig Jahre? Dreißig?
– So viel nicht.
Hauser zögerte einen Moment, dann kam eine ausgefeilte Antwort. Nordkorea könne
man sich wie eine straff organisierte Sekte vorstellen, und man wisse ja, dass Sekten
jahrhundertelang überleben können, wie abstrusen Überzeugungen sie auch anhingen
und welche Entbehrungen sie ihren Mitgliedern auch zumuteten, und das selbst in
Zeiten, in denen Sektenmitgliedern im Internet fast alle Informationen dieser Welt
offen stünden. Wenn das Regime in Nordkorea sich geschickt genug anstelle, wie die
Führung einer glaubensstarken Sekte eben, dann könne es sich noch jahrzehntelang
halten. Vorausgesetzt, sagte er, es finde sich wieder ein charismatischer
Sektenführer.
Den Fall Kuba sah er anders. Die Kubaner, meinte er, seien nie eine solche politische
Sekte gewesen und würden es nicht werden. Trotzdem könne sich auch in Kuba die
kommunistische Staatspartei noch lange halten, wenn sie ihre politische Botschaft
dem politischen Bewusstsein der Bevölkerung anpasse. Genau das habe die
kommunistische Partei Chinas in den vergangenen 30 Jahren ja getan, und zwar mit
Erfolg, und wenn es dort vorerst so weitergehe, müsse das für China nicht die
schlechteste Lösung sein. Den Fall Kuba sehe er ähnlich. Natürlich war ich bei
solchen Szenarien ungeduldiger als Hauser, aber ich war zu unsicher, um
Widerspruch zu wagen.
121
Hausers breitete immer mehr solcher politischen Zukunftsszenarien aus, und kaum
ein Teil der Welt blieb davon ausgenommen. Und immer wieder staunte ich, wie viel
langsamer er kommende politische Entwicklungen einschätzte als ich. Im ersten
Jahrhundertviertel sei doch viel geschehen, wandte ich einmal ein, warum solle es
nicht so weitergehen. Darauf Hauser: Ja, es sei natürlich viel passiert, aber wenn man
genauer hinschaue, dann sei es nicht viel Neues, von neuem Leid einmal abgesehen.
Politik im ersten Jahrhundertviertel, gerade die Politik der etablierten
demokratischen Staaten, habe fast immer versucht, Verhältnisse einzufrieren, so wie
im 20. Jahrhundert beispielsweise der Zypern-Konflikt eingefroren worden sei. Das
sei nicht immer, aber doch ganz überwiegend gelungen, und alles spreche dafür, dass
es so weitergehen, dass die politischen Verhältnisse im kommenden
Jahrhundertquartal sich ähnlich zäh entwickeln würden. Gerade ich, der ich doch in
Geschichte einigermaßen bewandert sei, müsse doch wissen, dass große politische
Veränderungen immer erst nach langen Phasen von Stagnation möglich würden und,
wie 1989, dann meistens unerwartet kämen, es sei denn, eine totale Erschöpfung
durch Krieg oder Bürgerkrieg hätte den Weg für einen wirklichen politischen
Neuanfang freigemacht. Einen solchen Erschöpfungszustand, in dem es den
Menschen wie Schuppen von den Augen falle, was und wie viel sich ändern müsse,
sehe er noch nicht kommen. In Sachen Staatsgrenzen und Staatszugehörigkeit seien
die Dinge zwar ins Wanken gekommen, aber nicht wirklich voran.
Und dann: Was meinst du, wie lange es mit Europa, mit der EU, noch gutgeht?
– Hoffentlich noch sehr lange, sagte ich.
– Ich hoffe das nicht.
Er machte eine Pause, als wolle er meine Verblüffung genießen.
Nur Europa, sagte er dann, könnte der Welt ein Beispiel geben, wie gute Politik in
komplizierten Verhältnissen gelingen kann. Im Nahen Osten sei alles noch viel
komplizierter, aber umso wichtiger sei, dass das Beispiel Europa keine Schwächen
122
zeige. Das Europa, wie es ist, habe aber große Schwächen, auch seine einzelnen
Staaten. Als Vorbild für den Nahen Osten tauge es in diesem Zustand nicht.
Wo war Hauser mit seinen Gedanken gelandet? Bei einem anderen Europa, das aus
anderen Staaten besteht?
– Denkst du jetzt in Utopien?, fragte ich.
– Kommt darauf an, was du darunter verstehst.
– Utopien sind gescheiterte Denkexperimente.
– Die alten Utopien waren es. Wir brauchen endlich bessere.
Dauerkonflikt um Staatsgrenzen
Ich war – da hatte Graf völlig Recht – in einer eher unbesorgten Generation
aufgewachsen. Die meisten von uns meinten tatsächlich, dass die Menschheit
politisch das Schlimmste hinter sich habe, auch ich, auch noch als Mitt- und
Spätzwanziger. Dann kamen die Gespräche mit Hauser. Wenig von dem, worüber
ich mit ihm diskutierte, hat mich so berührt wie seine Erklärungen zum Weltkrieg in
Etappen, dem, wie er ihn manchmal auch nannte, Jahrhundertweltkrieg, den man
auch deswegen einen Weltkrieg nennen muss, weil in ihn nicht nur Staaten mit
umstrittenen Grenzen verwickelt sind. Verwickelt sind auch intervenierende
Großmächte und all die anderen Staaten, die sich gegen oder auch für separatistische
Bewegungen in anderen Ländern engagieren, darunter damals Russland, die USA,
europäische NATO-Staaten, mehrere Golfstaaten, die Türkei, der Iran und viele
andere, und sogar die UNO. Auch nach meiner Rückkehr aus Berlin haben Hauser
und ich darüber oft diskutiert.
Am bis dahin schlimmsten Schauplatz dieses Krieges, dem Nahen Osten, hatten sich
die Konfliktparteien, keine von ihnen endgültig besiegt, aber alle wirtschaftlich,
militärisch und mental erschöpft, in einen informellen Waffenstillstand gefügt.
Hausers Prognose war, dass der Dritte Weltkrieg nun eine Pause machen werde. Der
123
Grund sei aber natürlich nicht, dass die Staatsbürger dieser Welt ihren Frieden mit
ihrer Staatszugehörigkeit gemacht hätten. Der Grund sei vielmehr, dass die Staaten
dieser Welt nun umso entschlossener jegliche Art von Separatismus unterdrückten.
Damit würden sie aber allenfalls einen Pyrrhussieg erringen.
Früher, als Archivar, erzählte Hauser mir, habe er viel Zeit damit verbracht, sich über
die Konflikte um Staatszugehörigkeiten in der Welt auf dem Laufenden zu halten,
über offene, schwelende und latente, nun wolle er diese Konflikte nur noch so gut
wie möglich verstehen lernen. Umso dankbarerer war er, wenn ich ihm hierzu aus
dem Archiv gelegentlich neue Informationen zutrug. In unseren Gesprächen streifte
er dann immer wieder die Schauplätze realen und potentiellen Separatismus dieser
Welt, Länder also wie China, Indien, Malaysia, Indonesien, Philippinen, Sri Lanka,
Afghanistan, Russland, die Türkei, die gesamte Nahost-Region, den Südsudan,
Algerien, Nigeria und andere afrikanische Länder, und natürlich auch Schottland,
Katalonien, Flandern, Südtirol, Estland und auch einige Balkanstaaten. Selbst dort,
so Hauser, seien die Fragen der Staatszugehörigkeit ja nicht endgültig ausgekämpft.
Man könne sich doch nicht um so viele Krisenherde gleichzeitig sorgen, gab ich
einmal zu bedenken, auch nicht als engagierter Ruheständler, und er gab mir Recht.
Es sei ja aber das Wesen dieses Weltkriegs, dass er an immer anderen Orten
ausbreche oder aufflackere, und wenn die mächtigen Staaten dieser Welt sich immer
nur mit dem gerade akutesten Krisenfall befassten, dann sei ein Ende dieses Krieges
umso weniger absehbar. Einem Ende könne er erst näherkommen, wenn die
Staatengemeinschaft ihn als ein Ganzes verstanden habe. Wenn ihm als Ruheständler
das halbwegs gelinge, dann irgendwann ja vielleicht auch anderen, auch Politikern.
Am meisten besorgt blieb Hauser um die Nahostregion, aber mindestens ebenso
beschäftigte ihn Indien. Dass manche tatsächlich glauben machen wollten, Indien
könne einmal so etwas wie die Schweiz Asiens werden, war für Hauser nicht nur
abwegig, er fand es skandalös. Wer etwas von Geschichte, Kultur und Wirtschaft
verstünde, müsse doch wissen, dass die Schweiz historisch, kulturell und
wirtschaftlich ein sehr besonderer Fall sei, der sich auch bei gutem politischem
124
Willen nicht auf andere Teile der Welt übertragen lasse. Wer dies ignoriere, der
werde – das wisse ich doch – bei Konflikten um die Staatszugehörigkeit leicht zum
politischen Brandstifter. So polemisch konnte Hauser manchmal sein, aber wenn,
dann hatte er allen Grund dazu.
Ich selbst hatte mich mit Indien bis dahin nur wenig befasst, ich wusste nicht einmal,
dass dort etwa 100 verschieden Sprachen gesprochen werden. Nach Hauser
verharrten die vielen Ethnien Indiens politisch noch immer in einer Art
postkolonialer Apathie. Irgendwann aber würden einige von ihnen sich zu fragen
beginnen, ob sie nicht als – ganz oder weitgehend – unabhängige Staaten besser,
freier und selbstbewusster würden leben können. Erst wenn der indische
Subkontinent dies durchlebt habe, könne er in seiner Entwicklung ganz allmählich zu
Europa aufschließen. Ich muss zugeben, dass ich dies damals für eine ziemlich
verwegene Spekulation hielt.
Wo Hauser dagegen Prognosen für kürzere Zeiträume anstellte, für eine, zwei oder
drei Dekaden, erschienen diese mir meistens plausibel, auch die Prognose, dass der
Dritte Weltkriegs für einige Zeit eingefroren sein werde. Auf meine Frage, wie lange
Konflikte um Staatsgrenzen sich einfrieren ließen, antwortete er, dass das unter
anderem davon abhänge, wie unzivilisiert Staaten ihre Minderheiten zu behandeln
wagten. Er sei aber ziemlich sicher, dass das Dogma der Unantastbarkeit von
Staatsgrenzen noch ein paar weitere Jahrzehnte das Denken und Handeln der
Staatengemeinschaft bestimmen werde. Aus dieser ideologischen Phalanx werde
vorerst kein einflussreicher Staat ausscheren. Auf lange Sicht werde aber genau das
immer mehr Bürger ihren Staaten und der Staatengemeinschaft entfremden, was eben
auch in Gewaltbereitschaft und Terror münden könne. Die Welt werde in Sachen
Separatismus daher weiter den Atem anhalten.
An dieser Stelle brauchte ich eine Denkpause. Wir vertagten uns auf später.
125
Flüchtlingsströme und territoriale Integrität
Die Flüchtlingsströme aus arabischen und afrikanischen Krisenländern hatten sich
Anfang des zweiten Jahrhundertquartals noch einmal verstärkt. In meiner Einstellung
dazu hatte ich mich nie beirren lassen: Wenn Flüchtlinge ihr Leben aufs Spiel
setzten, um dem Elend ihrer Heimtatländer zu entkommen, dann dürfe Europa sie
nicht abweisen. Die Länder Europas, die wohlhabendsten zuallererst, müssten
großherzig in der Aufnahme von Flüchtlingen sein und ganz generell großzügige
Einwanderungsländer, und zwar auf Dauer. Das Ansinnen, legale und illegale
Zuwanderung mit möglichst lückenlosen Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen
unterbinden zu wollen, entspringe niederen fremdenfeindlichen Instinkten. Ängste
vor Überfremdung und vor dem Verlust nationaler Identität, Solidarität und
Prosperität seien in diesem Zusammenhang unbegründet. Die Zuwanderer aus
Krisenländern trügen, im Gegenteil, zum nationalen Wohlstand bei, und sie
bereicherten die aufnehmenden Länder mit kultureller Vielfalt. Die großzügige
Aufnahme von Flüchtlingsströmen sei also nicht etwa nur moralisch geboten, sie sei
vielmehr in jeder Hinsicht als Chance zu sehen. So oder ähnlich sah es, wer sich
nicht der Nähe zu anrüchigen rechten Populisten verdächtig machen wollte. Also
auch ich.
Natürlich musste, wer es so sah, sich vorhalten lassen, dass Deutschland nicht
beliebig viele Flüchtlinge aufnehmen könne, so sehr Einzelschicksale auch zu
Herzen gingen, dass die Politik also gar nicht anders könne, als Grenzen der
Aufnahmebereitschaft zu setzen, notfalls mit staatlichem Zwang. Noch sahen wir
anderen diese Grenzen aber in weiter Ferne.
Es war Hauser, der mir auch in dieser Frage Neues zu bedenken gab. Vor der Not der
Flüchtlinge, sagte er, dürfe man natürlich nicht die Augen verschließen, aber ebenso
wenig vor der Not in den Herkunftsländern. Dort werde die Not noch größer, wenn
immer mehr Flüchtlinge ihre Länder verließen. Denn die Mehrheit Flüchtlinge seien
für ihre Heimatländer potenzielle Leistungsträger, die ihr Land voranbringen
126
könnten. Migration, die uns voranbringe, werfe also die Herkunftsländer der
Migranten zurück. Moralisch geboten sei es daher, Flüchtlinge bzw. Migranten aus
weniger entwickelten Ländern allenfalls für möglichst kurze Zeit aufzunehmen und
sie in dieser Zeit bestmöglich auf eine spätere konstruktive Rolle in ihrem
Herkunftsland vorzubereiten. Diesem Gebot sei die Flüchtlingspolitik bisher nicht
gefolgt.
Schon dieser Hinweis half mir, etwas über den Tellerrand der immer gleichen
Flüchtlingsdiskussion hinauszusehen. Viel wichtiger für mich war aber, wie Hauser
mir dann die Augen dafür öffnete, wie die Flüchtlingsdramen mit dem Dogma der
territorialen Integrität zusammenhingen. Natürlich kamen die meisten Flüchtlinge
aus Krisenländern, und natürlich waren die Krisen dort am schlimmsten, wo Krieg,
Bürgerkrieg und Terror herrschte, und natürlich ging es bei Krieg, Bürgerkrieg und
Terror meistens auch um Fragen der Staatszugehörigkeit und Staatsgrenzen. Es ging
darum, dass Menschen sich ihrem Staat nicht zugehörig fühlten, also einem anderen
Staat angehören wollten, sei es einem neuen oder einem schon bestehenden. Es ging
auch immer noch um die Überwindung von Staatsgrenzen und Staaten, die vor langer
Zeit von Despoten und von Kolonial- und Siegermächten willkürlich geschaffen
worden waren. Und es ging darum, dass die Staatengemeinschaft, angeführt von den
Staaten des Westens, sich solchen Ansinnen widersetzte, auch mit militärischer
Gewalt, und dass sie sich dabei auch auf das Dogma der territorialen Integrität berief.
So war es auch in den Herkunftsländern der meisten Flüchtlinge, die in dieser Zeit
nach Europa strebten, von den gescheiterten Staaten Nordafrikas bis Afghanistan.
Hauser formulierte es so:
– Die meisten Flüchtlinge, die nach Europa drängen, fliehen vor Problemen, an
denen europäische Staaten Mitschuld tragen. Historische und aktuelle Mitschuld.
– Dann, sagte ich, muss Europa diese Schuld auch abtragen.
– Ja, sagte er, europäische Staaten und mitschuldige.
127
– Aber wie?, fragte ich. Muss Europa dann nicht noch viel mehr Flüchtlinge
aufnehmen?
Hauser schüttelte den Kopf. Das, sagte er, sei eben zu kurz gedacht, auch moralisch.
Vorrangig sei etwas ganz anderes. Die Staaten des Westens müssten auf die
Herkunftsstaaten der Flüchtlinge mit einer neuen Botschaft zugehen. Mit der
Botschaft: Wir helfen euch, eure Landkarte nach euren Bedürfnissen neu zu ordnen.
Wir helfen euch, in neuen Grenzen funktionsfähige Staaten aufzubauen. Auf der
Grundlage eurer eigenen Kultur. Nur so, meinte er, ließen sich die Flüchtlingsströme
auf Dauer eindämmen.
– Aber wann, fragte ich, werden die Staaten des Westens solche Angebote machen?
– Noch lange nicht, sagte Hauser. Sie wollen es nicht, und noch könnten sie es auch
nicht.
Bis dahin hatte ich Debatten über Flüchtlingsströme aus Krisenstaaten immer
aufmerksam verfolgt, aber danach nicht mehr. Ich ertrug sie nicht mehr. Westliche
Demokratien wehrten Flüchtlingsströme ab, für die sie selbst Verantwortung trugen,
und niemand bekannte sich dazu. Die Debatten hierüber drehten sich im immer
gleichen Kreis. Man versäumte nichts, wenn man sie mied.
Kurze Begegnung
An Constanze dachte ich oft, wenn ich im Archiv an ihrem früheren Arbeitsplatz
vorbeiging, und manchmal kamen mir dabei Gedanken, von denen ich meinte, dass
Constanze sie besser hätte denken können als ich. Vielleicht hätte ich mich nie dazu
aufgerafft, ihr ein neues Lebenszeichen zu senden, aber dann kam eines Tages diese
schlichte Mail von ihr. Wir hätten uns ja lange nicht gesehen, schrieb sie, nächste
Woche habe sie einen Termin ganz in der Nähe des SPIEGEL-Hauses, ob ich sie auf
einen Tee treffen wolle, in ihrem früheren Lieblingsrestaurant am Kaiserkai.
Natürlich wollte ich. Vier Jahre war es her, seit wir uns zuletzt gesehen hatten, und
128
sie würde sich verändert haben. Wenn es bei irgendjemanden ganz sicher keinen
Stillstand gab, dann bei Constanze.
Wir beide waren neugierig aufeinander, und wir beide – auch sie, das tat mir gut –
ließen es einander sofort spüren. Als Erstes hätte ich sie fragen mögen, wie es ihr in
meiner Berliner Zeit beim SPIEGEL ergangen war, aber bevor ich mich das zu
fragen traute, lenkte sie das Gespräch ganz von selbst darauf. Sie erzählte, wie
Hauser sich in dieser Zeit immer weniger noch als der nüchterne, neutrale Archivar
gegeben habe, fast so, als habe er unter dieser Rolle lange gelitten.
– Nein, das hat er nicht, sagte ich.
Er habe es aber sichtlich genossen, sagte sie, diese Rolle in absehbarer Zeit nicht
mehr spielen zu müssen, und vielleicht habe er sich das irgendwann zu sehr
anmerken lassen. Und dann:
– Kann es sein, dass du hast ihm gefehlt hast in dieser Zeit?
– Nein, sagte ich. Aber er hat mir gefehlt.
Jedenfalls sei Hauser ihr gegenüber immer offener geworden, fuhr sie fort, wie er es
vorher wohl mir gegenüber gewesen sei, und als sich sein vorzeitiger Abgang
abzeichnete, habe er mit ihr sogar offen darüber gesprochen, wie es mit dem Archiv
weiterginge.
– Über seine Nachfolge?
– Ja, auch darüber.
– Wolltest du nicht seine Nachfolgerin werden? Das hatten doch viele erwartet.
– Hauser fragte mich einmal, ob ich mir das würde zumuten wollen. Ja, zumuten. So
hat er es gesagt. Das Archiv werde nicht bleiben, was es ist, sagte er. Ein künftiger
Archivleiter werde starke Nerven brauchen, die ich zwar sicherlich hätte, aber ich
müsse sie ja nicht unbedingt im Verlagsarchiv verschleißen.
– Und dann hat er mich als Nachfolger ins Spiel gebracht?
129
– Weil er dich für den besten hielt.
– Den besten, um in einem Archiv mit ungewisser Zukunft verschlissen zu werden?
– Über die Zukunft des Archivs wusste auch er nichts Genaues. Vielleicht ahnte er
nicht einmal, wie die finanzielle Lage des Verlags sich verschlechtert hatte.
Dabei wandte sie den Blick ab, als wolle sie davon ablenken, dass ich von
Unternehmensfinanzen keine Ahnung hatte. Sie winkte eine Kellnerin heran und
bestellte noch einen Tee.
– Reden wir von etwas anderem, sagte sie.
Dann erzählte sie hastig, wie sie vor Jahren mit ihrem Freund eine kleine
Unternehmensberatung für Datensicherheit gegründet habe, eine Arbeit, die ihr nach
den Jahren im Archiv nicht leicht gefallen sei, und dass sie nun in ihrer Firma fast
nur noch Organisation und Werbung mache, was ja auch leichter sei wegen der
Familie.
– Familie?, fragte ich. Kinder?
– Zwillinge.
– Zwillinge? Mir stockte der Atem. Du auch? Ich.., wir…, stotterte ich, meine Frau
und ich...
– Ihr auch?
– Ja, wir haben auch Zwillinge.
– Unsere sind gerade zwei geworden.
– Unsere sind schon drei.
– Schon drei?, sagte sie. Ja, wir waren etwas spät dran mit Kindern, mein Freund und
ich. Dann lehnte sie sich weit zurück, als wolle sie etwas sagen, das keine Nähe
verträgt, aber es kam nur ein warmherziges Lächeln.
130
Zwillinge sind zu selten, als dass viele Zwillingseltern andere Zwillingseltern als
Freunde haben könnten, mit denen sie über ihr Leben als Zwillingseltern reden
können. Nun saßen wir, Constanze und ich, Beinahefreunde von früher, hier als
befreundete Zwillingseltern beisammen. Die nächsten Stunden sprachen wir über
nichts anderes, und wir genossen es. Eltern kleiner Zwillinge haben nicht sehr viele
freie Abende, und dass wir diesen Abend gemeinsam für uns hatten, nahmen wir als
großes Glück.
Ich hatte mir natürlich vorgenommen, mit Constanze auch über Hausers
Aufzeichnungen zu sprechen, aber dafür blieb wenig Zeit. Erst kurz bevor wir
auseinandergingen, begann ich davon zu erzählen. Ich wünschte mir natürlich, sagte
ich, dass auch sie diese Aufzeichnungen bald lesen werde, und dann fragte ich sie
noch, ob sie es für einen Vertrauensbruch hielte, wenn ich ihr ohne Hausers Wissen
eine Kopie schickte.
– Was immer du tust, sagte sie, du kannst dich auf mich verlassen.
Am nächsten Tag schnürte ich das Paket mit den Aufzeichnungen zusammen, und im
letzten Moment legte ich noch diese kurze Notiz dazu: Letztes Gespräch mit Hauser:
Die Welt wird wegen des Separatismusproblems noch den Atem anhalten. Es bleibt
spannend. Dann brachte ich das Paket zur Post.
Scheidungsrecht für Staaten
Ich hatte Hauser gedrängt, unser Gespräch über das Staatsgrenzenproblem
fortzusetzen. Als wir uns wieder in seiner Wohnung trafen, meldete ich Widerspruch
an. Die separatistische Gewalt werde weitergehen, habe er gesagt, aber das, sagte ich,
gelte doch nicht für Europa. Hier seien die Zeiten separatistischen Terrors doch
hoffentlich vorbei. Nordirland, das Baskenland und Südtirol seien längst keine
Regionen des Terrors mehr, das Unabhängigkeitsstreben von Schotten und Katalanen
sei von Anfang an gewaltfrei gewesen, und der Konflikt um die Ostukraine sei
131
mittlerweile eingefroren. Zumindest in Westeuropa deute nichts auf einen Rückfall in
separatistische Gewalt hin.
Ja, bestätigte Hauser, wenigstens Westeuropa könnte vom Dritten Weltkrieg
verschont bleiben.
Aber dann, erwiderte ich selbstbewusst, könne man doch darauf hoffen, dass auch
der Rest der Welt bald so weit sein werde. Dann tue die Politik doch genau das
Richtige, wenn sie versuche, die Konflikte um die Staatszugehörigkeit erst einmal
einzufrieren. Dann brauche man nur abzuwarten, bis sie ihre kriegerische Brisanz
von allein verlören.
– Aber wie lange wird das dauern?, fragte Hauser. Für wie lange müssten solche
Konflikte eingefroren werden? Hundert Jahre, zweihundert, fünfhundert, tausend?
Nein, der Weg des Friedens könne nur der offene Umgang mit solchen Konflikten
sein, das volle Selbstbestimmungsrecht also über die Staatszugehörigkeit.
Beinahe ebenso, erinnerte ich mich jetzt, hatte ich vor ein paar Jahren selbst schon
einmal argumentiert, und nun brachte Hauser mich wieder auf diese Gedankenspur.
Ein bisschen hätte ich sogar Recht, sagte er dann, solange die bessere Lösung noch
nicht auf dem Tisch liege, bleibe der Politik nicht viel anderes, als Zeit zu gewinnen.
Aber von allein würden diese Konflikte ihre Brisanz nicht verlieren, auch nicht in
Europa. Sie würden, im Gegenteil, immer brisanter werden, wenn das
Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit weiter so überheblich verwehrt
werde. Den Katalanen zum Beispiel werde noch immer vorgehalten, sie seien noch
nie unabhängig gewesen, sie hätten schon deswegen keinen Grund, es je zu werden,
und sie könnten es ja ohnehin nicht, weil es gegen die spanische Verfassung
verstieße. Mit so dürftigen Argumenten lasse der Freiheitswille von Bürgern sich auf
Dauer nicht unterdrücken.
– Also könnte es irgendwann doch auch in Europa wieder Unabhängigkeitskriege
geben?, fragte ich.
132
Vielleicht keine Kriege, antwortete Hauser, aber ganz sicher heftige Konflikte. Wer
sich Freiheitsrechte erkämpfen wolle, der finde dafür letztlich die zu seiner Zeit und
in seinem Land passenden Mittel. Das würden in Europa andere Mittel sein als z.B.
in der arabischen Welt.
– Unabhängigkeitskriege ohne Waffengewalt?
– Vielleicht ohne Waffengewalt im herkömmlichen Sinn, sagte er. Europa könnte der
Welt zeigen, wie man einigermaßen zivilisiert und doch erfolgreich für die
Unabhängigkeit kämpft. Das aber würde solche Kämpfe nicht eindämmen, sondern
im Gegenteil dazu ermuntern. Es würde den Dritten Weltkrieg entschärfen, aber
zugleich ausweiten.
Nur wenig anderes scheint Hauser in seinen späten Jahren so sehr beschäftigt zu
haben. In seinem Alter müsse er sich allmählich auf das Wesentliche konzentrieren,
sagte er am Ende unseres Gesprächs, und dabei zeigte er auf seine Bücherregale. Bei
meinem ersten Besuch hatten die Bücher sich noch vor den Wänden scheinbar
ungeordnet bis zur Decke gestapelt, nun war Ordnung eingekehrt. Manche Regale
waren halb leer.
Eine private Bibliothek sei ja wie ein Archiv, war Hausers Kommentar dazu, fast
alles darin sei auf lange Sicht Ballast. Er könne den Ballast aber immer besser vom
wirklich Wichtigen unterscheiden, also könne er auch immer mehr Ballast abwerfen.
Seine Bücherregale würden sich nach und nach bis auf einen kleinen Restbestand
leeren.
Bis zu meinem nächsten Besuch bei Hauser verging fast ein ganzes Jahr. Auch dieses
Mal war es dann aber wieder fast, als führten wir ein Gespräch von gestern fort.
Hauser bat mich herein, und dann zeigte er mir mit stolzer Miene ein halb leeres
Bücherregal, das als einziges noch in der Wohnung stand.
– Meine Wissensschätze, sagte er mit einem hoch zufriedenen, befreiten Lächeln.
Dann bückte er sich zum untersten Regalboden hinunter.
133
– Und ich habe hier auch ein paar selbstgeschriebene Sachen…
Ich stand wie vom Donner gerührt, wurde stocksteif, dann spürte ich, wie mein
Gesicht rot anlief. Hoffentlich dreht er sich jetzt nicht um, dachte ich, hoffentlich
schaut er dich jetzt nicht an. Griff er gerade nach eben jenen Aufzeichnungen, deren
Kopie ich ohne sein Wissen schon gelesen hatte? Würde er gleich anfangen wollen,
darüber zu erzählen? Ja, schoss es mir durch den Kopf, jetzt passiert es, gleich musst
du ihm offenbaren, dass du seine Aufzeichnungen längst kennst, gleich musst du
erklären, warum du es ihm bisher verschwiegen hast, gleich musst du beichten, dass
du Constanze eine Kopie geschickt hast. Gleich wirst du dich elend fühlen.
Aber, dachte ich nach einer Sekunde der Besinnung, könnte es nicht doch glimpflich
ausgehen? Könnte ich ihm nicht einfach sagen, wie viel seine Aufzeichnungen mir
bedeuteten und dass es gut sei, mit ihm über manches, was ich darin gelesen hätte,
inzwischen auch geredet zu haben? Und wenn das gesagt sei, könnte alles Weitere
dann nicht doch ganz leicht sein?
Hauser griff sich vom untersten Regalboden einen kleinen Karton, öffnete ihn, holte
zwei zusammengeheftete Textseiten heraus und überflog sie kurz.
Ich warf einen kurzen unauffälligen Blick über seine Schulter. Nein, es waren nicht
die Aufzeichnungen, nicht die aus dem Archiv. Die Röte wich aus meinem Gesicht.
– Hier, sagte Hauser, und streckte mir die beiden Textseiten entgegen. Das ist mir
vor Jahren in Sachen Unabhängigkeitsreferendum eingefallen. Kannst es ja zu Hause
mal lesen.
Zu Hause angekommen, nahm ich mir die Seiten sofort vor. Leichte Lektüre war es
nicht. Hauser knüpfte darin an das schottische Unabhängigkeitsreferendum an, das
nun schon fast zwanzig Jahre zurücklag. Ich gestehe, dass ich den Text mehrere Male
lesen musste, um ihn halbwegs zu verstehen. Ich gebe ihn hier trotzdem unverändert
wieder:
Warum scheitern Unabhängigkeitsreferenden wie das in Schottland? Warum stecken andere
Unabhängigkeitsbewegungen fest, auch in Europa? Der wichtigste Grund scheint mir dieser
134
zu sein: Die Unabhängigkeitsfrage lässt sich in einem entwickelten Land nicht mehr sinnvoll
in einer einzigen Ja/Nein-Frage zusammenfassen. Es geht ja darum, wer mit wem in einem
gemeinsamen Staat leben will. Dies ist aber eigentlich ein Bündel von Fragen, die den
Bürgern eigentlich einzeln gestellt werden müssten. Zum Beispiel so:
Mit wem wollt ihr einen gemeinsamen Sozialstaat unterhalten?
Mit wem gemeinsame Streitkräfte?
Mit wem eine gemeinsame Währung?
Mit wem ein gemeinsames Bildungssystem?
Mit wem ein gemeinsames Rechtssystem?
Mit wem einen gemeinsamen staatlichen Kulturbetrieb?
Mit wem gemeinsame Nationalmannschaften?
Mit wem ggf. eine gemeinsame repräsentative Monarchie?
Mit wem ggf. eine gemeinsame Staatskirche?
Mit wem wollt ihr gemeinsam welchen suprastaatlichen Organisationen angehören?
Nur selten würde eine Mehrheit der Bürger auf alle diese Einzelfragen die gleiche Antwort
geben.
Welche dieser Fragen ließen sich dann aber in einem Unabhängigkeitsreferendum sinnvoll
zusammenfassen? In den seltensten Fällen alle. Je höher der politische Entwicklungsstand,
desto weniger.
Wenn aber mehrere dieser Fragen getrennt gestellt werden müssen, sollte man diese dann
zur gleichen Zeit stellen oder besser in größeren zeitlichen Abständen? Auch das ist eine
wichtige Frage, und auch darauf hängt die Antwort von den Umständen ab. Klar ist nur: In
Sachen Staatszugehörigkeit geht es nicht nur um das Wer will mit wem. Es geht auch um
das Wer will was mit wem. Die Bürger können sich zum Beispiel in Sachen Währung,
Verteidigung und Sozialstaat verschiedene Staatsgrenzen wünschen. Wenn sie sich
irgendwann die Freiheit nehmen, hierüber selbst zu entscheiden, wird das die Welt
grundlegend verändern.
Die Frage der Unabhängigkeit als eine einzige Ja/Nein-Frage zu stellen wie damals in
Schottland ist jedenfalls in einer hoch entwickelten politischen Kultur nicht mehr zeitgemäß.
Der Separatismus der Zukunft wird daher mit dem des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr
viel gemein haben, zumindest in Europa. Er wird übrigens auch geduldiger sein müssen.
135
Staatsgrenzen verschiebt man nicht für eine Legislaturperiode, solche Entscheidungen haben
einen viel weiteren Zeithorizont. Umso besser müssen sie vorbereitet sein.
Trotzdem müssen die Bürger sich natürlich auch bei solchen Entscheidungen irren dürfen.
Solche Entscheidungen müssen daher friedlich und möglichst einvernehmlich korrigierbar
sein. Auch hierfür müssen plausible Regeln entwickelt werden. Das wird eine politische
Daueraufgabe der Staatengemeinschaft werden.
Vielleicht kann man es so zusammenfassen: In einer immer komplizierteren Welt muss auch
Separatismus, muss auch die Teilung und Neuzusammensetzung von Staaten immer
professioneller werden. Es müsste hierfür auch spezialisierte Politikberater geben, die bei
der Trennung und Neuzusammensetzung von Staaten professionelle Hilfe leisten.
Irgendwann wird es hierfür sogar ein eigenständiges Forschungs- und Lehrgebiet geben
müssen.
Natürlich wird auch eine hierauf spezialisierte Wissenschaft nicht unfehlbar sein und
natürlich auch deren Anwendung nicht. Bei der Trennung, Neuabgrenzung und
Neuzusammensetzung von Staaten werden Fehler passieren, und daher wird eine solche
Wissenschaft auch eine Wissenschaft von der Wiederzusammenführung von Staaten sein
müssen.
Hauser war sich offenbar völlig darüber im Klaren, auf wie wenig Verständnis solche
Prognose zu seiner Zeit stoßen würde. Deswegen hat er noch diese kleine
Verständnishilfe hinzugefügt:
Dass die Teilung eines Staates nichts Verwerfliches ist, sondern etwas ganz Normales, daran
werden viele sich nur langsam gewöhnen. Dies ist nicht nur ein Einschnitt in der politischen
Kulturgeschichte, es wird auch ein Umbruch in der Geschichte des Völkerrechts sein.
Hier könnte vielleicht ein Vergleich mit der Geschichte des Ehescheidungsrechts helfen.
Auch die Teilung eines Staates ist ja eine Scheidung, die Scheidung eines Staatsvolkes.
Es ist nicht lange her, dass Ehescheidungen noch nach Gesetz und Moral als verwerflich
galten. Einer Scheidung sollte immer auch Schuld vorangegangen sein, und Schuld verdiente
Strafe. Bei der Scheidung von Staatsvölkern herrscht noch immer ähnliches Denken.
136
In großen Teilen der Welt hat sich das Bewusstsein in Sachen Ehescheidungen zum Glück
gründlich gewandelt. Ehen zwischen unvollkommenen Partnern – also alle Ehen – können
zerrüttet sein, ohne dass eine Schuld feststellbar wäre. Also werden Ehen aufgelöst, ohne
dass nach Schuld gesucht würde.
Sollte für Gemeinschaften von Staatsbürgern nicht das Gleiche gelten? Sollte nicht ein
halbes Jahrhundert nach der Modernisierung des Ehescheidungsrechts endlich ein modernes
Scheidungsrecht für Staatsvölker auf den Weg gebracht werden? Nichts anderes kann doch
richtig sein
Aber auch einem zeitgemäßen Scheidungsrecht für Staatsvölker müsste die Scheidungskultur
zu einem gewissen Grad vorangehen. Nicht nur aus der Rechts-, sondern auch aus der
Kulturgeschichte der Ehescheidung könnte daher die Staatswissenschaft etwas lernen.
Auch wenn mir diese Notizen Hausers letztlich plausibel erschienen, habe ich mich
damals wenig damit befasst, vielleicht auch deswegen, weil die Konsequenzen erst
spätere Generationen betreffen würden. Vielleicht hätte ich mich hartnäckiger darin
vertieft, wenn ich schon damals von Hausers späteren noch kühneren Gedanken zu
diesem Thema gewusst hätte.
Trotzdem habe ich mir in den Jahren danach oft diese hypothetische Frage gestellt:
Wie viel Dritter Weltkrieg hätte durch ein solches Scheidungsrecht für Staatsvölker
bisher vermieden werden können? Und wie gründlich müsste die Demokratie
reformiert werden, damit ein solches Recht überhaupt eine Chance bekommt? Auch
das waren damals natürlich unzeitgemäße Fragen.
Neues Denken in China
Im ersten Jahrhundertquartal hatte es in Deutschland zwei Reformen gegeben, die
aus dem Politikalltag herausragten. Zu beiden fiel die politische Entscheidung im
Jahr 2011. Die eine dieser Reformen, die so genannte Energiewende, war nicht viel
anderes als ein Reflex auf die nukleare Reaktorkatastrophe in Fukushima. Die andere
Reform dagegen war eine originäre politische Leistung, die dem damaligen Zeitgeist
voraus war: die Abschaffung der Wehrpflicht. Durchgesetzt vom
137
Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Es war die Leistung, die
Guttenberg bei vielen in guter Erinnerung gehalten hatte.
Guttenbergs politisches Comeback war perfekt inszeniert. Ein kluger PR-Berater
hatte ihn lange genug vor einer überstürzten Rückkehr in die Politik gewarnt. Zehn
Jahre Auszeit seien zu wenig, war der Rat gewesen, zwanzig Jahre seien besser.
Guttenberg hielt fast 18 Jahre durch. Er hatte sich seine frische jugendliche
Ausstrahlung bewahrt, seine Rhetorik war gereift, und hinzugekommen war eine
Aura von Altersklugheit und Milde. Seine Berater hatten die Hauptzielgruppe für ihn
abgesteckt: Frauen ab 30, Männer ab 40, mittlerer bis unterer Bildungstand, untere
bis mittlere Einkommensschicht. Sein politisches Programm: er selbst. Sein
Persönlichkeitsprofil: ein fehlbarer Star, der sich zu den Fehlern seines Lebens
bekennt. In dieser Rolle war er auf der politischen Bühne konkurrenzlos.
Der zweite Parteitag der Deutschen Demokraten fand an Guttenbergs sechzigstem
Geburtstag statt. Auch das eine perfekte Inszenierung. Die Delegierten lauschten
seiner einstündigen Rede mit angehaltenem Atem. Sein Schlusswort: Wir werden
dafür sorgen, dass Deutschland gegen die Deutschen Demokraten nicht mehr regiert
werden kann. Dann eine Standing Ovation, die längste, hieß es, die es in den
vorangegangenen 80 Jahren bei einer Parteiveranstaltung in Deutschland gegeben
habe. Die nächsten Umfragen sahen die Deutschen Demokraten als zweitstärkste
Partei. Die SPD und die Grünen abgeschlagen, die Linke bei 8-Prozent, die AfD fast
von der politischen Bühne verschwunden.
Ein Jahr vorher hatte alles ganz anders ausgesehen. Die Deutschen Demokraten, Die
Linke und die AfD zwischen 5 und 6 Prozent, die Muslimisch Soziale Union knapp
darunter. Alle vier für die Altparteien lästige kleine Konkurrenten, alle vier als
Koalitionspartner indiskutabel. Die naheliegende Lösung für die Altparteien war:
Das Wahlrecht ändern, aus der 5-Prozent-Hürde eine 7-Prozent-Hürde machen, um
die Macht auf ein Drei-Parteien-Kartell zu beschränken. Genau so war es geschehen.
In den Medien gab es dafür neben harscher Kritik auch viel Zustimmung. Spätestens
nach einem eventuellen Einzug der MSU in den Bundestag, so hieß es, könnte
138
Deutschland auf Verhältnisse wie in der Weimarer Republik zusteuern, das Beste für
das Land sei daher ein Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Vorbild. Die
Anhebung der 5-Prozent-Schwelle auf 7 Prozent sei immerhin eine zweitbeste
Lösung. Die Antwort der Linken: Sie fühle sich nicht betroffen, ihr Wahlziel liege
ohnehin weit darüber.
Vor der Gesetzesänderung hatten die Altparteien mehrere verfassungsrechtliche
Gutachten bestellt, die die Verfassungskonformität einer 7-Prozent-Hürde
bestätigten. Die MSU reichte trotzdem Klage beim Verfassungsgericht ein. Die
Medien und die anderen Parteien nahmen davon – im Nachhinein fast unerklärlich –
kaum Notiz.
Das war die Art von Petitessen, die den deutschen Politikbetrieb jener Zeit
ausmachten, und in anderen Ländern des demokratischen Westens war es kaum
anders. Dies allein war noch kein Grund, der Demokratie ihren damaligen Rang als
beste unter den bestehenden Staatsformen abzusprechen. Dass dieser Rang bald
einem Staat zukommen könnte, der bis dahin noch als zutiefst undemokratisch galt,
daran dachte niemand. Aber mindestens einen Fall lohnte es schon damals genauer
anzuschauen: China.
Hauser hatte es einmal einen Fehler genannt, eine chinesische Bewerberin nicht als
Praktikantin für das Archiv eingestellt zu haben. Zehn Jahre später – Chinas
Bedeutung in der Welt war weiter dramatisch gewachsen –, stand Tian in meinem
Büro. Auch er Chinese, auch er wollte ein Praktikum machen, auch er war Historiker
und obendrein Informatiker, und auch er arbeitete an seiner Dissertation. Wenn es
zehn Jahre vorher ein Fehler gewesen war, einen chinesischen Bewerber abgelehnt
zu haben, musste es jetzt nicht umso mehr gelten?
Es war nicht so, dass der erste Eindruck von Tian mich überzeugt hätte. Außerdem
hatten manche Leute im Verlag gegen Chinesen Vorbehalte. Chinesen seien
potentielle Spione, so pauschal dachten einige noch immer, auch in der
Verlagsleitung. Bei uns im Verlag gebe es Informationen, die wir um keinen Preis in
139
China verbreitet wissen wollten, und es könne ja sein, dass ein Bewerber aus China
auf Spionage in Verlagsarchiven angesetzt sei. Sogar mir leuchtete das erst einmal
ein. Aber was hätte Hauser dazu gesagt?
Am Ende gab ein einziger Satz den Ausschlag. Wie lange er denn bei uns würde
bleiben wollen, fragte ich Tian.
– Solange Sie wollen, sagte er.
In dem Moment wusste ich: Ich wollte ihn.
Die Bedenken der Verlagsleitung waren schnell ausgeräumt. Wir dürften vor einem
Praktikanten doch keine Angst haben, argumentierte ich, nur weil er Chinese sei.
Außerdem sei der Verlag immer mehr auf Verbindungen nach China angewiesen, auf
Kontakte zu klugen Köpfen dort, zu politischen Organisationen und auch zu
Verlagen, und so etwas baue man am besten ganz von unten auf, auch durch
Einstellung von Leuten, die in China für uns später einmal wichtig werden könnten.
Ich hatte nie vorher Chinesen näher kennengelernt, also war auch ich nicht frei von
Vorurteilen. Chinesen, dachte ich, seien von hölzerner Höflichkeit, eher unnahbar,
von, wenn überhaupt, sehr eigenem, für uns unzugänglichem Humor, Ironie sei ihnen
fremd, Europäern gegenüber gäben sie sich verschlossen, und man wisse nicht recht,
was davon spontan, was anerzogen und was durch Indoktrinierung zu erklären sei.
Nicht viel anders gab sich dann Tian. Er arbeitete sich rasch ein, aber Fragen stellte
er selten. Manchmal ertappte ich mich dabei, dass mich genau das misstrauisch
machte. Oder, dachte ich dann, traute er sich nur nicht zu fragen? Wartete er darauf,
dass erst einmal ich Interesse an ihm zeigte? War ich es also, der die Fragen stellen
sollte?
Als ich endlich verstanden hatte, dass es tatsächlich so war, als ich ihn dann mit
eigenen Fragen aus der Reserve lockte, kamen wir uns schließlich näher. Wann
immer danach von der Redaktion Anfragen zu China kamen, auch zu politisch
sensiblen Themen, zu chinesischen Dissidenten, regimekritischen Demonstrationen,
korrupten Parteikadern, Menschenrechtsverletzungen, Gängelung der Presse,
140
Todesstrafe, rebellierenden Minderheiten oder Rüstungsausgaben, suchte ich nun das
Gespräch mit Tian. Keiner dieser Fragen wich er aus.
Natürlich wollte ich genauer wissen, was für einer dieser Tian war. Ein Dissident,
dessen war ich sicher, konnte er nicht sein. Ein chinesischer Regimekritiker im
Archiv einer bekannten deutschen Zeitschrift – so etwas wusste das chinesische
Regime immer noch zu verhindern. Aber was für einer war er dann? Ein dem
Regime blind Ergebener? Dafür war er zu klug. Ein Parteimitglied? Ihn danach zu
fragen erschien mir zu indiskret. Ein unpolitischer Geist? Sehr unwahrscheinlich.
In dieser Zeit erschien im SPIEGEL ein Kurzbericht unseres China-Korrespondenten
mit dem Titel: Wieder Demonstrationen in Hongkong. Viele chinesische Dissidenten
unter Hausarrest. Am Morgen des Erscheinungstags platzierte ich diesen Artikel auf
meinem Schreibtisch, dann rief ich Tian zu mir.
– Hier, sagte ich, als er vor mir saß, und drehte den Artikel zu ihm hin. Neues aus
Hongkong. Du hast es sicher verfolgt.
Ja, sagte er nur. Sein Blick streifte den Artikel flüchtig, dann sah er für einen
Moment verlegen zu Boden, hob den Kopf und sah mich mit festem Blick an, nun
ganz ohne Verlegenheit.
– Eure Staatspartei greift gegen Dissidenten ziemlich hart durch.
– Die Polizei tut es, sagte er, nicht die Partei.
Natürlich eine Ausflucht, dachte ich. Wie einstudiert.
– Gibt die Partei nicht vor, wie die Polizei mit Dissidenten umgeht? Und wie euer
Geheimdienst mit ihnen umgeht?
Ich erschrak. Hatte ich ihn damit provoziert? Hatte ich zu viel riskiert? War die
Chance auf ein offenes Gespräch über eine heikle Frage schon vertan?
Tian deute nur ein Kopfschütteln an.
– Darüber weiß ich nicht so gut Bescheid.
141
Seine Stimme klang ganz und gar gelassen, ganz und gar aufrichtig. War also all
meine Vorsicht grundlos gewesen? Würde ich mit Tian doch ganz normal reden,
vielleicht sogar streiten können, fast wie mit Kollegen aus westlichen Ländern?
– Du weißt aber doch Bescheid über die Aufgabe eures Geheimdiensts. Er überwacht
im Auftrag der Partei die Gesellschaft. Er will genau wissen, wer wo regimekritisch
denkt und redet. Muss nicht jeder in China damit rechnen, dass Geheimdienstler ihm
nachspüren?
Tian nahm sich mit der Antwort viel Zeit. Dann sagte er ganz ruhig:
– Ja, unser Geheimdienst arbeitet noch viel mit alten Methoden. Viele seiner
Mitarbeiter können nicht anders. Aber er stellt sich sehr rasch um.
– Auf die digitale Überwachung?
– Ja. Amerika ist uns dabei allerdings noch immer weit voraus. Bei uns
kommunizieren noch nicht alle Bürger elektronisch. Aber das ist natürlich das Ziel.
– Damit die ganze Bevölkerung elektronisch überwacht werdenkann?
– Amerika ist darin für uns Vorbild.
Ich wich seinem Blick aus. Wo hatte er das gelernt? Wo hatte er gelernt, verfängliche
Fragen so routiniert zu parieren, wie ein in Talkshows gestählter, von
Rhetoriktrainern geschliffener westlicher Politiker? Was für einer war er also? Doch
ein Agent? Musste ich andere vor ihm warnen? Nein, sagte ich mir, sei nicht
hysterisch, wenn jemand routinierte Antworten gibt, ist er deswegen nicht
verdächtig. Aber was hatte er gemeint, als er "wir" und "uns" sagte, von "unserem"
Vorbild Amerika sprach. "Wir", war das China oder war es womöglich doch der
Geheimdienst? Oder die Partei?
Unsere Blicke trafen sich wieder.
– Ja, sagte er, vorerst ist es so.
142
Vorerst. Vorerst eifert China in der digitalen Überwachung Amerika nach. Und
dann? Wird China Amerika darin überholen? Wird es einen totalen elektronischen
Überwachungsstaat schaffen?
– Aber die Entwicklung wird natürlich weitergehen, sagte er dann.
Ich nickte. Was hätte ich erwidern können? Natürlich wird die Entwicklung
weitergehen, gerade in China. Wohin, hätte ich noch fragen können, aber er hätte
natürlich – so gut kannte ich ihn inzwischen -, geantwortet, dass auch er das nicht
wisse.
Am nächsten Morgen bat ich ihn wieder in mein Büro. Dass Chinas Geheimdienst
nur dem Vorbild Amerika folge, das wollte ich nicht widerspruchslos hinnehmen.
Es könne ja sein, sagte ich, dass chinesische und amerikanische Geheimdienste mit
immer ähnlicheren Methoden arbeiten, aber in einem Einparteienregime spiele ein
Geheimdienst doch eine ganz andere Rolle. In der Demokratie diene der
Geheimdienst der Aufklärung, im Einparteiensystem, also in China, diene er der
Unterdrückung.
Ich biss mir auf die Zunge. Du provozierst ihn nicht, hatte ich mir vorgenommen,
aber nun war es heraus. War er gekränkt? War er enttäuscht, beleidigt, zornig? Die
Fassung würde er nicht verlieren, das war mir klar. Aber das Vertrauen?
– Vielleicht hast du zum Teil Recht, begann er…
Hatte ich mich verhört? Ich hätte Recht damit, dass in China Unterdrückung
herrscht? Nein, Dissident ist er nicht, dessen war ich nun sicher. Was aber dann?
…aber Unterdrückung würde ich es nicht nennen.
– Sondern?
– Stabilisierung. China ist noch nicht ganz so stabil wie einige Demokratien im
Westen.
– Aber hat China solche Methoden der Stabilisierung wirklich nötig?
143
– Stell dir vor, sagte er, was passieren würde, wenn es das, was du Unterdrückung
nennst, in China ab sofort nicht mehr gäbe. Bliebe es in China dann friedlich? Gäbe
es dann sofort eine Demokratie, wie ihr sie habt? Würden die Chinesen das
überhaupt wollen?
– Da hoffe ich doch, sagte ich.
– Es gibt viele Staaten, die zu früh versucht haben, im westlichen Sinn demokratisch
zu werden. Mit furchtbaren Folgen.
– Du glaubst also, dass eure so genannte Stabilisierung etwas Gutes ist? Auch all das,
was euer Geheimdienst tut?
– Im Prinzip ist es so.
– Und wie lange soll es noch so weitergehen?
– Nicht für immer. Das wissen die meisten inzwischen, auch in der Partei.
Nicht für immer, das war mir wieder zu schwammig und zu routiniert. Aber jetzt war
mir wenigstens klar, dass ich ihn nicht schonen musste, dass ich ihm auch
Widerspruch und Streit zumuten konnte.
– Vielleicht vierzig Jahre?, fragte ich. Ist China in vierzig Jahren darüber hinweg?
– Kein Land der Welt hat sich in den letzten vierzig Jahren so stark entwickelt und
verändert wie China. Das wird auch in nächsten vierzig Jahren so sein.
Wieder so eine glatte Antwort. Ich setzte nach:
– Ist China in vierzig Jahren eine westliche Demokratie?
– Das kommt darauf an, was in vierzig Jahren aus der westlichen Demokratie
geworden ist.
Dabei reckte er den Hals, neigte den Kopf etwas nach hinten und sah mich leicht von
oben herab an. Dann sagte er:
– Macht das Beste aus eurer Demokratie. Dann wird man sehen.
144
So ging unser erster ernster Dialog aus. So saß er vor mir, Tian, fast sechs Jahre
jünger, und er argumentierte müheloser und schlagfertiger als ich, fast ebenso
mühelos wie routinierte westliche Politiker. Aber war es wirklich nur bessere
Rhetorik? Oder hatte er womöglich auch die besseren Argumente? Gab es eine
chinesische Dialektik, die dem westlichen Denken überlegen war?
Tian machte sich über die Schattenseiten des chinesischen Regimes keine Illusionen,
er beschönigte nichts, und doch sah er China ganz anders als wir. Natürlich war auch
ich überzeugt, dass China endlich westlicher werden müsse, natürlich drängte ich
ihm dies immer wieder auf, aber beeindruckt hat es ihn nie. Er gab mir immer das
Gefühl, dass ich meiner Sache viel zu sicher sei.
Auch an einen anderen kurzen Wortwechsel hierüber erinnere ich mich noch gut. Ich
sagte, in China müsse, das sehe er doch sicher auch so, die Zeit bald reif sein für den
Übergang zu einem Mehrparteiensystem.
– Das ist nicht unsere Lösung, sagte er.
– Du meinst, es ist noch nicht eure Lösung?
– So weit will ich nicht vorausdenken. So weit voraus kann niemand denken.
Wieder so ein argumentativer K.o. Was hätte ich darauf erwidern können? Ich hatte
eine ausweichende Antwort erwartet oder eine dogmatische, und dann entwaffnete er
mich mit Bescheidenheit. So weit könne er nicht vorausdenken, so weit könne
niemand vorausdenken, auch ich nicht, also müsse auch ich bescheidener sein, müsse
zugeben, dass auch ich für Chinas langfristige Zukunft nicht die Lösung kenne. So,
mit nur einem Satz, hatte er die Rollen zurechtgerückt: Er war der bescheidene, ich
der allzu selbstsichere, der westlich-überhebliche Dialogpartner, der sich
menschenunmögliches Wissen anmaßte.
Wie weitsichtig Tian in politischen Dingen dachte, ging mir trotzdem erst sehr viel
später auf. Enge Freunde wurden wir in dieser Zeit, in dem einen Jahr, das er im
Archiv verbrachte, noch nicht. Nie wären wir auf die Idee gekommen, wir sollten
145
einmal private Zeit miteinander verbringen. Aber am Ende wussten wir beide, ohne
dass es hätte gesagt werden müssen, dass wir einander nicht verlieren wollten.
Kurz bevor Tians Zeit im Archiv zu Ende ging, erschien im SPIEGEL ein Essay
unseres China-Korrespondenten über Chinas politische Entwicklungsperspektiven.
Fast nichts von diesem Essay hätte vor Tians Argumenten Bestand gehabt. Wie aber
wäre ein solcher Essay, fragte ich mich damals, von jemandem geschrieben worden,
der sich mit Tian ernsthaft auseinandergesetzt hätte? Um mir das zu beantworten,
habe ich damals einen solchen anderen Essay selbst entworfen, den ich –
Archivarseele, die ich noch immer bin – bis heute aufbewahrt habe. Ich war
überrascht, wie wenig ich daran ändern musste, um ihn an dieser Stelle einfügen zu
können.
Etwas stimmt nicht im westlichen Denken über China. Auf den ersten Blick ist das
Interesse an der politischen Entwicklung Chinas groß, und trotzdem sind die
Kommentare zu China im Westen erstaunlich gleichförmig. Dafür kann es nur eine
Erklärung geben: Es fehlt am Vorstellungsvermögen für Chinas Besonderheiten.
Der Westen hat jahrzehntelang Chinas rasante Wirtschaftsentwicklung ungläubig
bestaunt. Als dann klar wurde, dass dies kein Strohfeuer war, gegen Ende des 20.
Jahrhunderts, wurde der Westen mit Chinas politischer Entwicklung immer
ungeduldiger. Nach dem Kollaps fast aller anderen kommunistischen Regimes sollte
das chinesische nun bald folgen. China mit seiner Einparteienherrschaft und mit
seiner großenteils immer noch staatlich gelenkten Wirtschaft sei doch, so die im
Westen herrschende Meinung, ein offensichtlicher Anachronismus, die
Überlebensjahre des Regimes müssten also gezählt sein. Jede noch so kleine
Protestkundgebung und jede öffentliche Aktion von Dissidenten schien dies zu
untermauern.
Anfang des Jahrhunderts, In den zehner Jahren und zu Anfang der zwanziger, schien
die Ungeduld mit China sich beinahe erschöpft zu haben, aber sie kehrte zurück. Wie
146
konnte es denn sein, fragte man sich nun wieder, dass die demnächst größte
Volkswirtschaft und bald auch größte Militärmacht der Welt noch immer nicht den
Verlockungen der westlichen Demokratie nachgab. Wie konnte es sein, dass das
bevölkerungsreichste Land der Welt trotz seines enorm gewachsenen Wohlstands
noch immer an seiner rückständigen Staatsordnung festhielt – der große weiße Fleck
auf der Weltkarte der Demokratie.
Natürlich gab es dafür Erklärungsversuche. China hatte mit seinen Reformen ein
Wirtschaftswachstum entfacht, das in der Welt Seinesgleichen suchte. Die große
Mehrheit der Chinesen war damit erst einmal zufriedengestellt. Nur ganz wenige
Chinesen stellten sich überhaupt die Frage, ob es ihnen in einer Demokratie nach
westlichem Muster besserginge, und noch viel weniger antworteten darauf mit Ja.
Die meisten Chinesen schienen ihr politisches System also der westlichen Demokratie
vorzuziehen. Dagegen wünschte sich in demokratisch regierten Ländern niemand ein
politisches System wie das chinesische. Wie war dieser Widerspruch zu erklären? Lag
es einfach daran, dass die meisten Chinesen über die westliche Demokratie zu wenig
wussten? So wollte man es im Westen natürlich gern sehen.
Dass es so einfach nicht war, davon zeugte schon Chinas verblüffende
Wirtschaftsentwicklung. Einige westliche Ökonomen sind überzeugt, dass Chinas
Regime jahrzehntelang eine bessere Wirtschaftspolitik betrieben hatte, als
demokratische Regierungen es seiner Stelle vermutlich getan hätten. Was, wenn
diese Ökonomen Recht haben? Wäre das für Chinesen nicht schon Grund genug, ihr
politisches System für das bessere zu halten? Ihr Einparteiensystem für besser als
das westliche Mehrparteiensystem?
Es ist wohl Zeit, sich im Westen ernsthaft diese Frage zu stellen: Wie viel schlechter
ist ein Einparteiensystem als ein Zwei-, Drei- oder Vielparteiensystem? Die richtige
Antwort könnte eine böse Überraschung sein. Der Unterschied zwischen einem
Einparteiensystem und einem Mehrparteiensystem ist nämlich geringer, als wir
147
denken, und welches System das bessere ist, das kommt auf die Umstände an.
Könnte es sogar sein, dass für das China unserer Zeit das Einparteiensystem
tatsächlich das bessere ist? Und womöglich nicht nur für China?
Die großen Nachteile von Einparteiensystemen liegen auf der Hand: Mangel an
Wahlmöglichkeiten für die Bürger, Mangel an politischem Wettbewerb,
Privilegierung von Parteimitgliedern und Diskriminierung von Parteikritikern,
allenfalls formale Unabhängigkeit der Justiz. Aber um wie viel besser ist all dies im
Mehrparteiensystem?
Die Antwort ist ganz einfach: Der Unterschied zwischen Ein– und
Mehrparteiensystem ist natürlich umso geringer, je ähnlicher im
Mehrparteiensystem die konkurrierenden Parteien sind. Wer aber wollte noch
bestreiten, dass in westlichen Demokratien die Parteien – zumindest die seriös
wählbaren – einander immer ähnlicher geworden sind, von der politischen Rhetorik
einmal abgesehen? Und dass sich daher im Mehrparteiensystem die praktische
Politik durch Wahlen nur noch geringfügig ändern lässt?
Sicher, auch davon gibt es Ausnahmen, aber im Regelfall ist es so. Was ändert sich
im Leben von Amerikanern, wenn die politische Mehrheit von den Demokraten auf
die Republikaner übergeht und umgekehrt? Was hängt für Deutsche davon ab, ob
Christ- oder Sozialdemokraten oder Grüne die meisten Stimmen bekommen? Was
ändert sich für Briten, wenn Tories und Labour einander ablösen? Die allseits
bekannte Antwort ist: wenig. Dementsprechend wenig wäre daher für die meisten
Chinesen mit dem Übergang auf ein Mehrparteiensystem gewonnen.
Das mag so erscheinen, wird man im Westen einwenden, aber verglichen mit der
chinesischen Einheitspartei ist das westliche Parteienwesen noch immer ein Hort der
Vielfalt und der Wahlfreiheit. Aber wie ist dann zu erklären, dass China sich seit der
Mao-Ära so grundlegend gewandelt hat, und zwar auch im politischen Denken? Ich
solle, sagte mir Anfang der dreißiger Jahre ein kluger Chinese, ein Parteimitglied
148
wohlgemerkt, doch einmal den politischen Wandel Chinas in dieser Zeit mit dem
Wandel der westlichen Demokratien vergleichen. Die westlichen Demokratien
hätten sich in dieser Zeit kaum verändert. China dagegen habe sich enorm
gewandelt, und bei diesem Entwicklungstempo werde es den Westen bald auch
politisch überholen, wirtschaftlich und militärisch ja sowieso. Dann stellte er einen
nüchternen Vergleich an: Am Ende des ersten Jahrhundertquartals habe China sich
in seiner politischen Zivilisierung noch mit Ländern wie Thailand verglichen, und
solchen Ländern habe es sich damals schon überlegen gefühlt. Inzwischen seien die
Ziele aber viel höher gesteckt. Mittlerweile sehe man sich in der politischen Kultur
mit dem Westen auf Augenhöhe.
Es ist höchste Zeit, sich im Westen hiermit ernsthaft auseinanderzusetzen.
Zumindest ist es Zeit für die Frage, ob China sich in unserem Jahrhundert mit einem
Mehrparteiensystem wirklich besser entwickelt hätte als mit seinem
Einparteiensystem. Das Ja auf diese Frage bleibt einem doch im Halse stecken.
Und könnte es sogar sein, dass ein Einparteien- gegenüber einem
Mehrparteiensystem nicht nur für China Vorteile hat? Einen zumindest hat es, und
der wiegt schwer: Das Einparteiensystem ist professioneller. Wo es nur eine Partei
gibt, können politische Kader und Amts- und Mandatsträger sich langfristiger,
ungestörter und damit wirksamer spezialisieren und professionalisieren. Das
politische Personal ist dadurch zumindest tendenziell erfahrener und fachlich
kompetenter als in Demokratien. Diesen systemischen Vorteil haben
Einparteienregimes früher kaum genutzt, aber das chinesische tut es jetzt. Es
reagiert viel konsequenter als andere Regimes darauf, dass erfolgreiche Politik
immer mehr Professionalisierung und Spezialisierung erfordert. Konsequenter, als
westliche Demokratien es könnten.
Könnte also das Einparteiensystem für das heutige China tatsächlich die denkbar
beste Staatsform sein? Wäre ein Übergang zum westlichen Demokratiemodell für
149
China womöglich doch ein Rückschritt? Das scheint in China weiter die herrschende
Meinung zu bleiben. Je mehr man sich in diese Frage vertieft, desto mehr
Verständnis hat man dafür.
So weit mein kurzer Text aus den frühen dreißiger Jahren. Damit war natürlich nicht
gemeint, die westlichen Demokratien sollten sich irgendwann in Richtung des
chinesischen Systems reformieren. Das lag mir damals völlig fern. Aber ob die
Überlegenheit der westlichen Demokratie womöglich nur noch hauchdünn war, viel
geringer jedenfalls, als man es sich im Westen eingestand, das war schon damals eine
sehr berechtigte Frage.
Zu diesem Text hatte ich später einen kurzen Nachtrag verfasst, der aus heutiger
Sicht fast Selbstverständliches beschreibt: dass wir uns von unserer Demokratie kein
treffendes Bild machen konnten, solange wir uns ein falsches Bild von China
machten.
Die politischen Vordenker Chinas dachten in politischen Systemfragen viel
pragmatischer, als man im Westen annahm. Sie stellen sich praktische Fragen wie
diese: Welchen Entwicklungsländern ist es mit demokratischen
Mehrparteiensystemen besser gegangen als uns? Indien etwa? Pakistan? Ägypten?
Hatten nicht, als sie wirtschaftlich auf unserem heutigen Entwicklungsstand waren,
Japan und Südkorea de facto auch Einparteiensysteme? Und sind die Japaner heute
mit ihrem Mehrparteiensystem wirklich zufrieden? Ginge es uns Chinesen wirklich
besser, wenn unsere politischen Kader von Politikern westlicher Art abgelöst
würden? Darauf scheinen die klügsten Köpfe Chinas mit Nein geantwortet zu haben.
Der Westen denkt natürlich anders. Aus westlicher Sicht bleibt der politische
Systemwechsel in China überfällig. Aber man sollte Chinas Einparteienregime nicht
auf eine Stufe mit den herkömmlichen Autokratien dieser Welt stellen. Es ist keine
Militärdiktatur, es ist kein populistisches Regime, und es ist nicht die Herrschaft
einer Gesellschaftsschicht, einer Ethnie, einer Religion, einer Konfession oder einer
150
Ideologie. Chinas Staatspartei hat sich vielmehr zu einer fast unideologischen
Staatsmanagementorganisation gewandelt. Trotzdem ist sie immer noch eine
Massenorganisation, also in der Bevölkerung verwurzelt. Damit ist das chinesische
Einparteiensystem ein historischer Sonderfall. Man könnte es sogar einen Glücksfall
nennen. Es muss zu seinem Überleben viel weniger an niedere Instinkte der Bürger
appellieren als populistische Autokraten auch weniger als ein Großteil
demokratischer Parteien und Politiker. Wäre es ein Glück gewesen, wenn China
frühestmöglich den Übergang zu einer herkömmlichen Demokratie versucht hätte?
Dagegen spricht schon, dass Teile Chinas dann Schauplätze des schleichenden
Dritten Weltkriegs hätten werden können.
Natürlich ist auch das chinesische Einparteienregime kein System für die Ewigkeit, so
wenig wie die westliche Mehrparteiendemokratie. Irgendwann werden Chinas
Bürger sensibler für dessen Schwächen werden. Es strahlt technokratische Kälte aus,
und es bietet dabei nicht einmal den bescheidenen Unterhaltungswert
demokratischer Wahlen und Mehrheitswechsel. Früher oder später werden die
Bürger sich daher fragen, zu was dieses System denn diene außer wirtschaftlichem
Wachstum, und sie werden darauf keine Antwort bekommen.
Noch lässt sich dies – ich nenne es ein Sinndefizit – aber durch gutes
technokratisches Staatsmanagement kompensieren. Noch schafft auch die Aussicht,
in einigen Jahren Bürger der weltweit führenden militärischen Supermacht zu sein
und zum Wohlstand Japans und Westeuropas aufzuschließen, Regimetreue. Schon
um diese Aussicht nicht zu gefährden, würden die allermeisten Chinesen das Risiko
eines Systemwechsels scheuen.
Dem Westen macht der Aufstieg Chinas natürlich immer noch Angst. Die NATOStaaten fürchten, China werde mit seiner militärischen Übermacht noch weniger
zivilisiert umgehen, als sie selbst es bisher getan haben. Aber auch das ist altes
151
Denken. Nicht nur militärisch, auch in der politischen Zivilisierung dürfte vom
Vorsprung des Westens gegenüber China nicht mehr viel übrig sein.
Dieser Text ist nun fast vierzig Jahre alt, und ich muss mir selbst das Kompliment
machen, dass er noch immer nicht verstaubt klingt. Hauser hatte mir einmal gesagt,
eine halbwegs wahrhaftige Geschichte unseres Jahrhunderts ließe sich nicht aus
SPIEGEL-Artikeln zusammensetzen, eine wahrhaftigere Geschichte würde die
Geschichte der Artikel sein, die sich niemand zu schreiben oder zu veröffentlichen
getraut habe. Als ich ihm später einmal diesen Text über China zu lesen gab, meinte
er, so ähnlich stelle er sich solche Artikel vor. Ich nahm es als ein höfliches
Kompliment.
Diesen Text habe ich damals – nach langem Zögern – auch Tian gemailt. Als
Antwort schickte er eine winzige Computeranimation: ein kopfnickendes
Strichmännchen.
Partei wider Willen
Würden die veröffentlichten SPIEGEL-Artikel für die spätere Geschichtsschreibung
wirklich so wenig wert sein, wie Hauser es unterstellte? Überzeugt war ich davon
noch nicht. Bei einem unserer immer seltener werdenden Treffen hakte ich nach. Der
SPIEGEL mache doch Qualitätsjournalismus, wandte ich ein, und selbst wenn der
SPIEGEL für die spätere Jahrhundertgeschichtsschreibung keine unentbehrliche
Quelle sei, dann doch sicher der deutsche Qualitätsjournalismus als ganzer.
Nein, beharrte Hauser, er sei nicht einmal sicher, ob es in diesen Zeiten überhaupt
wirklichen Qualitätsjournalismus gebe. Qualitätsjournalismus gedeihe am besten
dort, wo es Qualitätspolitik gebe, und eine solche könne er nicht erkennen.
– Wieso das?, fragte ich. Gerade wenn die Politik versage, sei doch
Qualitätsjournalismus gefragt, und zu mancher Sternstunde des Journalismus sei es ja
gerade in der Auseinandersetzung mit schlechter Politik gekommen.
Hauser nickte kurz.
152
– Aber gerade das ist ja das Elend unserer Zeit, sagte er dann, dass dafür die Politik
in Deutschland noch nicht schlecht genug erscheint. Sie erzeugt Lethargie, sie
erzeugt Gleichgültigkeit, sie erzeugt Langeweile, aber sie erscheint den Leuten
immer noch nicht schlecht genug für kreative Empörung.
Ich hätte den Gedanken so nicht formuliert, aber ich dachte sofort, dass Hauser
wieder einmal Recht hatte. Wenn nicht schon lange vorher, dann traf dieser Gedanke
zumindest jetzt den Nerv der Zeit, der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Die Welt
war weiter in Unordnung, der gesamte Nahe Osten immer noch ein Pulverfass mit
umstrittenen Staatsgrenzen, westliche Staaten weiter von Terroristen meist arabischer
Herkunft aufgeschreckt, die Populisten in Europa und Amerika weiter auf dem
Vormarsch, ein Land wie Nigeria existierte nur noch auf dem Papier, Somalia,
Libyen und andere afrikanische Länder waren noch immer gesetzlose Regionen, in
Indien kam es in immer kürzeren Abständen zu gewaltsamem Aufruhr, China
unterdrückte wieder aufflammenden Separatismus mit alter Härte, um die Ostukraine
wurde so heftig gestritten wie je, Kosovo und Bosnien-Herzegowina waren de facto
noch immer Protektorate, in den Pariser Immigrantenvorstädten brach in immer
kürzeren Abständen Gewalt aus, der Kulturkampf in Amerika zwischen Liberalen
und Ultrakonservativen wurde immer unversöhnlicher, Immigranten wurden in
Amerika und anderen westlichen Staaten offener denn je angefeindet, die
Europäische Union drohte wieder einmal auseinanderzubrechen, die separatistischen
Bewegungen in Schottland, Katalonien und in osteuropäischen Ländern wurden
immer stärker, die Beteiligung an demokratischen Wahlen erreichte ein neues
Allzeittief, und in fast allen wohlhabenden Ländern hatte sich die Ungleichheit der
Einkommens- und Vermögensverteilung weiter zugespitzt. Trotzdem fehlte es an,
wie Hauser es nannte, kreativer Empörung, gerade in Deutschland.
Auch die sich seit Ende zwanziger Jahre in Deutschland und Europa ausbreitende
Altersarmut änderte daran vorerst nichts. Nach sechzig Jahren verfehlter Familienund Bevölkerungspolitik war das Renteneintrittsalter auf 69 Jahre angehoben
worden, die durchschnittliche gesetzliche Rente lag nur noch knapp über 40 Prozent
153
des vorherigen Nettolohns, und immer mehr Rentner waren auf staatliche
Grundsicherung angewiesen. Auch der Anteil der Erwerbstätigen, die von ihrem
Arbeitseinkommen nicht leben konnten, war weiter stark gewachsen. Zugleich hatte,
so schien es, die Steuer- und Abgabenbelastung der Erwerbstätigen das politisch
durchsetzbare Höchstmaß erreicht, ließ Armut sich also durch mehr Umverteilung
nicht weiter lindern. Deutschland und Staaten in vergleichbarer Lage waren dadurch
ökonomisch erheblich geschwächt, damit ging auch ihr politischer Einfluss weiter
zurück, und auch innenpolitisch war ihre Lage instabiler geworden.
Politischer Sprengstoff wurde daraus aber noch nicht. Die Gewichte der politischen
Parteien hatten sich massiv verschoben, aber ansonsten herrschte bleierne Stabilität.
Guttenbergs Deutsche Demokraten erreichten bei Wahlen mittlerweile stabile 20
Prozent, die Christdemokraten regierten abwechselnd mit der SPD und den Grünen
als Koalitionspartnern, die Wahlbeteiligung hatte sich bei Werten um 55 Prozent
eingependelt.
Missfelders politische Karriere steuerte in dieser Zeit unaufhaltsam auf höchste
Ämter zu. Ernsthafte Konkurrenten, die ihm seinen Führungsanspruch bei den
Christdemokraten hätten streitig machen können, gab es in seiner Generation nicht.
Der alte Guttenberg und der junge Mesäcker waren die dominierenden Figuren der
deutschen Parteienlandschaft. Ihre politischen Differenzen waren alles andere als
unüberbrückbar, aber ihre Wähler, das wussten beide, hätten ihnen einen offenen
Schulterschluss nicht verziehen. Guttenberg hatte sich mit seiner Altersrolle als Star
der politischen Opposition abgefunden.
Dann kam, was in den Medien als eines der wichtigsten Urteile der letzten
Jahrzehnte kommentiert wurde, aber damit in seiner politischen Bedeutung nicht
annähernd erfasst war: Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Wahlrecht.
Die Verfassungsrichter folgten dem Antrag der Muslimisch Sozialen Union auf
ganzer Linie. Nicht nur die 7-Prozent-Sperrklausel für Bundes- und Landtagswahlen
wurde für verfassungswidrig erklärt. Wie das Verfassungsgericht schon 2014 Klein-
154
und Kleinstparteien den Zugang zum Europaparlament geöffnet hatte, so tat es das
Gleiche nun für den Bundestag. In Deutschland, so die Begründung, gebe es
mittlerweile auch kleine gesellschaftliche Gruppen mit fundamental eigenständigen
Interessen, die aus der parlamentarischen Willensbildung nicht ferngehalten werden
dürften, und die deutschen Muslime gehörten dazu. Die jüngere Geschichte habe
zudem gezeigt, dass die Funktionsfähigkeit der Demokratie durch eine größere
parlamentarische Parteienvielfalt nicht ernsthaft bedroht sei.
Die großen politischen Parteien waren vom Urteil natürlich tief getroffen. Die
Unionsparteien und die SPD kündigten an, sie würden die Kandidaten für das
Verfassungsrichteramt in Zukunft kritischer überprüfen. Offenen Protest gegen das
Urteil wagte aber keine Partei. Auch in den Medien wurde das Urteil eher neutral
aufgenommen. Allein die Bild-Zeitung polemisierte: Verfassungsgericht legt die Axt
an die deutsche Demokratie. Hausers Kommentar dazu: Ja, aber es hat die Axt an
einen morsches Konstrukt angelegt.
Bei der anschließenden Bundestagswahl 2037 stieg die Wahlbeteiligung auf
mittlerweile fast sensationelle 59 Prozent. Die MSU kam auf 6,9 Prozent,
größtenteils zulasten der SPD. Danach gab es keine Regierungskoalition, die sich
ohne eklatanten Bruch von Wahlversprechen hätte bilden lassen können.
Die ganz und gar unscheinbare Nachricht, die kurz nach dem Wahlrechtsurteil des
Verfassungsgerichts in einigen deutschen Zeitungen zu lesen war, hätte ich
übersehen, wenn Hauser mich nicht bei unserem nächsten Treffen darauf
aufmerksam gemacht hätte: Die Gründung der Tagmakraten. Genau genommen
waren Die Tagmakraten nicht einmal eine Partei. Genau genommen waren sie ein
politischer Verein, dessen Name viele an eine Partei denken ließ. Gewollt war das
aber keineswegs. Eine Partei im herkömmlichen Sinn wollten die Tagmakraten
gerade nicht sein. Trotzdem konnten nicht verhindern, dass sie - sofern überhaupt als Partei im Aufbau bzw. im Wartestand wahrgenommen wurden.
155
Auch Hauser machte über die Gründung der Tagmakraten nicht viele Worte. Schau
hier, sagte er und reichte mir den Vierzeiler der Süddeutschen Zeitung herüber, das
könnte interessant werden. Und nach einer kurzen Denkpause: Manchmal verbergen
die wichtigsten politischen Ereignisse sich in einem Vierzeiler.
Ich wartete, ob noch eine Erklärung folgen würde, aber er faltete das Blatt nur
wortlos zusammen. Ich fragte – für mich noch heute unerklärlich – nicht nach. Später
sollte Hauser die Gründung der Tagmakraten als eines der wichtigsten politischen
Ereignisse der ersten Jahrhunderthälfte bezeichnen.
Das digitale Hiroshima
Auch wenn Hauser Separatismus für vollständig legitim hielt, fragte er sich doch
manchmal, ob in ihm nicht auch das Böse schlummere. Auch ein Hauser konnte sich
eben in Widersprüche verwickeln. Dass das Böse sich weniger im Separatismus
Bahn bricht als gerade im Kampf gegen denselben, diese Einsicht verdankte ich
keinem anderen als Hauser, und es gab nichts, das sie widerlegt hätte. Natürlich
ziehen separatistische Bewegungen oft auch gewaltbereite Kräfte an, aber wie die
Geschichte des Separatismus immer wieder zeigt, ist die Gewaltbereitschaft auf der
Gegenseite keineswegs geringer. Das Böse lauert eben überall, auch in der
politischen Normalität, von der der Separatismus ein Teil ist.
Vielleicht hatte Hausers Sorge um das Böse im Separatismus aber noch einen ganz
anderen Grund. Er wusste, dass Staaten für neue Arten von Gewalt und Zerstörung
anfällig geworden waren, auch durch Separatisten. Zuerst wusste ich damit noch
wenig anzufangen.
Die neue Verwundbarkeit von Staaten hatte für Hauser mit den Anschlägen auf das
World Trade Center im September 2001 begonnen. Nie vorher, so sah auch er es,
hatten so wenige Menschen mit so geringen Mitteln so viel Angst schüren und
Staaten so verunsichern können. Hauser meinte, dass ja auch verzweifelte
Separatisten sich der jeweils neuesten Formen von Terror würden bedienen können
156
und dass der Welt daher eine lange Ära immer neuer Terrorängste bevorstehe. Dann
erinnerte ich ihn daran, dass die Aufgabe künftiger Politik ja sein müsse, den
Separatisten das Motiv für Terror und Erpressung zu nehmen.
Dass unsere alten Vorstellungen von der Verwundbarkeit von Staaten zumindest
ergänzungsbedürftig waren, war eigentlich schon seit Beginn des Jahrhunderts klar.
Schon damals war absehbar, dass man für Anschläge wie den auf das World Trade
Center bald kein Flugzeug mehr würde entführen müssen, dass dafür demnächst
bewaffnete Drohnen genügen würden und dass bald auch kleine
Terrororganisationen sich solche neuen Waffen würden beschaffen können.
Geheimdienste – Belege dafür fand ich später auch im Archiv – hatten aber natürlich
schon viel weiter gedacht.
Mit neuen Verwundbarkeiten hatte ich es bald auch selbst zu tun. Dass auch unser
Archiv verwundbar, dass es vor digitaler Ausspähung nicht absolut sicher sein
konnte und nicht einmal vor Zerstörung von Daten und Programmen, das wussten
wir natürlich längst, aber die Gefahr erschien uns noch immer ziemlich abstrakt.
Vielleicht hätte ich es als guter Archivleiter besser wissen müssen, vielleicht hätte
ein anderer an meiner Stelle, vielleicht eine wie Constanze, es besser durchschaut.
Ich hatte aber nicht die geringste Ahnung, was gegen solche Verwundbarkeit zu tun
sei, und unsere IT-Spezialisten glaubten offenbar alles im Griff zu haben. Niemand
warnte mich, niemand mahnte mich, also tat ich nichts. Dann kam der große HackerAngriff.
Warum ausgerechnet auf unser Archiv? Natürlich archivierten wir politisch Brisantes
und Kompromittierendes, vieles also, womit Staaten, Organisationen, Parteien,
Unternehmen, Politiker und Prominente verwundbar waren. Also gab es viele, die
solche Daten am liebsten aus der Welt hätten, aber eben auch manche, die sie ans
Licht der Öffentlichkeit würden bringen wollen. Wer mit welchen Motiven hinter
dem Angriff auf unser Archiv stand, wissen wir bis heute nicht. Wir meinen aber zu
wissen, dass der Angriff von einer kleinen Zahl hoch begabter Hacker ausgeführt
157
wurde. Sie müssen potente Unterstützer gehabt haben, aber die eigentlichen Täter
waren offenbar ganz wenige.
Wir hatten Glück. Hätten die Täter nicht einen kleinen vermeidbaren Fehler gemacht,
hätten sie die Daten unseres Archivs vor aller Welt ausbreiten können. Es wäre ein
Fiasko für den Verlag gewesen, eine Bloßstellung zahlloser Persönlichkeiten und
vieler noch angesehener Institutionen. Natürlich wollte der Verlag den Vorfall um
jeden Preis geheim halten, aber es war ein Wettlauf mit der Zeit. Wir verloren ihn.
Nach einer Woche wusste die ganze Welt: Das SPIEGEL-Archiv ist ausspähbar.
Was konnten wir tun? Keiner hatte eine Strategie, wir vom Archiv nicht, die
Redaktion nicht, die Verlagsleitung, der ganze Verlag nicht. Sitzungen Tag und
Nacht, Vorwürfe, Gegenvorwürfe, Vorschläge, Gegenvorschläge, einer
dilettantischer als der andere, dann nur noch Erschöpfung. Würde das Vertrauen in
uns dahin sein? Würde niemand uns mehr geben wollen, was unser Blatt so
lesenswert machte: vertrauliche Informationen? War das der Untergang?
Eine Zeitlang geschah gar nichts. Dann brach eine Lawine von Datenlöschanträgen
über das Archiv herein, von überallher, von Regierungen, Parteien, Verbänden,
Unternehmen, von Agenten prominenter Personen aller Sparten und Klassen und
auch von älteren Politikern natürlich, die sich um ihr Bild in der Geschichte sorgten.
Ja, unser Archiv wusste viel, sehr viel sogar, aber hier zeigte sich: Sie überschätzen
uns maßlos.
Wir fühlten uns immerhin geschmeichelt. Hätten wir uns denn kleiner machen sollen,
als die Welt uns sah? Keiner bekam die Antwort: Wir haben nichts über Sie. Jeder
bekam die Antwort: Sofern wir etwas über Sie haben, bringen wir es in die neu
einzurichtende höchste Sicherheitsstufe. Viele ließen trotzdem nicht locker. Viele
stellten Löschantrage in immer neuen Angelegenheiten, viele wollten Daten gelöscht
haben, die wir nicht hatten und von deren Existenz wir uns nie hätten träumen lassen.
Auch all diese Löschanträge archivierten wir natürlich, und damit bereicherten wir
unser Archiv.
158
Nach ein paar Monaten ebbte die Flut der Löschanträge endlich ab. Was blieb, waren
die Ängste. Könnte Hackern demnächst gelingen, was diesmal nur fast gelungen
war?
Vorsorgliche Löschanträge überrollten danach auch andere Zeitungsarchive,
Internetportale, soziale Netzwerke, Behörden, Schulen, Universitäten, Unternehmen
und sonstige Organisationen. Dann kam der Ruf nach weiterer Strafverschärfung für
Hacker. Aber dann war es fast so schnell vorüber, wie es gekommen war. Die
Öffentlichkeit ließ sich von Schlimmerem ablenken, von Dingen wie dem neuen
Terror im Nahen Osten und in Indien und dem scheinbar ausweglosen Ausgang der
Bundestagswahl. In den Medien keine Rede mehr vom drohenden Ende aller
Datensicherheit und davon, dass Medien, Regierungen, Wissenschaftler und
Unternehmen künftig von den Hackern dieser Welt mit gestohlenen Informationen,
unverfälschten und verfälschten, überschüttet würden und Wahres von Falschem
immer schwerer zu trennen sei. Wenn aber unser digitales Archiv von einem so
kleinen Team fast gekapert worden war, was würden dann größere Teams alles
anrichten können? Auch das trat in den Hintergrund.
In den Jahren danach ließ der Verlag mich – "auch Archivare müssen ja mal raus" –
mehrere Reisen zu Dokumentationsabteilungen anderer Verlage machen. Bei allen
großen Verlagen waren Cyberabwehr und Datensicherheit zum Spitzenthema
geworden, fast alle hatten ihre digitale Abwehr ähnlich aufgerüstet wie wir, aber
sicher fühlten sie sich trotzdem nicht. Erst als ich ein paar hochkarätige Symposien
über Hackerangriffe besucht hatte, wurde mir klar, wie weit Regierungen und
staatliche Institutionen, Staatskanzleien und Ministerien, Geheimdienste, Parteien
und ihre Stiftungen, große Nichtregierungsorganisationen und die meisten
Großunternehmen ihre Hackerabwehr schon ausgebaut hatten. Manche bauten dafür
große eigenständige Antiterroreinheiten auf. Aber fast alle waren auch schon dabei,
ihre digitalen Datenbestände gründlich zu bereinigen. "Was wir nicht haben, kann
uns niemand stehlen", war eine der neuen Devisen.
159
Natürlich hatte ich schon seit meiner Studentenzeit die sporadischen Meldungen über
Cyberattacken gegen Regierungen, Unternehmen, Fernsehanstalten, Zeitungen,
Banken, Zentralbanken und andere nichtstaatliche und staatliche Organisationen
beiläufig verfolgt, aber ich hatte darin ein fast normales kriminelles
Hintergrundgeschehen gesehen. Nun erst verstand ich, wie weit der globale digitale
Rüstungswettlauf schon vorangeschritten war, mit Beteiligung von Staaten und von
kommerziellen, kriminellen, politischen und privaten Organisationen.
Die Cyberabwehr war noch immer Sache hochprofessioneller Spezialisten, von deren
Tätigkeit sich kaum jemand anderer ein Bild machte. Auch ich hatte noch keinen
Gedanken daran verschwendet, dass sich daraus eine veritable digitale
Rüstungsindustrie entwickeln würde. Aber auf Symposien über Cyberabwehr war
offenbar schon seit Langem mit großer Selbstverständlichkeit von datensichernder
Landesverteidigung die Rede. Zu diesem Begriff fiel mir wieder einmal eine frühere
Bemerkung von Hauser ein: Alle größeren Streitkräfte dieser Welt könnten nicht nur
Verteidigung, sondern auch Angriff, also seien fast alle Verteidigungsministerien
dieser Welt potentielle Angriffsministerien. Das machte endlich auch mir endgültig
klar, was beim digitalen Rüstungswettlauf auf dem Spiel stand. Die Angreifer sind
natürlich nicht nur kriminelle Hacker, es sind auch Staaten, und Staaten greifen nicht
nur Unternehmen, sie greifen auch Staaten an. Hacker sind digitale Terroristen,
Staaten würden digitale Kriege führen. Hacker würden im schlimmsten Fall ein
digitales 9/11 anrichten, Staaten ein digitales Hiroshima.
Zusammen mit Hauser grübelte ich darüber, welche Staaten zuerst zu solchen Tätern
werden würden oder schon geworden waren. Gerade als Archivare hätten wir es aber
längst wissen können. Wir hätten wissen können, dass das amerikanische Militär im
Irak-Krieg systematische Cyberangriffe auf fremde Kommunikationssysteme
ausgeführt hatte. Hauser hätte sich erinnern können, dass die Vereinigten Staaten
2007 iranische Atomanlagen sabotiert und vorübergehend lahmgelegt hatten, und
auch daran, dass es 2007 einen breit angelegten Cyberangriff auf Estland gegeben
hatte, dessen Drahtzieher in Russland vermutet wurden. Wir hätten auch
160
herausfinden können, dass die Vereinigten Staaten schon Anfang des Jahrhunderts
begonnen hatten, eine machtvolle Abteilung für Finanzkriegführung aufzubauen, und
dass andere Staaten ihnen gefolgt waren. Es gab also längst Staaten, die die Geldund Finanzwirtschaft anderer Staaten großenteils lahmlegen konnten, und dieses
Finanzkriegs-Know-how ließ sich natürlich für Cyberangriffe anderer Art
weiterentwickeln. Angriffe auf Verlage und Verlagsarchive waren ein
Randgeschehen.
Der Verlag vervielfachte in den folgenden Jahren den Aufwand für digitale Abwehr,
und danach glaubte ich, das Archiv sei nun so gut wie unangreifbar geworden. Ich
hatte daher das Werbeblatt für ein weiteres Seminar über Hackerabwehr schon
wegwerfen wollen, als mein flüchtiger Blick auf den Namen des Veranstalters fiel:
H. & C. Consulting Henrichs und Cramer. In kleiner Schrift darunter: Rolf
Heinrichs, Constanze Cramer.
Constanze Cramer? Natürlich, das konnte niemand anders sein als sie, Constanze, die
ich schon lange nicht mehr gesehen und schon lange hatte wiedersehen wollen. Noch
am selben Tag schickte ich meine Anmeldung für das Seminar ab.
Das Seminar fand an einem Aprilwochenende in Berlin statt. Für die
Seminarteilnehmer waren Zimmer in einem kleinen Hotel am Alexanderplatz
gebucht, und dort verabredete ich mich mit Constanze für den Abend vor dem ersten
Seminartag. Als wir uns dann schließlich in der Hotellobby gegenüberstanden,
erschrak ich. Wie sie in den sieben Jahren seit unserem letzten Treffen gealtert war!
Hätte ich nur flüchtig hingesehen, hätte ich sie nicht wiedererkannt. Einen Moment
lang schien es, als musterte auch sie die Altersspuren in meinem Gesicht, aber dann
war da nur ein herzliches Willkommenlächeln.
Wir setzten uns an einen kleinen Tisch vor der Hotelbar und sahen einander
sekundenlang wortlos an.
– Wir zwei von der Generation Sichtflug, sagte sie dann mit einem amüsierten
Grinsen. Sind wird das eigentlich noch immer?
161
Ich zögerte.
– Ja, was sonst, gab sie dann selbst die Antwort. Wir haben an Lebenserfahrung
gewonnen, aber viel klüger geworden sind wir vielleicht nicht.
Wie konnte sie wissen, ob und wie viel ich über die Jahre klüger geworden war?
Aber hatte sie nicht, dachte ich dann, an sich selbst, an ihre eigene Klugheit, schon
früher einen höheren Anspruch gehabt als ich? Meinte sie nur, dass wir beide
weniger klug waren, als es eigentlich nottäte?
– Ja, sagte ich schließlich, wir sind beide keine Hausers. Hauser hat seine private Zeit
mit Denken verbracht, wir mit unseren Zwillingen. Das ist der Unterschied.
Sie stutzte. Dann beugte sie sich wortlos zu mir herüber, fast als wollte sie mir für
diese Erklärung um den Hals fallen.
Beim Frühstück am nächsten Morgen saß eine andere Constanze vor mir. Jetzt war
sie die souveräne Seminarleiterin, ein paar Jahre verjüngt, makellos geschminkt,
perfekte Frisur, elegant gekleidet, sachlich im Tonfall, kein privates Wort mehr.
Stattdessen fing sie selbst vom Hackerangriff auf das Archiv an, und dann kam das
Gespräch fast ohne mein Zutun auf das digitale Wettrüsten.
In ihrem Consulting- und Seminargeschäft, erklärte sie, würden immer mehr Fragen
zum digitalen Wettrüsten gestellt, darauf müsse sie Antworten parat haben. Und dann
weiter in fast dozierendem Tonfall: Das digitale Wettrüsten sei ein Wettlauf, bei dem
niemand genau wisse, wer gerade in Führung liege. Deswegen könne sich niemand je
ganz sicher fühlen, Staaten nicht, internationale Organisationen nicht, Unternehmen
nicht, Verlage nicht und natürlich auch nicht deren Archive.
Dieses Wettrüsten, fuhr sie fort, werde dem atomaren Wettrüsten immer ähnlicher.
Hackerangriffe könnten, das wisse ich natürlich, umso mehr Schaden anrichten, je
abhängiger die Opfer von elektronisch gespeicherten Daten seien. Noch könnten an
diesen Daten nur ein paar Dutzend Akteure, Staaten und ein paar große
Unternehmen, Schäden von kriegerischer Dimension anrichten. Es würden aber
162
immer mehr, und jederzeit könnten neue Schurkenstaaten mit kriegstauglichen
Cyberwaffen dazukommen.
Dabei werde die digitale Rüstungsindustrie natürlich immer mehr dubiose, käufliche
und böswillige Gestalten anlocken, die irgendwann bereit seien, von der digitalen
Verteidigung in den digitalen Angriff überzuwechseln, und auch mafiöse
Organisationen würden die weltweit hochbegabtesten Hacker mit Stargagen zu
ködern versuchen. Die Welt wisse ja längst, was alles durch Cybersabotage sabotiert
werden könne, Geldverkehr, Flugverkehr, Telekommunikation, Energieversorgung,
Atomkraftwerke, Aktienbörsen, Wasserversorgung, Verkehrslenkung, militärische
Steuerungssysteme, Flugzeuge, Operationssäle, elektronisch gesteuerte Prothesen,
Fütterungsanlagen und vieles mehr. Hilflose Ingenieure, Kaufleute, Banker, Ärzte,
Militärs und viele andere, auch Privatleute natürlich, würden handlungsunfähig vor
nichtssagenden Bildschirmen sitzen, im schlimmsten Fall natürlich alle zugleich. In
hoch entwickelten Ländern würden Menschen vorübergehend auf Lebensweisen
zurückgeworfen, die die Jüngeren dort nie gekannt haben und nicht mehr
beherrschten. Aber vergleichsweise, sagte Constanze, seien selbst die bösesten
Cyberwaffen doch zivilisierte Waffen, sie ließen ja fast alle ihre Opfer erste einmal
leben.
Wie man sich denn davor in Zukunft schützen könne, fragte ich.
Ihre Antwort: Wir werden immer verwundbarer. Jedes Jahr, jedes Jahrzehnt etwas
mehr.
– Wer ist wir?, fragte ich. Die Bürger, der Staat, die Wirtschaft?
– Friseure und Yogalehrer haben weniger zu befürchten, sagte sie mit einem
sarkastischen Lächeln. Und dann: Der hoch entwickelte Staat ist am stärksten
gefährdet, aber er ist natürlich auch die größte Gefahr.
Was später als das digitale Hiroshima bezeichnet wurde, kam genau fünf Jahre
danach. Dass schon seit Längerem nicht nur die USA, China, Russland, Indien und
Großbritannien, sondern mindestens ein Dutzend weiterer Staaten andere Staaten mit
163
einem Cyberangriff wirtschaftlich und militärisch lähmen konnten, war längst ein
offenes Geheimnis gewesen. Aber würde je ein Staat einen solchen Angriff wagen?
Würde überhaupt je ein Staat ein plausibles Motiv dafür haben? Nein, war lange die
gängige zuversichtliche Antwort gewesen, aber sie war eben falsch. Die richtige
Antwort war: Wie die USA im August 1945 in Hiroshima das atomare Exempel
statuiert hatten, würden sie irgendwann in diesem Jahrhundert einen exemplarischen
digitalen Blitzkrieg führen. Eines ihrer Motive: sich noch einmal ihrer
Weltmachtrolle zu vergewissern.
Zuerst traf es Nordkorea, kurz danach das unberechenbar gewordene Katar, das mehr
als zwei Jahrzehnte lang islamistische Terrororganisationen und Schurkenstaaten
finanziell unterstützt hatte. Nach diesen beiden Attacken hatte endgültig der globale
kalte Cyberkrieg begonnen. Wie siebzig Jahre vorher in den atomaren schlitterte die
Welt nun in den digitalen Overkill. Und wie der kalte Krieg des 20. Jahrhunderts
eine Zeit geistiger und moralischer Erstarrung gewesen war, so auch diesmal.
Können wir heute, zu Beginn des letzten Jahrhundertviertels, auf die Geschichte des
kalten Cyberkriegs schon so distanziert zurückblicken, wie man Anfang des
Jahrhunderts auf die Geschichte des kalten Atomkriegs zurückblickte? Natürlich
nicht. Der erste Atomwaffeneinsatz war zumindest ein heilsames Inferno gewesen,
das die Menschheit vor sich selbst hat erschrecken lassen. Das digitale Hiroshima
war weder ein solches Inferno noch ein heilsamer Schock. Es traf mit Nordkorea
einen rückständigen Staat, der die vorübergehende digitale Hilflosigkeit
vergleichsweise leicht verkraftete.
Noch immer sind im kalten Cyberkrieg die Beteiligten für nichts reif, das wenigstens
einem Atomwaffensperrvertrag gleichkäme. Noch ist nicht einmal verwunden, wie
wenig der Cyber-Blitzkrieg gegen Nordkorea bewirkt hat. Natürlich hatten die USA
sich nicht träumen lassen, dass die Bürger Nordkoreas nach diesem Angriff enger
denn je zusammenrücken würden, dass das Regime danach freiere Wahlen denn je
veranstalten und dabei einen klaren Sieg erringen würde, dass die Angegriffenen sich
danach als stolze Opfer feiern würden und der erfolgreiche Angreifer, die USA, nicht
164
nur in ihren Augen am Ende blamiert sein würde, dass das ebenfalls angegriffene
Katar sich mit Hilfe Chinas von dem Angriff rasch erholen und beide sich danach zu
umso erbitterteren Gegnern der USA wandeln würden. Nichts davon hatten die USA
vorausgeahnt. Sie hatten seit dem Zweiten Weltkrieg viele echte oder vermeintliche
Feinde nutzlos bekriegt, aber sie hatten wenig daraus gelernt.
Immerhin Eines war nach diesen ersten Akten von Cyberkrieg erreicht: Den USA
und anderen digitalen Weltmächten dämmerte langsam: Verwundbar sind alle, aber
am verwundbarsten sind wir selbst. Wir sind dem vordigitalen Leben gründlicher als
alle anderen entwöhnt, also würden die Zerstörungen eines Cyberkriegs uns hilfloser
machen als alle anderen. Also sind wir es, die sich am allermeisten vor einem
solchen Krieg fürchten müssen.
Als ich am Ende des Seminars mit Constanze darüber sprach, welche Veränderungen
des zweiten Jahrhundertquartals wir am wenigsten vorausgeahnt haben, waren wir
uns schnell einig. Es war die neue Verwundbarkeit. Und einig waren wir uns auch
darüber, dass diese Verwundbarkeit bleiben würde. Sie würde immer wieder
verdrängt werden, aber sie würde so wenig verschwinden wie die Atomwaffen und
die atomare Bedrohung. Die Menschheit würde sich damit irgendwie arrangieren
müssen.
Constanze hatte zu dieser Zeit aber auch ganz andere Bedrohungsszenarien vor
Augen. Eines der bedrohlichsten Szenarien sei, dass Staaten immer abhängiger von
anderen Staaten würden, die über – globale oder lokale – Monopole für weltweit
immer knapper werdende Energieträger und Rohstoffe verfügten, z.B. für seltene
Erden, aber auch für früher unerschöpflich geglaubte Ressourcen wie Holz, Wasser
und Sand. Die Frage werde daher sein, wie die Menschheit mit all diesen neuen
Verwundbarkeiten, diesem neuen gegenseitigen Bedrohungs- und
Erpressungspotential von Staaten umgehen werde. Sie fürchte, sagte Constanze, die
Menschheit schlittere in diese neue Zeit so unvorbereitet hinein wie im 20.
Jahrhundert in die Ära der Weltkriege und der Atomwaffen. Auch in ihrer
165
Consultingpraxis sei sie in diesen Fragen nicht auf hoch entwickeltes Bewusstsein
gestoßen, allenfalls auf hoch entwickelte Ängste.
Dann nannte sie ein Beispiel, das auch mich erschütterte. Cyberwaffen könnten
künftig von Staaten genutzt werden, um von anderen Staaten Entschädigungen für
vielerlei früher erlittenes Unrecht zu erpressen. Dabei gehe es nicht nur um
Reparationen. Vorstellbar sei zum Beispiel, dass den bisherigen Industrie- und
Wohlstandsstaaten eines Tages vorgerechnet werde, was sie mit ihren maßlosen
klimaschädigenden Immissionen und mit ihrem maßlosen Verbrauch natürlicher
Ressourcen anderen Nationen an Wohlstandschancen genommen hätten. Würden
diese Nationen ihr Drohpotential im kalten Cyberkrieg ausschöpfen, dann würde die
Welt in den schlimmsten bisher denkbaren kalten Krieg schlittern. Und schlimmer
noch: Dann könnten auch nichtstaatliche Cyberterroristen sich dafür rüsten, an den
alten Industrie-und Wohlstandsstaaten digitale Vergeltung zu üben.
Ich hatte keinen Grund zu widersprechen, ich konnte nicht einmal kluge Fragen dazu
stellen. Aus reiner Verlegenheit fragte ich dann, was Hauser wohl dazu sagen würde,
und auch darauf hatte Constanze eine Antwort. Hauser, sagte sie, würde fragen, ob
die Demokratie uns hilft, diese Herausforderungen zu bewältigen. Wo denn die
demokratischen Politiker seien, würde er fragen, wo die demokratischen
Regierungen, die demokratischen Parteien und die internationalen Organisationen,
die solchen neuen Herausforderungen gewachsen sind.
– Und er würde sagen, dass er sie nirgendwo sehe?
– Ja, und dass Wahlen daran nichts ändern.
– Weil demokratische Parteien und demokratische Staaten damit systematisch
überfordert sind?
Constanze neigte kaum merklich den Kopf und strahlte mich mit einem warmen,
zufriedenen Lächeln an.
– Matthias, sagte sie, mit wem außer mit dir kann man solche Gedanken so zu Ende
denken?
166
Ich war etwas verlegen. War der Gedanke für sie damit zu Ende gedacht? Oder war
dies wirklich als Frage gemeint? Sollte ich sagen: Mit dir? Oder: Danke für das
Kompliment? Nein, beides nicht, dachte ich dann, und genau dabei fiel mir die einzig
richtige Antwort ein:
– Mit Tian, sagte ich.
Ich staunte in diesem Moment selbst, mit welcher Selbstverständlichkeit ich plötzlich
auf Tian gekommen war. Natürlich hatte Constanze mit nichts weniger gerechnet.
Ich wartete einige Sekunden, bis die Verblüffung aus ihrer Miene gewichen war.
Dann erklärte ich ihr, was man von einem wie Tian über die Leistungsfähigkeit
politischer Regimes lernen könne. Zum Beispiel, dass Demokratien mit einem
Problem wie dem kalten Cyberkrieg überfordert sein mögen, aber das chinesische
Regime eher nicht.
– Vielleicht, sagte ich dann, ist es China, das in der Befriedung des kalten
Cyberkriegs einmal die führende Rolle spielen wird.
– Glaubst du das wirklich?, fragte sie ungläubig.
Ich erschrak. Hatte ich diesen Anschein erweckte? Ja, so hatte es wohl geklungen.
Ich hatte einen von Tians Gedanken fast so selbstverständlich vorgebracht, als sei er
mein eigener. Und ich schämte mich dessen nicht. Ich war sogar ein bisschen stolz
darauf.
– Dass wir auch in dieser Frage von China werden lernen können, sagte ich noch
selbstbewusster, das dürfen wir nicht ausschließen.
Flächengewinne der Demokratie
Lässt sich der Fortschritt der politischen Zivilisierung auf der politischen Landkarte
darstellen? Kann man diesen Fortschritt nicht einfach mit der Ausbreitung der
Demokratie gleichsetzen, ihn also an den Veränderungen auf der Weltkarte der
Demokratie ablesen?
167
So einfach ist es natürlich nicht. Schon über die Frage, was man als Demokratie
gelten lässt und was nicht, welche Staaten also im politischen Geschichtsatlas als
Demokratien auszuweisen wären, gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Sind
Staaten, in denen die demokratischen Verfahren praktiziert werden, in denen aber
trotzdem Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit missachtet
werden, Demokratien? Gehören Staaten, wo demokratische Wahlen die Macht in
unzivilisierte Hände gelegt haben, auf die Weltkarte der Demokratie? Natürlich
gehören sie dahin, aber viele wollen dies trotzdem noch immer anders sehen. Viele
wollen eine Demokratie nur dann als Demokratie gelten lassen, wenn der
demokratische Prozess in zivilisierte Politik mündet. Damit wollen sie den
Demokratiebegriff schützen, aber sie erschweren damit zugleich die
Auseinandersetzung mit den Schwächen der Demokratie.
Zählt man zu den Demokratien aber alle Staaten, die demokratische Verfahren
praktizieren, dann zeigt ein Geschichtsatlas der Demokratie dies: Die Demokratie hat
sich bis in die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts hinein über den allergrößten Teil der
Welt ausgebreitet, den größten Teil Afrikas und einen Teil der arabischen Welt
eingeschlossen. Die einzige wirklich große Ausnahme war zur Mitte des
Jahrhunderts noch China. Viel demokratischer konnte die Welt insofern zu dieser
Zeit nicht mehr werden.
Aber selbst China ist, so hatte schon Tian argumentiert, kein eindeutiger Fall. Für
Tian war China eine Demokratie besonderer Art. In China herrsche zwar – de facto
zumindest – die kommunistische Partei, China sei also ein Einparteienregime, aber
die Partei repräsentiere dort das Volk. Er wisse natürlich, dass das früher und noch
bis die jüngste Zeit anders gewesen sei, aber mittlerweile werde fast jeder Chinese,
der es wolle, in die Staatspartei aufgenommen, und dort könne er politischen Einfluss
nehmen. In einigen westlichen Demokratien müsse man sich ja, um wählen zu
können, als Wähler registrieren lassen. Der Eintritt in die chinesische Staatspartei sei
nicht mehr viel anderes als eine solche Registrierung.
168
Ich wandte ein, in China seien nicht einmal zehn Prozent der erwachsenen Bürger
Parteimitglieder, das chinesische System sei insofern die Herrschaft dieser
Minderheit. Aber auch das ließ Tian nicht als Argument gelten. Parteimitglieder,
sagte er, seien in China diejenigen, die sich gründlicher als andere mit Politik
befassten. Auch in westlichen Demokratien befassten sich doch allenfalls zehn
Prozent der erwachsenen Bürger gründlich mit politischen Sachfragen, und Politik
würde doch eher besser als schlechter, wenn hauptsächlich diese zehn Prozent über
sie bestimmten. Dazu fiel mir kein schlüssiges Gegenargument ein.
Bei einem späteren Treffen habe ich auch darüber mit Hauser gesprochen. Sein
spontaner Kommentar war:
– Kluger Kopf, dieser Tian.
Hauser war eben immer noch für Überraschungen gut. Natürlich hatte ich von ihm
etwas anderes erwartet. Vielleicht ein mitleidiges: Chinesen sind eben immer noch
keine Demokraten. Oder ein sachliches: China ist eben noch nicht reif für die
Demokratie. Stattdessen sagte er:
– Über diesen Tian würde ich gern mehr wissen.
Dann erzählte ich ihm, wie Tian das Einparteiensystem mit fast dem gleichen
Argument gerechtfertigt hatte, das er, Hauser, mir vor langer Zeit einmal vorgehalten
hatte. Wie Tian argumentiert hatte, dass die Politik im Mehrparteiensystem der
Politik im Einparteiensystem immer ähnlicher werde, da ja im Mehrparteiensystem
die Unterschiede zwischen den Parteien, den halbwegs seriösen zumindest, immer
geringer würden; dass daher in vielen demokratisch gewählten Parlamenten die
Meinungsvielfalt zumindest substanziell kaum größer sei als in der kommunistischen
Partei Chinas; dass sich insofern das westliche System und das chinesische einander
weit angenähert hätten, und zwar beiderseits, auch wenn man sich das im Westen
nicht eingestehe.
Hauser verfiel darauf in ein längeres Schweigen.
169
– So, sagte ich schließlich, scheinen Chinesen noch immer zu denken, auch die
klügeren unter ihnen.
Wieder keine Antwort.
– Tian, sagte ich, findet also das chinesische Einparteiensystem fast so gut wie
unsere parlamentarische Demokratie. Gewagte These.
– Nein, nein, sagte Hauser. Nein, gewagt ist es ganz und gar nicht. Es nur falsch
formuliert.
– Wie würdest du es denn formulieren?
– Ich würde sagen: Unser Mehrparteiensystem ist fast so schlecht wie das
chinesische Einparteiensystem.
Ich sah ihn wortlos an. Er schien es zu genießen, erwiderte meinen Blick und
wartete. Dann sagte er:
– Ja, das hätte auch ich bis vor Kurzem nicht so formuliert, aber man wird ja auch als
alter Mann noch klüger.
"Unser Mehrparteiensystem ist fast so schlecht wie das chinesische
Einparteiensystem" – dieser Satz hallt in meiner Erinnerung bis heute nach.
Als wir dann auseinandergingen, sagte Hauser noch:
– Lass den Kontakt zu diesem Tian nicht abreißen.
Aber zurück zur Ausbreitung der Demokratie. War in den vierziger Jahren unseres
Jahrhunderts nicht doch Wirklichkeit geworden, was fünfzig Jahre vorher als Ende
der Geschichte bezeichnet worden war? War also die Geschichte der politischen
Zivilisierung doch so gut wie beendet? Würden die Staatsbürger dieser Welt sich
nicht bald zurücklehnen können im Wissen: Ab jetzt wird das gleiche politische
Spiel mit den gleichen Regeln für immer weitergespielt? Ja, es gab noch immer
gescheiterte Demokratien, noch immer waren in demokratischen Staaten
170
Staatsgrenzen und Fragen der Staatszugehörigkeit gewaltsam umkämpft, und noch
immer gab es demokratische Staatsführungen, die mit Terrororganisationen
kooperierten, noch immer stieß legitimer Separatismus auch in Demokratien auf
staatliche Repression, noch immer herrschte in den meisten demokratischen Staaten
extreme soziale Ungleichheit, noch immer gab es in vielen Demokratien
wiederkehrende Perioden von Massenarbeitslosigkeit, noch immer gab es unter
demokratischen Regierungen Staatspleiten, noch immer genossen Bürger
demokratisch regierter Staaten großenteils nur elementarste Bildung, noch immer
gab es in Demokratien Drogenkriege und noch immer waren viele demokratische
Staatsapparate von Korruption und von organisierter Kriminalität durchsetzt. Noch
immer konnte man sich also eine viel bessere Welt wünschen als die bestehende
demokratische. Aber waren nicht zumindest die Spielregeln, nach denen die Welt
weiter zu verbessern wäre, zu Ende entwickelt? Konnte man sich, wenn man
realistisch war, als Staatsbürger überhaupt Größeres wünschen, als
Parlamentsabgeordnete und politische Amtsträger mitwählen zu dürfen?
Nein, eigentlich nicht, im Großen und Ganzen wenigstens. So ungefähr, das gestehe
ich, dachte auch ich damals noch immer. Natürlich waren die Möglichkeiten direkter
Demokratie, von Volksentscheiden über politische Sachfragen also, nicht
ausgeschöpft, aber ob etwas mehr direkte Demokratie die Politik wirklich besser
machen würde, das wusste niemand genau. Ob es Besseres geben könnte als die
bestehende Demokratie, die so genannte repräsentative also, die eine
Parteiendemokratie ist, erschien insofern höchst zweifelhaft.
Hauser hatte über die Demokratie einmal gesagt, sie sei in die Fläche gewachsen,
aber nicht in die Tiefe. Darüber, wie eine vertiefte Demokratie aussehen könnte,
hatte er nichts gesagt außer, dass wir uns davon dringend eine Vorstellung machen
müssten.
Er hatte natürlich Recht. Wie konnten wir uns auch mit der Demokratie, wie sie ist,
abfinden, wo in den meisten Demokratien die politische Zivilisierung bedrohlich
stagnierte, wo in anderen Demokratien die Bürger wieder Sympathien für die
171
Autokratie entwickelten und immer noch junge Demokratien tragisch scheiterten?
Musste der Westen nicht wenigstens diesen Staaten, früheren Kolonien zum Teil,
eine für sie geeignetere Staatsform finden helfen?
Nichts davon war geschehen, und nichts davon zeichnete sich ab. Die meisten
Demokratisierungsversuche in der arabisch-muslimischen Welt hatten in einem
zivilisatorischen Fiasko geendet. Innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen hätten hier
hundertmal demokratische Wahlen abgehalten werden können, ohne dass damit
innerstaatlicher Frieden gestiftet worden wäre. Kein Wunder also, dass so viele
Bürger dieser Region immer noch so wenig Hoffnung in die herkömmliche
Demokratie setzten. Worauf sonst aber hätten sich dort politische Hoffnungen
gründen lassen? Dass irgendein weiser arabischer Staatsgründer die Weltbühne
betreten und neue Wegweisungen geben würde, die der Westen nicht zu geben in der
Lage war? Diese Illusion hegte niemand. Kein Wunder also auch, dass die über
Staatsgrenzen zerstrittene arabische Welt die Neuordnung weiter mit den gleichen
Mitteln versuchte wie früher Europa: mit erbittertem Krieg.
Nirgendwo war in dieser Zeit klarer zu erkennen, wie wenig Demokratie und die
Aussicht darauf Menschen vor Politikversagen schützten. Trotzdem blieb die
westliche demokratische Welt darauf fixiert, die Flächengewinne der Demokratie
abzusichern und zu vollenden. Konzepte, die auf, wie Hauser es nannte, eine
Vertiefung der Demokratie abzielten, waren nicht gefragt, und Menschen, die für
eine vertiefte Demokratie eintraten, machten noch kaum von sich reden. Daran
änderte auch der desolate innere Zustand vieler etablierter Demokratien nichts und
auch nicht die Tatsache, dass Anfang der vierziger Jahre die Wahlbeteiligung in fast
allen etablierten Demokratien auf neue historische Tiefstände sank.
Einen neuen Tiefststand erreichte auch das Niveau demokratischer Wahlkämpfe.
Deutschland hatte immer noch das Glück, dass mit Guttenbergs Deutschen
Demokraten eine vergleichsweise zivilisierte Partei das rechtspopulistische
Wählerpotential einfing. Wer die Deutschen Demokraten zur Gefahr für die
Demokratie aufbauschte, der konnte in der Wählergunst nur verlieren. Im
172
Wahlkampf 2041 nahmen die Altparteien sich daher die Muslimisch Soziale Union
als Feindbild vor, und in ihrem hysterischen Kampf um Aufmerksamkeit überboten
sie einander dabei in verunglimpfender Rhetorik. Es war das bis dahin unwürdigste
Wahlkampfspektakel in der Geschichte der Bundesrepublik.
Verblichenes Vorbild Europa
Früher hatte ich nie das Gefühl gehabt, als Archivar anders zu sein als andere. Hätte
mir – ein Beispiel nur – jemand gesagt, Archivare seien nicht gerade unterhaltsam,
hätte ich geantwortet, das Archiv sei manchmal wie eine Kleinkunstbühne, die
Archivwissen für die Redaktion aufführt. Aber die Archivarbeit hatte sich natürlich
gewandelt, sie war noch nüchterner und sachlicher geworden als immer schon.
Niemand, der – wie ich früher – eigentlich Redakteur werden wollte, wäre noch auf
die Idee gekommen, sich im Archiv zu bewerben. Aber ich mochte die Menschen,
die zu uns kommen wollten. Wer waren denn auch die anderen, die uns Archivare für
Langweiler hielten? Für mich waren es Menschen, die ihr Leben zu rastlos, zu
gewollt und oft auch gekünstelt zu inszenieren versuchten, als Show, als Abenteuer
oder auch als überdrehte Talkshow. Im Archiv brauchten wir solche Leute nicht.
Dann doch lieber Langweiler.
Nicht das Übliche, dachte ich, und nicht, was wir brauchen, als ich die Bewerbung
eines Klaus Mittermaier durchblätterte. Studium der Romanistik abgebrochen,
diverse Praktika, kurzfristige Aushilfsjobs, zurzeit ohne Beschäftigung. Auf dem
Foto die Haare zu einem kurzen Zopf gebunden, Fünftagebart, zerknittertes Hemd,
Wolljacke. Gerade gut genug für eine Bewerbung als Kurierfahrer, dachte ich.
Auffällig nur seine Augen. Der Blick etwas gelangweilt, aber hintersinnig. Vielleicht
war es das, was mich noch einmal hinschauen und einen zweiten Blick auf den
Lebenslauf werfen ließ. Da sah ich: Ein Praktikum bei H. & C. Consulting. In
Constanzes Firma. Vor zwei Monaten.
Dann das Bewerbungsgespräch. Seine Fettleibigkeit gut unter lockerer Kleidung
verborgen, etwas linkisch in seinen Bewegungen, aber keine Spur von Unsicherheit.
173
Und dann die Stimme. Ein melodischer, auch im leisen Tonfall raumfüllender Klang.
Der kurze Bart verbarg nicht ein angedeutetes Dauerlächeln, von dem man nicht
wissen konnte, ob nicht auch eine Spur Herablassung darin lag.
– Ich soll Sie übrigens von Constanze Cramer grüßen. Ist ja eine enge Freundin von
Ihnen. Das war einer seiner ersten Sätze.
Constanze eine enge Freundin? Studienbekanntschaften, Ex-Kollegen, die einander
respektierten und mochten, das waren wir, aber viel mehr doch nicht. Nun stand hier
dieser Büroassistentenbewerber, dieser Klaus Mittermaier, und erklärte mir, dass
Constanze meine enge Freundin war.
Als ich dann weiterfragte, kamen diese scheinbar perfekten, routinierten Antworten,
mit einer Selbstverständlichkeit vorgetragen wie nach einem langen
Bewerbungstraining, makellos und immer mit diesem verdeckten Mona-LisaLächeln. Wäre sein Aussehen nicht gewesen, hätte ich gedacht: ein gepflegter
Bildungsbürger.
"Danke für Ihren Besuch. Wir melden uns dann bei Ihnen." So knapp und sachlich
beendete ich das Gespräch. Überzeugt hatte er mich nicht. Aber wie Millionen der
Neugier auf das Geheimnis der Mona Lisa nachgeben, gab ich der Neugier auf
diesen Mann nach. Zuerst schickte ich eine Mail an Constanze: Ob sie sich einen
Klaus Mittermeier, den sie wohl kenne, als Archivmitarbeiter vorstellen könne. Zwei
Tage lang ließ sie mich bangen, dann kam das erlösende: Wenn du Mut hast, dann
nimm ihn.
Wenn. Also doch eine Bedingung. Wie mutig war ich? Wie viel konnte und wollte
ich als Archivleiter noch riskieren? Nein, großen Mut hatte ich nicht, aber die
Neugier war umso stärker.
Der Personalchefin erklärte ich es schließlich so: Das Archiv drohe langsam zu
überaltern, auch im Archiv sollten wir uns dringend mit jungen Leuten verstärken,
nicht unbedingt solchen, die so dächten wie die meisten anderen, aber solchen, die
174
wüssten, wie die meisten Jüngeren dächten, und so einer scheine dieser Klaus
Mittermaier zu sein.
Mittermaier – ich nenne ihn hier einfach Klaus – war sicher nicht auf Jobsuche
gewesen, um irgendwo lange zu bleiben, erst recht nicht in irgendeinem Archiv.
Aber er blieb. Vielleicht hätte man ihn nirgendwo sonst lange ertragen, schon wegen
seiner kleinen launigen Marotten. Im Archiv trug er meistens – "Empfehlung meines
Orthopäden" – Sandalen, aber manchmal tänzelte er auch barfuß summend und fast
schwebend über die Büroflure. Ich hielt, solange ich konnte, eine schützende Hand
über ihn.
Klaus war ein Sonderling, aber seine Lieblingsrolle war die des gespielten NichtSonderlings. Wann immer jemand ein gängiges Vorurteil unkritisch wiedergab,
stimmte er eilfertig zu, manchmal beiläufig, manchmal emphatisch, immer in einem
Tonfall, der jeden Zweifel zu ersticken schien, aber mit einer abgrundtiefen
unterschwelligen Ironie. So konnte er noch die dürftigsten, ja absurdesten Argumente
in täuschendem Wohlklang vortragen:
– Nein, Parteien überzeugen mich nicht, aber zum Wählen braucht man ja keine
Überzeugung.
– Ja, die Kriege der NATO-Staaten haben die Welt verbessert.
– Ja, für richtige Überzeugungen dürfen auch Glaubenskriege geführt werden.
– Ja, ohne Euro auf Dauer kein Wohlstand. Die Schweiz und Norwegen werden sich
noch wundern.
Selten war er um solche Antworten verlegen, am allerwenigsten zum Thema Europa.
Der noch glühende oder auch der schon skeptische Europäer, das waren seine
Paraderollen. Er beherrschte alle europapolitischen Denkschablonen und deren
entlarvende Übertreibung. "Ja, ohne die EU hätte es auf deutschem Boden doch
längst wieder Krieg gegeben – kurze Pause – Kriege gegeben." Solchen Sätzen ließ
er, die Verblüffung des anderen genießend, ein dezent überlegenes Lächeln folgen.
175
Von überragender Intelligenz war er nicht, aber er war ein begnadeter Bloßsteller.
Ohne jeden Anspruch, es besser zu wissen.
Von dem glühenden Europäertum, das die Entwicklung der EU jahrzehntelang
getragen hatte, war schon in den frühen zwanziger Jahren kaum etwas übrig
geblieben. Der EU-Austritt der Briten nach dem Referendum von 2016 hatte auch im
kontinentalen Europa für mehr Nüchternheit in Sachen europäischer Integration
gesorgt. Aber die Europapolitik der etablierten Parteien und Politiker – und erst recht
natürlich die Politik der EU-Institutionen – berührte dies kaum. Zu groß war die
Angst, dass einer Abkehr von europapolitischen Dogmen ein Rückfall in alte
Ressentiments folgen könnte.
Getrieben auch von der Angst vor Erstarrung und vor der Gleichgültigkeit der
Bürger, hatte die EU daher ihr Heil in neuem Erweiterungsaktonismus gesucht. Sie
hatte zuerst Montenegro und Mazedonien aufgenommen und dann Serbien, danach
Bosnien-Herzegowina und Albanien, und für die Ukraine und Moldawien hatten
Aufnahmeverhandlungen begonnen. Die Türkei, Armenien und Georgien sollten in
weiteren Schritten folgen. All dies, obwohl sich gezeigt hatte, dass bei Europawahlen
die Wahlbeteiligung tendenziell umso geringer wurde, je größer die Zahl der
Mitgliedsstaaten geworden war. Sie lag inzwischen nur noch ganz knapp über 30
Prozent.
Populistische Parteien, die meisten europaskeptisch, stellten im Europaparlament ein
Drittel, Klein- und Kleinstparteien etwa ein Viertel der Abgeordneten. Berechenbare
Mehrheitsverhältnisse gab es nicht, die meisten Abstimmungen gerieten zur Lotterie,
Ministerrat und Regierungschefs trafen sich in immer kürzeren Abständen zu
Krisensitzungen, und Entscheidungen, die der Zustimmung des Europaparlaments
bedurften, wurden kaum noch getroffen. Europa verwaltete seinen Status quo.
Die Politiker fühlten sich mit dieser EU weiterhin wohl, aber immer weniger Bürger
taten es. Umfragen zeigten, dass die Bürger vieler europäischer Regionen nicht mehr
EU-Bürger wären, wenn sie die Wahl hätten. Diese Wahl hatten sie aber nicht.
176
Genauer gesagt, die Politiker der etablierten Parteien gaben sie ihnen nicht. Darin
war man sich nach dem britischen Referendum über den EU-Verbleib europaweit
einig.
Oder gab es vielleicht einen Trick, der das scheinbar Aussichtslose doch ermöglichen
könnte? Konnte man sich zum Beispiel aus Europa hinauswerfen lassen? Es waren
die Schotten gewesen, deren erstes, gescheitertes Unabhängigkeitsreferendum diese
Möglichkeit hatte aufscheinen lassen. Gründet ihr euren eigenen Staat, so war den
Schotten gedroht worden, dann seid ihr nicht mehr Mitglied der EU, und ihr werdet
es vielleicht nie mehr werden können. Die Schotten konnten damals noch nichts
Positives darin sehen und ließen sich von dieser Drohung einschüchtern. Aber die
Saat separatistischer Neigungen, die auch auf den Ausstieg aus der EU abzielten,
reifte weiter heran.
Separatistisches Streben nach staatlicher Eigenständigkeit kann auf kühlem Kalkül
beruhen. Es kann darauf beruhen, dass Bürger einer wohlhabenden Region ihren
Wohlstand nicht mehr mit Bürgern ärmerer Nachbarregionen teilen wollen. Aus
solchem ökonomischen Kalkül entstehen aber keine Massenbewegungen, die den
mühevollen Weg zur Unabhängigkeit durchstehen könnten. Separatistische
Massenbewegungen müssen von Emotionen getragen sein. Ihnen geht es immer auch
um Bedürfnisse nach politischer Identifikation. Im Europa der EU entstehen solche
Bewegungen dort, wo weder der Nationalstaat noch das politische Europa diese
Identifikation mehr hervorbringen.
In Katalonien zum Beispiel. Spanier zu sein war für die meisten Katalanen eher Last
als Lust, und die Zugehörigkeit zu Europa kompensierte dies nicht. Spanien hatte
dem katalanischen Unabhängigkeitsstreben immer neue Steine in den Weg gelegt
und tat es weiterhin, und es verschanzte sich dabei hinter der Verfassung. Und weil
all dies mit ausdrücklicher Billigung fast aller EU-Partner geschah, wendeten die
Katalanen sich mit ihren Aktionen schließlich direkt gegen Europa. Die Konsequenz
war irgendwann unvermeidlich: Der Wahlboykott bei den Europawahlen.
177
Ein kluger Schachzug war dies, klüger natürlich und von einer breiteren Mehrheit
getragen als alle denkbaren militanten Aktionen. Wir Katalanen wollen nichts
anderes als damals die Russen auf der Krim, war eines ihrer Argumente, aber wir
wollen es ganz aus eigener Kraft. Wer ins EU-Parlament gewählt würde, war für die
Katalanen sowieso unwichtig, so unwichtig wie für die allermeisten Europäer, also
würden sie sich mit einem Boykott der Europawahl nicht schaden. Dieser
Wahlboykott, das wussten die Katalanen natürlich, würde politisch erst einmal wenig
bewirken, aber er würde ein starker symbolischer Akt sein. Er würde die Gegner der
katalanischen Unabhängigkeit moralisch weiter in die Defensive drängen.
Es gibt wohl wenige Ereignisse, die das Denken über Europa in unserem Jahrhundert
stärker verändert haben. Bei der darauf folgenden Europawahl schlossen sich die
Schotten und in letzter Minute auch die Flamen dem Boykott an. Das Ergebnis
übertraf die Erwartungen. In Schottland, Katalonien und Flandern lag die
Wahlbeteiligung bei knapp 15%. Aber das war erst der Anfang. Den Europawahlen
2043 blieben nicht nur Separatisten demonstrativ fern, in ganz Frankreich, in ganz
Deutschland und auch in anderen Ländern sank die Wahlbeteiligung auf unter 25
Prozent. Die Medien überschlugen sich in alarmistischen Kommentaren. Kann dieses
EU-Parlament noch für die Bürger sprechen? Darf es überhaupt noch
Entscheidungen treffen? Ganz Europa sprach darüber, dass ein Ruck durch die
Institutionen der EU gehen müsste, aber konkrete Vorstellungen davon gab es nicht.
Dann, ein paar Jahre nach der Desasterwahl, kam das, was eine Zeitlang der Zweite
Europäische Frühling genannt wurde.
Dieser Frühling kam nicht spontan, er war ein politisches Artefakt. Es begann mit der
fast zwei Jahre langen Imagekampagne für Europa, finanziert, wie sich später
herausstellte, aus zweckentfremdeten Mitteln des EU-Haushalts und aus Spenden
großer europäischer Unternehmen und Banken. Die Kampagne wurde konzipiert von
den teuersten Werbeagenturen Europas, und sie wurde unterstützt von Prominenten
aus dem Showbusiness und dem Sport, von einigen Schriftstellern und Intellektuellen
und von Durchschnittsbürgern, die sich in Interviews als begeistere EU-Anhänger
178
präsentierten. Die etablierten Parteien hatten dabei im Hintergrund die Fäden
gezogen, und nun spielten sie das Spiel auch in vorderster Front mit. Sie ließen
Eigenwerbung im gleichen Stil kreieren wie die Eigenwerbung der EU.
Eine solche Werbekampagne hatte es in der Politik noch nicht gegeben. Es war eine
neue Mischung der Stile, humorvoll und doch seriös, populistisch und doch
anspruchsvoll, konkret und doch nebulös, vulgär und einen Hauch elitär, bescheiden
und doch selbstbewusst. Einer der Slogans: Wir trauen Ihnen viel zu. Sie uns auch?,
darunter: Ihre EU-Kommission. Dazu perfekt inszenierte Gruppenbilder strahlender
Kommissare, einige mit ihren Kindern, vor einer ehrfurchtheischenden Landschaft
oder städtischen Silhouette. Jeder Slogan, jedes Plakat, jedes Interview spielte
gekonnt auf solch verschiedenen Ebenen. Ein gefundenes Fressen natürlich für
Klaus, der auf den Fluren unseres Archivs unvermittelt Kollegen ansprach: Hey. Ich
trau' dir viel zu. Dann wartete er, die Sekunde der Verblüffung für eine gnadenlos
auffordernde Geste nutzend, bis der Kollege es herausbrachte: Ich dir auch.
Die Kampagne wirkte. Bei der nächsten Europawahl stieg in den meisten Ländern
die Wahlbeteiligung tatsächlich an. Wieder überschlugen sich die Medien. Europa
blüht auf / Abgesang auf die EU abgesagt / Ohrfeige für die Europa-Nörgler und so
weiter. Ich selbst kenne viele, die sich von der Kampagne anstecken und zum
Wählen mitreißen ließen. Und ich bekenne hier: Ich war einer von ihnen. Und ich
nehme es mir heute noch übel. Andererseits: Hätte es irgendetwas verändert, wenn es
diesen kurzzeitigen Anstieg der Wahlbeteiligung nicht gegeben hätte?
Die Kampagne hatte aber auch eine ungewollte Nebenwirkung: Sie trieb natürlich
auch manche Europaskeptiker wieder an die Wahlurnen. Die Folge:
Europaskeptische Populisten gewannen erstmals weit mehr als ein Drittel der
Stimmen, und das EU-Parlament wurde entscheidungsunfähiger denn je. Der
vermeintliche Europäische Frühling war danach fast so schnell vorbei, wie er
gekommen war.
179
Auch die dritte große Finanzkrise des Euro-Raums in den frühen vierziger Jahren
änderte daran nichts. Fast zwanzig Jahre lang war die Wirtschaft in den EuroLändern einigermaßen stabil geblieben, und die Staatsverschuldung war nicht weiter
ausgeufert. Aber nun brach wieder eine Krise aus wie Anfang des Jahrhunderts, eine
Bankenkrise also, eine Staatsverschuldungskrise, eine Konjunkturkrise und in Teilen
Europas dramatische Krisen einzelner Wirtschaftszweige. Auch diesmal waren die
südeuropäischen Staaten, wo sich die Jugend-Massenarbeitslosigkeit der vorherigen
Krise gerade erst zurückgebildet hatte, am schlimmsten getroffen. Aber auch diese
neue Krise nahmen die allermeisten Bürger noch mit erstaunlichem Gleichmut hin.
Eine Erklärung dafür hatte ich lange Zeit nicht, aber dann hatte ich irgendwann das
Glück, auch darüber einmal mit Constanze reden zu können. Sie erklärte es mir so:
Die Wirtschafts- und Währungskrisen unseres Jahrhunderts seien nicht weniger
schlimm als frühere, aber Regierungen und Zentralbanken hätten gelernt, sie zeitlich
zu strecken. Gestreckt – und damit quasi verwässert – würde so auch die Empörung
der Bürger. Zwischen Wirtschaftskrisen und politischen Krisen sei der
Zusammenhang daher viel schwächer, als er es früher vielleicht einmal gewesen war.
Es klang zu einfach, als dass es mich auf Anhieb überzeugte, aber je länger ich
darüber nachdachte, desto mehr leuchtete es mir ein. Und es erklärte nicht nur die
politische Folgenlosigkeit der jüngeren Wirtschaftskrisen. Könnte es nicht, dachte
ich, fast ein politisches Prinzip unseres Jahrhunderts sein? Früher hatten Krisen die
Bereitschaft geweckt, sich auf Neues einzulassen, in unserem Jahrhundert gibt es nur
noch schleichende Krisen, nach denen alles bleibt, wie es war. Wir leben nicht nur
im Jahrhundert schleichender Wirtschaftskrisen und eines schleichenden Weltkriegs.
Alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen unserer Zeit werden so weit
gestreckt, dass sie der politischen Phantasie keine zündenden Impulse mehr geben.
Könnte demnach das Drama dieses Jahrhunderts gerade darin bestehen, dass es –
zumindest in der westlichen Welt – zu Dramen nicht mehr fähig ist? Ich wurde mir
immer sicherer: Kaum etwas hilft besser als diese Formel, unser Jahrhundert zu
verstehen.
180
Zu dieser Formel passt natürlich, dass die erste Jahrhunderthälfte zu Ende ging, ohne
dass von den etablierten Parteien irgendein altes europapolitisches Dogma ernstlich
in Frage gestellt, geschweige denn über Bord geworfen worden wäre, also auch ohne
Antwort auf die Frage, wie weit die EU sich tatsächlich noch erweitern sollte oder ob
sie es – ohne Autorisierung durch die Bürger – mit der Erweiterung nicht schon viel
zu weit getrieben hatte. Auch die weiter wachsende Stärke europaskeptischer
Populisten hatte noch nicht das Zeug zum Drama. Man hätte annehmen können, dass
Populisten und Separatisten in Europa einen politischen Schulterschluss versuchen
würden, aber auch dazu kam es nicht. Dafür waren den Separatisten die politischen
Botschaften von Populisten zu diffus, den Populisten die separatistischen
Forderungen zu konkret. Stabile politische Mehrheiten jenseits der etablierten
Parteien zeichneten sich noch nicht ab. Das politische Europa hatte es sich in seiner
Sackgasse bequem gemacht. Aber wie lange konnte das noch gutgehen?
Ich gebe zu, dass auch ich lange dem rat- und tatenlosen Zeitgeist verfallen war. Was
gab es auch zu erwarten? Was zu befürchten? Wo keimten Veränderungen auf?
Wohin hätte man seine Antennen richten, wo hätte man Neuem auf die Spur
kommen können? Auch im Archiv hatten wir nicht das Gefühl, eine für Deutschland
und den Westen irgendwie spannende Epoche zu dokumentieren.
Vielleicht hätte ich diese Zeit anders erlebt, wenn ich wenigstens bis zur
Jahrhundertmitte noch so intensive Gespräche mit Hauser hätte führen können wie
vorher. Hauser blieb auch als gealterter Pensionär ein wacher Geist, aber er
beobachtete nicht mehr mit der früheren Unerbittlichkeit und Schärfe. Er blieb
dankbar, wenn ich ihn besuchte, aber Fragen, die es Einem wie Schuppen von den
Augen fallen ließ, stellt er nicht mehr.
Eine von Hausers späten tiefsinnigen Fragen war diese gewesen: Ob man nicht
irgendwann einmal werde fragen müssen, was aus Europa würde, wenn man mit der
europäischen Einigung noch einmal ganz von vorn anfangen könnte, unbelastet von
alten Dogmen. Auch er wisse natürlich nicht genau, was dann geschehen würde, aber
ganz sicher sei, dass dann etwas ganz anderes entstehen würde als das, was ist.
181
Sicher gebe es Errungenschaften, die niemand aufs Spiel setzen wolle, aber
zumindest für die Bürger stünden die alt gewordenen europäischen Institutionen ja
nicht unter Denkmalschutz. Auch politische Institutionen hätten so etwas wie eine
natürliche Lebensdauer und er, Hauser, sei überzeugt, dass das politische Europa, so
wie es ist, über seine natürliche Lebenserwartung schon weit hinaus sei. Viel
konkreter hat Hauser sich dazu nicht ausgelassen, aber Eines stand für ihn offenbar
fest: Irgendwann werde mit dem Aufbau eines politischen Europa noch einmal von
vorn begonnen werden.
Ich war gerade mit solchen Gedanken zur Zukunft Europas beschäftigt, als eine Mail
von Tian auf meinem Handy erschien. Tian? Ich sah ungläubig auf das Display.
Wirklich Tian, mit dem ich weit über ein Jahrzehnt lang keinen Kontakt gehabt
hatte? Ja, er war es wirklich. Er schickte nur ein paar nüchterne kurze Sätze, kein
Wort über damals, kein Wort über die vielen Jahre seit unserem letzten Kontakt, nur
dies: Bin gerade auf einem Kongress in Boston. Melde mich wieder. Herzlich. Tian.
Auch Hauser hatte sich früher gefragt, was aus diesem Tian wohl einmal werden
würde, und er war enttäuscht, dass mein Kontakt zu ihm abgebrochen war. Nun von
Tian dieser Zweizeiler. Immerhin: Melde mich wieder. Meine ersten Gedanken: Was
würde er mir zu sagen haben? Welches Leben führt er heute, welche Arbeit tut er,
wie denkt er, was weiß er über sein Land, das wir nicht wissen? Und wenn, würde er
darüber reden können? Würde er es wollen? Fühlt er sich als freier Bürger? Denkt er
politisch inzwischen wie wir, wie westliche Demokraten? So ging es mir die halbe
Nacht durch den Kopf.
Am nächsten Tag war mir klar: Meine Phantasie war mit mir durchgegangen. Tian
war immer noch Chinese, China war immer noch China, es war noch immer ein
Einparteienstaat, und China war noch immer Tians Heimat. Eine Abrechnung mit
dem chinesischen System, das Bekennerschreiben eines Dissidenten im westlichen
Geist, so etwas würde von ihm natürlich nicht kommen, und auch nichts darüber, ob,
wie und wo sich in China möglicherweise Umbrüche anbahnten. Nichts von all dem,
was man sich im Westen schon immer von vertraulichen Kontakten zu Chinesen
182
voreilig erhofft hatte. Andererseits war Tian nicht irgendwer. Etwas würde er zu
sagen haben. Mehr als viele Grüße aus Boston. Aber was?
Am Tag darauf dann die zweite Mail. Ein langer, sorgfältig formulierter Text. Mailt
man in China in diesem Stil?, fragte ich mich. Aber viel anders waren auch die Mails
nicht gewesen, die er früher im Archiv verschickt hatte. Altmodisch, dachte ich, aber
bewahrenswert. Ich war erleichtert.
Lieber Matthias,
deine letzte Nachricht habe ich vor fast 15 Jahren bekommen, und ich habe sie nie
beantwortet. Nimmst du meine Entschuldigung dafür an? Ich hatte immer gehofft,
wir würden bald wieder miteinander reden können, ganz unter uns.
Ich durfte jetzt zu einem Sinologenkongress in Boston reisen, und ich halte hier einen
kleinen Vortrag über das chinesische Gesundheitswesen. Das ist eigentlich nicht
meine Spezialität, aber ich wurde dafür ausgesucht.
Erinnerst du dich noch an deine Frage "Was geht wie lange gut"? Wenn es um
politische Regimes und Dogmen gehe, sagtest du, dann müsse man sich immer
fragen, wie lange es damit noch gutgehe.
Ich arbeite jetzt an einem Institut, das sich mit europäischer Politik beschäftigt.
Genauer gesagt, mit der Zukunft Europas. Manche sind hier um Europa sehr
besorgt. Sie glauben, dass die europäischen Institutionen nicht mehr lange stabil
bleiben. Einige Kollegen meinen, dass die europäische Union spätestens in ein paar
Jahrzehnten zerfallen wird. Wenn aber nicht einmal mehr das demokratische Europa
stabil bleibt, sagen sie, dann hätte das Folgen für die Stabilität der ganzen Welt,
vielleicht auch für China. Deswegen beschäftigen wir uns an unserem Institut jetzt
sehr intensiv mit Europa.
Darüber würde ich gern mit dir reden. Soll unser Institut dich einmal nach China
einladen? In drei oder vier Jahren sind wir hoffentlich so weit, dass wir dir die
richtigen Fragen stellen könnten.
183
Vielleicht könnten wir uns auch vorher einmal treffen, nur wir zwei. Übernächstes
Jahr darf ich vielleicht wieder nach Europa reisen.
Herzlich
Tian.
Überraschende Fragen, dachte ich, und doch auch eine Mail in chinesischem Geist,
und das wir nicht negativ gemeint. Die Mail hatte eine sorgfältig formulierte Antwort
verdient, das wusste ich, aber ich war gerade in Eile. Ich schrieb:
Sehr gern zu zweit. Wann? Wo?
Herzlich, Matthias.
Ein Fehler natürlich. Ich hätte warten sollen. Ich hätte später antworten sollen, erst
wenn ich Zeit haben würde für eine ausführliche Mail, wie er sie sicher erwartete.
Ein Gebot der Höflichkeit. Ich hätte mich nicht hinreißen lassen dürfen zu diesem
hektischen, lapidaren, auf jede Höflichkeitsfloskel verzichtenden, aus Tians Sicht
möglicherweise typisch deutschen oder europäischen Zweizeiler. Von Tian kam
keine Antwort.
Aber diese eine Mail von ihm war schon aufregend genug. Ein Institut in China
stellte also Prognosen zu Europa für die kommenden Jahrzehnte an. Ausgerechnet in
China. Wurde irgendwo und von irgendwem in Europa versucht, für Europa so weit
vorauszudenken? Womöglich nirgendwo, dachte ich, und von niemandem, von
Politikern ohnehin nicht und auch nicht von Wissenschaftlern. Wer in Europa würde
schon ein Institut beauftragen, Prognosen zum Zerfall der Europäischen Union
anzustellen?
Ganz anders also in China? Ausgerechnet in dem Land mit der rückständigen
Einparteienherrschaft und dem, wie wir es im Westen noch immer sahen,
rückständigen Bewusstsein, ausgerechnet dort machte man sich über Europa viel
weiterreichende Gedanken als in Europa selbst? War China gerade dabei, Europa
und den gesamten Westen in seiner politischen Voraussicht zu überholen? Oder hatte
es das längst getan? Plante es für eine Zukunft, an die der Westen noch kaum zu
184
denken wagte? Wappnete man sich dort für Probleme und Aufgaben, die man im
Westen noch immer nicht wirklich ernst nahm? Nichts anderes ließ sich aus Tians
Mail doch herauslesen.
Ich dachte daran, wie Tian, den ich früher so klug, so vertraut und doch auch etwas
rätselhaft erlebt hatte, sich seither entwickelt haben musste. Und je länger ich daran
dachte, desto glaubhafter erschien es mir: Ja, dieser Tian könnte einer von denen
sein, die, wenn sie es denn dürfen und sollen, weit über ihre Zeit und den Zeitgeist
hinausdenken, den Zeitgeist des eigenen Landes und anderer Teile der Welt. Und
dieser Tian schickt mir nun eine solche Mail, fast als spreche er damit für ganz
China. War dieses China mit seinem rückständigen Einparteienregime, das noch
nicht einmal eine offene Gesellschaft im westlichen Sinne geworden war, war dieses
China womöglich zukunftsfähiger als der demokratische Westen? Ja, dachte ich,
warum eigentlich nicht. Diese eine Mail von Tian hatte mir die Augen für diese
Möglichkeit geöffnet. Hatte die politische Kultur des Westens ihre führende Rolle in
der Welt schon verspielt?
Am Tag danach meinte ich mich an eine frühere Äußerung Tians zu erinnern, die ich
damals nicht sehr ernst genommen hatte. Das chinesische Einparteienregime sei noch
nicht liberal, hatte er gesagt, es sei vielleicht auch immer noch korrupter als manche
westliche Demokratie, aber es sei mittlerweile sehr professionell geworden und auch
weitsichtig. Was hatte er damit gemeint? Wahrscheinlich doch dies: Dass der
Denkhorizont chinesischer Politik nicht von kurzen Legislaturperioden geprägt sei,
dass deswegen viele Politiker in China langfristiger dächten als Politiker in
westlichen Demokratien und dass in ihrem Auftrag andere, nämlich Leute wie Tian,
noch langfristiger vorausdächten.
Als ich seine Mail noch einmal Wort für Wort durchlas, formte sich dieser Gedanke
immer klarer in meinem Kopf: Würde es mit dem chinesischen Regime vielleicht
doch noch viel länger gutgehen, als man es im Westen annahm? Vielleicht sogar
länger als mit der EU? Oder noch kühner gedacht: womöglich länger als mit den
westlichen Demokratien? Welches politische System in welchem Teil der Welt wird
185
also am längsten überleben? Noch in der Minute davor hätte ich keine Sekunde
gezögert: Jede Wette auf die westliche Demokratie, jede Wette auf Europa. Nun
wusste ich: Es ist völlig offen.
Das Elend des Parteienstaats
Wie konnte ich ernsthaft gedacht haben, das chinesische Einparteienregime könnte
länger überleben als die westliche Demokratie? Wie hatte diese eine Mail von Tian,
meinem früheren Praktikanten, mich dazu anstiften können? War Tian mir in seinem
politischen Denken so weit voraus? Dachte er und dachten Kollegen an seinem
Institut mittlerweile vorausschauender, als selbst die nachdenklichsten und
kritischsten Geister im Westen es taten? Ich versuchte mich an frühere kurze
Gespräche mit Tian zu erinnern, in denen es um die westliche Parteiendemokratie
ging. Hatte er womöglich schon damals, in seiner Praktikantenzeit, ähnliche
Gedanken gehabt, und hatte ich sie nur nicht beachtet, weil Tian, so hellwach und
hoch interessiert er immer wirkte, sich doch mit eigenen Meinungen immer
zurückhielt und, wenn er denn Meinungen äußerte, sie oft mit seiner Gestik und
Mimik im selben Moment zurückzunehmen schien? Weil er nie Meinungen anderer
offen in Frage stellte, sondern allenfalls durch verhaltenes Schweigen? Aber dann
erinnerte ich mich, wie Tian zumindest einmal eine sehr direkte und fast indiskrete
Frage gestellt hatte:
– Sind viele von euren Redakteuren in einer politische Partei?
Es klang, als hätte er lange darauf gewartet, diese Frage stellen zu können, so
überstürzt kam sie heraus.
Ich sah ihn überrascht an.
– Manchmal hat man den Eindruck, setzte er nach.
Was sollte ich antworten? Dass ein politischer Redakteur gewisse Informationen am
ehesten von einem Parteifreund bekommt, und dass der eine oder andere wohl schon
186
deswegen Parteimitlied sei? Aber warum wollte Tian es überhaupt wissen? Warum
so dringend, dass er dieses eine Mal so direkt zu fragen wagte?
– Darüber wird hier nicht gesprochen, sagte ich. Das ist Privatsache.
– Du weißt es nicht?
– Nein.
Er sah mich ungläubig an.
– Die allermeisten sind in keiner Partei, sagte ich schließlich.
Er nickte kurz, dann wandte er den Blick ab, als müsse er nachdenken.
– In China, sagte er dann, beobachten wir die Parteien genau, auch die deutschen.
– Wer ist "wir"?, fragte ich.
Er druckste verlegen.
– Wen meinst du mit "wir"?
Wieder keine Antwort.
– Bist du Parteimitglied?, fragte ich dann kurz entschlossen. Die Frage, die ich ihm
natürlich schon lange hätte stellen mögen.
– Ja, sagte er schließlich. Ich bin in der Partei, aber nicht aktiv.
Er sagte es entspannt und ganz und gar glaubwürdig. Ein passives Parteimitglied,
einer der dazugehört, der Bescheid wissen will, aber nicht politisch aktiv sein will.
Das passte.
Von da an gingen Tian und ich vertrauter miteinander um. Tian hatte zum ersten Mal
etwas über sich offenbart, und wir hatten ein Thema, zu dem wir beide mehr
voneinander wissen wollten.
Wir haben danach nie mehr als ein paar Sätze über politische Parteien ausgetauscht,
aber wie Tian über Parteien dachte, das kann ich hier trotzdem in einem kurzen
fiktiven Dialog zusammenfassen, den wir, dessen bin ich heute ganz sicher, so oder
187
ähnlich hätten führen können, wenn ich die Chance dazu beherzt genug ergriffen
hätte.
– Was weiß man denn in China über die deutschen Parteien?
– Dass sie immer weniger Mitglieder haben. Dass es bei euch keine Volksparteien
mehr gibt. Unsere Partei ist darüber sehr besorgt.
– Chinas kommunistische Partei macht sich Sorgen über den Mitgliederschwund
deutscher Parteien?
– Ja. Wir sehen, dass es bei euch die klügsten Köpfe nicht mehr in die Parteien
zieht. Für eine Parteiendemokratie ist das schlimm. Ihr werdet von Parteien regiert,
denen es an klugen Köpfen fehlt.
– Selbst wenn es so wäre: Unsere Parteiendemokratie funktioniert immer noch
besser als euer Einparteiensystem.
– Wirklich? Bei uns sind die meisten klugen Köpfe noch immer in der Partei.
– Noch? Kluge Köpfe wie du sind bei euch noch Parteimitglieder? Was meintest du
mit "noch"?
– Wenn die klügsten Köpfe nicht mehr in der Partei sind, dann kann ein
Einparteiensystem sehr gefährlich werden. Darüber denkt man in China schon
ernsthaft nach. Viele kluge Köpfe in der Partei tun es.
– Solange solche klugen Köpfe noch in der Partei sind. Und was, wenn sie es
irgendwann nicht mehr sind?
– Das muss eben verhindert werden.
– Und wenn das nicht gelingt?
– Ich glaube, dass es gelingt. Aber wenn es nicht gelänge, dann könnte das System
nicht so bleiben, wie es ist.
– Dann kommt in China die westliche Demokratie? Dann bekommt ihr also doch ein
Parteiensystem wie unseres?
– Mit Parteien, denen es an klugen Köpfen fehlt? Das hoffentlich nicht.
188
Wenn Tian und ich diesen Dialog in genau diesen Worten geführt hätten, hätte ich
dann schon viel früher so kritisch über unsere Demokratie gedacht wie heute? Nicht
unbedingt. Etwas hätte sich in mir gesträubt, diesen Gedanken ganz zu Ende zu
denken. Den Gedanken, in China seien die klügsten Köpfen noch Parteimitglieder, in
den westlichen Demokratien nicht mehr. Bedeutete das nicht, dass China den Westen
schließlich auch in der politischen Vernunft überholen würde? Als
Einparteienregime? Damals für mich noch undenkbar.
Heute weiß ich, dass Tian uns betriebsblind gewordenen Demokraten des Westens
damals in seiner Parteienkritik weit voraus war. Wir würden es heute nur anders
formulieren. Wenn wir heute sagen, die Klugheit der Köpfe in den Parteien habe mit
den wachsenden Anforderungen nicht Schritt gehalten, dann klingt es etwas
harmloser. Aber ein vernichtendes Urteil über den demokratischen Parteienstaat ist
es trotzdem. Es fällt umso vernichtender aus, als mit dem Aufstieg populistischer
Parteien die Durchschnittsklugheit im Parteienwesen noch weiter gesunken ist.
Die Klügeren und Nachdenklicheren unter den Bürgern wurden dessen natürlich
zuerst gewahr. Die absehbare Folge davon war, dass die Wahlbeteiligung, die bis
dahin in bildungsfernen Schichten am niedrigsten gewesen war, allmählich auch
unter Bildungsbürgern stark zurückging. Wählen und Nichtwählen tauschten so in
der politischen Werteskala nach und nach die Plätze. Hatte es früher geheißen, die
Nichtwähler machten es sich zu einfach, wurde eben dies nun immer häufiger den
Wählern nachgesagt. Dies hatte bei den Europawahlen begonnen, nun galt es auch
bei nationalen Parlamentswahlen. Es war noch nicht die herrschende Meinung, aber
es waren längst nicht mehr nur Kabarettisten und Karikaturisten, die das Thema
ausweideten. Auch immer mehr Kommentatoren und Moderatoren legten die Scheu
davor ab. Bei uns im Archiv war es natürlich kein anderer als Klaus, der mit den
Wählern seine Scherze trieb. Nach einer Wahl erschien er im Archiv mit einem
bemalten Pappschild, darauf ein Selbstporträt mit zerknirschter, schuldbewusster
Miene, darunter in großer nervöser Handschrift: Ich habe gewählt. Dass auch das
"Bekennerschreiben" eines Wählers Klaus Meier, das als Leserbrief im SPIEGEL
189
veröffentlicht wurde, von keinem anderen als "unserem" Klaus sein konnte, war bald
ein offenes Geheimnis.
Natürlich gab es danach auch in der Wahlbeteiligung weiterhin ein Auf und Ab.
Neue Populisten konnten immer wieder auch neue Wählerschichten gewinnen und
damit die Wahlbeteiligung kurzfristig steigern. 2041 lag sie in Deutschland wieder
über 50 Prozent, aber der nachfolgende Absturz war umso tiefer. Nach der Wahl
2049 war dann zum ersten Mal auch in den etablierten Medien ganz unverhohlen von
einer Krise der Demokratie die Rede. Es war auch das Jahr, in dem in unserer
Redaktion ganz ernsthaft über die moralische Wahlpflicht diskutiert wurde. Dann
erschien diese unsägliche Kolumne, die allen Ernstes die Einführung einer
gesetzlichen Wahlpflicht forderte. Ein gefundenes Fressen natürlich für alle
Satiriker: "Der SPIEGEL will Politikverdrossenheit verbieten."
Der Niedergang der Parteiendemokratie verlief, wie wir heute wissen, in
Deutschland noch vergleichsweise glimpflich. In Italien kollabierte das
Parteiensystem in den vierziger Jahren ein weiteres Mal, wieder waren es neue
Populisten, blutige politische Laien, die die Wirren dieser Zeit am besten für sich zu
nutzen wussten, und wieder wurde das Niveau der Politik und die durchschnittliche
Kompetenz von Politikern dadurch weiter gedrückt. Das altbekannte Spiel setzte sich
mit neuen Darstellern fort, wie zum Beweis, dass die Lehren der Geschichte im
demokratischen Parteienstaat nichts fruchten. Auch in Amerika ergriffen in dieser
Zeit neue Populisten die Chance, sich im Parteiensystem festzubeißen, auch dort ließ
dies die Wahlbeteiligung erst einmal ansteigen, aber auch dort nur, um einen umso
tieferen Absturz folgen zu lassen.
Deutschland war in Sachen Populismus bis dahin einen fast moderaten Sonderweg
gegangen, und dies setzte sich fort. Die Deutschen Demokraten, noch immer geführt
von Guttenberg, der mit altersmildem Charme seiner populistischen Botschaft
generationenübergreifende Wirkung verlieh, gehörten unter den demokratischen
Populisten dieser Welt zu den vergleichsweise vernünftigen. "Eure Populisten
möchten wir haben", so hatte ein italienischer Politologe es in einem Interview einem
190
unserer Redakteure gesagt, und dieses Zitat machte in ganz Europa die Runde, auch
als Titelgeschichte des SPIEGEL.
Guttenberg hatte bei den Deutschen Demokraten in der Tat Erstaunliches vollbracht.
Sein Gespür für politische Stimmungslagen war legendär, und er hatte es mit
zunehmendem Alter weiter perfektioniert. Wie er als junger Verteidigungsminister
eine fast noch unterschwellige Meinungsströmung genutzt hatte, um in einem
politischen Coup die Abschaffung der Wehrpflicht durchzusetzen, verstand er es
jetzt, heranreifende Themen frühzeitig für die Deutschen Demokraten zu besetzen.
So verknüpfte er die Themen Volksentscheid und Einwanderung listig zu einem
programmatischen Angebot. Bürger entscheiden über Einwanderung, das war der
Slogan, auf den die anderen Parteien nur mit fast hilflosem Gestammel reagieren
konnten. Und es war nicht nur ein Slogan. Guttenberg verlieh ihm mit konkreten
Forderungen Substanz. Volksentscheide über Migrantenquoten sollten regelmäßig
stattfinden, in Abständen von fünf bis zehn Jahren. Seine Partei empfahl dazu
Quotenkorridore für Bürger europäischer und außereuropäischer Länder und für
Religionsgemeinschaften. Für Muslime wurde ein Korridor von 6 - 9 Prozent der
Bevölkerung genannt – was bei der damals aktuellen Quote von 9,1 Prozent natürlich
eine kalkulierte Provokation war. Der Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern, der
die Einhaltung der Migrantenquoten regeln sollte, war im Parteiprogramm der
Deutschen Demokraten ausformuliert. Dieser Vertragsentwurf war allerdings, wie
Guttenberg selbst klarstellte, mit geltendem EU-Recht unvereinbar. Aber auch dies
war natürlich eine gekonnte politische List. Damit gewann Guttenberg viele weitere
EU-Skeptiker für sich, ohne sich selbst offen als solcher ausgeben zu müssen.
Dass Guttenberg trotzdem nicht zu den Populisten gehörte, die ihr politisches Profil
an den niederen Instinkten ihrer Anhängerschaft ausrichteten, zeigte sich im Umgang
mit der Muslimisch Sozialen Union. Schon die Gründung der MSU hatte er
ausdrücklich begrüßt, und später hatte er mehrfach die politische Rolle der MSU in
der deutschen Demokratie gewürdigt. Viele, wenn nicht sogar alle demokratischen
Parteien, argumentierte er, hätten irgendwann Extremisten in ihren Reihen gehabt
191
und mehr noch unter ihren Wählern, das hätte auch die MSU beim besten Willen
nicht verhindern können. Guttenberg äußerte sogar Verständnis dafür, dass viele
Muslime sich als Mobbingopfer des Westens oder gar der neueren Weltgeschichte
fühlten und daher gegenüber westlichen Gesellschaften zu Aggressionen neigten. Er
räumte ein, dass der Islam eine missbrauchsträchtige Religion sein, aber missbraucht
worden seien im Lauf der Geschichte doch auch das Christentum und die
Demokratie. Damit brach Guttenberg eine deutschlandweite Debatte los, in der er –
ein gutes Vierteljahrhundert nach der Debatte über die Putin- und Russlandversteher
– von den Altparteien und den Medien als Terroristenversteher verleumdet wurde.
Seine politischen Gegner glaubten, dass Guttenberg damit auch in seiner eigenen
Anhängerschaft seinen Ruf verspielte, aber sie täuschten sich gründlich. Guttenbergs
Anhänger brauchten nur etwas Zeit, um ihm auch in diesen Gedanken zu folgen.
Danach war er unangefochtener denn je. Die Zeit der alten, von den Altparteien noch
immer gepflegten politischen Eindeutigkeiten war eben endgültig vorbei, und
Guttenberg hatte auch dafür das weitaus beste Gespür gehabt.
In der Zuwanderungsdebatte verfochten die Altparteien derweil noch immer das
Argument, von hohen Migrantenquoten profitiere Deutschland auch ökonomisch,
aber auch dies parierte Guttenberg bravourös. Das Einwanderungsproblem sei nicht
in ökonomischen Kategorien zu diskutieren, predigte er, sondern ausschließlich in
kulturellen. Deutschland solle um solche Migranten werben, die sein kulturelles –
das Wort zivilisatorisch mied er – Niveau höben, aber ausschließlich um solche. Die
konkrete Forderung: Einwanderer sollten keinen Sprach-, keinen Bildungs- und
keinen beruflichen Qualifikationsnachweis erbringen, sondern einen kulturellen. Der
hintersinnige Slogan dazu: Wir wollen keine Migranten, die wir integrieren müssen,
wir wollen Migranten, von denen wir lernen können.
Darauf abgestimmt war auch seine Argumentation in der Familienpolitik: Für eine
Geburtenrate, die das Überleben des Landes auch ohne massive Einwanderung
sichere, sei fast kein Preis zu hoch. Diesen Preis müssten fortpflanzungsunwillige
Nicht-Eltern eben zahlen, wie hoch er auch sei. Guttenberg wusste natürlich, dass er
192
damit keine politischen Mehrheiten erringen, aber eine große Minderheit umso
stärker an sich binden konnte.
Guttenberg hatte damit immerhin erreicht, dass nun über Einwanderungs-,
Bevölkerungs- und Familienpolitik in einer klareren und offeneren Sprache als bisher
gesprochen und dass demzufolge natürlich auch anders gedacht wurde. Damit hatte
Guttenberg den Deutschen Demokraten einen politischen Status verschafft, der sie
einen weiteren politischen Coup riskieren ließ: den Verzicht auf öffentliche
Parteinahme zu allen anderen Themen. Aus Inkompetenz, sagten ihre politischen
Gegner. Aus Bescheidenheit, sagten sie selbst. Aus realistischer Selbstbeschränkung,
so sagten es immer mehr politische Kommentatoren. So wie Hauser sah es damals
keiner: als ein Schlüsselereignis in der Geschichte der politischen Parteien.
Ich fragte mich schon damals, was geschehen würde, wäre Guttenberg zwanzig Jahre
jünger gewesen. Nicht weniger als ein politischer Erdrutsch, dessen bin ich heute fast
sicher. Aber auch wenn er jünger wirkte, als er war, waren seine aktiven Tage doch
gezählt, und in Einem waren die Deutschen Demokraten eben doch eine
populistische Partei wie alle anderen: Sie standen und fielen mit ihrem Anführer.
Guttenberg war eine der prägenden politischen Figuren der dreißiger und vierziger
Jahre, aber er hatte eben doch nur eine Nebenrolle. Er war vor allem der große
Koalitionsverhinderer. Mit den von ihm geführten Deutschen Demokraten wollte –
ebenso wie mit der MSU – keine der Altparteien freiwillig koalieren. Aber jede
Regierungsbeteiligung, jedes Ministeramt hätte Guttenberg ohnehin nur an Glanz
verlieren lassen.
Der große Profiteur dieser erstarrten Parteienkonstellation war Martin Mesäcker. Die
christlichen Unionsparteien waren fast durchgehend stärkste politische Kraft
geblieben, immer wieder fiel ihnen daher die Regierungsbildung zu, und immer
wieder war es Mesäcker, meine flüchtige Arbeitsbekanntschaft von der A-E-BStiftung, dem die Kanzlerschaft angetragen wurde. Aufdrängen musste er sich nicht.
Er war weit und breit der Einzige, der neben einem Oppositionsführer Guttenberg
193
keine allzu traurige Figur abgab. Intellektuell waren er und Guttenberg etwa auf
Augenhöhe.
Nie wurden in Mesäckers Zeit die Unionsparteien von mehr als einem Siebtel der
Wahlberechtigten gewählt. Trotzdem gelang es ihm, eine Ära zu prägen wie nur
wenige Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ära Adenauer, die kurze Ära
Brandt, dann die Ära Kohl, die Ära Merkel, und nach einer wechselhaften
Übergangszeit nun die Ära Mesäcker. Er war das politische Gesicht mindestens einer
Generation, auch, wie Constanze es in einem ihrer fatalistischen Momente sagen
sollte, unserer Generation, der unverbesserlichen Generation Sichtflug, von der auch
er ein Teil war. Geprägt hat er aber natürlich auch das politische Bewusstsein der
Folgegeneration. 17 Jahre Kanzlerschaft Mesäcker, davon 16 Jahre mit wechselnden
Mehrheiten, dann ein knappes Jahr in einer von den Deutschen Demokraten
tolerierten Minderheitsregierung, die Guttenberg später als den größten Fehler seiner
politischen Karriere bezeichnen sollte. Für zwei Schüler- und Studentengenerationen
war Mesäcker die Inkarnation des Politischen, routiniert, rhetorisch souverän und
nicht unsympathisch, vor allem aber taktisch gewieft. Die Hinterlassenschaft seiner
Ära: 17 Jahre Regieren mit minimiertem Risiko. Wie die meisten seiner Vorgänger
hatte Mesäcker sich in Erfüllung seines Amtseides ganz darauf konzentriert,
unmittelbaren Schaden vom Deutschen Volk abzuwenden. Dass eines Tages der
größte politische Schaden darin liegen könnte, sich auf solche Art
Schadensbegrenzung konzentriert zu haben, kam einem Mesäcker natürlich nie in
den Sinn.
Auch Hauser kannte natürlich meine Geringschätzung für Mesäcker, und natürlich
war auch er alles andere als Mesäcker-Anhänger. Aber auch in Sachen Mesäcker
bewahrte er mich schließlich vor einer zu einfachen Sicht der Dinge. Er verstehe
meine Geringschätzung durchaus, erklärte er, aber man müsse sich doch auch fragen,
vor welcher anderen Person als Kanzlerin oder Kanzler man mehr Respekt hätte.
– Fällt dir spontan jemand ein?, fragte er.
194
Ich zögerte.
– Spontan also nicht.
– Notfalls Guttenberg?, sagte ich.
– Notfalls. Das wären also schon zwei der besten?
Er wartete meine Antwort nicht ab. Das sei eben genau das Problem, dass wir nur die
Mesäckers und Guttenbergs hätten und deren mindere Pendants aus den anderen
Parteien. Und solchen Leuten, fuhr er fort, sollten wir als Wähler die Politik
anvertrauen? Nicht eine bestimmte politische Aufgabe, sondern die Politik
schlechthin und damit den Staat? Das sei vielleicht die große politische Illusion
unserer Zeit, dass es überhaupt Menschen gebe, die einer solchen Aufgabe noch
gewachsen seien. Wir müssten im Rückblick doch erkennen, dass wir es immer
weniger, vielleicht sogar nie, mit vollwertigen Bundeskanzlern zu tun gehabt hätten,
sondern eher mit Kanzlerdarstellern, die der Öffentlichkeit vortäuschten, sie wüssten
wirklich über all das Bescheid, worüber sie redeten und entschieden. Auch Mesäcker
sei ein solcher Kanzlerdarsteller und als solcher nicht schlechter als alle anderen,
egal aus welcher Partei.
Ich widersprach nicht, aber meine Einstellung zu Mesäcker änderte sich erst sehr viel
später. Erst in seinen letzten Amtsjahren mischte sich in meine Geringschätzung
auch etwas Mitgefühl.
Ich will das sich anbahnende Drama des demokratischen Parteienwesens im 21.
Jahrhundert hier nicht ausbreiten, aber auch nicht unterschlagen, was schon lange vor
der Jahrhundertmitte kaum jemandem mehr verborgen war. Die Gründungsmythen
der alten Parteien waren ausnahmslos zerronnen. Labour war keine Arbeiterpartei
mehr, die christlichen Demokraten keine Christenpartei, die Sozialdemokraten
konnten ihre sozialen Grundsätze und die Liberalen ihre Liberalität nicht mehr
plausibel in politische Handlungsanweisungen umsetzen, und konservativ waren auf
ihre Weise fast alle geworden. Die Namen der Altparteien hatten jegliche
Aussagekraft verloren, und deren Politikangebote waren de facto zu
195
Personalangeboten geschrumpft. Etablierte Parteien waren bestenfalls noch biedere
Staatsverwaltungsvereine mit aufgesetzter programmatischer Rhetorik. Wesentlich
schlechter, dachten daher immer mehr Wähler, würden wir sicher auch nicht von
Populisten regiert.
Im ersten Jahrhundertviertel hatte es in vielen Ländern immer noch als
selbstverständlich gegolten, dass die Parteienlandschaft aus einem stabilen Block
etablierter Altparteien und einer schillernden Szene kurzlebiger populistischer
Neuparteien bestand, zu denen damals Phänomene wie die Fünf-Sterne-Bewegung in
Italien, die Alternative für Deutschland, die Partij voor de Vrijheid, Podemos in
Spanien und die europakritische United Kingdom Independence Party gezählt
wurden. Der fortwährende Niedergang der Altparteien ließ den Wählern dann
spätestens in den vierziger Jahren nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera,
zwischen schillernden jungen populistischen Parteien und ausgemergelten
Altparteien. Keine dieser Parteien stand mehr für nachhaltige Kompetenz in der
Bewältigung langfristiger Aufgaben, und dies in einer Zeit, in der Politik es immer
mehr mit langfristigen Aufgaben zu tun bekam: Umweltpolitik, Energiepolitik,
Friedenssicherung, Migrationspolitik, Bevölkerungspolitik, Bildungspolitik,
Geldpolitik, Finanzpolitik, Entwicklung des Rechtssystems, Weiterentwicklung
internationaler und und suprastaatlicher Institutionen, Anpassung von Staatsgrenzen
und anderem.
Der große politische Stimmungseinbruch in den späten vierziger Jahren hätte daher
niemanden überraschen sollen. Parteien, Regierungen und der Parteienstaat wurden
mit immer bissigerer Häme überzogen, von kritischen Medien und vereinzelt sogar
im Staatsfernsehen, und politische Inkompetenz wurde gelegentlich schon von
johlenden Massen auf den Straßen, mit Massenhupkonzerten organisierter Autocorsi
und im Internet in hämischen Massenshitstorms angeprangert. So geschehen nach
einem mehrfachen Scheitern des Europaparlaments an der Wahl eines
Parlamentspräsidenten und nach dem Auseinanderbrechen frisch gebildeter
Regierungskoalitionen in mehreren EU-Staaten. Wer seinen demokratischen
196
Parteienstaat nicht mehr respektieren konnte, wollte sich wenigstens noch über ihn
amüsieren.
Ich war nie Mitglied einer politischen Partei, aber in meiner Arbeit bei der
parteinahen Stiftung in den zwanziger Jahren war ich dem Parteienwesen eine
Zeitlang doch sehr nahe gewesen. Damals war ich noch nicht so weit, die Kompetenz
demokratischer Parteien so grundsätzlich in Frage zu stellen, wie ich es in den
vierziger Jahren zu tun begann. Damals hielt ich es noch für völlig normal, dass
Parteien vorgaben, das Ganze der Politik zu beherrschen. Nichts lag mir ferner als
die Frage, ob in Parteien hierfür denn genug Kompetenz versammelt sei. Welche
maßlose Selbstüberschätzung und welche Blindheit für die Größe der Aufgabe in
diesem Anspruch lag, darüber begann ich – von Hauser angestiftet – erst viel später
ernsthaft nachzudenken.
Natürlich habe ich mich dabei nicht zu einem Anhänger von Einparteiensystemen
gewandelt. Tians Argumente hatten mich überzeugt, dass Chinas Einparteienregime
für China eine bessere Lösung sein könnte als die westliche Parteiendemokratie, aber
es gab natürlich Gegenbeispiele. Kuba war unter der Einparteienherrschaft der
Castros und ihrer Nachfolger wirtschaftlich und intellektuell dahingesiecht, und noch
weitaus schlimmer war es natürlich Nordkorea ergangen. Ich weiß, was Tian dazu
gesagt hätte. Es gebe doch auch Länder, hätte er gesagt, die von demokratischen
Mehrparteienregimes ruiniert worden seien und ruiniert würden. Es komme also auf
die Umstände an. China habe eben das Glück gehabt, dass seine Führung
dynastisches und dogmatisches Denken schneller und gründlicher überwunden habe
als andere Einparteienregime. Oder Tian hätte, wie er es später tatsächlich einmal tat,
den Vergleich mit der römischen Kurie gezogen: Die Mienen um ihren
Generalsekretär versammelter kommunistischer Politbüromitglieder hätten früher oft
an die Mienen um den Papst versammelter Kurienkardinäle denken lassen. Das sei
Geschichte. Im Vatikan seien diese Bilder noch die gleichen wie früher und sie
stünden für das gleiche Denken. In China seien die Bilder inzwischen andere, und sie
197
stünden auch für anderes Denken. Auch darin zeige sich die Wandlungsfähigkeit von
Chinas Einparteienregime.
Aber was halfen solche Überlegungen im Umgang mit dem schwächelnden
westlichen Mehrparteiensystem? Und was halfen auch die Gedankenspiele einiger
westlicher Intellektueller, die noch immer darüber sinnierten, dass die direkte
Demokratie, wie sie in hellenischen Stadtstaaten vor zweieinhalbtausend Jahren
praktiziert worden war, der modernen Demokratie konzeptionell überlegen sei?
Diese klassische direkte Demokratie war ein gutes Modell für kleine Stadtstaaten mit
den überschaubaren politischen Anforderungen der damaligen Zeit gewesen, mehr
aber nicht. Zweieinhalb Jahrtausende später bedrängen uns schleichende politische
Langzeitkatastrophen in einem leistungsschwachen demokratischen Parteienstaat mit
einem zerbröselnden Parteiensystem. An wen und gegen wen konnten wir uns
wenden, um eine bessere Politik zu bekommen? Steckten wir in einer Falle, die wir
noch nicht einmal verstanden hatten?
Ähnlich hatte Hauser es mir früher nahegelegt, aber meine Gedanken hierzu drehten
sich jetzt im Kreis. Die Demokratie als Falle? Der Gedanke war eine
Herausforderung, aber wozu führte er? Ich konnte diesen unfertigen Gedanken nicht
für mich behalten. Ich machte Klaus vorsichtige Andeutungen dazu, und ich fragte
Constanze, was sie mit dem Gedanken anfange könne. Klaus zeichnete – auch das
konnte er – eine wunderbar witzige Karikatur von der über gutgelaunten Bürgern
zuschnappenden "Demokratiefalle", und von Constanze kam erst einmal nur das
Kompliment: interessanter Gedanke. Aber dann tauschten wir nach und nach kurze
Mails aus, aus denen sich langsam ein zusammenhängendes Argument bildete. Es
war Constanze, die es schließlich so zusammenfasste:
Wandeln politische Regimes sich von allein, wenn die Zeit es erfordert? Die Lehre
der Geschichte ist natürlich eine andere. Wo hätte ein politisches Regime sich je aus
höherer Einsicht selbst abgeschafft und selbst ein zeitgemäßes Nachfolgeregime
installiert? Für solche Regimewechsel bedarf es der Rebellion.
198
Über Jahrhunderte hat sich der Gedanke etabliert, dass Rebellionen dazu dienen,
autokratische Regimes jeglicher Art, seien es Diktaturen, Monarchien oder
kommunistische Regimes, zu überwinden und zur Demokratie überzuleiten. Wozu
sonst sollten Rebellionen noch dienen?
Was aber, wenn sich irgendwann herausstellt, dass auch das, was wir Demokratie
nennen, nicht mehr zeitgemäß ist? Sollten die Bürger dann rebellieren? Und wenn
ja, gegen wen? Gegen von ihnen selbst gewählte Regierungen? Das könnten sie
natürlich tun, aber was anderes würden sie damit bewirken als Neuwahlen – die
dann aller Voraussicht nach wiederum nur überforderte Regierungen
hervorbrächten?
Genau dies ist die Falle, in der wir als Demokratiebürger stecken. Wir könnten
immer nur gegen von uns gewählte Regierungen rebellieren, aber dies würde wieder
von uns selbst – bzw. den Wählern unter uns – gewählte Regierungen ähnlicher Art
hervorbringen. Statt offen zu rebellieren, warten wir daher geduldig bis zur nächsten
regulären Wahl. Damit festigen wir eine Demokratie, die den Aufgaben ihrer Zeit
nicht mehr gewachsen scheint. Wir sind gefangen in einem System, das sich
selbsttätig reproduziert.
Aber so kann und wird es nicht bleiben. Wir Bürger könnten im 21. Jahrhundert ein
erstes Zeichen setzen, das darüber hinausweist. Wir könnten uns Wahlen, die immer
wieder überforderte Regierungen hervorbringen, systematisch verweigern. Die
Botschaft des Nichtwählens wäre dann: Wir werden erst dann wieder wählen, wenn
wir mit unserer Stimme Größeres bewirken können, bis hin zu einem Regimewechsel.
Je weniger von uns noch zur Wahl gingen, desto eindringlicher wäre diese Botschaft.
So hat Constanze es auf den Punkt gebracht. Sie hatte schon früher einige Male
Gedanken, an die Hauser oder auch ich uns mühsam herangetastet hatten, kurz und
knapp in eigene Worte gefasst, und dann stand solcher Gedanke plötzlich mit
unerwarteter Selbstverständlichkeit im Raum. Schon dass sie unsere Demokratie als
Regime bezeichnete, war ein erhellender Bruch mit unserem politischen
199
Sprachgebrauch. Natürlich, es war nicht die Zeit für eine Rebellion, aber würde das
ewig so bleiben? Noch einige Prozente weniger Wahlbeteiligung und irgendein
einschneidendes Ereignis, für das uns noch das Vorstellungsvermögen fehlte, wäre
dann nicht die Zeit für große Veränderungen absehbar?
Hundertjahrfeiern
Eine Zeitung muss mit der Zeit gehen, sie muss sich verändern können, das kann
kein vernünftiger Mensch bestreiten. Auch der SPIEGEL hatte in seiner Geschichte
kleine Metamorphosen erlebt, z.B. die Aufteilung in Print- und Onlinemagazin. In
den frühen vierziger Jahren lagen dann neue große Veränderungen in der Luft, das
spürten wir alle. Untrügliche Vorboten waren Streitigkeiten im Management und der
Redaktionsleitung. Die angespannte Stimmung war überall zu spüren, auch im
Archiv. Zum offenen Konflikt kam es zuerst im Streit um Kiesewetter, einen unserer
beiden Chefredakteure. Kiesewetter und sein Co-Chef hatten einige Jahre ziemlich
gut zusammengearbeitet, scheinbar unbehelligt von Verlagsleitung und Eigentümern,
aber das war nun vorbei. Kiesewetter war ein großer Themenfinder, aber auch
streitbar und meinungsstark. Der Konflikt war ihm lieber als der Kompromiss,
gerade bei politischen Themen. Am Ende stritt nicht nur Kiesewetter gegen andere
im Verlag, man stritt im Verlag über Kiesewetter. Die Verlagsleitung gegen ihn, eine
Eigentümerfraktion für ihn, Kiesewetter gegen den anderen Chefredakteur, die
meisten Redakteure gegen Kiesewetter, viele für ihn, die Eigentümer- und
Redaktionsfraktionen gegeneinander. Nur das Archiv konnte sich aus den Kämpfen
noch heraushalten.
Es gab noch andere umkämpfte Personalien, aber auch dahinter steckte Streit um die
Sache. Beide Chefredakteure, so war es zuerst erschienen, waren
Verlegenheitslösungen, Kompromisse, auf die sich Eigentümer und Verlagsleitung
nur mühsam hatten einigen können. Beide kamen aus der eigenen Redaktion, beide
hatten als Redakteure solide und unspektakulär gearbeitet, aber bei manchen
Menschen erwachen eben in Führungspositionen schlummernde Neigungen. Zum
200
Beispiel ein starker Führungswille oder eine persönliche Mission. Bei Kiesewetter
war es die Mission.
Der SPIEGEL, meinte Kiesewetter, sei ein solides Nachrichtenmagazin, aber nicht
mehr als das, über die Auflagenverluste der letzten 30 Jahre dürfe man sich nicht
wundern. Was nottue, sei eine Rückbesinnung auf Zeiten, in denen der SPIEGEL ein
Leitmedium gewesen sei, ein unverwechselbares sogar, und zur Unverwechselbarkeit
gehöre nun einmal Meinungsstärke. Auch Meinungsstärke schütze nicht unbedingt
vor weiterem Auflagenverlust, aber sie schaffe eine umso treuere Leserschaft, auf die
der Verlag langfristig bauen könne. Nur so könne der SPIEGEL überleben.
Für die Verlagsleitung und die Mehrheit der Eigentümer war das Ketzerei. Der
SPIEGEL heiße nicht umsonst SPIEGEL, insistierten sie, sein Name sei auch
Programm. Der SPIEGEL solle ein Spiegel des Zeitgeschehens sein, alles andere sei
Anmaßung. Die Welt mit einer politischen Zeitschrift verändern zu wollen, wie
Kiesewetter es sich womöglich vorstelle, das sei veraltetes Denken. Er meine nicht,
hielt Kiesewetter dagegen, dass der SPIEGEL die Welt verändern solle, aber dass
man in manchem doch auch anders denken könnte als die Mehrheit der Leser oder
Bürger, das zu zeigen sollte eine Aufgabe des SPIEGEL sein. Nur wenn der
SPIEGEL echte Kontroversen anstoße, werde er in aller Munde sein, nur dann
würden die Menschen auf den SPIEGEL wieder wirklich neugierig werden, nur dann
könne er zu alter Stärke zurückfinden. Den alten Guttenberg beispielsweise mehr als
ein Jahrzehnt lang immer nur als ausländerfeindlichen Terroristenversteher abgetan
zu haben, sei zu simpel gewesen, in manchem habe Guttenberg sich am Ende doch
zu einem ernst zu nehmenden Querdenker entwickelt. Auch die Auseinandersetzung
mit der Muslimisch Sozialen Union, mit der Frage vor allem, ob die MSU eine
Bereicherung der deutschen Demokratie sei oder nur eine muslimische Spielart
billigen Populismus, sei im SPIEGEL viel zu oberflächlich geblieben. Viel
schlimmer noch: In den großen Fragen von Frieden und Freiheit habe der SPIEGEL
sich stur an Verfassung und Völkerrecht geklammert, auch da, wo Verfassung und
Völkerrecht offensichtlich im 20. Jahrhundert steckengeblieben seien. Und eine so
201
neuartige und originelle Erscheinung auf der politischen Bühne wie die Tagmakraten
sei dem SPIEGEL nicht einmal eine Erwähnung wert gewesen. Es war ein
klassischer Streit ums redaktionelle Prinzip, wie er schon in vielen großen
Redaktionen und Verlagen ausgetragen worden war.
Dieser Streit war unausweichlich, aber Mitte der vierziger Jahre kam er höchst
ungelegen. Der SPIEGEL war 1947 gegründet worden, für 2047 stand die
Hundertjahrfeier an. 100 Jahre SPIEGEL, das waren 100 Jahre deutsche
Pressegeschichte, und da der SPIEGEL lange der prominenteste journalistische
Begleiter deutscher Politik gewesen war, waren es auch 100 Jahre deutsche
Demokratiegeschichte. Die Vorbereitung der Feierlichkeiten begann zweieinhalb
Jahre vorher. Kanzler Mesäcker würde kommen, das war klar, die
Bundespräsidentin, eine gute Hundertschaft sonstiger höchster deutscher
Politprominenz und politische Prominenz natürlich auch aus viele anderen Ländern,
dazu führende Literaten und Wissenschaftler, die für den SPIEGEL geschrieben und
ihm Interviews gegeben hatten, und Kultur-, Medien- und Sportprominenz, über die
der SPIEGEL ausgiebig berichtet hatte. Mit möglichst niemandem sollte die
Redaktion es sich daher in dieser Zeit verscherzen. 100 Jahre SPIEGEL, das sollte
ein Fest ohne Misstöne sein. Der SPIEGEL sollte sich als Jubilar in der eigenen
Geschichte sonnen und das von ihm gespiegelte Deutschland mit ihm.
Eigentümerfraktionen, Verlagsleitung, Redaktion und Redaktionsleitung verordneten
sich nach zähen Gesprächen einen langen Waffenstillstand.
"100 Jahre SPIEGEL" wurde eine große Inszenierung. Eröffnungskonzert in der
frisch restaurierten Elbphilharmonie, Festreden im Kongresszentrum und zahllose
Empfänge und Begleitveranstaltungen im Verlagsgebäude. Natürlich wurde dabei
mit dem Blick in die Vergangenheit gefeiert, und die vergangenen hundert Jahre
wurden dabei weichgezeichnet. Man wollte Erfolgsgeschichten hören, und man
bekam sie. Es war eine hoch professionelle, spektakuläre und doch harmonische
Veranstaltung, und die Stimmung war so gut, dass dieser eine bitterböse Coup fast
nur gutgelauntes Schmunzeln auslöste: Mehrere Male tauchte unter den Gästen eine
202
beklemmende menschliche Gestalt in ominöser Verkleidung auf. Ein
schwergewichtiger graubärtiger Greis mit schütterem Haar, fahlem Gesicht,
schleppendem Gang, gestützt auf einen Rollator, wie todgeweiht. Auf Brust und
Rücken ein weißes Pappschild. Die Aufschrift: Ich und der SPIEGEL, geb. 1947.
Darunter in kleiner Schrift: Gleich viel hinter uns, gleich viel vor uns.
Als ich zum ersten Mal an der Gestalt vorbeiging, ahnte ich nichts, beim zweiten Mal
kam ein Verdacht auf, beim dritten Mal wusste ich: Es ist Klaus. Kein perfektes
Inkognito, aber kaum jemand schaute genau hin. Er hatte sich Aufsehen gewünscht,
er hatte fast Kopf und Kragen riskiert, aber sein Coup verpuffte in der Feststimmung.
Der SPIEGEL als ausgemergelter Greis, diese Anspielung kam nicht an. Dass Klaus
ein glühender Kiesewetter-Fan war, offenbarte er mir erst später.
Für den zweiten Tag der Jubiläumsfeier hatte der SPIEGEL frühere Mitarbeiter aus
aller Welt eingeladen. Man wollte sich als Weltunternehmen präsentieren, und dafür
brauchte man Gesichter aus aller Welt. Dass auch aus China eine kleine, vierköpfige
Delegation kommen würde, hatte ich erst wenige Tage vorher erfahren. Und einen
Tag vorher erfuhr ich: Einer von ihnen ist Tian.
Ich hätte es ahnen können, ich hätte nachfragen können, nein müssen, aber nun war
die Freude umso größer. Endlich würden wir uns wiedersehen. Und es kam so leicht,
so unverhofft und wie von selbst. Aber warum hatte Tian sich nicht vorher gemeldet?
Die Behörden, so erklärte er es mir später, hatten seine Reise buchstäblich in letzter
Minute genehmigt, den Grund dafür kenne auch er nicht. Aber das war jetzt egal,
jetzt wollten wir über anderes reden. Jetzt wollten wir Zeit für uns haben, mindestens
den einen ganzen Tag nach der Veranstaltung, am Morgen danach schon würde sein
Rückflug gehen. Am Abend vorher, in letzter Minute fast, fiel mir dann noch ein,
dass ich auch Constanze dazu einladen könnte. So wurde wahr, was viele Jahre ein
vager Wunsch von mir gewesen war: ein Treffen mit Constanze und Tian und ein
gemeinsamer Besuch von uns Dreien bei Hauser.
203
Auf den ersten Blick erkannte ich Tian kaum wieder. Wir hatten uns zu lange nicht
gesehen. Er war fülliger geworden, sein Haar war im Stirnbereich schütter, und er
trug eine markante Brille. Aber schon nach wenigen Sätzen sprachen wir miteinander
fast wir früher. Wir mussten nicht anfangen, wo wir vor vielen Jahren zu diskutieren
aufgehört hatten, wir beide ahnten, wo der andere in seinem Denken inzwischen
angekommen sein könnte, er mit seinen sechsundvierzig Jahren, ich mit meinen
zweiundfünfzig. Constanze hörte die meiste Zeit nur aufmerksam zu, als wolle sie
kein Wort verpassen. Beinahe rührend sei es gewesen zwischen Tian und mir, sagte
sie später, rührend und spannend.
Tian wollte mit mir auch ausführlich über den SPIEGEL sprechen. Er sei für einige
Jahre ans Medieninstitut der Partei delegiert worden, in führender Stellung, wie er
mit verlegenem Stolz erklärte, und an diesem Institut würden Konzepte für die
Zukunft der chinesischen Presse entwickelt. China, das sei sicher, brauche eine neue
Art von Nachrichtenmagazin, und sein Institut habe sich in der Welt nach Vorbildern
umgeschaut. Er selbst habe den SPIEGEL ins Gespräch gebracht, der stehe jetzt ganz
oben auf der Favoritenliste, und dazu gebe es auch schon ein positives Signal von der
Parteiführung.
– Etwa ein chinesischer SPIEGEL als Parteiorgan?, fragte ich.
Nein, sagte Tian, das natürlich nicht, es solle ein unabhängiges Nachrichtenmagazin
sein, ähnlich wie der SPIEGEL eben, und es werde ganz ähnlich berichten dürfen
wie der der SPIEGEL und auch ebenso kritisch. China nehme es mit der
Pressefreiheit ernst.
Das, erwiderte ich, sei aber noch keine Pressefreiheit wie uns. Bei uns könne die
Presse, wenn sie wolle, auch viel kritischer berichten als derzeit der SPIEGEL.
Vielleicht werde der SPIEGEL das bald auch selbst tun.
– In China sind wir erst einmal zufrieden, antwortete Tian, wenn wir einen
chinesischen SPIEGEL bekommen wie euren jetzigen. Was aus dem SPIEGEL in
Deutschland einmal würde, das werde man in China dann in Ruhe beobachten.
204
Hauser, das wusste ich, führte seit Längerem ein ziemlich zurückgezogenes Leben.
Mit dem Besuch von uns Dreien, Constanze, Tian und mir, wollte ich ihm einen
Dienst erweisen. Er sei, auch wenn er zurückgezogen lebe, alles andere als ein
einsamer alter Mann, hatte er mir einmal gesagt, seine Gedanken seien treue
Begleiter, die ihn vor dem Gefühl des Alleinseins bestens schützten. Aber Constanze,
dessen war ich sicher, würde er gern wiedersehen, und über Tian hatte ich ihm zu
viel erzählt, als dass er sich nicht auch auf seinen Besuch freuen würde. So saßen wir
dann am nächsten Vormittag zu viert in Hausers Wohnzimmer. Es begann ein wenig
steif. Tian hörte uns drei anderen eine Zeitlang stumm zu, bis Hauser schließlich
begann, Tian Fragen über China zu stellen. Fragen, die andere bei einer ersten
Begegnung sich nicht zu fragen getraut hätten, aber Hauser stellte sie auf so
entwaffnend offene Art, dass Tian sofort Vertrauen fasste.
Hauser hörte Tians Antworten mit höflicher Aufmerksamkeit zu. Dann, nach einer
kurzen Bemerkung zum deutschen Parteienwesen, brachte er das Gespräch wie
beiläufig auf Chinas kommunistische Partei. Irgendwann, sagte er, werde die Partei
ihre Rolle in Staat und Gesellschaft sicher noch einmal überdenken müssen.
– Ja, das stimmt, wir selbst machen uns Sorgen um die Partei, sagte Tian.
Ein Satz, der Hauser so fühlbar die Ohren spitzen ließ, dass Constanze und ich
einander erstaunt ansahen.
– Unsere Partei, fuhr Tian fort, wird euren Parteien immer ähnlicher.
– Wie denn das?, fragte Hauser.
– Unsere Partei hat immer weniger Mitglieder, und sie gewinnt zu wenig kluge
Köpfe.
Hauser senkte kurz den Blick, sichtlich verblüfft, dann sah er mich an, dann
Constanze, dann, fast hörbar nachdenkend, schwieg er, dann dieser Satz:
– Dann hat China jetzt wohl die Nachteile des Mehrparteien- und des
Einparteiensystems vereint.
205
Ich war irritiert. Hausers Tonfall war leicht herausfordernd gewesen, unzumutbar
herausfordernd, glaubte ich, für Tian. Aber auch im hohen Alter hatte Hauser in
manchem noch immer das sicherere Gespür. Tian sah ihn lange mit hellwacher,
verständnisvoller, beinahe herzlicher Miene an. Schließlich sagte er:
– Genau das ist unsere Sorge. Das können wir natürlich nicht zulassen.
Von dem Moment an war es, als wären die beiden längst vertraute Gesprächspartner.
Natürlich, sagte Hauser, wenn die Partei in China ebenso hinter den Anforderungen
der Zeit zurückbliebe wie das Parteienwesen bei uns, wäre das fatal. Aber wie man
denn in China eine solche Entwicklung aufhalten wolle, die auch die westlichen
Demokratien bisher nicht aufhalten konnten.
Tian holte mit seiner Antwort weit aus. Chinas kommunistische Partei habe fast zwei
Generationen gebraucht, um sich vom Maoismus zu lösen und eine moderne
Staatsverwaltungspartei zu werden. In den kommenden zwei Generationen werde
China noch einmal einen ähnlich weiten Weg zurücklegen müssen, vielleicht sogar
einen noch viel weiteren. Noch gebe es in der Partei genug Menschen, die sich
darüber im Klaren seien. Deswegen lasse die Partei nach Anregungen für ihre eigene
Veränderung suchen.
– Wir beobachten auch, sagte er dann, wo sich bei euch Neues entwickelt. Wir
beobachten zum Beispiel eure Tagmakraten.
Ich warf Constanze und Hauser erstaunte Blicke zu. Sympathien mit den
Tagmakraten in China? Nichts hätte mich mehr überrascht. In Deutschland hatten die
Ideen der Tagmakraten bisher nur wenig Aufmerksamkeit geweckt. Ausgerechnet in
China befasste man sich – befassten sich zumindest Leute wie Tian - umso intensiver
damit?
Hauser zeigte keine Spur von Überraschung. Er sah Tian an und lächelte.
– Beachtlich, sagte er. Ich wünschte, ich wäre noch jung genug, um zu erleben, was
ihr in China daraus macht.
206
Dabei machte Hauser – bis heute bin ich nicht sicher, warum – eine kurze
abwehrende Handbewegung, die das Thema beendete.
Nach der Hundertjahrfeier lebten die Streitigkeiten im SPIEGEL wieder auf, aber
weniger heftig, als alle es erwartet hatten. Zumindest wurde weniger Streit in die
Öffentlichkeit getragen. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass bei manchen die
Gedanken schon zur nächsten großen Hundertjahrfeier vorauseilten: Hundert Jahre
Grundgesetz. Mai 2049.
Eigentümer und Verlagsleitung wollten den SPIEGEL 2049 noch einmal auf großer
Bühne gefeiert sehen, dieses Mal als das Medium, das die Normen des
Grundgesetzes hundert Jahre lang unbeirrt hochgehalten habe. Die Planungen für ein
Sonderheft in Millionenauflage begannen schon Ende 2047, die Planungen für
Veranstaltungen im Verlagshaus und im Kongresszentrum kurze Zeit später. Das
Veranstaltungsprogramm des SPIEGEL, so der Plan, sollte alle anderen Feiern zum
Verfassungsjubiläum überragen. Zuerst wagte niemand dagegen offenen
Widerspruch. Nur Kiesewetter, das sprach sich langsam herum, war dagegen.
Natürlich machte er sich damit noch mehr Feinde. Er habe zu wenig dafür getan,
warf die Verlagsleitung ihm später vor, Deutschland mit SPIEGEL-Artikeln auf das
Verfassungsjubiläum einzustimmen. Kiesewetter sah die Rolle des SPIEGEL ganz
anders, aber vorerst hielt er still. In Gedanken war ich auf seiner Seite.
Das Verfassungsjubiläum war natürlich alles andere als ein Jahrhundertereignis, es
war eben nur ein Gedenktag. Der Grund, warum hier trotzdem davon die Rede sein
muss, ist Klaus. Bei der Hauptveranstaltung im Verlagshaus versuchte er wieder
einen großen Auftritt. Wieder inkognito. Wieder in der Verkleidung als
Hundertjähriger, wieder als aschfahler Sterbenskranker, wieder mit Rollator, wieder
mit einem umgehängten Pappschild. Darauf in großer schwarzer Schrift: Ich und das
Grundgesetz. Darunter kleiner und blass geschrieben: Gleich alt, gleich stark.
207
Dieses Mal hielt sein Inkognito nicht. Ein aufmerksamer Redakteur erkannte ihn.
Kurz darauf wurde Klaus von Ordnungskräften aus dem Verlagshaus gedrängt.
Am nächsten Tag wurde ich von der Verlagsleitung vorgeladen. Was für Mitarbeiter
ich denn im Archiv beschäftigte. Welche Personalpolitik ich denn in all den Jahren
betrieben hätte und warum ich einen Mann wie Klaus nicht viel früher durchschaut
hätte. Was ich zu tun gedächte, um solche personellen Fehlgriffe in Zukunft zu
vermeiden. Und schließlich: Klaus sei fristlos entlassen. Dann drückten sie mir das
Kündigungsschreiben in die Hand. Ich überflog es kurz und nickte nur. Eine
ordentliche Abfindung bei sofortigem Ausscheiden. Ein Angebot, das einer wie
Klaus nicht ablehnen würde. Immerhin hatte er einen starken Abgang gehabt. Er war
unser Farbtupfer im manchmal etwas grauen Archivalltag gewesen. Einer von denen,
die mir die Gewissheit gaben, dass Archivarbeit lebensnah war. Noch wusste ich
nicht, wie viel er vor mir verborgen hatte, aber ich vermisste ihn vom nächsten Tag
an.
Sinnstiftungsversuche
100 Jahre Verfassung, das bedeutete auch hundert Jahre Verfassungsschutz, und wen
der Verfassungsschutz damals schon als vermeintliche Feinde von Freiheit und
Demokratie ins Visier genommen hatte, das ahnte zu diesem Zeitpunkt selbst beim
SPIEGEL noch niemand.
Während also der SPIEGEL seelenruhig die Verfassung und sich selbst feierte,
dokumentierten wir im Archiv weiter so seelenloses Zeitgeschehen wie die aktuellen
Episoden des Dritten Weltkriegs in Afrika und die schwelende Krise des
Parteienwesens in Deutschland. Die MSU war mittlerweile zu einer der
mitgliederstärksten Parteien des Landes gewachsen, aber auch zu einer der
zerstrittensten. Türken und Nichttürken in der Partei bekämpften einander, und
nichttürkische Gruppen kämpften ebenso unerbittlich gegeneinander. 2048 dann der
große Finanzskandal, aufgedeckt vom Verfassungsschutz. Die Partei finanzierte sich
größtenteils mit verdeckten Spenden aus muslimischen Ländern, allen voran der
208
Türkei, Saudi-Arabien und Katar. Dabei hatten die innerparteilichen Fraktionen ihre
je eigenen Geldgeber. Viele Sympathisanten und Mitglieder rechneten mit einem
baldigen Auseinanderbrechen der Partei. Aber noch geschah nichts.
Die Abgeordneten der MSU hatten keinen erkennbaren Einfluss auf Regierung und
Gesetzgebung. Insofern nützte die MSU bis dahin niemandem, aber sie schadete
auch niemandem. Trotzdem war sie natürlich für viele ein rotes Tuch. Allein der Stil
der innerparteilichen Machtkämpfe machte vielen Angst, und der Finanzskandal tat
ein Übriges. Parteien und überwiegend auch die Medien rieten trotzdem zur
Gelassenheit. Die MSU werde nach ihren unvermeidlichen Flegeljahren früher oder
später eine Partei wie jede andere werden. Andere hielten sie bereits für eine fast
normale Partei, eine ganz normal zerstrittene, die sich nur noch die Streitroutine der
anderen Parteien aneignen müsse. Manche dagegen wollten die MSU noch immer
vom Verfassungsgericht verbieten lassen. Einige wenige sahen es noch
grundsätzlicher: Die MSU sei offensichtlich nicht regierungsfähig, daher brauche
Deutschland endlich ein Parteiengesetz, dass offenkundig nicht regierungsfähige
Parteien von Parlamentswahlen ausschließe. Ein Parteiengesetz, das dies versäume,
verletze Grundrechte, sei also verfassungswidrig und müsse vom Verfassungsgericht
für nichtig erklärt werden.
Für kurze Zeit wurde hierüber auch in den Medien debattiert, und dabei wurde die
Frage der Regierungsfähigkeit grundsätzlicher gestellt. Regierungsfähigkeit müsse
man nicht nur von Parteien verlangen, argumentierten einige, sondern natürlich auch
von Politikern. In einem Land wie Deutschland seien für zahllose, auch
vergleichsweise einfache berufliche Tätigkeiten Befähigungsnachweise erforderlich,
aber das Land regieren dürfe jeder. Das Grundgesetz verbiete das zwar nicht, aber ob
es mit dem Geist des Grundgesetzes vereinbar sei, diese Frage dürfe man doch
einmal stellen.
Das Ansinnen, die Frage der Regierungsfähigkeit justiziabel zu machen, war
natürlich nicht nur formaljuristisch unschlüssig, sondern auch hoffnungslos naiv.
Regierungsfähigkeit ist keine Eigenschaft, über die Gerichte objektiv entscheiden
209
könnten. So sah auch ich zuerst diese Initiative. Bis ein Archivmitarbeiter mir den
Text der mittlerweile vorliegenden Verfassungsbeschwerde gegen das Parteiengesetz
auf den Tisch legte. Lies mal, sagte er, es ist clever gemacht.
Ich überflog den Text flüchtig, sah mir dann die Namen der Kläger an. Ein knappes
Dutzend, einige bekannte Namen dabei, fast ausnahmslos alte Herren. Drei davon
mit Professorentitel. Einer von ihnen: Graf. Unser alter Professor Graf!
Wenn Graf unterschrieben hat, dachte ich sofort, dann muss etwas daran sein, dann
kann die Klage nicht ganz so naiv sein, wie es schien, und dann ist sie womöglich
auch zulässig. Und genau so war es. Die ganze Klageschrift war eine hintersinnige
List. Das Kalkül der Kläger: Wenn die Klage zugelassen wird, dann haben wir schon
gewonnen. Dann wird die Klage zwar abgewiesen, aber es wird dafür eine
Begründung geben. Und auf nichts anderes als diese Begründung hatten die Kläger
es angelegt.
Graf erlebte den Fortgang des Verfahrens nicht mehr, aber es wurde für mich so
etwas wie Grafs Vermächtnis. Die Klage wurde – eine großzügige Rechtsauslegung
der Richter – tatsächlich zugelassen, und sie wurde wie erwartet abgewiesen. Aber
die Urteilsbegründung wäre für Graf, hätte er sie noch erlebt, ein stiller Triumph
gewesen. Regierungsfähigkeit, so das Gericht, sei zwar objektiv schwer zu fassen,
aber die Klage sei nicht schon deswegen abzuweisen, weil Regierungsfähigkeit ein
unbestimmter Begriff sei. Zur Regierungsfähigkeit hätten die Kläger durchaus
Überlegenswertes vorgetragen, und sie hätten sogar glaubhaft gemacht, dass genau
genommen keine der im Parlament vertretenen Parteien wirklich regierungsfähig sei.
Abzuweisen sei die Klage aber aus anderen Gründen. Parlamente sollten die
gesellschaftliche Realität abbilden, daher hätten auch Parteien wie die MSU zu Recht
im Bundestag ihren Platz. Dass zu Wahlen nur regierungsfähige Parteien zuzulassen
seien, ergebe sich dagegen weder aus dem Buchstaben noch aus dem Geist des
Grundgesetzes.
210
Auf genau diese Feststellung hatten Graf und seine Mitstreiter abgezielt: Selbst wenn
keine der ins Parlament gewählten Parteien regierungsfähig wäre, widerspräche das
nicht dem Geist des Grundgesetzes. Und dass das Verfassungsgericht in einem
Nebensatz sogar eingeräumt hatte, vielleicht sei tatsächlich keine der im Parlament
vertretenen Parteien regierungsfähig, war zumindest eine weitere Genugtuung.
Man konnte, ja man musste die Verfassungsrichter auch so verstehen: Mit dem
Grundgesetz und dem Parteiengesetz sind der politischen Inkompetenz in Parlament
und Regierung Tür und Tor geöffnet. Genau das war es, was Graf schwarz auf weiß
haben wollte. Auch Hauser zeigte sich von dem Urteil natürlich tief beeindruckt. Er
nannte es einen Schicksalsschlag für die Parteiendemokratie.
Was geht wie lange gut? So hatte Hauser immer wieder die Frage nach der
Lebenserwartung von Staaten, von politische Regimes, politischen Ideologien und
am Ende sogar von Religionen gestellt. Der Grundgedanke ist fast banal: Wenn
Menschen sich an etwas gewöhnt haben, halten sie möglichst lange daran fest, auch
an ihren Überzeugungen, an ihrer Macht, ihren Aufgaben, ihrem Wohlstand, ihren
Vorbildern, ihren Identifikationsfiguren, ihrem Glauben. Trotzdem kommt bei all
dem irgendwann doch die Zeit des schmerzlichen Wandels. Dabei sind wir es oft
selbst, die liebgewonnenen Gewohnheiten den Boden entziehen. Wir stellen als
Bürger Anforderungen, denen alte Regimes, alte Vorbilder, alte
Identifikationsfiguren und alte Dogmen nicht mehr gewachsen sind. Oder wir
verlangen nach Produkten, die mit der gewohnten Art von Arbeit nicht mehr
produzierbar sind. Oder wir verändern die Welt mit neuen Bedürfnissen, um
irgendwann erschrocken festzustellen, dass die so veränderte Welt nicht mehr zu
unseren alten religiösen Überzeugungen passt. In all solchen Fällen kann es so, wie
es war, nicht mehr lange gutgehen.
Seit ich Hausers Nachfolger geworden war, waren inzwischen mehr als zwanzig
Jahre vergangen. Am Abend vor seinem 81. Geburtstag hatte er eine kurze Mail
211
verschickt, mit der er " den vielen guten Wünschen meiner lieben Freunde
zuvorkommen" wollte. "Für diese guten Wünsche danke ich euch allen schon jetzt
ganz herzlich.“ Hauser in seinem neunten Lebensjahrzehnt in Höchstform. Er hatte
sich mit allem Floskelhaften, auch mit allen üblichen Glückwunschritualen, immer
schwergetan, und nun fand er dafür klarere Worte denn je.
Aber war ich nicht einer der wenigen, über deren realen Glückwunsch er sich
dennoch freuen würde? Zwei Tage danach, als mir die rituelle Glückwunschpflicht
abgelaufen schien, rief ich ihn an. Ich brauchte, sagte ich, ganz dringend den
altersweisen Rat eines über Achtzigjährigen, und ich wisse nicht, wer sonst mir
solchen Rat geben könnte.
Am nächsten Tag trafen wir uns in seiner Wohnung. Zum ersten Mal fiel mir auf,
dass die Jahre auch in seinem Gesicht tiefe Spuren hinterlassen hatten. Die Augen
hatten sich weiter in ihre Höhlen zurückgezogen, und von der leichten Aura der
Unsterblichkeit, die er früher für mich immer ausgestrahlt hatte, war nichts
geblieben. Ich war irritiert, und ich verbarg es nicht.
– Du bist auch nicht gerade jünger geworden, sagte er.
Ja, dachte ich, natürlich. Ich war eben noch in einem Alter, in dem man viel mehr an
das Altern der Älteren denkt als an das eigene.
– Es tut ja nicht weh, sagte er, im Gegenteil. Man soll sich beim Altern zusehen und
seinen Frieden damit machen.
Damit waren wir fast schon beim Thema, über das ich mit ihm hatte reden wollen.
Was geht wie lange gut? Was hat wie lange Bestand? Auch Überzeugungen und
Institutionen altern und veralten, aber kann man nicht auch damit einfach seinen
Frieden machen?
Ich glaubte, sagte ich, auch der Verlag sei in den letzten Jahren gealtert, vielleicht
schneller denn je. Man könne nicht wissen, wie lange es mit dem Verlag noch
gutgehe, auch er wisse es natürlich nicht, aber vielleicht könne er meinen Gedanken
darüber doch auf die Sprünge helfen.
212
Hauser sprach langsam und zögernd, aber am Ende war es fast genau wie früher. Ich
erzählte ihm schließlich von den kleinen und großen Konflikten im Verlag, von
Kiesewetter und seiner schwierigen Lage, von den Gerüchten über Investoren, die
den Verlag übernehmen wollten, und natürlich vom Streit über das Archiv. Dass die
Verlagsleitung das Budget der SPIEGEL-Dokumentation Jahr für Jahr schmälere und
dass so das bisherige Qualitätsniveau nicht zu halten sei. Und dass, viel schlimmer
noch, neuerdings die Redaktion sich das Archiv einverleiben wolle. Das Archiv
diene der Redaktion, so argumentierte u.a. der zweite Chefredakteur, niemand wisse
besser als die Redaktion selbst, wie dies zu geschehen habe, und die Redaktion wisse
daher auch am besten, wo und wie das Archiv Kosten sparen könne. Die Ausbildung
ausländischer Praktikanten z.B. sei ein Luxus, den ein Verlagsarchiv sich in der
heutigen Zeit kaum noch leisten könne, damit könne man anfangen.
Dann erzählte ich ihm, dass ich gerade ein halbes Jahr vorher ausländische
Praktikanten aus Schweden, England, Norwegen und Marokko eingestellt hatte.
– War das womöglich schon ein entscheidender Fehler?, fragte ich.
Hauser sah mich an, als hätte ich eine ziemlich dumme Frage gestellt. Nein, sagte er
dann, ein Fehler müsse das nicht gewesen sein. Ich könne der Verlagsleitung doch
zeigen, dass man von ausländischen Praktikanten auch lernen könne, viel sogar, und
dass sie manchmal sogar für die Themenfindung der Redaktion nützlich sein
könnten.
– Fällt dir ein Beispiel ein?, fragte ich.
Hauser überlegte nur kurz, dann kam – immer noch der alte Hauser eben – dies:
– Du hast also Praktikanten aus Schweden, Dänemark, Norwegen und Marokko?
– Ja, unter anderem.
– Alles Monarchien. Wenn das Zufall ist, dann ein glücklicher. Vielleicht lässt sich
daraus etwas machen.
– Aber was?, fragte ich.
213
Hauser senkte kurz denn Blick, als müsse er nachdenken, zögerte nur kurz, – Nur ein
spontaner Gedanke, sagte er, aber vielleicht kannst du ihn ja weiterdenken: Du lässt
deine Praktikanten Material über die Monarchien in ihren Heimatländern sammeln.
Dann schlägst du der Redaktion eine große Geschichte über Sinn und Unsinn der
Monarchie im 21. Jahrhundert vor, Schwerpunkt repräsentative Monarchie in
Europa. So zeigst du, dass ein unabhängiges Archiv sein Geld wert ist, und du zeigst,
was deine ausländischen Praktikanten wert sind. Gebt euch nicht auf.
Natürlich eine grandiose Idee. Die Zukunft der Monarchie, das würde mindestens ein
Thema für eine große Titelgeschichte sein, vielleicht sogar für eine große
Artikelserie. Mit Titeln wie "Glanz und Elend der Windsors", mit kritischen Porträts
der gekrönten Häupter Europas, von Felipe über William, Hakon und Victoria bis zu
Frederik. Dazu der Vergleich mit einer Monarchie, in der der Monarch noch Macht
über Staat und Volk hat wie in Marokko. Schließlich die Frage: Was wäre, wenn die
Monarchie und die Monarchen verschwänden? Nach einer solchen Story würde die
Redaktion das Schicksal der Monarchien mit kritischen Artikeln weiter begleiten, ein
ergiebiges Thema für Jahrzehnte.
– Ja, sagte ich zu Hauser, der Sache werde ich nachgehen.
– Und wirst du weiter um die Unabhängigkeit des Archivs kämpfen?
– Ja, natürlich, sagte ich.
Ein paar Wochen später setzte ich mich mit meinen Praktikanten aus
monarchistischen Ländern zusammen und mit einem Briten, einer Dänin und einer
Spanierin, drei altgedienten Kollegen vom Archiv. Ich stellte ihnen die Aufgaben so:
Was weiß unser Archiv über die Monarchie in eurer Heimat? Was sollte unser
Archiv über diese Monarchien noch wissen? Wie findet ihr es heraus? Mit welchen
Methoden? Aus welchen Quellen?
Wir entwickelten rasch eine Strategie, angefangen mit Methodenfragen. Aber dann
fingen wir ganz von selbst an, unsere Meinungen über die Monarchie auszutauschen.
Für die Spanierin und den Engländer war sie ein lächerlicher Anachronismus, für den
214
Norweger und die Dänin "etwas, das dem Land Halt gibt“. Aber wir wollten es nicht
einfach bei diesem Dissens belassen. Wir beschlossen, ihn zu dokumentieren. Wir
wollten eine umfassende Dokumentation über die Monarchie im 21. Jahrhundert
erstellen, auch über deren Akzeptanz, und dazu wollten wir auch uns selbst befragen.
Aber dafür mussten wir uns natürlich erst über unsere eigene Meinung im Klaren
sein.
Nach einigen Wochen waren wir dann so weit, dass ich den anderen präzisere Fragen
stellen konnte. Ich fing so an:
– Wie hoch wäre die Wahlbeteiligung, wenn die Bürger über die Beibehaltung der
Monarchie abstimmen könnten?
Sehr hoch, meinten alle.
– Wie wäre die Wahlbeteiligung, wenn die Bürger den Monarchen selbst wählen
könnten?
Fast alle sahen mich verblüfft an, als könnte die Frage nicht ernst gemeint sein, aber
dann kamen nach und nach doch Antworten. Und alle, zuletzt auch der Engländer
und die Spanierin, unsere beiden Monarchieverächter, meinten, die Beteiligung wäre
sehr hoch.
So fing es an, und ich ahnte schon, dass wir damit etwas Unabsehbares angestoßen
hatten.
Wir waren uns rasch darüber einig, warum bei Abstimmungen über die Monarchie
und über Monarchen so viel mehr Bürger teilnehmen würden als bei normalen
Wahlen. Weil hierbei die Bürger genau wüssten, was sie mit ihrer Stimme bewirken.
Sie wüssten: Es geht nicht um schwer durchschaubare Politik, es geht um Gefühle,
um Zu- und Abneigung, um Orientierung, um Identifikation. Die Monarchin bzw.
der Monarch ist eine Identifikationsfigur. Es geht also darum, dass es in einer immer
komplizierteren Welt noch etwas Einfaches, Übersichtliches geben soll, das dennoch
alle angeht. Politisch mag eine repräsentative Monarchie nur Zierrat sein, aber
sinnlos ist sie nicht. Im Gegenteil.
215
Ich fragte, ob das denn nicht ein Widerspruch sei: Die repräsentative Monarchie als
Zierrat zu erkennen, aber sie dennoch so ernst zu nehmen.
Eine Antwort war: Wenn wir unsere Politiker nicht mehr ernst nehmen können, dann
wollen wir wenigstens noch unsere Monarchen ernst nehmen.
So tastete ich mich mit meinen Fragen langsam weiter voran.
Als Nächstes:
– Verstehen eure Monarchen etwas von Politik?
Darauf alle außer dem Marokkaner: Nein.
– Sehen eure Landsleute das auch so?
– Ja.
– Trotzdem sind eure Monarchen immer noch Staatsoberhäupter. Macht das noch
Sinn?
Darüber hatte noch keiner wirklich ernst nachgedacht, und keiner hatte eine Antwort.
Bei unserem nächsten Treffen wagte ich schließlich diese Frage:
– Wäre es nicht besser, wenn eure Monarchen gar nichts mehr der Politik zu tun
hätten, auch nicht formell? Wenn sie nur noch gänzlich unpolitische Aufgaben
hätten, z.B. in der Kultur und im Sport und vielleicht als Zeremonienmeister
kollektiven Gendenkens?
Die meisten in der Runde waren verblüfft. Aber dann nahm der Schwede als erster
den Gedanken auf. Ganz verkehrt sei das wohl nicht, sagte er. Die schwedische
Königin im Parlament, das sei im Grunde eine Peinlichkeit.
Dann die Spanierin: An den Gedanken müsse man sich erst einmal gewöhnen, aber
unlogisch erscheine er ihr nicht.
Dann die Dänin: Für Dänemark könne sie sich das nicht vorstellen. Der Glanz der
Monarchie strahle immer noch auf den gesamten Staat ab, auf Parlament und
Regierung und damit auch auf die Parteien, und diesen Abglanz hätten sie auch
216
dringend nötig. Daher brauchten Parteien und Politiker weiterhin einen
repräsentativen Monarchen, der auch Staatsoberhaupt sei.
Dann der Engländer: Wenn von der Monarchie noch Glanz auf die Politik abstrahle,
dann sei das unverdienter Glanz. Eine auch förmliche Trennung von Staat und
Monarchie sei ehrlicher, und es sei höchste Zeit dafür.
– Aber wann könnte sie Wirklichkeit werden?, fragte ich.
Darauf die Dänin und der Norweger: vielleicht in drei oder vier Generationen.
Der Engländer und die Spanierin: Darüber sollten wir in zwanzig Jahren nochmal
reden.
Zumindest nachdenken könnten wir darüber aber schon jetzt, sagte ich bei einem
nächsten Treffen. Stellt euch vor, Politik und Monarchie würden endgültig
entkoppelt. Die Monarchie wäre nur noch ein Identifikationsangebot an die Bürger,
finanziert durch eine kleine Monarchiesteuer. Würde dann der Respekt vor den
Monarchen nicht sogar wachsen? Und könnten sich für eine solche auch formell
unpolitische Monarchie nicht sogar vormalige Antimonarchisten begeistern?
Keiner in der Runde widersprach. Ich war nicht sicher, ob es wirklich
stillschweigende Zustimmung war. Ich wartete eine Weile, dann wagte ich die
entscheidende Frage:
– Und wenn es eine solche Art Monarchie gäbe, würden die Bürger sich dann nicht
irgendwann wünschen, ungeliebte Monarchen abwählen zu können?
Wieder kein Kommentar, nur einige ratlose Blicke. Dann fing der Engländer an zu
nicken. Dann die Spanierin. Dann der Schwede. Schließlich nickten sie alle, ein
stummes, klares Ja von allen, außer vom Marokkaner.
– Dann wäre die Monarchie, sagte ich, zugleich entpolitisiert und demokratisiert.
Der Marokkaner sah mich fassungslos an. Die anderen warteten ab, sahen einander
fragend an, dann kam, vom Engländer zuerst, wieder ein zögerndes Nicken.
217
– Wenn wir eine solche Monarchie hätten, sagte dann der Engländer, eine völlig
unpolitische Wahlmonarchie, würde man uns darum nicht sogar beneiden?
Neid auf die Monarchie? Auf eine repräsentative Wahlmonarchie? Ein kurzes
Erstaunen bei allen, dann ein zufriedenes Schweigen. Ihre Monarchien, das wussten
sie, wurden in anderen Teilen der Welt schon seit Längerem belächelt, und nun ließ
sich der Spieß womöglich umdrehen. Ihre belächelten Monarchien ließen sich
womöglich in Gebilde umwandeln, um die man sie in der Welt beneiden würde. In
sinnstiftenden demokratischen Zierrat. Ein sehr wohltuender Gedanke.
Was hatten wir da angestoßen? Wo waren wir in unserer kleinen Runde gelandet?
Ganz und gar nicht, wie ich zu Anfang erwartet hatte, im Konsens, dass die
repräsentative Monarchie ein überflüssiger Anachronismus sei. Einig waren wir uns,
dass nur noch wenige Erbmonarchen das Identifikationsbedürfnis der Bürger besser
erfüllen, als gewählte Amtsträger es an ihrer Stelle täten. Eine Lösung des Problems:
die repräsentative Wahlmonarchie.
Wir überlegten, welchen Monarchen wohl als ersten die Abwahl drohen würde. Die
meisten von uns tippten auf Felipe, William und Viktoria. Das waren nur
Gedankenspiele, aber sie machten zumindest Spaß. Und auch darüber waren wir uns
schnell einig: Wahlmonarchie sollte Spaß machen. Umso ernster, sagte der
Engländer, würden die Bürger dann die eigentliche Politik nehmen.
Allein wegen dieser klugen Bemerkung hatte sich die ganze Mühe unserer Runde für
mich schon gelohnt.
Aber waren all solche Gedanken nicht doch utopisch? War es realistisch, dass eine
Demokratie eine solche Wahlmonarchie einrichten würde? Hatte nicht zumindest die
Dänin damit Recht, dass Parteien und Politiker das in ihrem Land niemals zulassen
würden? Und war damit dann nicht auch in anderen Ländern zu rechnen?
Auf absehbare Zeit schon, auch darin waren wir uns einig, aber selbst das brachte
uns nicht vom Thema ab. In den folgenden Monaten steuerte jeder ein
Stimmungsbild zur Monarchie in seinem Land bei, darunter viele kleine Beiträge u.a.
218
aus Onlineforen, Blogs und kleinen Lokal-, Schüler- und Studentenpublikationen.
Ich stellte daraus einen, wie ich meinte, aufsehenerregenden Auszug für die
Redaktion zusammen, mit der Frage, ob hier möglicherweise ein großes Thema
heranwachse.
Einige Wochen danach stand im SPIEGEL eine kurze Notiz mit der Überschrift:
Antimonarchisten in Europa im Aufwind? Es war ein Versuchsballon, mehr nicht.
Niemand griff das Thema auf, nicht einmal in Leserbriefen. Für die Chefredaktion
das Signal: Kein Leserinteresse. Damit war das Thema für viele Jahre erledigt.
Erst ein Vierteljahrhundert später erschien dann die große Artikelserie über Sinn und
Unsinn der repräsentativen Monarchie. Sie trug fast genau den Titel, den ich damals
in unserem kleinen Kreis vorgeschlagen hatte: Gewählte Sinnstifter – Neuerfindung
der repräsentativen Monarchie?
Kleine Staatsreparaturen
Als die erste Jahrhunderthälfte zu Ende ging, hatte ich fast zwanzig Jahre als
Archivleiter hinter mir, und natürlich hatte diese Zeit mich geprägt. Andere mögen in
dieser Zeit ein aufregenderes Leben gehabt haben, aber meines war ausgefüllt. Ich
bin – das Archivardasein macht es einem leicht – ein Familienmensch geworden, und
das allein ist ein großes Glück. Vielleicht hatte ich zu Anfang gehofft, dass sich in
unserem Archiv Erbaulicheres und Aufregenderes widerspiegeln würde, aber es kam
anders. Enttäuscht war ich darüber nicht. Dieses Vierteljahrhundert aus der
Perspektive eines Archivars beobachten zu können hat für vieles entschädigt.
Im Lauf der Zeit habe auch ich mir angewöhnt, Einfälle und Gedanken zum
Zeitgeschehen zu notieren, wenn auch nicht so gründlich und präzise wie Hauser.
Auch ich wollte mir ein Bild davon machen, wie sich das Bewusstsein unserer
Epoche entwickelt und das Bewusstsein meiner Generation, der Generation
Sichtflug. Ich habe den schleichenden Dritten Weltkrieg beobachtet und ihn zu
verstehen versucht, und ich habe über die Beschränkungen der Demokratie
219
nachgedacht. Die Demokratie löst nicht die Probleme unseres Jahrhunderts, das war
der eine Schlüsselgedanke, zu dem Hauser mich angestiftet hatte. Die Generation
Sichtflug fand sich damit ab, das war der zweite. Der dritte: Das politische
Bewusstsein der Welt steckte fest in den Dogmen des zwanzigsten und früherer
Jahrhunderte. Der vierte schließlich: Die Demokratie hilft nicht, ein
fortgeschritteneres Bewusstsein zu formen, sie tut das Gegenteil. Aber schon mit
diesen Gedanken, so einfach und klar sie auch erschienen, fühlte ich mich manchmal
wie in einem utopischen Nirwana.
In der letzten Woche der ersten Jahrhunderthälfte lud Hauser mich in seine Wohnung
ein. Er würde wissen wollen, glaubte ich, was ich Neues über den Verlag wisse, über
die internen Intrigen und über den drohenden Eigentümerwechsel, über den in den
Medien spekuliert worden war. Aber kein Wort darüber. Es ging ihm um frühere
Themen. Er wollte sich, so schien es mir, vergewissern, dass ich nichts von dem
vergessen hatte, worüber wir früher so ausgiebig diskutiert hatten.
– Erinnerst du dich, begann er, wie wir vor zwanzig Jahren darüber sprachen, dass
noch zivilisatorische Entgleisungen bevorstünden? Damals wolltest du nichts davon
wissen. So pessimistisch wolltest du nicht sein.
– Ich war noch ziemlich jung.
– Und heute?, fragte er. Glaubst du heute, dass es zivilisatorische Entgleisungen
geben wird?
Ich sah etwas verlegen zu Boden. Ich wusste, dass es eine rhetorische Frage war, auf
die er selbst würde antworten wollen.
– Ich fürchte es, sagte ich in unbestimmten Tonfall.
Dann breitete Hauser noch einmal das ganze Szenario der Gefährdungen aus, denen
die globale Zivilisation weiterhin ausgesetzt war. Dass die Welt immer noch von
dreierlei Arten politischer Kultur beherrscht sei, von archaischen,
fundamentalistischen und veralteten demokratischen. Dass die Epoche der blutigen
ethnischen und konfessionellen Konflikte und auch der Kriege und Bürgerkriege um
220
Staatsgrenzen und Staatszugehörigkeiten auch jetzt, zur Mitte unseres Jahrhunderts,
noch längst nicht beendet sei. Dass im zwanzigsten Jahrhundert der Schock der
Weltkriege und das Erschrecken über das atomare Zerstörungspotential die politische
Zivilisierung vorangebracht hätten, dass diese seither aber stagniere. Dass zugleich
immer neue menschengemachte Gefährdungen entstanden seien und weiter
entstünden wie Umweltbelastungen und Ressourcenverknappungen, und dass all das
eigentlich zivilisiertere Weltmächte denn je erfordere, die aber nirgendwo absehbar
seien.
Sorgen müsse man sich auch darum, dass die Bevölkerung in den weniger
zivilisierten Teilen der Welt immer noch viel schneller wachse als in den
zivilisierteren – ein Land wie Nigeria habe inzwischen mehr Einwohner als die USA
–, was die Welt als ganze natürlich in der Zivilisierung hinabziehe. Und zu denken
gebe doch auch, dass die politisch vergleichsweise zivilisierten Länder vor allem in
Europa mehr Migranten, legale und illegale, aus weniger zivilisierten Ländern
aufnähmen denn je, wodurch sie sich immer auch rückständiges politisches Denken
ins Land holten, auch fundamentalistisches und archaisches. Auch dies schwäche die
Fähigkeit der westlichen Welt, Vorbild in der politischen Zivilisierung zu sein, und
das bedeute für die Welt als ganze natürlich nichts Gutes.
Bis hierhin hatte Hauser mich mit festem Blick angesehen, eindringlich fast, als
fürchte er, ich würde seinen Gedanken nicht folgen. Jetzt lehnte er sich entspannt
zurück und sprach leiser, fast wie zu sich selbst.
Er wüsste gern, sagte er, wie Historiker im 22. Jahrhundert über unsere Epoche
schreiben würden. Als Optimist müsse man hoffen, dass in hundert Jahren auf die
politische Zivilisierung von heute zurückgeblickt werde, wie wir heute auf die
Zivilisation des 17. oder 18. Jahrhunderts zurückblicken. Er würde alles dafür geben,
das in Gedanken vorwegnehmen zu können.
Natürlich wusste Hauser, dass auch er nicht ein Jahrhundert vorausdenken konnte.
Von seinem Realitätssinn hatte er nichts eingebüßt. Noch immer beobachtete er
221
genau, wie sich das politische Bewusstsein veränderte, und er machte sich darüber
weniger Illusionen denn je. Eine seiner Feststellungen war: Es werde mindestens
eine weitere politikmüde Generation geben, die nur zur Wahl gehen werde, wenn
dies gerade besonderen Unterhaltungswert habe. Es könne sogar sein, dass meine
Generation im Vergleich zur nachfolgenden als politisch vergleichsweise engagiert
gelten werde.
Als wir uns dann nach all dem schließlich an der Tür verabschiedeten, sagte er:
– Ich hoffe, ich habe dir nicht zu viel zugemutet.
– Ich wünschte, du hättest in manchem Unrecht, sagte ich, aber ich wüsste nicht, wo.
Am nächsten Tag lud ich mich bei Hauser zu einer Fortsetzung des Gesprächs ein.
Auch wenn all das, so begann ich, was er am Vortag gesagt hatte, richtig sei, seien in
westlichen Demokratien grundlegende Reformen doch nicht völlig ausgeschlossen.
Wo er denn das größte Veränderungspotential sehe.
– Natürlich in den angelsächsischen Ländern, sagte er mit einem süßsauren
ironischen Lächeln. Natürlich im Versuch, den Staat als Unternehmen zu führen.
Damit meinte er die damals so genannte Neue Privatisierung, den ideologischen
Favoriten dieser Jahre. Dass der Staat, wie er ist, mit seinen Aufgaben irgendwie
überfordert ist, das war schon in vielen westlichen Ländern in aller Munde, und
natürlich wurde erst einmal versucht, die Schlussfolgerungen daraus nicht ausufern
zu lassen. In den USA und Großbritannien folgerte man: Wo gewählte Politiker
überfordert sind, sollen Manager deren Arbeit tun. Immerhin wurde nun auch
erstmals systematisch nach Überforderungssymptomen bei Politikern gesucht. Die
Ergebnisse waren erschütternd, aber sie wurden der Öffentlichkeit nur
häppchenweise vermittelt.
Ich muss zugeben, dass auch mir das Konzept der Neuen Privatisierung nicht
abwegig erschien. Müllabfuhr, Gefängnisse, Krankenhäuser, Brief- und
222
Paketbeförderung, Telekommunikation und vieles mehr, was einstmals in staatlicher
Hand gewesen war, waren in den meisten Ländern längst privatisiert, und kaum
jemand wollte dies noch rückgängig machen. Warum nicht konsequent in diese
Richtung weitergehen? Warum nicht Staatsmanagementorganisationen – so genannte
SMOs – für viel umfassendere staatliche Aufgaben schaffen? Warum nicht
kommunale Staatsmanagementorganisationen schaffen, so genannte KSMOs, die
ganze Kommunen verwalten? Warum nicht regionale
Staatsmanagementorganisationen, die Landkreise, Länder, Provinzen, Departements
oder Grafschaften verwalten? Und schließlich: Warum nicht auch nationale
Staatsmanagementorganisationen, die den Staat auf der nationalen Ebene verwalten –
im Auftrag gewählter Politiker oder auch im direkten Auftrag der Bürger? Und
warum sollte es nicht international und global tätige SMOs geben, die in einen
internationalen Wettbewerb um Staatsmanagementaufträge treten? Warum sollten
z.B. die Sarden, wenn sie sich im italienischen Staat schlecht verwalten fühlen, nicht
eine Schweizer Staatsmanagementorganisation mit der Verwaltung Sardiniens
betrauen können? Ähnliche Ideen waren in Sardinien schon Anfang des Jahrhunderts
einmal aufgekommen.
Die Grundidee war gewöhnungsbedürftig, aber unplausibel war sie nicht. Es ist im
Zweifel besser, den Staat in die Hände hoch professioneller Staatsmanager zu geben
als in die Hände von Laienorganisationen, wie politische Parteien es nun einmal sind.
Trotzdem wurde die Idee zu Anfang natürlich – sogar in Teilen der angelsächsischen
Welt – als skurril abgetan. Aber in dem Maße, wie auch reale demokratische Politik,
die realen Parteien und die realen Politiker den Bürgern immer skurriler erschienen,
gewann das Konzept der SMOs an Zustimmung. Zuerst nur unter Wissenschaftlern,
aber dann auch zunehmend bei Bürgern. Niemand sah in den SMOs Heilsbringer,
aber viele trauten ihnen zu, ihre Sache wenigstens etwas besser zu machen als
Parteien und Parteipolitiker.
Ich diskutierte diese Idee mit Hauser später noch mehrere Male, und ich war erstaunt,
dass er ihr schließlich doch einigen Respekt entgegenbrachte. Sie zeige zumindest,
223
sagte er, dass Veränderungen am politischen System denkbar sind, an die zehn Jahre
vorher noch kaum jemand zu denken wagte.
– Aber sind das Verzweiflungsakte, fragte ich, oder Wegweiser in die Zukunft der
Demokratie?
– Es sind Notlösungen, sagte er, aber auch Notlösungen sind Lösungen. Sie
bewahren vor Schlimmerem.
Zu Hause versuchte ich, den Gedanken ein Stück weiterzuspinnen. Würden
Staatsmanagementorganisationen irgendwann als Interimsverwalter die Geschäfte
abgewirtschafteter und abgewählter Königshäuser übernehmen können? Kein
wirklich wichtiger Gedanke, sagte ich mir, aber auch kein unvernünftiger. Viel
wichtiger, dachte ich dann, könnte dieser sein: Würden künftige global tätige
Staatsmanagementorganisationen vorübergehend so genannte gescheiterte Staaten
oder Teile davon verwalten können? Ein noch sehr unfertiger Gedanke damals, aber
einer, so schien mir, der weitergedacht werden könnte.
2050 – 2074 Globale Erschöpfung
Der Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte war natürlich so wenig ein historisches
Ereignis wie die Jahrtausendwende, aber heute erscheint es mir doch, als sei damals
– so schwer es auch in Worte zu fassen ist – eine andere Zeit angebrochen. Eine
Bewusstseinswende will ich es nicht nennen, richtiger wäre wohl, von einem
schleichenden Bewusstseinswandel zu sprechen oder besser noch von einem
schleichenden politischen Themenwandel, der zu Beginn der zweiten
Jahrhunderthälfte allmählich fassbar wurde. Aber was auch immer es war: Gegen
Ende der ersten Jahrhunderthälfte hatte das politische Denken – genauer: das
demokratische Denken – offenkundiger denn je die Orientierung verloren.
Eines der frühen Symptome dieses Wandels war der Niedergang der politischen
Talkshows. Überraschend war dieser Niedergang nicht, aber überrascht hat dann
224
doch, wie rasch und wie heftig er kam. Nicht weniger als ein halbes Jahrhundert lang
waren die politischen Talkshows führend darin gewesen, den Bürgern die verbalen
Argumente und Gegenargumente politischer Kontrahenten im Land nahezubringen.
Vielen erschienen sie lange Zeit sogar unersetzlich für die politische Willensbildung
und damit auch unerlässlich für das Funktionieren von Demokratie. Und dann dieser
Einbruch der Einschaltquoten.
Dass das Interesse an politischen Talkshows zumindest im Gleichschritt mit der
Wahlbeteiligung schwinden würde, hätte eigentlich niemanden überraschen dürfen,
aber zumindest die Medien gaben sich dann doch überrascht. Es dauerte Jahre, bis
dann auch die Programmgestalter reagierten. Sie taten das Naheliegendste: Sie
öffneten politische Talkshows zunehmend auch für unpolitische Themen, für
Ernährungsfragen, Erziehungsprobleme, für Psychologisches, für Alltagsprobleme
z.B. von Mobbingopfern, Kleingärtnern, Vielfliegern und Übergewichtigen und
vieles mehr.
Dem Renommee politischer Talkshows tat dies nicht gut. Deren Moderatoren hatten
sich lange als gelehrte Großmeister ihrer Zunft aufgeführt, aber nun sahen sie sich zu
Allerweltsmoderatoren degradiert, zu vermeintlichen Allesverstehern, denen immer
weniger politischer Verstand unterstellt wurde. Einige Male versuchten politische
Talkshows sogar, ihre eigene schwindende Einschaltquote zum Thema zu machen,
aber dies scheiterte kläglich. Ob sich mit dem Niedergang der politischen Talkshows
womöglich schon ein schleichender Niedergang der Demokratie ankündigte, darüber
wollte kein prominenter Talkshowgast offen diskutieren.
Dass ein mediales Format irgendwann einmal seine Blütezeit überschreitet, ist der
normale Gang der Dinge, auch für politische Talkshows. Dann wird mit neuen,
vermeintlich zeitgemäßeren Formaten experimentiert, mit neuen
Moderatorengesichtern, neuem Kleidungsstil, mit neuem Studiodesign in neuen
Formen und Farben, mit zwei, drei oder keinem Moderator statt mit einem, mit mehr
oder weniger oder keinem Studiopublikum, mit mehr, weniger oder keiner
Publikumsbeteiligung und so weiter. Auch all das haben die Fernsehanstalten
225
natürlich auch bei den politischen Talkshows versucht, aber ein ums andere Mal
misslang es. Die Einschaltquoten gingen weiter zurück.
Nach einem guten Jahrzehnt, Anfang der vierziger Jahre, hatten die Verantwortlichen
es schließlich verstanden: Es liegt nicht am medialen Format. Die Zuschauer wollten
nicht das Gleiche in neuer Verpackung, nicht das Gleiche in neuem Stil von neuen
Moderatoren präsentiert, sie wollten sich einfach diese Art von Politik nicht mehr
präsentieren lassen. Sie wollten vor allem nicht mehr zusehen, wie Politik in diesen
Shows immer wieder als rhetorisches Parteiengezänk aufgeführt wurde, so
durchsichtig wie quälend vorhersehbar. Nichts hat damals so vielen die Augen
hierfür geöffnet wie das Ergebnis einer Telefonumfrage bei Menschen, die den
politischen Talkshows noch die Treue hielten. Den Angerufenen wurden zwei Fragen
gestellt. Die erste: Haben Sie die letzte Sendung bis zum Ende gesehen? Nur jeder
Zweite antwortete darauf mit Ja. Die zweite Frage: Hätten Sie etwas versäumt, wenn
Sie die Sendung nicht gesehen hätten? Darauf antworteten alle Befragten mit Nein.
In den Jahren danach wurden mehr als die Hälfte der politischen Talkshows
eingestellt.
Mit solchen Talkshows hatte der SPIEGEL sich natürlich nie vergleichen und er
hatte nie mit ihnen konkurrieren wollen. Wir verstanden uns nach wie vor als das
führende politische Nachrichtmagazin, also eigentlich als unverzichtbar. Wir
behandelten Themen, die auch in politischen Talkshows vorkamen, aber wir
informierten gründlicher, und wir sahen uns auf höherem Niveau. Dass die Auflage
des SPIEGEL nicht annähernd so schnell zurückging wie die Einschaltquoten der
politischen Talkshows, nahmen wir als Bestätigung. Wann immer Fernsehanstalten
eine politische Talkshow einstellten, wurden sie vom SPIEGEL mit Vorwürfen
überschüttet. Damit, so der SPIEGEL, würde der grassierenden Politik- und
Parteienverdrossenheit noch Vorschub geleistet, und wenn diese sich zunehmend
auch zu einer Demokratieverdrossenheit auswachse, dann seien die Fernsehanstalten
dafür mitverantwortlich.
226
Ein Rezept gegen Politik-, Parteien- und potentielle Demokratieverdrossenheit hatte
aber auch SPIEGEL nicht. Und auch der SPIEGEL selbst blieb vom wachsenden
politischen Desinteresse nicht unberührt. Auch wenn der Leserschwund glimpflicher
verlief als der Zuschauerschwund politischer Talkshows, wurde er in der Summe
doch langsam bedrohlich. Auch das Politikressort des SPIEGEL experimentierte
daher mit allerlei neuen Präsentationsformen, mit verlagerten
Themenschwerpunkten, eine Zeitlang auch wieder mit mehr politischen Personalien
anstelle von Inhalten, mit mehr Bebilderung und bunteren Grafiken, aber all das half
wenig. Am Ende hatte auch der SPIEGEL keine andere Wahl, als politische Themen
zurückzudrängen und das Politikressort zu stutzen.
Auch beim SPIEGEL gab es hiergegen natürlich erbitterten Widerstand. Es sei doch
Verrat an den eigenen Idealen, ereiferten sich Teile der Redaktion, dem politischen
Desinteresse der Bürger aus wirtschaftlichen Gründen nachzugeben, statt sich mit
allen erdenklichen Mitteln dagegenzustemmen. Wer denn diese Entwicklung noch
aufhalten solle, wenn nicht einmal der SPIEGEL es versuche. Im Übrigen sei das
politische Desinteresse natürlich nur ein Zeitgeistphänomen. Unvorstellbar sei doch,
dass den Bürger die politischen Probleme, große wie auch kleine, auf Dauer so
gleichgültig blieben. Soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Zusammenhalt,
Bildung, Friedenssicherung, Klimaschutz, Umweltschutz, Gesundheitsversorgung,
Generationengerechtigkeit, Schonung von Rohstoff- und Energiereserven, Stabilität
und Wachstum der Wirtschaft, das und vieles mehr seien doch politische Themen
von unerschöpflicher Wichtigkeit. Mit diesen Themen würden bald auch politische
Personalien und sogar politischer Parteienstreit wieder aufregend werden, auch im
SPIEGEL.
Viel anders sah auch ich es damals nicht, auch nicht Freunde und Kollegen. Nur
Hauser sah es wieder einmal anders. Er fragte mich, ob das politische Desinteresse
der Bürger nicht doch viel länger andauern könnte, als der SPIEGEL es sich
eingestehen wolle. Wenn das aber so sei, könne selbst der SPIEGEL sich diesem
Desinteresse bald nicht mehr entgegenstemmen.
227
Der SPIEGEL, widersprach ich, müsse sich dann eben neuen, wirklich bewegenden
politischen Themen zuwenden und sie auch bewegend präsentieren.
Darauf Hauser: Was ihn z.Zt. am meisten bewege, sei, dass der so genannte Westen
mehr und mehr an den Rand des Weltgeschehens rücke, dass er weder politisch noch
wirtschaftlich mehr der Nabel der Welt sei, und intellektuell sei er es anscheinend
auch nicht mehr. Dies im eigenen Land begreiflich zu machen, das sei eine der
dringendsten Aufgaben des politischen Journalismus.
- Also doch, sagte ich. Also soll der SPIEGEL doch gegen die Politikmüdigkeit
anschreiben.
- Wenn es nicht so aussichtslos wäre, antwortete er. Für die kommenden Jahrzehnte
ist es aussichtslos.
Mächtige Senioren
Dass die Rentner irgendwann rebellisch würden, war seit Ende der dreißiger Jahre
absehbar gewesen. Überraschend war für mich nur, dass es so spät kam. 2052
gründete eine Senioreninitiative in Berlin die neue Partei Interessengemeinschaft
Senioren – Partei der reiferen Jahrgänge. Kurzform: IG SENIOREN. Es war
natürlich nicht der erste Versuch, eine deutsche Seniorenpartei zu gründen, aber es
war der erste, der genau in die Zeit passte. Vor allem aber war es der erste mit
konkurrenzfähigen Führungsfiguren, unter ihnen eine Reihe bekannter, in ihren
Parteien ausgemusterter Altpolitiker von vergleichsweise gutem Ruf und eine Reihe
fast ebenso bekannter älterer Wissenschaftler.
Die Bezeichnung „Partei der reiferen Jahrgänge“ war klug gewählt. Die IG
SENIOREN wollte nicht eine Partei des Alters sein, sondern der Reife. Und sie
wollte eine Partei der Reiferen sein, also derer, die sich etwas reifer fühlten als
andere. Und vielleicht sollte auch dies im Parteinamen anklingen: Die IG
SENIOREN fühle sich reifer als viele derer, von denen sie regiert wurden.
228
Auch ich als später Mittfünfziger fühlte mich angesprochen. Zu Anfang war ich
unsicher. Ich betrachtete mich im Spiegel und fragte mich, ob ich wirklich in das
Gesicht eines Mannes der reiferen Jahrgänge schaute. Blitzte da nicht doch noch ein
Rest jugendlicher Verwegenheit auf? Und hatten nicht schon zwei gleichaltrige
Freunde, Segler der eine, Biker der andere, über die IG SENIOREN herablassende
Bemerkungen gemacht? Ja, beides traf zu. Aber ich hatte schon länger darüber
gegrübelt, wie lange mein Arbeitsleben wohl noch dauern würde, und ich hatte mein
Einkommen im Fall eines unfreiwilligen Ruhestands überschlagen. Das Ergebnis war
ernüchternd. Ich würde im Alter deutlich ärmer sein, als ich es mir früher einmal
erhofft hatte. Danach war auch mir klar: Die Senioren in Deutschland hatten guten
Grund, ihre politischen Interessen zu bündeln. Und die reiferen Jahrgänge machten
40 Prozent der Bevölkerung aus. Warum sollten also die IG SENIOREN nicht 15 bis
25 Prozent der Wähler für sich gewinnen können?
Parteigründungen gelingen immer noch am ehesten dann, wenn sie ein
Empörungspotential aufgreifen. So war es auch hier. Zwei Ereignisse hatten das
Empörungspotential der Älteren wachsen lassen. Das eine war die Ankündigung der
Unionsparteien, dass sie das Renteneintrittsalter demnächst für alle auf 72 Jahre
anheben wollten. Das andere Ereignis war eine von den Deutschen
Arbeitgeberverbänden beauftragte Studie zur Leistungsfähigkeit älterer
Arbeitnehmer.
Ein Ergebnis der Studie war, dass Siebzigjährige im Durchschnitt fast 40 Prozent
weniger leistungsfähig seien als 50-jährige. Längst nicht in allen Berufen sei das so,
aber eben doch im Durchschnitt. Dabei gehe es nicht nur um rein quantitative
Leistungsfähigkeit, sondern es gehe auch um Arbeitshinhalte. Viele Ältere, so die
Studie, wünschten sich weniger belastende Arbeit und flexiblere. Auch das aber sei
als Minderung der Leistungsfähigkeit zu deuten, und es werde durch
altersspezifische Stärken wie höhere soziale Kompetenz meist nur teilweise
kompensiert. Trotzdem, so die Studie, beanspruchten fast alle Älteren das gleiche
Arbeitsentgelt wie jüngere Kollegen.
229
Das Fazit der Arbeitgeber: Die meisten Älteren seien überbezahlt, und es würden
immer mehr. Das aber könnten viele Unternehmen sich nicht mehr leisten, es
untergrabe ihre Wettbewerbsfähigkeit. In Sachen Beschäftigung älterer Arbeitskräfte
dürfe die Politik daher nicht zu viel erwarten, es sei denn, die Alten übten massiven
Lohnverzicht.
Die Studie empörte natürlich fast alle älteren Arbeitskräfte, und die Empörung zog
sich durch fast alle Medien. Von Gefälligkeitsgutachten war die Rede, von der
Korrumpierbarkeit wirtschaftswissenschaftlicher Gutachter und von einer
Kriegserklärung der Arbeitgeber an ältere Arbeitnehmer. Damit war schon klar:
Wenn die IG SENIOREN es einigermaßen geschickt anstellte, würde sie bald fest in
der deutschen Politik etabliert sein. Dann aber wäre die deutsche Parteienlandschaft
endgültig hoffnungslos zersplittert. Dann wäre endgültig das Ende der relativen
politischen Stabilität gekommen, die Deutschland lange vor Schlimmerem bewahrt
hatte.
Einige Monate nach Gründung der IG SENIOREN fragte ich Constanze, was sie zu
der aufgebrachten Stimmung der Senioren zu sagen habe.
Sie zögerte mit der Antwort. Verständnis habe sie schon dafür, sagte sie schließlich,
aber jetzt helfe keine Empörung mehr, jetzt ereile die gealterte Generation Sichtflug
ihr Schicksal. Geholfen hätte es nur, wenn die Senioren von heute sich schon in
jungen Jahren politisch engagiert hätten, vor allem natürlich bevölkerungspolitisch.
Nun aber sei dies eines der Probleme, die zwei Politikergenerationen verschlafen
hätten.
Dann fragte ich sie noch, was sie von dem Gutachten der Arbeitgeber halte. Ob die
Leistungsfähigkeit im Alter wirklich so zurückgehe.
– So bitter es ist, sagte sie, aber es kommt der Wahrheit ziemlich nahe.
- Dass die meisten Älteren eigentlich überbezahlt sind? Das soll wahr sein?
- Man kann es so sagen.
230
Wie sie das denn wissen könne, fragte ich. Ob sie dafür Belege habe.
Das nicht, sagte sie, aber es entspreche ihrer Erfahrung.
Etwas in mir sperrte sich gegen diese Gedanken, so sehr ich Constanzes Urteil auch
vertraute. Musste ich mich wirklich auch damit noch befassen? Hauser, Tian, nun
auch Constanze – hatten sie mich nicht in ein Gedankendickicht verstrickt, das mir
langsam den Atem nahm? War nicht alles viel zu kompliziert geworden? Hatte ich
mich hoffnungslos verzettelt? Und schließlich kam mir noch in den Sinn: Müssten
die meisten Politiker es nicht ganz ähnlich empfinden?
Zum Glück war es ein lauwarmer Sommerabend. Ich ging ich auf den Balkon, legte
mich auf den Liegestuhl, schloss die Augen und ließ mich von den letzten Strahlen
der untergehenden Abendsonne wärmen. Aber auch das half nicht. Nach wenigen
Minuten waren meine Gedanken wieder bei dem Gespräch mit Constanze, und ich
fing an, in mich hineinzuhorchen. Wie viel von meiner Leistungsfähigkeit hatte ich
als später Mittfünfziger schon eingebüßt? Wie viel würde ich noch einbüßen, wenn
ich noch mehr als anderthalb Jahrzehnte als Archivleiter weiterarbeitete? Könnte ich
die gleiche Arbeit in 16 oder 17 Jahren überhaupt noch tun? Und würde ich es
wollen? Und würde der Verlag es wollen? Oder würde der Verlag schon bald einen
Jüngeren an meine Stelle setzen wollen, der den Zenit seiner Leistungsfähigkeit noch
vor sich hat?
Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht. Eine Stunde später, kein Sonnenstrahl
erreichte mehr meinen Balkon, weckte mich die beginnende Abendkühle. In meinem
Kopf spürte ich Leere. Es tat mir gut.
Neue Hoffnungsträger
Zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte gab es einige auf den ersten Blick
unscheinbare Ereignisse, die bei genauem Hinsehen dennoch große Veränderungen
vorausahnen ließen.
231
Dass in der Politik vorausschauender und kühner gehandelt werden müsse denn je,
das war kein neuer Gedanke, aber neu war, dass einige Wenige sich ganz diesem
Gedanken verschrieben. Eine Handvoll Menschen nur, die noch nicht einmal große
Ideen hatten, aber jeder von ihnen ragte auf seine Weise heraus, nicht nur in
Voraussicht, sondern auch in Tatkraft oder in Reichtum oder in beidem.
Auch dass Reiche oder Superreiche Stiftungen gründen, um sich als politische
Wohltäter darzustellen, war nichts Neues. Davon gab es schon in der ersten
Jahrhunderthälfte vermutlich mehr als in der gesamten vorherigen
Menschheitsgeschichte. Stifter verfolgen dabei aber nicht nur uneigennützige Ziele.
Viele versammeln in ihren Stiftungen politische, kulturelle und wissenschaftliche
Prominenz, deren Glanz und Renommee auf sie abstrahlen soll. So kommen in
solchen Stiftungen oft die üblichen Verdächtigen zusammen, zu einem nicht
geringen Teil ehemalige hohe Amtsträger, in ihren Meinungen leicht berechenbare
Persönlichkeiten also, denen sich dort für ihre vorhersehbaren Meinungen noch
einmal ein dankbares Forum bietet. Bei den Stiftern und anderen Reichen, von denen
hier die Rede sein soll, war es ganz anders. Sie hatten anderes im Sinn, als
bestehenden Stiftungen eine gleichartige hinzuzufügen.
Die große Zeit des Katalanen Xavi Puig waren die dreißiger Jahre gewesen. Puig, ein
exzentrischer Modedesigner, geboren Anfang der neunziger Jahre, hatte als junger
Mann in Barcelona ein kleines Modeunternehmen gegründet, hatte in den zwanziger
Jahren mit seiner Mode wie kaum ein anderer den Nerv der Zeit getroffen und in den
Dreißigern eines der größten Online-Modehandelsunternehmen der spanisch- und
portugiesischsprachigen Welt aufgebaut. Kurz vor der Jahrhundertmitte verkaufte er
sein Unternehmen an die von den Samwer-Brüdern gegründete deutsche Zalando
und deren Muttergesellschaft. Nun war er hundertfacher Multimillionär im
vorzeitigen Ruhestand.
Puig hatte sich bis dahin um Politik wenig gekümmert. Er war Pazifist, ansonsten
interessierte ihn nur Eines wirklich: Die Unabhängigkeit Kataloniens. Diesem Ziel
vor allem wollte er für den Rest seines Lebens dienen, er wusste nur nicht, wie. Also
232
zweigte er von seinem Reichtum erst einmal ein paar Millionen für eine neue
Stiftung ab. Ihr Name: Fundació per a la Independència Política. Das Weitere,
hoffte Puig, werde sich dann rasch ergeben.
Im Frühjahr 2051 veranstaltete die Stiftung ihr erstes offenes Seminar. Das Thema:
Unabhängigkeitsbewegungen in Europa vom 19. Jahrhundert bis heute. Dass bei
diesem Seminar auch der junge Kanadier Robert Yang auftauchte, war einer jener
Zufälle, über die Historiker später einmal schreiben, dass sie die Welt hätten
verändern können.
Robert Yang war studierter Anthropologe, Anfang dreißig, finanziell unabhängig.
Ein geborener Aktivist. Einer, der nur wenige Sätze brauchte, um Menschen zu
überzeugen, dass er Wichtiges zu sagen habe. Einer, der andere mit seiner
Begeisterung mitreißen konnte. Ein grandioses Talent auch als Politiker, aber dafür,
hieß es, habe er sein Talent nicht verschwenden wollen.
In einem seiner ersten veröffentlichten Artikel hatte Yang sich mit der Geschichte
des Club of Rome befasst. Dieser habe im vorigen Jahrhundert viel für die
öffentliche Bewusstseinsentwicklung getan, das verdiene allerhöchsten Respekt, aber
man müsse auch eingestehen, dass er die politische Praxis kaum beeinflusst habe.
Die Welt sähe anders und besser aus, wenn die Politik auf den Club of Rome gehört
hätte, aber das habe sie nicht getan. Eigentlich habe der Club of Rome sich das von
vornherein denken können.
In seiner Wirkungslosigkeit sei der Club of Rome nämlich, so Yang, ein Beispiel von
vielen, genauer gesagt, ein Beispiel für fast alle anderen. Die letzten hundert Jahre
hätten gezeigt, wie erschütternd wenig vergleichbare zivilgesellschaftliche Initiativen
für die politische Praxis bewirkt hätten. In solchen Organisationen halte man viele
Reden zum Fenster hinaus und schreibe unendlich viele engagierte Texte, aber wer
höre dabei eigentlich zu? Wenn politische Entscheider überhaupt auf solche
Initiativen hörten, dann täten sie es meistens nur pro forma. Die Welt brauche daher
233
keinen neuen Club of Rome und auch keine neuen Protestinitiativen der bisher
bekannten Art. Zivilgesellschaftliches Engagement müsse ganz neu gedacht werden.
Seine Schlussfolgerung war bestechend, aber vorerst auch abstrakt. Immer noch und
immer wieder würden moralisch zwingende politische Forderungen – an oberster
Stelle sah er den Klimaschutz – auch von demokratischen Regierungen, Parlamenten
und Parteien zumindest grob vernachlässigt, allen hehren Proklamationen auf
internationalen Konferenzen zum Trotz. Das zeige, dass diese Adressaten
Jahrhundertaufgaben wie dem Klimaschutz generell nicht gewachsen seien,
moralisch oder fachlich oder beides nicht. Daher müsse man sich überlegen, ob man
sich an diese Adressaten überhaupt noch wenden solle.
Nein, war Yangs Antwort, man müsse viel grundsätzlicher ansetzen. Man müsse erst
einmal dafür kämpfen, dass kompetentere politische Adressaten geschaffen werden,
und das heiße: für einen Wandel der politischen Ordnung. Dies würde zwar ein
langwieriger Kampf sein, aber wenigstens einer, der Wirkung verspricht. Auf dieses
Ziel, auf eine grundlegende Reform des Staates also, sollte zivilgesellschaftliches
Engagement daher vorrangig gerichtet sein.
Mit dieser anspruchsvollen Botschaft begann Yang seine Mission. Er gab ihr einen
kühnen Namen: World Upgrade.
Musste nicht, wer seiner Mission einen solchen Namen gibt, größenwahnsinnig sein?
So dachten zu Anfang viele, aber Yang strahlte alles andere als Größenwahn aus.
Fast jeder andere wäre wohl mit einem Projekt wie World Upgrade belächelt
worden. Yang nicht.
Yang war nicht nur ein begnadeter Aktivist, er war auch ein begnadeter Stratege. Er
wusste, dass hinter fast jedem politischen Engagement eine Ideologie lauerte. Wer
eine zivilgesellschaftliche Organisation zu schnell aufbaue, war sein Credo, und
dabei zu schnell zu viele Mitstreiter anziehe, der versammele um sich einen
Flickenteppich politischer Vorurteile. Daher legte er sich strenge Regeln auf. Zwei
der wichtigsten: Lass die Organisation langsam wachsen. Und: Rede vorerst nie vor
234
mehr als zehn Personen und nur ausnahmsweise vor Leuten, die älter sind als du
selbst. Erstaunlich, wie lange er sich daran hielt.
Yang war gelernter Umwelt- und Klimaaktivist, aber nun hatte er eine kompliziertere
Botschaft. Unsere alten politischen Adressaten hören uns nicht zu, also brauchen wir
neue – diese Botschaft riss die Zuhörer auch aus Yangs Mund nicht gerade von den
Stühlen. Zu oft konnte er auch Fragen hierzu nicht überzeugend beantworten, zu oft
waren Zuhörer seiner kleinen Seminare enttäuscht. So war es ihm gerade wieder in
London ergangen.
Was dann geschah, beschrieb Yang viele Jahre später in seiner mit viel Selbstironie
geschriebenen unvollendeten Autobiographie "Mal eben die Welt verändern" so:
Nach dem Seminar in London, spätabends im Hotel an seinem Laptop, stieß er
zufällig auf die Website von Puigs Stiftung. Fundació per a la Independència
Política, Stiftung für politische Unabhängigkeit, das klang vielversprechend. Für
politische Selbstbestimmung hatte Yang sich schon lange interessiert. Aber
verschlossen die politischen Entscheider nicht auch hiervor die Augen? Verweigerten
sie sich nicht auch immer wieder dem zivilgesellschaftlichen Engagement für
politische Unabhängigkeit? Hatten seine Word Upgrade und die Fundació per a la
Independència Política es also letztlich mit dem gleichen Problem zu tun? Würden
sie einander daher nicht sinnvoll ergänzen und stärken können?
Auf der Website von Puigs Stiftung war für den nächsten Abend das Seminar über
europäische Unabhängigkeitsbewegungen angekündigt. Eine Gelegenheit, dachte
Yang sofort, die er sich nicht entgehen lassen dürfe. Sein nächstes Reiseziel war
Paris, nun buchte er kurz entschlossen um für einen Zwischenstopp in Barcelona.
Vom Flughafen El Prat fuhr er direkt zum Seminargebäude der Stiftung.
– Ist Xavi Puig hier?, fragte er ohne Umschweife, als er kurz vor Beginn des
Seminars eintraf. So machte er es überall. Er war keiner, der sich hintanstellte,
keiner, der sich in zweiter Reihe einordnete. Wenn er Kontakte knüpfte, dann immer
auf höchstmöglicher Ebene.
235
– Ja, war die Antwort, warten Sie, er wird gleich hier sein.
Yang hatte sich in den Stunden davor gründlich auf das Gespräch mit Puig
vorbereitet. Gleich nach der Begrüßung lobte er die Zielsetzung von Puigs Stiftung.
Er selbst sei vor allem Umwelt- und Klimaschutzaktivist, aber die Website der
Stiftung habe ihm die Augen für ein ganz anderes Themenfeld geöffnet.
Dann, nach diesem einleitenden Lob, forderte er Puig schon heraus. Er frage sich
allerdings, fuhr er fort, ob eine Bewegung, die Unabhängigkeitsbewegungen
unterstütze, nicht auch eine Gefahr sei. Eine solche Bewegung trage womöglich dazu
bei, Grenzkonflikte zu schüren, und Grenzkonflikte seien im Lauf der Geschichte
selten friedlich verlaufen.
Das, antworte Puig seelenruhig, wisse er natürlich aber gerade das sei doch ein
schlimmes Politikversagen. Seine Stiftung solle helfen, den Gründen für dieses
Versagen auf die Spur zu kommen. Wenn das gelinge, dann würden sich
Grenzkonflikte in Zukunft leichter friedlich lösen lassen.
– Ganz hervorragend!, fiel ihm Yang dann schon ins Wort. Genau das hatte ich mir
von Ihnen erhofft.
Dabei sah er Puig mit festem Blick in die Augen und reichte ihm die Hand. Ein
Händedruck, wie um Freundschaften zu besiegeln.
Puig schwieg einen langen Moment mit gesenktem, fast nachdenklichem Blick, dann
sah er auf und erwiderte Yangs festen Händedruck.
– Ich muss mich hier um Gäste kümmern. Sehen wir uns morgen wieder?, fragte er.
Morgen Abend hier zur selben Zeit?
Yang nickte mit seinem gewinnenden, ansteckend strahlenden Lächeln.
Zurück im Hotel, buchte seinen Flug nach Paris noch einmal um.
Am nächsten Abend begann er das Gespräch mit Puig ohne lange Vorrede. Er habe
seine Sache am vorigen Abend wohl etwas überstürzt vorgetragen, er müsse das
natürlich erst einmal erklären. Im Kern gehe es um dies: Ihrer beider Anliegen,
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seines und Puigs, Klimaschutz und politische Unabhängigkeit, hätten, das sei auch
ihm erst in den letzten Tagen klar geworden, elementare Gemeinsamkeiten. Er
glaube sogar, dass die Bewegungen für Klimaschutz und politische Unabhängigkeit
global zusammenwachsen könnten. Nicht nur seines, auch Puigs Anliegen pralle ja
an den politischen Adressaten, an den Regierungen und Parlamenten dieser Welt,
immer wieder folgenlos ab, und es sei nicht abzusehen, dass sich das von allein
ändern werde. Die Schlussfolgerung daraus könne nur sein, dass die Adressaten, die
solche Anliegen in gute Politik umsetzen, erst noch geschaffen werden müssten.
Daher müssten Unabhängigkeits- und Klimaschutzbewegungen, müssten also sie
beide, Puig und er, mit dem Engagement viel elementarer anfangen, nämlich bei
politischen Systemfragen.
Von da an duzte er Puig:
– Xavi, aus deiner Stiftung kann etwas ganz Großes werden. Lass uns
zusammenarbeiten.
Puig sah Yang einen langen Moment wortlos an, als unterdrücke er ein
Kopfschütteln, dann machte er eine abwinkende Handbwegung.
Nein, sagte er schließlich. Nein, als Systemveränderer fühle er sich bisher nicht,
dafür sei er, das könne Yang sich ja denken, auch schon zu alt. Dass ein so großes
Ziel erreicht werde, ein politischer Systemwandel, das werde er ohnehin nicht mehr
erleben.
Darauf Yang:
– Kommt es denn darauf an? Wer Großes bewegen will, muss auch über die eigene
Lebenszeit hinausdenken.
Puig fand noch einige anerkennte Worte, lobte Yang für seine mutige Zielsetzung
dankte ihm für sein Kommen und verabschiedete sich höflich.
– Wir bleiben in Kontakt, konnte Yang noch sagen, und Puig dabei seine
Visitenkarte von World Upgrade zustecken.
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Yang ließ sich keine Enttäuschung anmerken. Er machte einen langen Spaziergang
durch das Barri Gòtic, bis ihn Müdigkeit überkam, dann ließ er sich mit dem Taxi in
sein kleines Hotel nahe dem Parc Güell fahren.
Als er in die Hotellobby eintrat, klingelte sein Handy.
Puigs Stimme. Ob Yang so spät am Abend doch noch etwas Zeit für ihn habe.
Eine Viertelstunde später trafen sie sich in der Hotelbar. Dabei strahlte der alte Puig
Yang so energiegeladen an, dass alle Müdigkeit sofort verflog.
Puig war ein Mann von südländischer Redseligkeit. Ganz anders Yang. Yang war ein
guter Redner, aber auch ein begnadeter Zuhörer. Er wusste genau, wann stilles
Zuhören am besten half, wann das Reden, wann das Fragenstellen. Gezielt fragen,
dann gut zuhören, so machte er es auch jetzt:
– Vom Modeunternehmer zum Kämpfer für politische Unabhängigkeit, das ist
wirklich eine großartige Lebensgeschichte. Wie kam es dazu?
Genau das Thema, dem Puig am wenigsten widerstehen konnte.
Eigentlich, begann er, habe er Modedesigner werden wollen, besser gesagt,
Modeschöpfer, nicht irgendeiner, sondern ein großer, ein katalanischer, also ein
großer katalanischer Modeschöpfer. Er habe den Menschen mit seiner Mode etwas
geben wollen, das sie stolz macht, etwas, mit dem sie ihr Lebensgefühl ausdrücken
können, ihre Individualität, ihre Zugehörigkeit zu ähnlich gestimmten Menschen, mit
dem sie sich aber auch von anderen abgrenzen könnten. Diese Bedürfnisse, sagte er,
spielten eine immer größere Rolle, weil die Welt ansonsten immer anonymer und
gleichförmiger werde. Wirklich gute Mode helfe, diesen Bedürfnissen auf
vergnügliche Art nachzukommen.
Als Modedesigner sei er dann aber leider nicht gut genug gewesen. Gut sei er schon
gewesen, aber es habe einfach zu viele gegeben, die noch besser waren. Wenn er die
beste Mode seiner Zeit nicht kreieren könne, habe er sich dann gesagt, dann wolle er
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wenigstens mit ihr handeln. Eine zweitbeste Lösung, wenn auch weit ab von seinen
früheren Lebensträumen. Seinen großen Lebenstraum habe er sich also nicht erfüllt,
aber immerhin ein Riesenvermögen gesammelt, und nun wolle er das tun, was andere
reiche Unternehmer auch getan hätten: sich mit seinem Geld einen anderen Traum
erfüllen.
Yang wundere sich vielleicht, fuhr er fort, wie er, Puig, von der Mode auf die
politische Unabhängigkeit gekommen sei, aber je älter er geworden sei, desto
wichtiger sei ihm die Frage der Unabhängigkeit geworden. Und irgendwann habe er
dann auch verstanden, dass Unabhängigkeitsbewegungen und Mode viel miteinander
gemein hätten.
Dabei sah er Yang an, wie um sich dessen Verblüffung zu vergewissern.
– Das musst du mir erklären, sagte Yang.
Mode, fuhr Puig fort, sei, wie gesagt, eben nicht etwas rein Individuelles, mit Mode
drückten Menschen auch Zugehörigkeiten und Abgrenzungen aus. Mode verbinde
Menschen, aber sie unterscheide sie auch. Und genau darum gehe es auch bei
Unabhängigkeitsbewegungen, auch der katalanischen. Es gebe ein
Zusammengehörigkeitsgefühl der Katalanen, wozu auch das Gefühl gehöre, keine
Spanier zu sein oder wenn, dann anders als die eigentlichen Spanier. Die Katalanen
wünschten sich, dass dies auch in der Politik seinen Ausdruck finde.
Dieses Bedürfnis der Katalanen, sagte er dann, – er nannte es ein Bedürfnis nach
Identifikation – sei überhaupt nichts Aggressives, es sei im Gegenteil etwas ganz und
gar Friedliches, aber dieses Bedürfnis nicht ausleben zu dürfen schüre nun einmal
Unmut, und anderswo in der Welt sei ja zu beobachten, wie leicht solcher Unmut
aggressiv werden kann. Sein Traum sei, dass Staatsbürger Zusammengehörigkeitsund Abgrenzungsbedürnisse künftig überall auf der Welt so harmlos und friedlich
ausleben könnten, wie Menschen es mit der Mode täten. Dann würde der Staat im
besten Fall wie ein Verein Gleichgesinnter, in dem niemand gegen seinen Willen
Mitglied ist. Dann könnten alle Bürger sagen: Hier ist das Staatsoberhaupt, die
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politische Identifikationsfigur, die Armee, die Währung, der Sozialstaat, die wir uns
ausgesucht haben.
Yang schloss kurz die Augen und nahm sich eine Denkpause. Dass Mode und
politische Unabhängigkeit sich so zusammendenken ließen, verblüffte sogar ihn, aber
unsympathisch war ihm der Gedanke nicht.
– Aber, fragte er dann – und dabei sah er Puig mit hellwachem Blick an -, welche
Rolle spielt bei all dem das Geld?
Puig schmunzelte.
– Eine immer größere, sagte er. Für große politische Veränderungen war früher
meistens Gewalt nötig. Heute versuchen wir es ohne Gewalt. Stattdessen ist aber
immer mehr Geld nötig. Dir wird es nicht anders gehen.
Puig legte seine Hände flach auf die Knie und sah Yang schweigend an, als habe er
alles gesagt, was er ihm an diesem Abend hatte sagen wollen. Dann stand er auf und
reichte Yang beide Hände zu einem herzlichen Abschied.
Über Puigs "Dir wird es nicht anders gehen" grübelte Yang noch lange nach, auch
auf dem Weiterflug nach Paris. Dass Katalanen, Schotten, Flamen und andere
Europäer wohl kaum zu den Waffen greifen würden, um ihre politische
Unabhängigkeit zu erkämpfen, das war klar, aber über die Rolle des Geldes in
politischen Veränderungsprozessen hatte er noch kaum nachgedacht. Natürlich, auch
das wusste er, hatten die Veränderungsverweigerer es im Zweifel leichter. Sie
konnten den Staatsapparat für sich einspannen, sie beherrschten die Regierungen und
Parlamente, sie beeinflussten die Medien und sogar Verfassungsgerichte. Wer große
Veränderungen wollte, der musste dem etwas Wirkungsvolles entgegensetzen. Aber
was? Puig schien überzeugt, dass das ohne Einsatz von viel Geld unmöglich war.
War also Yangs eigene globale Initiative schon aus Geldmangel aussichtslos? So
aussichtslos wie die zahllosen kleinen und großen zivilgesellschaftlichen Initiativen,
denen Yang sich bis dahin konzeptionell überlegen fühlte?
240
Mit Zweifeln solcher Art plagte ein Yang sich nicht lange. Noch vor der Landung in
Paris kam ihm dann der Gedanke: War Puigs Bemerkung vielleicht ein verstecktes
Angebot? Meinte er: Wenn du, Yang, irgendwann merkst, dass du ohne viel Geld mit
deiner globalen Initiative nicht vorankommst, dann melde dich? Ausschließen
mochte Yang das nicht. Aber wie sollte er es anstellen? Würde er einfach Puig bitten,
eine Millionensumme auf das Konto von Global Upgrade zu zahlen? Nein, wusste er,
so einfach durfte er es sich nicht machen. Puig, dem Ex-Unternehmer, würde er ein
Konzept präsentieren müssen, kein theoretisches, sondern ein Handlungskonzept.
Eines, das sich nicht in Protest erschöpft.
Yang brauchte danach nur wenige Tage, um einen ersten Aktionsplan zu ersinnenen.
Aber Ungeduld zeigen, überlegte er, das würde jetzt der größte Fehler sein. Puig
würde nach ihrem Treffen erst einmal seine Gedanken sortieren müssen, und
vielleicht würde er noch Fragen haben. Yang entschied sich abzuwarten.
Ein paar Wochen später schickte Puig dann diese Mail:
Lieber Robert,
ich brauchte Zeit, über deine Ideen nachzudenken. Inzwischen frage ich mich, warum
ich nicht schon selbst darauf gekommen war. Ja, wir brauchen für unsere Anliegen –
auch in der Frage der politischen Unabhängigkeit – neue politische Adressaten.
Besseres also als Regierungen, Parlamente und Parteien, wie wir sie bisher haben.
Das ist – ich scheue den Begriff noch immer – die Systemfrage. Bin aber sehr
gespannt, was aus diesem Gedanken noch wird.
Einige Tage später mailte Yang zurück: Der katalanischen
Unabhängigkeitsbewegung würde es sicher helfen, wenn das politische
Unabhängigkeitsstreben weltweit mehr Anerkennung fände. Ob es nicht
überlegenswert sei, dass auch Puigs Stiftung global tätig werde. Und dass sie sich
dafür einen englischen Namen gebe, z.B. Foundation for Political SelfDetermination. Mit Konkreterem, schloss Yang, melde er sich später.
241
Yang traute seinen Augen nicht, als er schon nach wenigen Tagen Puigs Antwort
bekam:
– Einverstanden mit Foundation for Political Self-Determination. Du musst es aber
selbst auf den Weg bringen. Geld steht bereit.
Ganz, das war Yang klar, hatte er Puig damit noch nicht für sich gewonnen. Er
schickte erst einmal – aus Peking, er sei gerade unter Zeitdruck – nur eine kurze
Dankesmail, die das Gefühl der Verbundenheit stärkte.
Das Konkretere, zu dem er Puig auf später vertröstet hatte, konnte auch ein Yang
nicht über Nacht zu Ende denken, dafür hatte er sich mit den Problemen der
politischen Unabhängigkeit noch zu wenig befasst. Er brauchte Monate, bis er
schließlich darauf stieß, dass schon für Referenden über politische Unabhängigkeit
neue Konzepte gebraucht würden. Unabhängigkeitsbewegungen, das verstand er
jetzt, sollten – möglichst auch ohne Mithilfe des Staates – Referenden über die
Unabhängigkeit abhalten können, wann immer sie wollten. Und dies würde natürlich
am leichtesten mit Online-Referenden möglich sein.
Für solche neuartigen Online-Referenden würden, wenn sie mindestens so genau und
fälschungssicher sein sollten wie herkömmliche Wahlen, ein neues Verfahren und
neuartige Software zu entwickeln sein. Also brauchte Yang einen Partner für eine
solche Entwicklung. Er wusste, dass auf diesem Gebiet indische Firmen zu den
besten und günstigsten der Welt gehörten, und eine dieser Firmen kannte er sogar.
Sie gehörte Prabas, einem Studienfreund aus Standford. Yang nahm sofort mit
Prabas Kontakt auf. Ein paar Wochen später, nach vielen langen Telefonaten, wusste
er: Eine erste Testversion solcher Software wird mindestens zwei Millionen Dollar
kosten. Aber er wusste auch: Es kann gelingen.
Wäre Puig, überlegte er, nicht mit dem Vorschlag zu begeistern, Katalonien zur
Testregion für eine solche neue Software zu machen? Ja, so schien alles
zusammenzupassen. Er schickte Puig dazu eine lange Mail. Und wieder antwortete
Puig sehr rasch: Für die Gründung der Foundation for Political Self-Determination
242
stelle er eine Million Dollar, für die Entwicklung der Referendums-Software weitere
zwei Millionen bereit. Das sei weniger als ein Hundertstel seines Vermögens, so viel
sei ihm der Versuch allemal wert.
Zwei plus eine Millionen! Ein paar hunderttausend hatte Yang für sein Global
Upgrade Projekt bisher eingesetzt, und nun plötzlich die Aussicht auf so viel Geld.
Seine Gedanken überschlugen sich. Was würde jetzt alles machbar sein? Aber er
wusste auch: Er musste kühlen Kopf bewahren.
Rentnerrevolution?
Menschen altern in Schüben. Es gibt diese Momente, wo man in den Spiegel schaut
und bemerkt, dass man plötzlich älter geworden ist, dass plötzlich Falten sind, wo nie
welche gewesen waren, und graue Haare, wo man sie nie gesehen hatte. Aber es
geschieht auch, dass man Freunde gleichen Alters trifft und denkt: Mein Gott, sind
die alt geworden, und dass man sich danach selbst im Spiegel anschaut und denkt:
Wie viel älter als ich sehen die aus, die Gleichaltrigen, die Freunde von früher.
Mein Gott, wie ist sie gealtert, das war auch mein erster Gedanke, als ich Constanze
nach einigen Jahren wiedersah. Wenn ich früher Hauser getroffen hatte, war es für
mich immer eine Bestätigung meines Jungseins gewesen, aber das Jüngersein fühlte
sich in seiner Gegenwart immer auch an wie Unreife. Und Constanze? War sie seit
unserer letzten Begegnung wirklich viel schneller gealtert als ich, und wenn, war sie
mir dann auch in Reife weiter enteilt? Ich sah noch einmal genauer hin. Mein Gott,
wie gereift sie aussah!
Aber wie unreif war es von mir gewesen, etwas anderes zu erwarten. Wir waren ja
wirklich alt. Sie war dem Rentenalter noch einige Jahre näher als ich, aber auch ich
war nicht mehr weit davon entfernt. Plötzlich kam mir die Erinnerung an ein
Gespräch mit Hauser, in dem er über die Freiheit des Denkens im Ruhestandsalter
gesprochen hatte. Wer, wenn nicht Pensionäre, ist in diesen Zeiten frei im Denken,
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so ähnlich hatte er es gesagt. Und weiter: Wer, wenn nicht Pensionäre, soll in diesen
Zeiten Neues denken?
Dann hatte ich gefragt, ob er etwa an eine Rentnerrevolution denke, und er hatte
geantwortet, dass das ein schöner, ein konstruktiver Gedanke sei.
Und nun waren wir, Constanze und ich, fast in dem Alter, in dem Hauser die
Gendankenfreiheit des Alters gepriesen und die Rentnerrevolution einen
konstruktiven Gedanken genannt hatte. Ich musterte Constanze erneut. Ja, ihre
Ausstrahlung passte dazu.
Und ich? War ich auch nur im Entferntesten in eine solche, eine hausersche Rolle
hineingewachsen? Nein, dachte ich dann, das bist du nicht, und nein, du kannst es
nicht. Aber dann auch: Sollte ich es vielleicht, in aller Bescheidenheit, doch noch
versuchen? Würde Hauser das nicht sogar hoffen?
Constanze und ich saßen im Restaurant des kleinen Hotels in Charlottenburg, in
dessen Nachbarschaft ich in meinen jungen Berliner Jahren gewohnt hatte. Ich ließ
sie erzählen. Wie ihr Leben sich in den letzten Jahren verändert hatte, wie für ihre
Firma die Konkurrenz immer erdrückender geworden, wie ihre Beratungen immer
weniger gefragt gewesen seien und danach auch ihre Seminare, und wie schließlich
ihr Mann an Parkinson erkrankt sei.
– Nein, keine Panik, auch kein Mitleid, sagte sie dann harsch, als sie meinen
bestürzten Gesichtsausdruck sah. Mitleid sei das Letzte, was auch ihr Mann sich
wünsche, mit seiner Krankheit gehe er souverän um, ja geradezu bravourös.
Ihr Blick sagte mir, dass sie darauf keine Antwort wollte. Dann wechselte sie rasch
das Thema. Seit ein paar Jahren, sagte sie, arbeite sie als Coach für Führungskräfte
aus Wirtschaft und Wissenschaft, alles andere habe sie aufgegeben. Das sei wie ein
neues Leben, ein besseres für sie und für ihren Mann.
Wie das denn gehe, fragte ich, wie man so schnell einen solchen Sprung vom
Seminargeschäft zum Coaching schaffe.
244
Ihre Antwort: Das sei eine Frage der Willenskraft.
Dabei horchte ich auf ihre Stimme. Solange ich sie kannte, war die Stimme ihre
große und vielleicht einzige Schwäche gewesen. Nun klang sie anders. Noch immer
unverwechselbar, aber nun passte die Stimme zu ihrem gealterten Gesicht. Immer
noch markant, auch immer noch etwas aufreizend, aber mit einem Klang, der auch an
Altersmilde denken ließ.
Sie musterte mich, als läse sie meine Gedanken.
– Ja, sagte sie dann, ich habe Stimmentraining gemacht. Leicht war es nicht.
Wir sahen einander eine Weile mit vertrautem Schmunzeln an, dann erzählte sie
weiter, von ihren Klienten, von deren innerer Einsamkeit, der viele nicht gewachsen
seien, vom gegenseitigen Mobbing in Führungsetagen, vom Mobbing durch
Untergebene, von der Angreifbarkeit der meisten Führungsentscheidungen und vom
Balanceakte ihrer Klienten zwischen Entscheiden- und Sich-absichern-Müssen.
– Und die Wissenschaft?, fragte ich. Bei deinen Klienten aus der Wissenschaft ist es
sicher anders.
Anders schon, sagte sie, aber auch anders, als man es von außen vermute. Dann
erzählte sie vom sich ausbreitenden Burnout im vermeintlich beschaulichen
Elfenbeinturm der Wissenschaft, von der gegenseitigen Sprachlosigkeit zwischen
wissenschaftlichen Glaubensrichtungen und vom üblichen Leidensweg in der
wissenschaftlichen Politikberatung, der meistens vom Stolz auf das Gefragtsein über
die Einsicht in die eigene Wirkungslosigkeit letztlich zur Resignation führe.
Aber irgendwann, sagte ich, komme doch auch für ihre Klienten aus Wirtschaft und
Wissenschaft das, was Hauser die Gedankenfreiheit des Alters nannte. Ob das nicht
Hoffnung mache. Ob da nicht ein großes Potential an Kreativität und auch ein großes
Hoffnungs- und Sinnpotential lägen, auch wenn diese nur selten genutzt würden. Ob
nicht gerade von ihren Pflichten befreite Führungskräfte aus Wirtschaft und
Wissenschaft offen für das Neue seien und sogar Neuem den Weg bereiten könnten.
245
Das, sagte Constanze, wisse sie nicht, aber noch falle diese Vorstellung ihr schwer.
Als wir uns am nächsten Morgen zum Frühstück trafen, brachte ich das Gespräch
noch einmal auf die Freiheit des Denkens im Alter, und ich erzählte ich ihr, wie
Hauser dreißig Jahre vorher den Gedanken einer Rentnerrevolution gestreift hatte.
– Rentnerrevolution? Sie sah mit einem befreiten Lächeln an. Ja, ein schöner
Gedanke. Meinte er es ernst?
– Es kam sehr spontan, aber ein bisschen ernst war es ihm.
Sie sah mich mit ihrem selbstbewussten, einschüchternden Constanze-Cramer-Blick
an, fast wie damals.
– Dann wären wir jetzt dran, oder?, fragte sie in herausforderndem Tonfall. Müssen
wir jetzt das Neue denken?
– Ausgerechnet, sagte ich.
Constanze schloss für einen Moment die Augen, dann wechselte sie in einen bemüht
sachlichen Tonfall.
Auf jeden Fall, sagte sie, wachse den Älteren in unserer alternden Gesellschaft
immer mehr politische Verantwortung zu, schon weil sie die Mehrheit seien. Wenn
diese Mehrheit kaum Neues zu denken wage, dann sei es kein Wunder, wenn die
Jungen politisch resignierten.
Ob sie denn meine, fragte ich, dass sich an der politischen Gleichgültigkeit der
Jüngeren nichts ändern lasse.
– Wie denn?, fragte sie. Die Jüngeren sehen das politische Übergewicht der Älteren,
sie ahnen die Überforderung der Politiker, und außerdem spüren sie ihre eigene
Überforderung als Bürger. Was bleibt ihnen also, als abzuwarten, wie lange alles
noch einigermaßen gutgeht?
– Ist das wirklich dein Rat an die Jüngeren? Wäre das auch dein Rat an deine
Zwillinge?
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Nein, sagte sie, aber noch wisse sie keinen besseren Rat.
Später habe ich mich gefragt, wie anders dieses Gespräch wohl verlaufen wäre, wenn
wir damals schon gewusst hätten, dass ein junger tatkräftiger Kanadier in der Welt
unterwegs war, um eine globale Bewegung für politische Systemreformen
aufzubauen, und dass ein schwerreicher Katalane ein Vermögen für die
Weiterentwicklung politischer Unabhängigkeitsbewegungen gestiftet hatte.
Gefreut hätte es uns sicher, aber allein deswegen hätten wir die Zukunft noch nicht
viel rosiger gesehen.
Das Yang-Konzept
Robert Yang hatte seiner World Upgrade einen großen Namen gegeben, aber er tat
dennoch alles, um sie erst einmal klein zu halten. Als er mit Puig in Kontakt kam,
hatte die Bewegung kaum mehr als eine Hundertschaft registrierter Mitglieder in fünf
Ländern. Yang wollte keine Mitläufer, er wollte Leute, die begeistert sind und ihre
Begeisterung weitertragen. Er war überzeugt: Wenn die Bewegung fokussiert bleiben
wolle, dürfe ihre Mitgliederzahl sich jedes Jahr höchstens verdoppeln. Sein Ziel: in
sechs bis sieben Jahren etwa zehntausend engagierte Mitglieder sammeln. Danach
werde die Bewegung sich ganz von selbst ausbreiten, oder sie werde untergehen.
Yang – das unterschied ihn von den meisten politischen Aktivisten – war nicht nur
ein großes Organisationstalent, er erwies sich bald auch als Finanzstratege. Puigs
Millionen waren ein Anfang, aber brauchte eine Bewegung wie World Upgrade nicht
noch viel mehr Geld? Und verdiente sie es nicht? War sie nicht etwas viel Größeres
und Wichtigeres als die vielen kleinen Start-up-Unternehmen der Internetbranche,
die von superreichen Geldgebern mit Millionen überschüttet worden waren?
Natürlich war sie es, daran glaubte Yang, und er würde ihr alles nötige Geld
beschaffen.
Einer von Yangs Professoren in Stanford hatte über die anthropologischen
Grundlagen von Staatsverfassungen gelehrt. Wie wichtig Erkenntnisse über die
247
Natur des Menschen für das Verständnis von Staatsverfassungen sind, damit befasste
man sich damals nur in kleinsten akademischen Zirkeln, und in den Seminaren
hierüber trafen sich nur wenige Studenten. Hier lernte Yang, der angehende
Anthropologe, Claude Halsdorf kennen, einen Jurastudenten aus Luxemburg, der
sich auf Völkerrecht spezialisierte.
Yang und Halsdorf wurden enge Freunde. Halsdorf arbeitete nach seinem JuraAbschluss zuerst beim Europäischen Gerichtshof, dann für die Europäische
Kommission, dann wechselte er zu einer Großkanzlei in London, zu deren Klienten
auch große Kapitalanleger gehörten. Nach nur zwei Jahren, kurz nach seinem 34.
Geburtstag, machte Halsdorf sich dann selbstständig. Er hatte enge persönliche
Kontakte zu vielen Großanlegern geknüpft, genug, um den Schritt zur eigenen
Kanzlei zu wagen.
Halsdorf war ein Mann von eigensinnigem und doch wohltuend unscheinbarem
Auftreten. Hager, blass, mittelgroß, kräftiges langes, glattes Haar, Drei-Tage-Bart,
krawattenlos, schwacher Händedruck. Ein gefragter Vortragsredner wäre nie aus ihm
geworden, aber umso gefragter war er als Ratgeber in kleiner Runde. Wenn es, wie
meistens bei ihm, um sehr große Geldsummen ging, verlangte er Stargagen wie
Prominente für Vorträge in großen Sälen. Er sprach mit leiser, angenehm weicher,
aber auch dünner Stimme, die zu Millionen- und Milliardenbeträgen nicht zu passen
schien, aber auch im Flüsterton verlieh er seinem Rat großes Gewicht. Eingeweihte
nannte ihn bald den Milliardärflüsterer.
Im Umgang mit den Egomanen, die seine Milliardäre fast allesamt waren, war seine
Unscheinbarkeit ein großer Vorteil. Seine Klienten spürten: Da ist einer so
willensstark wie wir, aber er stiehlt uns nicht das bisschen Show, zu dem wir selbst
fähig sind. Und wir können ihm vertrauen. Er ist clever, aber vor seiner Cleverness
müssen wir nicht auf der Hut sein. Er spürt Ideen und Ideengeber auf und legt sie uns
zu Füßen.
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Dass sein früherer Freund Halsdorf sich einen Ruf als Milliardärflüsterer erworben
hatte, davon erfuhr bald auch Yang. Puigs Millionen für die Software für
Unabhängigkeitsreferenden, das hatte sich inzwischen herausgestellt, würden nicht
annähernd reichen. Sie würden reichen für eine Demo-Version für ein
Probereferendum, aber das war Yang natürlich zu wenig. Also dachte er über neue
Geldquellen nach. Puigs Millionen hatten geholfen, aber eine globale Bewegung, wie
er sie im Sinn hatte, könnte irgendwann auch Milliarden brauchen. Was lag also
näher, als wieder den Kontakt zu Halsdorf zu suchen?
Yang arrangierte ein Treffen mit Halsdorf in London, in einem kleinen
Konferenzraum am Flughafen Heathrow. Beide waren auf der Durchreise, ihnen
blieben nur wenige gemeinsame Stunden, aber es war ein herzliches Wiedersehen.
Yang erzählte über die Entwicklung von World Upgrade und wie Puig ihm schon
nach der ersten Begegnung ein paar Millionen Sponsorengeld angeboten hatte.
Danach schob er Halsdorf den Vorentwurf einer Weltbroschüre über World Upgrade
hin, in der auch die Foundation for Political Self-Determination vorgestellt wurde.
– Schau's dir mal an. Für einen Juristen vielleicht etwas zu kühn, aber so ähnlich soll
es werden.
Halsdorf blätterte die Seiten kurz durch, fing an zu lesen, stellte wenige kurze
Fragen, dann legte er die Blätter wieder vor sich auf den Tisch.
– Noch kühner, als ich es von dir erwartet hatte. Aber hoch interessant.
Ob Halsdorf sich vorstellen könne, fragte Yang, dass ein europäischer Milliardär sich
dafür interessieren würde, als Sponsor. Aber im selben Moment hob er die Hände,
wie erschrocken über sich selbst, als wolle er die Frage zurücknehmen. Nein, sagte er
dann hastig, so direkt meine er das nicht, aber einen zweiten Puig könne das Projekt
trotzdem gut gebrauchen.
– Ich verstehe, sagte Halsdorf.
249
Dann lehnte er sich für eine Denkpause zurück. Dann, nach langem Überlegen, fragte
er Yang, ob es nicht in den USA und Kanada genug Milliardäre gebe, die als
Sponsoren in Frage kämen.
Einen zweiten Puig vermute er in Amerika nicht, antwortete Yang.
Halsdorf lehnte sich wieder weit zurück, dann nahm er den Prospektentwurf wieder
auf und las ihn noch mehrmals sorgfältig durch.
– Für europäische Milliardäre passt es so nicht.
Dann zog er einen Filzstift aus der Jackentasche.
– Darf ich?, fragte er.
Er setzte sich neben Yang und fing an, mit dem Filzstift Streichungen, Anmerkungen
und Korrekturen zu machen. Dann holte auch Yang einen Stift heraus, und auch er
beugte sich über den Entwurf, der bald von Anfang bis Ende mit Markierungen, mit
Frage- und Ausrufezeichen, mit Kommentaren und Ergänzungen übersät war. In
weniger als einer halben Stunde entwarfen sie zusammen eine völlig neue Broschüre.
Noch eine halbe Stunde später gab Halsdorf seine Zusage. Ja, er werde mit einigen
Superreichen in Europa über Yangs Projekt sprechen.
Garantieren könne er natürlich für nichts, sagte er, es kämen ohnehin nicht viele
Superreiche dafür in Frage. Die gealterten Milliardäre des frühen Internetzeitalters
seien an Innovationen nicht mehr besonders interessiert, schon gar nicht an
politischen, aber bei einigen Wenigen sei es vielleicht einen Versuch wert, vielleicht
sogar bei den beiden noch lebenden Samwer-Brüdern.
Zu dieser Zeit wusste ich von World Upgrade, von Yang und Puig und Halsdorf noch
immer nichts. Hätte ich etwas gewusst, hätte ich natürlich sofort mit Hauser darüber
reden wollen. Zwischen Yangs und Hausers Gedanken gab es schon auf den ersten
Blick Gemeinsamkeiten, und erstaunliche Gemeinsamkeiten gab es, wie ich später
herausfand, auch mit den Ideen der Tagmakraten. Verfolgten also diese immer noch
250
winzig kleine deutsche Organisation und Yangs World Upgrade ganz ähnliche Ziele?
Und war diesen beiden damals noch unscheinbaren Initiativen womöglich gemein,
dass ihre Bedeutung erst viel später erkannt werden würde? Uninformiert wie ich
war, konnte ich mir damals noch nicht einmal diese Frage stellen.
Noch mehr Ideologiefreiheit
Schon wenige Wochen nach unserem Gespräch über die Gedankenfreiheit des Alters
mailte Constanze:
– Bin nächste Woche wieder kurz in Hamburg. Können wir uns treffen?
Constanze, die Vielbeschäftigte, dachte ich, ihre Zeit wird knapp sein. Ich schlug ein
Treffen in der Mittagszeit vor, in der Nähe des Verlagsgebäudes.
Ihre Antwort: Gern, aber mehr Zeit als für ein Geschäftsessen sollten wir uns schon
nehmen.
Es war ein warmer Herbsttag, wir saßen am Wasser in den Elbarkaden der Hafen
City, und Constanze begann in aller Ruhe zu erzählen. Von der sich langsam
verschlimmernden Krankheit ihres Mannes, vom Sterben ihrer gemeinsamen Firma
und von der kleineren und vorsichtshalber barrierefreien Wohnung, in die sie
umgezogen seien. Und dann auch von der gewonnenen freien Zeit, die sie nun
sinnbringend nutzen wolle. Sie habe jahrelang Führungskräfte beraten, nun denke sie
darüber nach, wo sonst ihr Rat noch nützlich sein könnte.
– Im Verlag, sagte ich spontan, wäre guter Rat dringend nötig.
Ich biss mir auf die Zunge. Mit den Problemen des SPIEGEL hatte ich sie nicht
belästigen wollen. Aber sie sah mich mit hellwachem Blick an, als hätte sie genau
darauf gewartet.
– Ich weiß, dass es dem SPIEGEL nicht gutgeht.
– So heißt es, sagte ich. Die Bilanzen sollen miserabel sein, aber wer kann das schon
genau nachprüfen?
251
– Ich kann es, sagte sie. Ich kann eine Verlagsbilanz lesen.
Sie zog ihren Tabletcomputer aus der Tasche und suchte ein paar Minuten im
Internet.
- Hier, ich hab’s. Den Geschäftsbericht.
Dann vertiefte sie sich wortlos in das Zahlenwerk. Ich wartete, bis sie schließlich mit
ernster Miene zu mir aufsah.
– Dem Verlag geht es wirklich schlecht. Ich fürchte, er muss sich selbst gründlich
sanieren. Sonst wird ein anderer es tun.
– Irgendein Investor?
– Ja. Und dann wird nichts bleiben, wie es war. Auch das Archiv nicht.
Wir hätten im Archiv aber schon sehr viel verändert, sagte ich, wir hätten in den
letzten zwanzig Jahren ein Drittel des Personals eingespart. Es beeindruckte sie nicht.
Jeder Unternehmensberater, sagte sie, würde uns vorrechnen, dass es auch mit noch
weniger Personal ginge und auch mit weniger Inhalt.
Man dürfe, sagte ich, aber doch nicht nur ans Sparen denken. Die Zeitschrift lebe
doch zuallererst von ihrer Qualität.
– Investoren gehen immer an die Grenzen des Möglichen, erwiderte sie, auch in
Sachen Qualität. Einen Schöngeist wie Hauser als Archivleiter könne sich heute kein
Verlag mehr leisten.
Was hätte ich antworten sollen? Wir sahen einander eine Weile schweigend an, dann
sagte ich:
– Aber du bist nicht gekommen, um mit mir über die Zukunft des Verlags zu
sprechen.
– Wenn ich an den Verlag denke, sagte sie, dann denke ich immer auch an Hauser.
Und daran, dass es Leute wie Hauser auch in Zukunft geben muss, nicht in Archiven,
aber anderswo.
252
– Es gibt ihn ja noch.
– Aber wie lange noch? Und wer soll dann dafür sorgen, dass seine Gedanken nicht
untergehen? Und wer könnte versuchen, seine Gedanken weiterzudenken?
Jetzt sah sie mich mit fast verlegener Miene an.
– Könnten wir es vielleicht versuchen?, fragte sie dann. Zu alt sind wir dafür noch
nicht.
Ich brachte kein Wort heraus. Constanze und ich in der Rolle des altersweisen
pensionierten Hauser? Nein, dachte ich, ich würde es nicht können, natürlich nicht,
und daher würde ich es auch nicht wollen. Und selbst wenn, für wen würden wir es
tun? Wer würde ernst nehmen, wie wir Hauser ernst genommen hatten? Und sollten
wir nur im hauserschen Sinne weiterdenken, oder sollten wir unsere Gedanken
aufschreiben?
– Wir werden schon Leute finden, sagte Constanze, die sich dafür interessieren. Du
hältst deine Kontakte, ich halte meine. Und jeder von uns kümmert sich um das,
wovon er genug versteht. Ich erst einmal um Ökonomisches. Ich könnte versuchen,
ein paar Gedanken dazu zu Papier bringen.
Überzeugt war ich nicht, aber dann hörte ich mich doch sagen:
– Einen Versuch wäre es vielleicht wert.
Constanzes lächelte zufrieden.
– Aber dann machst du den Anfang, sagte ich.
– Einverstanden. Ich schicke dir bald einen kleinen Text.
Es dauerte dann bis nach dem Jahreswechsel, bis ich Post von ihr bekam mit einem
Text zur Wirtschaft in unserem Jahrhundert. Keine leichte Kost für ökonomische
Laien wie mich, aber er soll hier trotzdem seinen Platz haben:
Wie Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert funktionieren könnte
253
Niemand versteht die Wirtschaft, zumindest nicht die ganze. Eine neue Erkenntnis ist
das nicht, aber eine, die noch immer zu wenig beachtet wird.
Alle wünschen sich eine innovative, immer produktivere Wirtschaft. Eine solche
Wirtschaft braucht Wettbewerb. Wettbewerb zwingt Menschen und Unternehmen,
ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Er zwingt sie, an die Grenzen des
Beherrschbaren zu gehen, aber zwingt sie auch, an diesen Grenzen Halt zu machen.
Wer diese Balance nicht findet, geht in der Wirtschaft früher oder später unter.
Unternehmen beispielsweise, die zu passiv sind oder zu innovativ. Dieser Balanceakt
hört nie auf. Insofern ist eine dynamische Wirtschaft in einer produktiven
Dauerkrise.
Das hat natürlich auch Folgen für die Wirtschaftspolitik. Je dynamischer und
innovativer eine Wirtschaft ist, desto schwerer ist sie auch für Wirtschaftspolitiker zu
durchschauen. Desto mehr wird auch die Wirtschaftspolitik zu einem Balanceakt.
Desto größer ist für Wirtschaftspolitiker das Risiko, zur Lenkung der Wirtschaft zu
wenig tun oder zu viel oder das Falsche.
Man könnte meinen, für die Lenkung einer immer komplizierteren Wirtschaft müssten
eben immer kompliziertere Regeln geschaffen werden. Aber je komplizierteren
Regeln die Wirtschaftspolitik folgt, desto schwerer ist sie beherrschbar und desto
fehleranfälliger wird sie.
Die Wirtschaftspolitik unserer Zeit muss also versuchen, das zunehmend
Unbeherrschbare und Unbegreifliche nach beherrschbaren und begreiflichen Regeln
zu lenken. Verantwortungsvolle Geld- und Wirtschaftspolitik kann sich nur auf
solche hinreichend einfachen Regeln stützen. Auch wenn solche Regeln sich als zu
unvollkommen erweisen, dürfen sie nicht durch kompliziertere neue Regeln ersetzt
werden. Dann müssen vielmehr neue einfache Regeln her, die weniger fehleranfällig
sind.
Wie zum Beispiel hält man die Inflation im Zaum, ohne dabei die Wirtschaft in
Krisen zu stürzen? Wie vermeidet man Deflation und Stagnation, ohne Inflation zu
254
schüren? Wie lässt sich die Konjunktur stabilisieren, ohne damit den Keim für die
nächste Krise zu legen? Wie stabil lässt sich die Konjunktur auf Dauer überhaupt
halten? Nach welchen einfachen Regeln ist bei all dem vorzugehen? Um wie viel
komplizierter, wie viel schwerer beherrschbar wird Wirtschaftspolitik zum Beispiel,
wenn ein Währungsgebiet erweitert wird? Wann und wo wurden mit der Ausweitung
der Euro-Zone die Grenzen der Beherrschbarkeit überschritten?
Es scheint immer noch, als würden Regierungen und Zentralbanken sich diese
Fragen nicht ernsthaft genug stellen, als würden sie nach neuen Regeln, die zugleich
einfach und gut sind, noch immer nicht ernsthaft suchen. Sie wursteln weiter jenseits
der Grenzen der Beherrschbarkeit. Die Folgen: u.a. die zwei großen Finanzmarktund Währungskrisen in der ersten Jahrhunderthälfte und jahrzehntelange
Massenarbeitslosigkeit in europäischen Krisenstaaten.
Aber lassen sich all diese Probleme nicht doch damit erklären, dass Politiker den
weisen Rat von Wirtschaftstheoretikern in den Wind schlagen? Hätte nicht z.B. eine
bei den renommiertesten Wirtschaftstheoretikern gesammelte Weisheit ausgereicht,
um die Wirtschaftspolitik auf einen besseren Weg zu bringen? Offenbar nicht.
Müssen wir uns dann mit ähnlichen Krisen auf unabsehbare Zeit abfinden? Sind die
menschlichen Möglichkeiten in der Wirtschaftspolitik erschöpft?
Nein, auch das nicht. Wäre die Wirtschaftspolitik nur halb so kreativ wie die
Wirtschaft selbst, dann ginge es uns allen besser. Viele gute einfache Regeln sind in
der Wirtschaftspolitik noch nie erprobt oder, obwohl denkbar, noch nicht einmal
gedacht worden.
PS: Ich weiß, wie abstrakt das in dieser Kürze klingt, gerade für ökonomische Laien,
und wie plakativ für andere. Aber ich hoffe, es macht wenigstens neugierig.
Nicht für dich – du weißt es längst –, aber für andere müsste ich trotzdem noch dies
hinzufügen:
Die Wirtschaft sorgt nicht von selbst für gerechte Verteilung von Wohlstand, im
255
Gegenteil. Auf dem Arbeitsmarkt sind in den letzten hundert Jahren Niedrigstlöhne
und Spitzengehälter immer weiter auseinandergedriftet, und damit ist auch das
Vermögen immer ungleicher verteilt. Daher fordern viele noch immer eine andere
Wirtschaft, eine mit weniger Markt, weniger Wettbewerb, weniger Kapitalismus. Das
ist ein großes Missverständnis. Keine Art von Wirtschaft schafft von sich aus
Wohlstand und Gerechtigkeit für alle. Die Wirtschaft schafft ungerechten Wohlstand,
und für dessen gerechte Verteilung kann nur der Staat sorgen. Er tut es aber nicht.
Auch demokratische Staaten tun es nicht, egal, wer regiert.
Wir brauchen also keine andere Wirtschaft, was wir brauchen, ist ein anderer Staat.
Es wäre schon ein großer Fortschritt, wenn darüber nicht mehr gestritten werden
müsste. Wenn Einigkeit darüber herrschte, dass der große Versager unserer Zeit
nicht die Wirtschaft ist, also auch nicht der so genannte Kapitalismus. Der große
Versager ist der Staat. Also auch die Demokratie.
Hätte ich damals schon von Yang gewusst, wäre mir natürlich gleich der Gedanke
gekommen: Yang und Constanze wären sich hierüber rasch einig. Und Constanze, so
alt sie auch ist, ließe sich ebenso rasch für Yangs Bewegung gewinnen.
Wenige Tage, nachdem Constanzes Brief gekommen war, rief Hauser an. Er hielt
sich nicht mit Vorreden auf, als hätten wir gerade erst miteinander gesprochen. Es
ging um seine alten Aufzeichnungen. Er glaube, sagte er, irgendwo im Archiv stehe
davon noch ein Exemplar, und wenn, dann solle ich es vernichten. Dieser Text sei
überholt. Er werde demnächst versuchen, seine Aufzeichnungen zu überarbeiten und
zu ergänzen.
– Versprochen?, fragte er dann.
– Ja, sagte ich, wenn ich das Exemplar finde.
256
Wann er die Neufassung schaffe, sagte er dann, und ob, das wisse er nicht, aber er
wolle es versuchen, um in seinem letzten Lebensabschnitt mit sich im Reinen zu
sein.
Wir sollten uns demnächst wieder einmal treffen, sagte er dann noch. Er werde sich
melden, wenn die Sonne wieder höher stehe. Im Frühjahr.
Die Krise der Archive
In den Jahren nach der Jahrhundertmitte herrschte im Archiv eine ungewohnte Ruhe.
Es war beileibe keine ereignisarme Zeit, aber es schien, als sei den Redakteuren das
ungeduldige Wissenwollen ausgetrieben. Oberflächlich war alles wie vorher, waren
Anfragen ans Archiv brandeilig wie immer, gaben sich die Redakteure fordernd wie
immer, und doch war es, als breite sich eine immer nüchternere Routine aus. Es
waren in der Tat Jahre, in denen auch die Welt in eine unaufgeregte Routine zu
verfallen schien und die SPIEGEL-Leser mit ihr. Natürlich versuchte die Redaktion
immer wieder, wenigstens kleine politische Aufreger zu produzieren, aber meistens
wirkten sie gekünstelt.
Als Archivar kann man solche Zeiten anders erleben, wenigstens dann, wenn man
sich den Hauserschen Blick ins Weite bewahrt. Für mich war es fast eine aufregende
Zeit. Je mehr Routine sich in der Archivarbeit breitmachte, je unaufgeregter das
Tagesgeschäft war, desto freier war der Kopf für Gedanken, die über das
Tagesgeschäft hinausgingen. Von den großen Problemen der vergangenen Jahrzehnte
war keines wirklich gelöst, das Krisengeschehen der Welt legte nur eine kurze Pause
ein. Der Dritte Weltkrieg war abgeebbt, aber könnte er sich danach nicht als
Jahrhundertkrieg fortsetzen?
Im Archiv arbeitete seit Kurzem Tilman, ein Büroassistent, der Klaus in vielem
ähnlich war. Schon als er sich vorstellte, dachte ich: So einer täte dem Archiv gut,
ein lustiger Krauskopf mit funkelnden Augen und eulenspiegelhafter Mimik,
vielleicht wird er einer wie Klaus. Es war tatsächlich Tilman, der dann im Archiv die
257
etwas gedämpfte Stimmung dieser Jahre gelegentlich auffrischte, sei es mit seinen
entlarvenden Bemerkungen, mit seiner clownesken Gestik oder mit kleinen
gekonnten Selbstinszenierungen. Eines Tages schwebte er mit einem dünnen
wallenden Umgang durch das Archiv, dessen Berührung man im Vorbeigehen kaum
vermeiden konnte.
– Wozu das?“, fragte ich.
– Der Mantel der Geschichte, sagte er.
Und als ich ihn ratlos ansah:
– Die Illusion davon.
So viel Zeitgeist, Trübnis und Trost in so wenigen Worten. Genau dafür hatten wir
Tilman, dafür brauchten wir ihn. Nach solchen Szenen war es, als trügen wir alle im
Archiv ein unsichtbares Lächeln im Gesicht.
Je ereignisärmer die Zeit, desto mehr Fragen stellt man sich. Fragen zum Sinn des
eigenen Tuns. Zum Sinn und zur Bedeutung des Archivs. Zu seiner Vergangenheit
und seiner Zukunft. Wie hatte sich das Archiv in den letzten Jahrzehnten verändert?
Welche Veränderungen standen bevor? Welche Bedeutung würde das Archiv in zehn
oder zwanzig Jahren noch haben? Würde es, wenn die Redaktion immer kurzatmiger
agiert, als ruhender Gegenpol immer wichtiger? Oder würde es immer weniger
gefragt sein? Würde die Redaktion sich immer weniger noch bemühen, ihre Beiträge
auf archivarisches Wissen zu gründen? Würde auch im SPIEGEL die momentane
Leserresonanz immer mehr Gewicht bekommen, auf Kosten der Seriosität, der
archivarischen Fundierung?
Ich weiß natürlich, dass auch die Geschichte unseres Blattes keine Geschichte
lupenreiner Seriosität ist. Wie Hauser es einmal sagte: Ein Archiv sammelt Material
nicht nur über Menschen und Organisationen, sondern auch gegen sie. Schon früher
wurde vom Archiv nicht nur solide Faktenarbeit erwartet, sondern auch Beihilfe zu
Verdächtigungen, Verunglimpfungen, Bloßstellungen und zum politischen Rufmord.
Das Archiv musste mit seinen Mitteln helfen, journalistische Aufreger zu
258
konstruieren, Skandale zu unterfüttern, Empörung zu schüren. Archivare könnten
sich kaum dagegen wehren, hatte Hauser gesagt, in diesem Sinne als Mittäter
eingespannt zu werden, was allerdings in den letzten Jahrzehnten weniger geschehen
sei als vor seiner Zeit. Er erzählte von den Haudegen der Redaktion im späten 20.
Jahrhundert, die stolz auf sich waren, wenn sie politische Gesinnungsgegner zur
Strecke gebracht oder es zumindest versucht hatten, mit welchen Mitteln auch
immer. Sehr viel besser, sagte er, sei es aber auch im ersten Jahrhundertviertel nicht
gewesen, als gegen so genannte Putinversteher, Separatistenversteher,
Islamistenversteher, Terroristenversteher und andere journalistischer Kleinkrieg
geführt wurde, wofür auch im Archiv Rückendeckung angefordert wurde. Ich solle
mich in Acht nehmen, sagte er dann, auch im Umgang mit Archiven habe es nur
kleine zivilisatorische Fortschritte gegeben, auch im Journalismus sei das Eis der
Zivilisierung noch immer dünn, und je mehr die Verlage wirtschaftlich unter Druck
gerieten, desto brüchiger werde es.
Es wäre natürlich naiv oder vermessen, einen Zusammenhang zwischen dem
politischen Weltgeschehen und dem Geschehen im Verlag zu vermuten, aber genau
dieses Gefühl hatten viele von uns. Es war, als nutzte der Verlag die Atempause der
Weltgeschichte, um seine eigene Geschichte aufzumischen.
Dass der ältere unserer beiden Chefredakteure bald gehen würde, wussten wir alle.
Zwei zehrende Jahrzehnte im Amt hatten ihn erschöpft. Ein jüngerer musste her, die
Gerüchteküche quoll über mit Namen von Kandidaten, alle zwischen Anfang vierzig
und Anfang fünfzig. Dann der große Coup. Der neue Mann war ein alter. Berenberg.
Ausgerechnet Berenberg. Redaktionsmitglied seit fünfundzwanzig Jahren. Der
Mann, der sich als Jungredakteur mit Polemik gegen Querdenker aller Art
hervorgetan hatte, gegen Separatistenversteher, Demokratieskeptiker und andere. Der
dann, als der Gegenwind stärker wurde, als Mitläufer in der Redaktion abgetaucht
war, als Spezialist für unauffällige Themen. Nun war er ganz oben. Nicht weil er sich
geändert hätte, sondern weil die Zeiten sich geändert hatten. Nun erntete er den Lohn
für seine lange Unauffälligkeit. Nun hatte er es den wenigen noch übrigen
259
Querdenkern von damals gezeigt: Eure Zeit ist vorbei, meine Zeit ist gekommen.
Alle wussten, dass auch Kiesewetters Zeit nun bald vorbei sein würde. Ein
Querdenker wie er in der Chefredaktion, das war schon jetzt gefühlte Vergangenheit.
Wer aber hatte diese Entscheidung getroffen? Wer waren Berenbergs Unterstützer?
Die Mehrheit der Redakteure? Damals noch unwahrscheinlich. Die Verlagsleitung?
Schwer vorstellbar. Was also war Berenbergs Ernennung vorausgegangen? Wovon
war sie die Folge? Oder war sie eher ein Vorbote? Wer sprach in diesen Zeiten
eigentlich für die Eigentümer?
Wir waren ein paar Jahre vorher Aktiengesellschaft geworden, und nun stand bei der
Familie des Gründers ein Generationswechsel an. Keiner der Erben war noch auf
Einfluss im Verlag aus. Aber nichts würde sich verbessern, das wussten alle, wenn
die zerstrittene nächste Generation das Erbe antreten würde. Wurde schon über den
Verkauf verhandelt? Gab es Interessenten, die das Blatt nach einem
Führungswechsel ganz würden übernehmen wollen? Lauter Gerüchte.
Sechs Monate später der nächste Coup. Die Entlassung des Verlagsleiters. Wir hatten
uns nicht unbedingt gemocht, der Verlagsleiter und ich, aber wir hatten Respekt
voreinander, menschlichen und auch Respekt vor der Arbeit des anderen. Ich wusste:
Ein Archiv wie unseres gedeiht nur in einem gut geleiteten Verlag. Er wusste:
Journalismus auf unserem Niveau braucht ein gutes Archiv. Wir beide sahen uns als
Teile des großen und guten Ganzen.
Weitere fünf Monate später der Paukenschlag. Der Verkauf. Der neue Hauptaktionär
ein globaler Investor. Eine neu geformte amerikanisch-chinesische Medienholding.
Deren Hauptaktionäre: Amazon und eine Tochtergesellschaft von Alibaba. Dass an
dieser Tochtergesellschaft von Alibaba der chinesische Staat eine Sperrminorität
besaß, erfuhr ich erst viele Jahre später.
Die Aktienmehrheit hatte die Medienholding damit noch nicht, aber sie hatte die
Macht im Verlag, und ein kleiner Teil der Macht lag damit auch in China. Der
SPIEGEL würde nun ein anderes Blatt werden, das war klar, womöglich mit
260
Ablegern in vielen Sprachen, vielleicht eine Art Welt-Zeitschrift. Aber besser würde
er nicht werden, wenigstens nicht in meinem und unserem Sinne. Oder waren „wir“
inzwischen eine Generation nostalgischer Träumer, die sich den neuen Sachzwängen
des Zeitschriftenwesens störrisch verweigerten?
Der neue Verlagsleiter kam einen Tag, nachdem der alte gegangen war. Er gab sich
zurückhaltend. Er wolle das Unternehmen erst einmal gründlich kennenlernen,
natürlich vor allem die Menschen im Unternehmen, verkündete er bescheiden, und so
gewann er Sympathien.
Nach drei Monaten bat er mich zum Einzelgespräch. Die neuen Anteilseigner,
begann er, wünschten sich natürlich ein weiterhin erfolgreiches Unternehmen. Kurze
Pause. Und ein wachsendes, fuhr er mit ruhiger Stimme und bedeutungsschwerer
Miene fort. Daher stehe natürlich alles auf dem Prüfstand. Wieder eine Pause. Dann:
Wir hoffen dabei auf Ihre Unterstützung.
Ich schrumpfte auf meinem Stuhl zusammen. Wenigstens war er ehrlich. Routiniert,
bedrohlich, aber ehrlich.
– Den SPIEGEL, fuhr er fort, gibt es seit über hundert Jahren. Die Frage ist, ob er
immer mit der Zeit gegangen ist. Diese Frage, das wissen Sie, müssen wir uns in
allem stellen, was wir tun. Es ist eine Überlebensfrage.
Er rückte seine Brille zurecht und sah mich mit entwaffnend offenem Blick an.
– Wenn wir uns darüber einig sind, dann werden wir gut zusammenarbeiten.
Zwei Wochen später trafen wir uns wieder. Dieses Mal kam er, eine Geste immerhin,
zu mir ins Büro. Er habe sich die Zahlen genauer angesehen, begann er. Und dann:
– Ich will nicht lange drumherum reden. Ich glaube auch, es überrascht Sie nicht.
Das Archiv des SPIEGEL ist zu groß und zu teuer. Es ist personell überbesetzt.
Es dauerte eine lange Schrecksekunde, bis ich antworten konnte.
– Meinen Sie das wirklich?, stammelte ich.
261
Wie viel zu teuer, sagte er, das wisse er noch nicht genau, aber im Verhältnis zur
Redaktion sei das Archiv auf jeden Fall überdimensioniert. Deutlich größer als bei
vergleichbaren Zeitschriften, das habe er gründlich recherchiert. Vieles von dem, was
das Archiv dokumentiere, sei demnach entbehrlich. Einen endgültigen Plan habe er
nicht, aber man müsse mit einer Verkleinerung um mindestens ein Viertel anfangen.
Danach sehe man weiter. Dann sagte er:
– Den genauen Plan dafür machen Sie, und Sie führen natürlich auch die Gespräche
mit den Mitarbeitern. Je früher, desto besser.
– Überflüssig ist hier keiner, erwiderte ich hastig. Alle dienen hier der
journalistischen Qualität.
Er sah mich einen Moment lang prüfend an, als überlegte er, ob ich noch Schonung
brauchte. Dann hob er den Kopf. Nein, bedeutete es, schonen wolle er mich nicht.
– Die Zeiten haben sich eben geändert. Die Frage nach der Qualität eines Blattes
muss man heute nüchterner stellen. Nüchterner, das heißt vor allem: aus der Sicht der
Leser. Wir können nicht in eine Qualität investieren, von der die Leser nichts oder
fast nichts merken. Vom Beitrag des Archivs zur Qualität des Blattes merken die
Leser sehr wenig.
– Woher wissen Sie das denn?
– Das ist die Meinung in unserer Investorengruppe. Wir wissen auch, dass der Inhalt
des Archivs sich zunehmend mit dem von Online-Quellen überschneidet, die
jedermann zugänglich sind. Das haben wir anderswo untersucht.
– Bei uns bisher nur zu einem kleinen Teil, sagte ich.
– Es wird auf jeden Fall immer mehr.
– Aber das zu bekommen, sagte ich, was nicht schon bei Wikipedia und sonstwo zu
lesen ist, wird immer schwerer. Dafür brauchen wir nicht weniger Leute, sondern
eher mehr.
262
– Streiten wir uns nicht über Kleinigkeiten, sagte er. Wir müssen uns über die
Richtung einig sein. Denken Sie darüber nach.
Er erhob sich.
– Die fetten Jahre sind nun einmal vorbei.
Dann verließ er den Raum mit selbstbewusster Siegermiene. An der Tür drehte er
sich noch einmal um.
– Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Hier ein kurzes Memo der neuen Anteilseigner
für unsere Führungskräfte. Lesen Sie es in Ruhe durch.
Ich blieb erschöpft sitzen. Dann nahm ich mir einen Textmarker, begann zu lesen
und markierte dabei diese Stellen:
– Wir wollen nicht elitär sein.
– Wir maßen uns nicht an, die Leser zu formen, wir formen das Blatt nach den
Wünschen der Leser.
– Wir wollen noch mehr Leser erreichen. Wenn nötig, mit neuen Inhalten, neuem Stil.
– Wir wollen unsere Kosten senken und unsere Kapazitäten besser auslasten.
– Wir helfen den Publikationen unserer Unternehmensgruppe in anderen Teilen der
Welt, aber wir lernen auch von ihnen.
– Wir nutzen die globalen Synergien der Unternehmensgruppe.
Ja, es war endgültig klar: Die alten Zeiten, gut oder schlecht, fett oder mager, sie
waren vorbei.
Ich verließ das Büro mit starr nach vorn gerichtetem Blick. Niemand sollte mir in die
Augen sehen, niemand meine Stimmung spüren. In der Eingangshalle sah ich dann
von Weitem Kiesewetter, ich schaute kurz zu ihm hin. Auch er mit starrem Blick,
auch er wollte niemandem in die Augen sehen, aber dann trafen sich unsere Blicke
doch für eine lange Sekunde. Ich glaube, auch ihm tat es gut.
263
Abschied von Hauser
Politischer Qualitätsjournalismus setze genau genommen Qualitätspolitik voraus,
hatte Hauser einmal gesagt. Ich hatte diese Bemerkung nicht sehr ernst genommen,
aber nun begann ich sie besser zu verstehen.
Qualitätsjournalismus, das waren für Hauser nicht nur gut geschriebene, gut
gemeinte und engagierte Artikel. Es war nicht nur das Anschreiben gegen
offenkundige politische Versager und Schurken. Es war auch nicht das aufmerksame
skeptische Begleiten mittelmäßiger Politik. Zu wirklich hoher Qualität, meinte
Hauser, werde der politische Journalismus erst herausgefordert, wenn die Politik
hohe Maßstäbe setze, mindestens aber hohe Ziele verfolge. Eine solche Politik hatte
unsere Generation nicht erlebt, und sie war nicht absehbar. Dass der SPIEGEL von
globalen Investoren übernommen wurde, deren Qualitätsansprüche sich am globalen
Mittelmaß orientierten, war in solchen Zeiten nur folgerichtig. Um das, was nach der
Mitte der fünfziger Jahre in der Welt geschah, journalistisch zu begleiten, reichte
Mittelmäßigkeit vollkommen aus.
Die Weltgeschichte hatte in den frühen fünfziger Jahren eine kurze Verschnaufpause
eingelegt, danach lebten die verdrängten politischen Probleme dieser Welt sämtlich
wieder auf, manche davon intensiver denn je. Der – nun zumindest in den Medien
immer offener als solcher benannte – schleichende Dritte Weltkrieg, dessen
Hauptschauplatz in den vierziger Jahren vor allem Nordafrika gewesen war und der
dort u.a. zum Zerfall Nigerias geführt hatte, hatte seine Brennpunkte nun in Asien. In
Indien verging kein Jahr ohne gewaltsame Konflikte mit ethnischen und religiösen
Minderheiten. Auch Iran, Myanmar, Indonesien, die Philippinen, Pakistan, Malaysia,
Afghanistan und andere asiatische Staaten waren Schauplätze heftiger
innerstaatlicher Konflikte. China hielt seine aufrührerischen Minderheiten mit
Beschwichtigungsrhetorik, aber in der Sache so unnachgiebig wie je in Schach.
Zugleich unterstützte es militante chinesische Minderheiten in anderen ostasiatischen
Staaten.
264
Eine ganz ähnliche Politik betrieb Russland, wenn auch mit martialischerer Rhetorik.
Noch immer verstanden russische Politiker nicht, dass ihr Land aus seiner inneren
Krise nur herausfinden würde, wenn es sich von erdrückendem Ballast befreite wie
den immer noch viel zu hohen Militärausgaben und womöglich auch von aufsässigen
Minderheiten. Stattdessen ging Russland mit rücksichtsloser Waffengewalt gegen
neue separatistische Bewegungen im Süden des Landes vor, und zugleich schürte es
neue separatistische Neigungen bei den zehn Millionen Russen bzw. deren
Nachkommen, die bei der Auflösung der Sowjetunion ungewollt zu Bürgern
nichtrussischer Staaten geworden waren. Diesen Menschen, so die russische
Regierung, sei Unrecht angetan worden, das nun, nach mehr als einem halben
Jahrhundert, endlich korrigiert werden müsse. Die westliche Welt reagierte hierauf
wieder mit militärischen Drohgebärden. Dass es aber auch in dieser Frage letztlich
um verwehrte politische Selbstbestimmung ging, war unter westlichen Politikern
immer noch ein Tabu.
Auch in der arabischen Welt war keiner der schwelenden Konflikte wirklich gelöst.
Die von dort ausgehenden terroristischen Aktivitäten lebten mit unverminderter
Brutalität auf, und der so genannte Krieg gegen den Terror, den der Westen schon in
den dreißiger Jahren fast gewonnen geglaubt hatte, wurde mit neuer Entschlossenheit
weitergeführt. Angespannte innerstaatliche Ruhe konnten in der arabischen Welt
weiterhin nur autokratische Regimes sicherstellen, die sich auf eine einschüchternde
Militärmacht stützten wie Ägypten, Saudi-Arabien oder Algerien. In Europa führten
in dieser Zeit die Spannungen in Migrantengettos zu den bisher schwersten
gewalttätigen Auseinandersetzungen. Selbst in seriösen Medien war immer häufiger
von Bürgerkriegszuständen die Rede.
In den USA war das auffälligste politische Ereignis dieser Zeit das endgültige
Auseinanderbrechen der Partei der Republikaner. Der radikalkonservative
populistische Flügel hatte sich weiter radikalisiert und innerparteilich eine knappe
Mehrheit erlangt. Nach heftigen innerparteilichen Machtkämpfen spalteten sich die
Radikalkonservativen schließlich als eigenständige Partei ab, als Neue Republikaner.
265
Neue und alte Republikaner waren aber machtbewusst genug, um gegeneinander nur
in den Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen, in denen sie auch einzeln chancenlos
waren. Der Wahlkampf zu den darauf folgenden Kongresswahlen wurde eine der
schmutzigsten Schlammschlachten der amerikanischen Demokratiegeschichte.
Trotzdem einigten Neue und alte Republikaner sich nach der Wahl auf eine
gemeinsame parlamentarische Mehrheit gegen die Demokraten. Bei den Kongressund Präsidentschaftswahlen 2060 war die Wahlbeteiligung die mit Abstand
niedrigste der US-Geschichte.
Im Europa der EU war die politische Stimmung nicht besser. In den vier Jahrzehnten
nach dem Austritt Großbritanniens hatte die EU sich in den Augen der Bürger immer
mehr als Bürokratiemonster ohne politische Mission verschlissen. Bei den Wahlen
zum Europaparlament lag die Wahlbeteiligung Ende der fünfziger und Anfang der
sechziger Jahre bei 33 Prozent. Danach zeichneten sich auch in Italien und Polen
erstmals parlamentarische Mehrheiten für einen EU-Austritt ab. In anderen EULändern, darunter Deutschland, die Niederlande, Österreich und Dänemark,
forderten starke Bürgerbewegungen Volksabstimmungen über die EUMitgliedschaft. Sie beriefen sich darauf, dass die EU nie das Recht der Bürger auf
Selbstbestimmung über ihre EU-Zugehörigkeit formell anerkannt habe und damit die
Bürger in ihren Freiheiten fundamental einschränke.
Die politische Zusammenarbeit der EU-Staaten war auf Gebieten wie der
Außenpolitik nie viel mehr als ein Ritual gewesen war, nun bestand sie nur noch auf
dem Papier. Um europäischen Prinzipien und Interessen mehr politisches Gewicht zu
verleihen, hatten daher Deutschland, Frankreich, die Beneluxländer und die
skandinavischen Länder schon Anfang der vierziger Jahre Kooperationsverfahren
geschaffen, die mit denen der EU offen konkurrierten.
Die politische Parteienlandschaft war in Deutschland konturloser geworden denn je.
Die Muslimisch Soziale Union hatte sich nach erbitterten internen, auch von ihren
ausländischen Geldgebern angetriebenen Machtkämpfen ihrer radikalsten Flügel
entledigt, ihre Wahlergebnisse hatten sich danach bei gut 7 Prozent stabilisiert. Die
266
etablierten Altparteien hatten sich Guttenbergs Deutschen Demokraten rhetorisch
immer mehr angenähert und damit deren weiteren Aufstieg gebremst.
Auf dem Parteitag der Deutschen Demokraten im Frühjahr 2056, wenige Monate vor
seinem Tod, hielt Guttenberg seine letzte große innerparteiliche Rede. Darin warb er
um Verständnis für Menschen, die in der politischen Zivilisierung noch
vergleichsweise rückständig seien. Deren Empfindlichkeiten, deren
Minderwertigkeitsgefühl und deren Fremdsein in der westlichen Welt seien
Tatsachen, die man annehmen müsse. Man dürfe diesen Menschen nicht belehrend
und mit Überlegenheitsgefühl, man müsse ihnen empathisch begegnen und auf deren
Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen. Trotzdem bleibe er gegenüber jeglicher
Zuwanderung weiterhin skeptisch. Der Grund hierfür liege aber nicht bei den
Migranten, er liege bei den Deutschen selbst. Denn je mehr zivilisatorisch
rückständige Migranten ins Land kämen, desto mehr Deutsche meinten, auch sie
dürften sich in der Anstrengung des Zivilisiertseins gelegentliche Pausen gönnen.
Solche Zuwanderung mache daher aus einem potentiellen Vorbildstaat einen
mittelmäßigen Staat wie viele andere. Sein Resümee: Deutschland ist nicht reif für
weitere Immigration.
Damit meinte Guttenberg nicht viel anderes als mit seiner früheren Aussage,
Deutschland brauche Immigranten, von denen es lernen könne. Die Formulierung
aber, dass Deutschland nicht reif sei, verprellte einen Großteil seiner Parteifreunde
und seiner Wähler.
Eine Folge hiervon war, dass sich noch mehr Wahlberechtigte vom Politikbetrieb
abwandten. Bei der Bundestagswahl 2057 sank die Wahlbeteiligung unter 40
Prozent. Die Unionsparteien kamen als einzige Partei auf mehr als 20 Prozent der
abgegebenen Stimmen, Deutsche Demokraten, SPD, Grüne, MSU und die Linke
lagen zwischen 19 und 7 Prozent, sonstige Parteien erreichten insgesamt 11 Prozent.
Neben den von den Parteien strikt ausgeschlossenen Koalitionsmöglichkeiten waren
nur noch Notkoalitionen möglich. Schließlich einigten sich SPD, Grüne und die
Muslimisch Soziale Union auf eine von den Linken tolerierte Minderheitskoalition,
267
die nur zwei Jahre lang hielt und mit der Ausschreibung von Neuwahlen endete. Bei
diesen Wahlen, im Herbst 2059, sank die Wahlbeteiligung weiter auf nunmehr 37
Prozent. Das Wahlergebnis verschob sich dabei geringfügig zugunsten der
Unionsparteien. Die danach gebildete Koalition hätte noch zwei Jahre vorher als
undenkbar gegolten: SPD, FDP, die Linke und die Deutschen Demokraten.
Zu dieser Zeit gab es in keiner der alten europäischen Demokratien mehr eine
Regierungskoalition, die von mehr als einem Fünftel der Wahlberechtigten gewählt
worden wäre. Regierungen und Parlamente konnten sich daher nur noch schwer des
Verwurfs erwehren, sie seien nicht demokratisch legitimiert. Sie versuchten diesen
Vorwurf schließlich damit zu entkräften, dass die Wähler eine kompetente
Minderheit seien, die von Politik mehr verstehe als die Nichtwähler. Es liege
insofern im Interesse aller, wenn nur diese Minderheit über die Zusammensetzung
von Parlamenten bestimme. Dieses Argument war aber von der Realität längst
überholt. Das Nichtwählen war inzwischen bei politisch interessierten
Bildungsbürgern noch weiter verbreitet als in bildungsfernen Schichten.
Vielleicht hätte sich in dieser Zeit politisch etwas mehr verändern können, wenn
neue innovative Bewegungen ins Wahlgeschehen eingegriffen hätten. Aber die
Tagmakraten wollten sich Auseinandersetzungen auf dem Niveau herkömmlicher
Wahlkämpfe weiterhin nicht stellen. Und Yangs Bewegung hatte in Deutschland zu
dieser Zeit noch nicht einmal tausend Mitglieder gewonnen.
Mitten in diesem trüben politischen Szenario kam die Nachricht von Hausers Tod.
Mein erster Gedanke war: Vielleicht die richtige Zeit, diese Welt zu verlassen. Früh
genug auch, um den Niedergang des Archivs nicht mitzuerleben, den Hauser
vorausgeahnt hatte. Vielleicht hatte er es so entschieden. Er hatte die politische Welt
bis zuletzt mit hellwachem Geist beobachtet, und sie würde ihm nicht den Gefallen
tun, sich noch zu seinen Lebzeiten in besserer Verfassung zu zeigen.
Tiefe Trauer empfand ich über Hausers Tod nicht. Er hatte mich oft mit Gedanken
bedrängt und manchmal auch überfordert, die ich als Last empfand, wie sehr er damit
268
auch Recht hatte, und ich hatte mich dabei immer in seinem Schatten gefühlt. Sein
Tod hatte daher, dazu bekenne ich mich, für mich auch etwas Befreiendes. Trotzdem
hatte er mir in einer Welt, in der es geistige Heimat nirgendwo mehr zu geben schien,
doch so etwas wie geistiges Heimatgefühl gegeben.
Bei der Todesnachricht kam mir natürlich auch unser letztes gemeinsames Gespräch
wieder in den Sinn. Es war – wieder einmal – um die Frage gegangen, ob es mit der
menschlichen Zivilisierung weiter bergab gehe und ob er in dieser Hinsicht immer
noch Fatalist sei. Eigentlich schon, sagte er, dazu stehe er, aber man dürfe auch die
kleinen Hoffnungsschimmer nicht übersehen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer sei für
ihn das Gespräch gewesen, das wir, er und ich, mit Tian geführt hatten. Wenn einer
wie Tian in China kein absoluter Einzelgänger sei, dann könnte, von China
ausgehend, die kommende Talsohle der menschlichen Zivilisierung bald
durchschritten sein. Ich fragte, was er unter bald verstehe. Vielleicht noch in diesem
Jahrhundert, antwortete er, so optimistisch wolle er mir zum Gefallen diesmal sein.
Zwei Tage nach Hausers Tod erschien eine kurze Notiz im SPIEGEL, fünf knappe
sachliche Zeilen. Hauser sei ein Meister des Details gewesen, ein Mann mit dem
Fleiß einer Biene und dem Gedächtnis eines Elefanten. Das war nicht verkehrt,
unterschlug aber natürlich Wichtigeres. Aber es gab in der Redaktion offenbar
niemanden, der über dieses Wichtigere schreiben konnte und schreiben sollte.
In der Woche darauf war die Trauerfeier. Hauser hatte sie nicht gewollt, aber ein
Neffe, der Vertrauteste seiner Verwandten, hatte es schließlich doch anders
entschieden. Wir machten diese Feier nicht für Hauser, sagte er, wir machten sie für
uns und für andere, die sich von ihm verabschieden wollten. Auch deren Wunsch
zähle nun.
Die Trauerfeier fand in der Kapelle des stimmungsvollen Friedhofs in Hamburg
Nienstedten statt, auf dem Hausers Geschwister begraben waren. Die Kapelle war
knapp zur Hälfte besetzt. Ich war verspätet, kam erst hinein, als der Neffe seine kurze
Ansprache gerade begonnen hatte. Hausers Asche sei anonym verstreut worden, wie
269
er es sich gewünscht habe, wir kämen hier zusammen, um unsere Trauer um ihn für
einen Moment zu teilen und die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Viel mehr sagte er
nicht. Ich hörte kaum zu. Was wäre, dachte ich, wenn Hauser hier im Sarg liegend
das Reden und Denken der Trauernden verfolgte? Oder wie wäre es, wenn er seinen
eigenen Nachruf aus dem Sarg heraus vortrüge? Skurrile Gedanken, aber ich konnte
sie nicht unterdrücken.
Ich war als letzter in die Kapelle gekommen und wollte als erster gehen. Als ich
mich schon dem Ausgang zuwandte, legte sich von hinten eine Hand auf meine
Schulter.
– Geh nicht weg. Wir haben auf dich gewartet.
Constanzes Stimme! Ich drehte mich abrupt um. Wir schauten einander wortlos in
die Augen. Wie traurig sie ist, dachte ich, wie alt sie ist, und dann, wie schön sie ist.
Keine Tränen, bei ihr nicht und bei mir nicht, und wir wussten voneinander, warum.
Mit Hauser war alles gut. Wir umarmten wir uns kurz, dann zog sie mich beiseite.
– Bitte, bleib hier stehen.
Die Trauergäste zogen an uns vorbei, einige bekannte Gesichter, einige wenige
nickten mir zu. Dann kam Klaus. Klaus, der Schelm des Archivs, den ich erst nach
Hausers Zeit eingestellt hatte, der also Hauser gar nicht begegnet war. Klaus streckte
mir wortlos die Hand entgegen, sah mir in die Augen, als müsse zwischen uns nichts
gesagt werden, ging weiter. Dann Tilman. Er zwinkerte mir im Vorbeigehen zu, ich
nickte, dann erst sah ich unter seinem halboffenen dunklen Wintermantel ein dünnes
Gewand, das mir bekannt vorkam. Es war der "Mantel der Geschichte", mit dem er
an einem unserer Archivalltage ein kurzes Glanzlicht gesetzt hatte. Ich wollte
zurückzwinkern, aber er war schon vorbei.
Dann kam Kiesewetter auf mich zu. Er blieb stehen, drückte meine Hand.
– Ich weiß, sagte er, wie schwer es für dich ist. Aber gönnen wir Hauser das Glück,
im rechten Moment gegangen zu sein.
270
– Ja, sagte ich.
– Ein großes Glück für mich war, den SPIEGEL rechtzeitig verlassen zu müssen. Ich
wünsche dir ähnliches Glück.
Dann erst ließ er, meinem überraschten Blick ausweichend, meine Hand los und
verschwand.
Ich war noch wie benommen von Kiesewetters Worten, als ich plötzlich in ein
fremdes starres Gesicht sah, ein asiatisches. Dann versuchte das Gesicht ein kurzes
Lächeln. Tian!
War er aus China gekommen, um mit uns um Hauser zu trauern? Wir sahen einander
eine Weile wortlos an.
Im selben Moment tat Constanze einen Schritt auf Tian zu, fasste ihn am Arm, drehte
sich zu mir und sagte:
– Wir sind beide deinetwegen hier. Weil wir wissen, was Hauser dir bedeutet hat.
Ich habe keine Erinnerung mehr daran, was ich in diesem Moment fühlte. Natürlich
freute ich mich, natürlich war ich auch gerührt, und natürlich war da zugleich auch
die Trauer um Hauser. Aber alles zusammen war eine zu komplizierte Empfindung,
als dass sie Spuren im Gedächtnis hinterlassen hätte. Umso genauer erinnere ich
mich an unsere kurze gemeinsame Zeit danach. Tians Rückflug ging schon am
nächsten Morgen, und natürlich nutzten wir den Tag und die halbe Nacht für lange
Gespräche zu dritt. Genauer gesagt, zu viert, denn mir war, als sei Hauser leibhaftig
dabei, so wie damals, als Tian und ich ihn in seiner Wohnung besuchten. Constanze
muss es gespürt haben. Spätestens jetzt, sagte sie mit Blick zu mir, werde uns kein
Hauser mehr denken helfen, aber spätestens jetzt sollten wir es auch ohne Hilfe
schaffen. Mit diesem Satz war der Rest der bleiernen Friedhofsstimmung erst einmal
verflogen, und wir konnten ganz ohne Trauergefühle weiterreden.
Ich war gerade mit meinen Gedanken kurz in die Vergangenheit getaucht, in die
zwanziger Jahre, meine ersten Jahre mit Hauser. Mitte der Zwanziger hatte Hauser
271
vorausgesagt, dass die drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Sozialismus
als eine Zeit der Stagnation in die Geschichte eingehen würden. Hatten wir nicht aber
mittlerweile siebzig Jahre Stagnation hinter uns? Ich fragte Constanze, ob sie meine,
dass Hauser es zuletzt so gesehen habe.
– Ja, sagte sie, wenn nicht schlimmer.
– Im Westen, meint ihr, mischte Tian sich hastig ein. Siebzig Jahre Stillstand im
Westen.
Constanze war für einen Moment verblüfft, aber dann nickte sie stumm. Natürlich
war es ein richtiger Einwand. Dass China sich viel rascher verändert hatte als der
Westen, das hatte Tian mir und auch Hauser schon früher erklärt. Aber ich hatte
kürzlich Fernsehbilder vom chinesischen Volkskongress gesehen und mich dabei
gefragt, wie ein Volk eine politische Führung noch ernst nehmen kann, die sich noch
immer in solch starrem Ritual präsentiert.
Ja, antwortete ich, ich meinte vor allem den Westen, aber wenn ich Bilder des
Volkskongresses sähe, dann erscheine China mir zumindest in seinen Ritualen noch
viel starrer.
Darauf gab Tian wieder einmal eine Antwort, die man sich im Westen noch immer
nicht von einem Chinesen erträumte:
– Den Volkskongress dürft ihr im Westen nicht mehr so ernst nehmen. Er ist eher
eine Formsache.
– Und soll das etwa so bleiben?, fragte Constanze.
– Nein, sagte Tian, natürlich nicht. Unsere Soziologen sagen, dass unsere Bürger sich
in der nächsten oder spätestens übernächsten Generation mit einem Volkskongress,
wie er heute ist, nicht mehr abfinden werden. Die Partei hat deswegen ein Institut für
Staatsorganisation eingerichtet, das sich mit dem Problem befasst. Dort weiß man,
wovon der Volkskongress mit seinen starren Ritualen ablenken soll: Dass er über
272
Dinge abstimmt, die immer nur wenige seiner Mitglieder einigermaßen
durchschauen. Das ist in euren Parlamenten ja ganz ähnlich.
Das war der Tian, über den ich früher so oft gestaunt hatte. Constanze traute ihren
Ohren nicht. Natürlich hatte ich ihr schon viel über Tian erzählt, aber auf so etwas
war sie nicht gefasst. Die nächsten Stunden hörte ich nur zu, wie Constanze Tian mit
Fragen überschüttete und sich von seinen chinesischen Weisheiten fesseln ließ. Am
Flughafen war es dann ein herzlicher Abschied unter drei engsten Freunden. Als wir
Tian einen letzten Gruß zugewinkt hatten, sah Constanze ihm mit beglücktem
Lächeln nach.
– In China, sagte sie dann, gibt es offenbar Menschen, die weiter vorausdenken als
bei uns.
– Und die Partei gibt den Auftrag für solches Denken!
– Vielleicht ist es am Ende wirklich China, sagte sie, das den ersten großen Schritt
aus der globalen Starre schafft. Ist doch ein kleiner Hoffnungsschimmer.
In den Tagen nach Constanzes Abreise fand ich keine Ruhe. Hausers Tod, die
Trauerfeier mit den wenigen kurzen Begegnungen, die Gespräche mit Constanze und
Tian und die Abschiede von beiden, all das lies mich nicht los. Ich fand nicht zurück
in den Arbeitsalltag, sehnte mich nach einem ruhigen Wochenende.
Am Samstagmorgen schlief ich lange. Als ich aufstand, lag schon die Frankfurter
Allgemeine Zeitung auf unserem Küchentisch. Ich blätterte sie flüchtig durch. In den
Tagen davor hatte ich in den Todesanzeigen nachgesehen, ob Hauser noch einmal
darin vorkam, aber nichts gefunden. Jetzt fiel mein Blick wie zufällig auf eine
Anzeige im Kleinstformat.
Wir trauern um Jan Hauser, einen Gleichgesinnten und Förderer.
Die Tagmakraten
273
Mir stockte der Atem. Hauser ein Gleichgesinnter, ein Förderer der Tagmakraten?
War ich überrascht? Nein, es passte ja zu ihm. War ich bestürzt? Ja, er hätte es mir
sagen können. Oder nein, er wird wohl seine Gründe gehabt haben. Und nannten die
Tagmakraten Hauser wirklich zu Recht ihren Förderer und Gleichgesinnten?
Am nächsten Tag war in unserem Briefkasten ein großer Umschlag, darauf eine
handschriftliche Notiz von Hausers Neffen: Mein Onkel wollte, dass ich Ihnen dies
zusende. In dem Umschlag: Die Satzung der Tagmakraten. Mit handschriftlichen
Anmerkungen von Hauser.
Von Yang und seiner Bewegung wusste ich zu dieser Zeit noch immer nichts.
Ringen um Rohstoffe
In der Sendung von Hausers Neffen war wirklich nur die Satzung der Tagmakraten,
nichts über deren Ziele und Programm. Aber schon die Satzung war spannend genug.
Anders als alles, was ich von Vereinen und politischen Parteien bisher kannte.
Die Tagmakraten waren von zehn Personen gegründet worden. Die Satzung schrieb
vor, dass die Mitgliederzahl in kleinen Schritten auf höchstens 2000 Personen steigen
durfte. Mitglieder politischer Parteien waren von der Mitgliedschaft ausgeschlossen.
Beides, wie es hieß, im Interesse einer Konzentration auf die gesetzten Ziele. Es hieß
nicht, Mitglieder anderer politischer Parteien seien ausgeschlossen, sondern schlicht
Mitglieder politischer Parteien. Demnach verstanden die Tagmakraten sich nicht als
Partei.
Dass die Mitgliederzahl der Tagmakraten so kontrolliert wachsen sollte, ließ mich an
einen Ausspruch Hausers denken, wonach bisher noch jede neu gegründete Partei
von Ideologen, Egomanen und von beleidigten Überläufern aus anderen Parteien
geentert worden sei, wie überlegt und seriös ihre Gründer auch ans Werk gegangen
seien. Es hätte mich natürlich auch an Yang denken lassen, wenn ich genug über ihn
gewusst hätte. Auch Yang hatte seiner Bewegung langsames Wachstum verordnet.
Sie solle sich nicht verzetteln, sie solle hoch professionell werden und sie solle es
274
bleiben, so hatte er es vorgegeben. Stattdessen dachte ich an Tian, der mir erklärt
hatte, wie schwer der Weg zur Professionalität auch für die kommunistische Partei
Chinas noch sein werde. Für Tian, Yang und die Tagmakraten hatte demnach
politische Professionalität einen ähnlich hohen Rang. Mit dieser Frage hatte ich mich
noch immer viel zu wenig befasst.
Aber auch in der Zeit danach lenkte mich zu vieles davon ab, auch die neuen
Turbulenzen des Zeitgeschehens. Israels erneuter Angriff auf Gaza und die
Grenzgebiete seiner östlichen Nachbarn ließ die Welt den Atem anhalten. Dies wird
der letzte nicht-nukleare Nahostkrieg sein, darin war fast die ganze Welt sich einig,
danach käme die Apokalypse. Dies konnte man als Beruhigung nehmen, wenn man
annahm, dass die politisch Verantwortlichen vor der Apokalypse zurückschrecken
würden. Aber zumindest die so genannten Märkte waren alles andere als beruhigt.
Das erste Zeichen der Unruhe war das Beben auf den Rohstoffterminmärkten, dann
kam die Explosion der Rohstoffpreise, dann der Absturz der Aktienkurse. Dann kam
die weltweite Rezession
Plötzlich beherrschten Themen die Öffentlichkeit, die bis dahin nicht mehr als ein
mahnendes Hintergrundgeräusch des politischen Alltags gewesen waren. Es waren
Bedrohungsszenarien, für die Constanze mir schon zwanzig Jahre vorher die Augen
hatte öffnen wollen.
– Wie lange noch reichen welche Rohstoffe und welche Energieträger?
– Wie lange reicht die Kohle?
– Wie lange das Gas?
– Wie lange das Uran?
– Wie lange welche Metallvorkommen?
– Welche Teile der Welt würden durch die neuen Knappheiten um wie viel ärmer
werden, wer würden die Nutznießer sein?
– Wie viele Menschen würden wie lange noch auskömmlich mit nachwachsenden
Rohstoffen und Energieträgern versorgt werden können?
– Welchen anhaltenden Ausfall von Ölfördermengen könnte die Welt ökonomisch
275
verkraften, welchen Ausfall beim Gas?
– Welche Teile der Welt können sich wie lange noch selbst mit Brauchwasser
versorgen?
– Wie würde eine weltweite Verteilung knapp gewordenen Wassers gelingen, auf
welchen Versorgungswegen und mit welchen Transportmitteln, und welche neuen
Sicherheitsrisiken ergaben sich daraus?
– Und dann die große globale Frage: Würde die Welt mit den neuen Knappheiten
friedlich umgehen können, oder würde es gewaltsame Verteilungskonflikte um
Energieträger und Rohstoffe geben?
Nichts davon war neu. Geschrieben und geredet worden war darüber seit fast 100
Jahren, aber es hatte immer viel zu weit in der Zukunft gelegen, um als politischer
Ernstfall zu gelten. Immer wieder hatte es geheißen, wichtige Rohstoffe und
Energieträger würden nur noch ein paar Jahrzehnte reichen, aber immer wieder
waren neue Vorkommen entdeckt und war damit die Bedrohung weiter in die
Zukunft verschoben worden. Auch jetzt war die Bedrohung für die meisten
Menschen noch so weit entfernt, dass sie zu Lebzeiten kaum davon betroffen sein
würden. Alle seriösen Forscher aber sagten voraus, dass die neuen Knappheiten
spätestens das Leben der nächsten Generation deutlich zum Schlechteren verändern
würden. Und fast alle seriösen Forscher waren sich auch darin einig, dass eine
halbwegs glimpfliche Umsteuerung auf ein Leben mit diesen Knappheiten,
grundlegende Veränderungen also der Lebensgewohnheiten, der Infra- und der
Siedlungsstrukturen, der Bautechnik und vieler anderer Technikbereiche, mindestens
zwei Generationen in Anspruch nehmen würde.
Auch der SPIEGEL nahm das Thema wieder auf und widmete ihm zwei große
Titelgeschichten. Das erste Titelbild zeigte einen auf eine schützende Höhle
zueilenden, die Hände schützend über den Kopf haltenden fellbekleideten Menschen,
über dem sich Menschheitsbedrohungen wie Rohstoffknappheit,
Unabhängigkeitskriege, Verarmung und Niedergang der Demokratie als Blitze
entluden. Im darauf folgenden Artikel wurde der neueste Forschungsstand zur
276
zeitlichen Reichweite wichtiger Rohstoffvorkommen zusammengefasst: maximal
20 Jahre u.a. für Gold, Silber, Diamant, Chrom, Zink, Zinn, Nickel und Kupfer,
weniger als 40 Jahre u.a. für Erdgas und Erdöl.
In demselben Heft des SPIEGEL erschien ein großer Artikel über die sich immer
noch ausbreitende Resistenz von Krankheitserregern gegen Antibiotika, über die
dadurch weltweit ansteigende Sterblichkeit vor allem bei Kindern und darüber, wie
auch dieses Problem mindestens ein halbes Jahrhundert lang politisch vernachlässigt
worden war. All dies ließ mich wieder einmal an Grafs Bemerkung über die
Generation Sichtflug denken. Hatte Graf schon damals diese Szenarien vor Augen
gehabt? Wenn nicht, war ihm zumindest klar gewesen, dass politisches Denken und
Handeln in unserem Jahrhundert viel vorausschauender hätte sein sollen, als wir es
uns damals vorstellen konnten.
Mit der zunehmenden Knappheit von Rohstoffen und Energieträgern würde natürlich
auch die Abhängigkeit von deren Förderstaaten immer größer werden, auch darüber
wurde in dieser Zeit viel diskutiert. Macht- und Verteilungskämpfe, wie es sie früher
zwischen den OPEC-Staaten und dem Rest der Welt gegeben hatte, würden nicht
mehr nur um Öl ausgetragen, sondern um immer mehr knappe Rohstoffe, und sie
würden an Häufigkeit und Schärfe zunehmen. Und natürlich bergen solche Konflikte
auch Kriegsrisiken. Militärisch überlegene Staaten lassen sich leicht zum Krieg
gegen Staaten verleiten, von deren Monopolmacht sie sich bedroht fühlen, das hatte
die Welt schon oft erlebt. Nun schien die Gefahr von Kriegen zur Sicherung der
Rohstoffversorgung größer zu werden denn je, sei es Wirtschaftskriegen,
Cyberkriegen oder konventionellen Kriegen.
Ein Thema in den Zukunftsszenarien dieser Jahre waren auch die so genannten
seltenen Erden, in vielen Produkten der Hochtechnologie unersetzliche Rohstoffe.
Auf diese Stoffe hatte ausgerechnet China, der mittlerweile militärisch und
wirtschaftlich mit Abstand mächtigste Staat der Welt, schon seit Jahrzehnten fast ein
Weltmonopol. Ich bat Tian dazu um einen Kommentar, und wenigstens von ihm kam
bei allem weltweiten Alarmismus ein beruhigender Gedanke. Es sei richtig, erklärte
277
er mir, dass China ein Weltmonopol auf einige seltene Erden habe, aber darüber
möge ich mir keine Sorgen machen. China sei zugleich abhängig von
Weltmonopolen anderer Staaten, und gegenseitige Abhängigkeit stimme Staaten
selten kriegerisch, sie könne sogar befrieden.
Ich war erst einmal beruhigt, aber einen vollends unerschütterlichen Friedenswillen
unterstellte ich der chinesischen Führung noch weniger als den kleineren
Großmächten dieser Welt. Außerdem gab es unter den Weltmonopolisten natürlich
nicht nur gegenseitige Abhängigkeiten. Die meisten Abhängigkeiten waren einseitig,
und zumindest diese schaffen politisch gefährliche Motive. Insofern trägt jede
Eindämmung ökonomischer Abhängigkeiten zur Friedenssicherung bei. Daran
schien mir auch Tians Argument nichts zu ändern.
Mit diesen Gedanken war ich noch immer beschäftigt, als ich zum ersten Mal von
Robert Yang und seiner Global-Upgrade-Bewegung erfuhr. Ich weiß nicht, wie ich
sie so lange hatte übersehen können. Dass ich auf solche Neuigkeiten erst durch eine
Notiz im SPIEGEL aufmerksam wurde, kam höchst selten vor, aber hier war es so.
Natürlich habe ich sofort über Global Upgrade recherchiert, und dabei stieß ich rasch
auf Aufregendes. Zum Aufregendsten in der Programmatik von Global Upgrade
gehörte dies: Dass in einer globalisierten Welt Bodenschätze nicht mehr den Staaten
gehören dürften, deren Territorium sich zufällig über diesen Schätzen befinde. Die
Bodenschätze, die von der ganzen Menschheit genutzt werden, müssten der
Menschheit als ganzer gehören, auch wenn Staaten sie auf ihrem eigenen
Staatsgebiet selbst förderten. Es bedürfe daher einer Welt-Charta, nach der
Eigentumsrechte an Bodenschätzen vergeben würden.
Eine solche Charta könne nur von einer weltweiten Pro-Kopf-Verteilung der
Bodenschätze ausgehen, wobei es allerdings nicht nur um die Köpfe der Lebenden
gehen dürfe. Die künftigen Generationen hätten ein gleiches Recht auf die
erschöpflichen Ressourcen dieser Welt. Eine Konsequenz daraus sei, dass die
Eigentumsrechte an Rohstoffen künftig von einer Welt-Agentur zu verwalten seien.
278
Die Einnahmen dieser Agentur dürften nicht verkonsumiert, sondern sie müssten in
Nachhaltigkeitsprojekte investiert werden.
Unter anderem so weit hatte Yang, der als Klimaaktivist begonnen hatte, seine
politischen Ideen bis dahin vorangetrieben. Wer wirklich Großes bewegen will, hatte
er zu Puig gesagt, müsse über die eigene Lebenszeit hinausdenken, und dem war er
offensichtlich treu geblieben.
Yang nannte dies die Agenda 2100. Ein Name, mit dem ich mich sofort verbunden
fühlte. Kurz vorher noch hatte mich wieder das schlechte Gewissen geplagt, eben
doch zur Generation Sichtflug zu gehören, die nie weit genug in die Zukunft gedacht
hatte. Hier nun lud jemand dazu ein, an einer Agenda 2100 mitzuwirken. Würden
Ältere wie ich dabei etwas von dem nachholen können, was sie im bisherigen Leben
versäumt hatten?
In einem von Global Upgrade verbreiteten Aufsatz wurde es konkreter. Eine
Organisation wie die UNO, hieß es dort, könne eine Agenda 2100 nicht umsetzen.
Von einer UNO und ähnlichen Organisationen sei nicht zu erwarten, dass sie
weitsichtiger und weiser agierten als ihre Mitgliedstaaten. Eine weitsichtigere und
klügere Weltorganisation könne es daher erst geben, wenn es weitsichtigere und
weisere Staaten gebe. Also müsse die Erneuerung der globalen Ressourcenpolitik
ganz unten anfangen, bei einer systemischen Erneuerung von Staaten.
Das war ein schlüssiger Gedanke, aber auch einer von ungeahnter politischer
Sprengkraft. Der SPIEGEL brachte es trotzdem fertig, in den folgenden zehn Jahren
keinen einzigen Beitrag über Robert Yang und Global Upgrade zu veröffentlichen.
Aber es war eben schon nicht mehr der SPIEGEL, den ich jahrzehntelang als
Archivleiter geliebt und verflucht hatte. 2059 hatte die Amazon-Alibaba-Gruppe die
restlichen Anteile am SPIEGEL-Verlag übernommen und war sie damit alleinige
Eigentümerin geworden. Der SPIEGEL hatte in den Jahren davor im Printbereich
deutlich an Auflage und Umsatz verloren, und nun wurden neue Konzepte gesucht.
279
Ein Jahr nach der Restübernahme durch Amazon-Alibaba kam der Verlagsleiter zu
mir. Ich erwartete, dass es um Sparvorgaben für das Archiv gehen würde, die ich
nicht eingehalten hatte, aber darüber sprach er kein Wort. Ich könne mir ja denken,
begann er, dass sich im SPIEGEL einiges verändern müsse. Nach dem Willen der
Anteilseigner solle der SPIEGEL einen Herausgeber bekommen, man denke dabei an
einen Politiker im Ruhestand. Die ZEIT habe – darauf dürfe man sich noch einmal
besinnen – vor langer Zeit einen Helmut Schmidt zu ihrem Herausgeber gemacht,
und so gut wie unter dessen jahrzehntelanger Herausgeberschaft sei es der ZEIT
später nie mehr gegangen. Ein genialer Schachzug des Verlegers sei das gewesen,
und für den SPIEGEL könne es auch heute noch ein Erfolgsrezept sein.
Ich saß da wie vom Donner gerührt. Ein Ex-Politiker, ein Parteimitglied also, als
SPIEGEL-Herausgeber? Unfassbar.
– Wir wollen auch die Meinung unserer Führungskräfte dazu wissen. Also, Herr
Schmidt, was halten Sie davon?
– Helmut Schmidt war eine Ausnahmeerscheinung, sagte ich. Ex-Politiker wie ihn
gibt es nicht mehr.
Er machte eine unwillige Miene. Soweit er es wisse, sagte er, habe auch Helmut
Schmidt in die Rolle eines Herausgebers erst hineinwachsen müssen.
– An wen denken Sie denn?, fragte ich.
– Es kommen nur Persönlichkeiten aus den höchsten Staatsämtern in Frage. Wir
denken an einen Ex-Kanzler.
– Mesäcker etwa?, entfuhr es mir. Nein, der sicher nicht.
– Ja, Mesäcker, sagte der Verlagsleiter kühl. Aber seien sie unbesorgt. Mesäcker hat
mittlerweile die Reife, die man sich von einem Herausgeber des SPIEGEL wünscht.
Da sind wir ganz sicher.
280
Mesäcker also. Der Mann, der seit unserer ersten Begegnung außer Machtwillen und
flüssiger Rede für mich nur angepasste Mittelmäßigkeit verkörperte. Genau die Art
von Mittelmäßigkeit, die die Welt in diesem Jahrhundert hatte stagnieren lassen.
Ich weiß nicht, ob dieses Gespräch der Grund war, aber in den Tagen danach verlor
sich das Gefühl von Souveränität, von Beherrschung und nicht selten auch von Stolz,
mit dem ich bis dahin fast immer meine Arbeit im Archiv getan hatte. Ich begann,
am SPIEGEL zu zweifeln, aber auch an mir selbst. Erlebten wir beim SPIEGEL
unnötige Veränderungen zum Schlechten, oder war ich schon zu alt, um mich an
notwendige Veränderungen zu gewöhnen? Würde das SPIEGEL-Archiv bald nicht
mehr der passende Ort für mich sein, oder war ich nicht mehr der Richtige für den
künftigen SPIEGEL? Je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker wurden die
Zweifel. Ich begann, mich in meinem eigenen Büro, das mir jahrzehntelang wie ein
zweites Zuhause gewesen war, fremd zu fühlen.
Natürlich hatte ich eine Vorahnung von dem, was kam. Drei Monate nach der
Einsetzung Mesäckers als SPIEGEL-Herausgeber wurde ich zur Verlagsleitung
hinaufgebeten. Als ich eintrat, saß neben dem Verlagsleiter die Personalchefin. Ich
hielt kurz inne, dann ging ich gefasst auf die beiden zu.
– Sie wollen mir einen Vorschlag machen?, sagte ich mit fester Stimme.
Ich sah die Erleichterung in ihren Gesichtern. Sie konnten sich also die peinliche
Vorrede sparen.
– Ja, Herr Schmidt, sagte die Personalleiterin, wir glauben, wir haben einen guten
und fairen Vorschlag für Sie.
Mein erster Gedanke war bei Hauser. Ist es Archivleiterschicksal, sein Berufsleben
beim SPIEGEL vorzeitig beenden zu müssen? Nein, kein Selbstmitleid, sagte ich mir
dann, das hatte auch Hauser damals nicht. Und gab es nicht auch eine Unzahl von
Redakteuren, die es nicht bis zur Altersgrenze geschafft hatten? Aber gab es unter
denen nicht auch tragische Fälle? Hieß es nicht, dass auch Kiesewetter seine
Entlassung noch längst nicht verwunden hat? Und selbst wenn ich eher
281
hinauskomplimentiert als entlassen würde, war das ein großer Unterschied?
Andererseits: Hatte Kiesewetter nicht bei Hausers Trauerfeier von dem Glück
gesprochen, den SPIEGEL rechtzeitig verlassen zu müssen, und mir Ähnliches
gewünscht? Dann fiel mir ein, wie Hauser seine Entlassung eine befreiende
Niederlage genannt hatte. Würde nicht auch ich mich bald befreit fühlen können? Ja,
sagte ich mir, auch für mich kann es schlimmstenfalls eine befreiende Niederlage
werden.
Das Gespräch verlief dann beinahe reibungslos. Ich gab mich in aufgeräumter
Stimmung, und der Verlagsleiter und die Personalerin zeigten sich zunehmend gut
gelaunt. Die angebotene Abfindung war großzügig, ich forderte mehr, wurde kurz
hinausgebeten, danach wurde das Angebot noch einmal ordentlich aufgestockt. Ich
würde sogar, das beruhigte mich, noch neun Monate lang meinen Dienst tun dürfen,
wenn ich es wolle. Das immerhin ein ungewöhnlicher Vertrauensbeweis. Wenigstens
hatten sie mir mein bisheriges Leben nicht wie Diebe aus der Hand geschlagen.
Als ich wieder in meinem Büro saß, dachte ich an den Nachfolger, der demnächst an
meinem Schreibtisch sitzen würde, einen viel Jüngeren natürlich, wahrscheinlich
einen, der all das, was mich beim SPIEGEL in letzter Zeit befremdet hatte, für ganz
und gar selbstverständlich nehmen würde. Was macht die Jüngeren so fügsam, fragte
ich mich, noch fügsamer als meine Generation? Oder ist es deren neue Art von
Weisheit?
Ölkartell: Die Bösen tun Gutes
Dass die Menschheit einen Einbruch in Wohlstand und Lebensstil erleben wird,
wenn die Erdöl- und Erdgasvorkommen der Welt zur Neige gehen, daran gab es nie
vernünftigen Zweifel. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts deckten die
bekannten Ölvorkommen den Bedarf für nur noch 30 Jahre. Dies hätte zumindest bei
der Generation der Jungen alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Das Ende des
Öl- und Gaszeitalters verschob sich danach aber immer weiter in die Zukunft, weil
immer neue Vorkommen entdeckt wurden. Im ersten Quartal unseres Jahrhunderts
282
nahm man an, dass die bekannten Reserven noch für mindestens 50 Jahre reichen
würden.
Vom zweiten Jahrhundertquartal an wurden dann aber weniger Vorkommen neu
entdeckt, als alte verbraucht werden. Das anzunehmende Ende der Öl-Zeit rückte von
da an also immer näher und damit der dadurch bedingte Wohlstandseinbruch. Schon
zu dieser Zeit konnte nur noch ein energiepolitisches Wunder verhindern, dass die
Generation der Jüngsten noch zu Lebzeiten davon betroffen sein würde. Vom
politischen Willen, solches Wunder zu bewirken, war und ist aber weltweit nichts zu
spüren. Natürlich mahnten verschiedenste Organisationen Politiker, Regierungen und
Parlamente dieser Welt, auf eine drastische Verringerung des Öl- und Gasverbrauchs
hinzuwirken, und dies tat auch Yang mit seiner Bewegung. Yang war sich aber
bewusst, wie vergeblich diese Mahnungen bleiben würden.
Die Regierungen dieser Welt hätten kommen sehen müssen, dass sich unter diesen
Umständen ein neues Weltöl- und -gaskartell bilden würde, und zwar ein
mächtigeres denn je. Denn das Schwinden der Reserven war nicht nur für die
Verbraucherländer ein Schreckensszenario, mindestens ebenso stark mussten sich
natürlich die Förderländer davon bedroht fühlen. Sie mussten daher alles
daransetzen, das Ende des Öl- und Gaszeitalters so weit wie möglich
hinauszuschieben. Dies war nur mit drastischer Drosselung der Ölförderung zu
erreichen.
Yangs Bewegung erstellte hierzu Anfang der sechziger Jahre eine gründliche Studie.
Die Studie zeigte, wie weit der Öl- und Gasverbrauch langfristig reduziert werden
müsste, um die Interessen der Weltbevölkerung generationenübergreifend
ausgewogen zu wahren. Die Entwicklung des Verbrauchs, so Yangs Studie, lasse
sich erfolgreich nicht durch weltweite Rationierung steuern, eher gelänge dies über
den Öl-, Benzin- und Gaspreis. Dieser müsse innerhalb von zehn Jahren annähernd
verdoppelt und innerhalb von 50 Jahren etwa verzehnfacht werden. Hierfür sollten
die Verbraucherländer durch stetig steigende Verbrauchsteuern sorgen.
283
Die gleiche Wirkung, führte Yang weiter aus, hätte es natürlich, wenn die Öl- und
Gasförderländer ihre Preise entsprechend erhöhten. Und genau das, so Yang, würden
sie auch tun, wenn die Verbraucherländer ihnen nicht mit drastischen Erhöhungen
ihrer Mineralölsteuern zuvorkämen. Yang führte auch aus, wie massiv dadurch
Wohlstand und wirtschaftliche Macht zugunsten der Förderländer umverteilt würden.
Dass Yang später von zahllosen Politikern und Regierungen dieser Welt
vorgeworfen wurde, diese Studie habe die Förderländer zur Bildung des Weltkartells
geradezu angestiftet und damit zu einem rücksichtslosen Wirtschaftskrieg gegen die
Verbraucherländer, wunderte ihn selbst am wenigsten. Um von eigenem Versagen
abzulenken, erklärte er, sei Politikern auch die abwegigste Diffamierung schon
immer recht gewesen.
Yang scheute sich auch nicht, in dieser Debatte später noch Öl ins Feuer zu gießen.
Er würdigte die von den Förderländern ausgelöste Preisexplosion als die – im
generationenübergreifenden Interesse der Menschheit – zweitbeste Lösung. Das
Vorgehen der Förderländer sei kein wirtschaftlicher Machtmissbrauch und kein
Wirtschaftskrieg, es sei die Bremsung der noch immer öl- und gastrunkenen
Weltwirtschaft in höchster Not. Manchmal, so Yang, täten eben auch die
vermeintlich Bösen Gutes.
Die WOGA, die Welt-Öl- und -Gasagentur, wurde im Herbst 2065 als – weitaus
mächtigere – Nachfolgerin der früheren OPEC gegründet. Diese als Weltkartell zu
bezeichnen war eine Verharmlosung. Diese Organisation war von Anfang an eine
straff geführte Weltmonopolagentur, die alle ihre Mitgliedsländer streng zu
disziplinieren wusste. Vielleicht wäre sie erst einige Jahre später entstanden, wenn
Russland sich hierfür nicht so energisch engagiert hätte. Russland gehörte mit
Venezuela und Nigeria zu den Ländern, die vom erdöl- bzw. erdgasfinanzierten
Wohlstand am wenigsten in ihre Zukunftssicherung investiert hatten. Diese drei
Staaten mussten sich daher vor einer Zukunft ohne Öl- und Gaseinnahmen noch
mehr fürchten als andere Förderländer. So wurde Russland zum Hauptinitiator der
WOGA. Die Losung, die die russische Regierung der WOGA vorgab, hieß:
284
Förderung drosseln, Erlöse stabilisieren. Mit immer weniger Öl und Gas sollte also
ein immer gleicher Strom von Geldeinnahmen erzielt werden. Als 10-Jahres-Ziel gab
Russland vor: Preise verdoppeln, Förderung halbieren. Als 40-Jahres Ziel: Preise
verzehnfachen, Förderung auf ein Zehntel verringern. Man konnte in der Tat meinen,
diese Zahlen seien von Yang inspiriert gewesen.
Die Regierungen der Verbraucherländer, die meisten westlichen Demokratien
eingeschlossen, gaben sich zunächst der Illusion hin, das Monopol der WOGA werde
rasch an den Interessengegensätzen seiner Mitglieder zerbrechen, und sie
rechtfertigten damit ihre Untätigkeit. So verpassten die Verbraucherländer ihre letzte
Chance auf einen glimpflichen Ausstieg aus der Ära erschwinglichen Öls und Gases.
Dass die WOGA mit ihrer Monopolmacht nicht gerade zimperlich umgehen würde,
nicht gegenüber armen Ländern und erst recht nicht gegenüber westlichen
Wohlstandsländern, war natürlich absehbar. Trotzdem löste das Ausmaß der
wirtschaftlichen Machtverschiebung in den Wohlstandsländern blankes Entsetzen
aus. Den weltweiten Absturz der Aktienkurse nach Gründung der WOGA nutzten die
WOGA und einzelne Förderstaaten, um sich weltweit in ölverarbeitende Konzerne
und andere Schlüsselindustrien einzukaufen. Als dann die ersten Staaten ihre Öl- und
Gasrechnungen nicht mehr bar bezahlen konnten, nahmen die Förderstaaten auch
Anteile an staatlichen oder halbstaatlichen Unternehmen, an Flughäfen, Häfen,
Energieversorgern, Entsorgungsunternehmen, Telekommunikationsunternehmen,
Börsen, Eisenbahngesellschaften und Wohnungsgesellschaften und immer mehr auch
an staatlichen Ländereien und Immobilien zahlungshalber an. Großbritannien und
Norwegen, die sich der WOGA angeschlossen hatten, beteiligten sich hieran,
behaupteten aber, mäßigend auf die anderen Mitgliedsländer einzuwirken. Dennoch
entwickelten die WOGA und ihre Mitgliedstaaten sich nach und nach zu globalen
Großinvestoren, von denen immer mehr Länder abhängig wurden. Auch westlichen
Wohlstandsstaaten drohte ohne Kapitalimporte aus WOGA-Ländern ein
wirtschaftlicher Absturz.
285
Nicht hiervon betroffen war China. Es hatte als weltweit einziger großer
Ölverbraucherstaat genügend Vorsorge getroffen, um den Druck des Weltmonopols
auch langfristig nicht fürchten zu müssen. Durch konsequente Energiepolitik hatte es
seinen Öl- und Gasverbrauch seit den zwanziger Jahren auf ein Zehntel gesenkt. Der
Stolz auf diese konsequente Energiepolitik gab dem politischen Selbstbewusstsein
Chinas weiteren Schub. Die Geringschätzung für demokratische Staaten, die zu
solcher Konsequenz nach wie vor nicht fähig waren, erreichte in China einen neuen
Höhepunkt.
Jahrhundertereignis Klimawandel
Dass das 21. Jahrhundert auch ein verlorenes Jahrhundert der Bevölkerungspolitik
sein könnte, darüber wurde in sechziger Jahren eine Zeitlang heftig diskutiert, nicht
nur in Kreisen der Wissenschaft. Aber noch immer wurde das Thema dabei nicht von
den lähmenden Tabus befreit, die seit dem 20. Jahrhundert auf ihm lasteten.
In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hatte sich in einigen wenigen
Ländern wie Finnland die Bevölkerungszahl spontan stabilisiert, ohne entschiedene
politische Eingriffe. Ansonsten teilte die Welt sich auf in Regionen, die entweder ihr
Bevölkerungswachstum oder ihren Bevölkerungsschwund nicht unter Kontrolle
hatten. Dabei überwog das unkontrollierte Bevölkerungswachstum noch immer bei
Weitem.
Als lange Zeit erstes und einziges unter den bevölkerungsreichsten Ländern hatte
China für sein demographisches Problem frühzeitig politische Lösungen gefunden,
so drastisch die Mittel teilweise auch waren. China hielt damit seine
Bevölkerungszahl im Durchschnitt der ersten Jahrhunderthälfte etwa konstant, ohne
nennenswerte Zu- und Abwanderung. Kein großes demokratisch regiertes Land der
Welt tat es ihm nach. Robert Yang kommentierte dies in einer Streitschrift so: Die
Demografie sei eine weitere politische Schicksalsfrage, in der die Demokratie
versagt habe.
286
Im ersten Jahrhundertquartal mehrten sich unter Bevölkerungswissenschaftlern
dennoch die entwarnenden Stimmen. Sie sagten voraus, dass das
Bevölkerungswachstum bald weltweit ebenso zurückgehen werde, wie es in den
meisten wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten schon zurückgegangen war. Das
Bevölkerungswachstum hänge hauptsächlich vom Wohlstands- und Bildungsniveau
ab, und dies werde weltweit genügend steigen, um das globale
Bevölkerungswachstum in der ersten Hälfte des 22. Jahrhunderts zu stoppen. Eine
wirkliche Entwarnung konnte dies aber schon deswegen nicht sein, weil mit
wachsendem Wohlstand auch der Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch und die Pro-KopfBelastungen für Umwelt und Klima steigen. Zudem wurde bei diesen Prognosen der
Einfluss von Tradition und Kultur auf die Geburtenraten für viele Länder
unterschätzt.
Verharmlost wurden in den damaligen Studien auch die langfristigen Auswirkungen
der niedrigen Geburtenraten in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern. Diese
Länder verloren allein aufgrund des Bevölkerungsrückgangs an politischem und
ökonomischem Gewicht in der Welt und damit auch an Möglichkeiten, zivilisierend
auf die Weltpolitik einzuwirken. Verstärkt wurde dies noch durch die Verlängerung
der Lebenserwartung und die damit verbundene Überalterung. Mit der Überalterung
war in den hoch entwickelten Ländern der Anteil der Erwerbstätigen an der
Bevölkerung deutlich gesunken, und dies minderte in diesen Ländern natürlich
Wohlstand und Wirtschaftskraft.
Da ihre Familienpolitik noch immer nicht für nennenswert höhere Geburtenraten
gesorgt hatte, hatten die Wohlstandsstaaten nach Ersatzlösungen suchen müssen. Der
Politik war nichts anderes eingefallen, als die Überalterung mit immer mehr
Zuwanderung zu entschärfen, mit dem also, was – aus guten Gründen –
Überfremdung zu nennen ein politisches Tabu geblieben ist. Aber gerade die
Tabuisierung des Überfremdungsthemas hatte in vielen Ländern Rechtspopulisten
immer mehr Wählerstimmen zugetrieben, und sie trug weiter zur Vergiftung der
287
politischen Stimmung bei. Eine konsequent auf die Geburtenrate ausgerichtete
Politik war dennoch oder gerade deswegen nicht in Sicht.
Nicht anders stand es natürlich um die Klimapolitik. Bei anhaltendem
Weltbevölkerungswachstum und noch schnellerem Wohlstandswachstum waren
auch im 21. Jahrhundert die klimaschädlichen Immissionen weiter gewachsen, allen
Mahnungen der Wissenschaft, allen politischen Lippenbekenntnissen und allen
hehren Beschlüssen auf suprastaatlicher Ebene zum Trotz. 2068 fand in Neuseeland
die 51. Weltklimakonferenz statt. Nachdem einige kleine Länder schon im Vorfeld
mit der Forderung gescheitert waren, diese Konferenz auf dem stattfinden zu lassen,
was von Kiribati, den Seychellen oder von Vanuatu noch übrig war, hatten sich
schließlich Neuseeland und die Niederlande um die Ausrichtung beworben.
Die Niederlande wollten der Welt vorführen, dass es innerhalb des Landes erste
Anzeichen einer Klimamigration gab. Niederländische Geographen hatten auf
aktualisierten Landkarten die Landesteile ausgewiesen, die in den kommenden 100
Jahren wegen wachsender Überflutungsgefahr möglicherweise aufgegeben werden
müssten. In diesen Regionen hatte der Staat seine Investitionen in die Infrastruktur
schon merklich reduziert, mit der Folge, dass sich schon jetzt kaum noch Neubürger
dort ansiedelten. Wissenschaftliche Gutachten prognostizierten, dass bei
konsequenter Fortsetzung dieser Politik, bei Reduzierung der staatlichen
Infrastrukturausgaben auf das Unvermeidliche, diese Regionen sich innerhalb von
drei bis vier Generationen größtenteils spontan entvölkern würden.
Zwangsumsiedlungen würden nur in geringem Umfang notwendig sein.
Neuseeland war von den Folgen des Klimawandels vor allem indirekt betroffen. Es
wollte die Augen der Welt aber darauf richten, dass es schon fast 100 000
Klimaflüchtlinge aufgenommen hatte und dass der Zustrom weiter anschwoll. Zu
diesem Thema führte Neuseeland eine geschickte Medienkampagne, und es bekam
schließlich als Austragungsort der Weltklimakonferenz den Vorzug.
288
Am Charakter der Weltklimakonferenzen hatte sich in den 80 Jahren seit ihrem
Beginn wenig geändert. Sie waren ein Ritual, das mehr der Beruhigung des
klimapolitischen Weltgewissens diente, als dass es konkrete politische Wirkung
erzielte. Man begnügte sich damit, über das Weltproblem Klima auf Weltebene in
ernster Stimmung zu konferieren und dabei klimapolitische Ziele zu formulieren,
aber die wenigsten Länder fühlten sich für deren Umsetzung verantwortlich. Diese
Schwäche der Weltklimapolitik ersparte den Regierungen dieser Welt
schmerzlichere, also unpopulärere Maßnahmen, und viele von ihnen konnten die
Erleichterung hierüber kaum verbergen.
Wissenschaftler mehrerer Länder hatten in den fünfziger Jahren akribisch
nachgewiesen, dass die bisherigen Beschlüsse von Weltklimakonferenzen den
Klimawandel nur marginal beeinflusst hatten. Soweit klimaschädliche Immissionen
hinter früheren Prognosen zurückgeblieben seien, sei dies fast vollständig mit
technischen Innovationen und spontanen Reaktionen der Märkte zu erklären.
Im Vorfeld der Klimakonferenz von Auckland waren die Erwartungen dennoch
höher als bei fast allen vorangegangenen. Die Weltöffentlichkeit war von einer
Studie aufgeschreckt worden, die nachwies, dass die Erde für Menschen gänzlich
unbewohnbar würde, wenn alle fossilen Energieträger vollständig oder auch nur
größtenteils verbrannt würden. Diese Studie war alles andere als eine Neuigkeit, aber
sie war zum ersten Mal so präsentiert worden, dass sie spontane Massenwirkung
erzielte.
Ähnlich hohes Aufsehen erregte eine weltweit koordinierte Initiative von
Entwicklungsländern, die von den großen Klimaschädigernationen dieser Welt, von
den großen Wohlstandsnationen also, präzise bezifferten Schadensersatz verlangten.
Die Erdatmosphäre, so wurde argumentiert, sei allen Ländern und allen Menschen
der Welt gleichermaßen zu eigen. Daher müsse die Aufnahmekapazität der
Erdatmosphäre für klimaschädigende Immissionen gleichmäßig auf die Menschen
dieser Welt verteilt werden. Die meisten Wohlstandsnationen hätten ihren Anteil
hieran aber nicht nur aufgebraucht, sie hätten ihn schon weit überzogen. Dies
289
verwehre es den weniger entwickelten Nationen, jemals mit vergleichbarer
Leichtigkeit Wachstum und Wohlstand zu erlangen wie die derzeitigen
Wohlstandsnationen. Dabei beriefen einige sich ausdrücklich auf Yangs Forderung,
die fossilen Energieträger als kollektives Menschheitserbe zu behandeln.
Aus dieser prinzipiell schlüssigen Argumentation wurden Entschädigungsansprüche
hergeleitet, deren Erfüllung die Wohlstandsentwicklung der meisten reichen Länder
fast um ein Jahrhundert zurückgeworfen hätte. Vor der Auckland-Konferenz wurde
in der Weltöffentlichkeit aber schon darüber spekuliert, wie lange die alten
Wohlstandsnationen sich diesen Ansprüchen der übrigen Welt noch würden
entziehen können. Angefeuert wurden diese Spekulationen durch Gerüchte, dass
China sich hierbei auf die Seite der Entwicklungsländer schlagen und für deren
Ansprüche streiten werde, notfalls mit Wirtschaftssanktionen oder Schlimmerem.
So entstand im Vorfeld der Auckland-Konferenz eine nervöse Atmosphäre, die
natürlich von den Medien verstärkt wurde. Viele Fernsehmoderatoren befragten
Politiker, warum sie in Klimafragen so lange untätig gewesen waren und wie sie mit
der moralischen Schuld in dieser Frage umgingen. Weltweit bekannt wurde ein
Vorfall in Italien – wo die Medien mittlerweile so unverblümt wie nirgendwo sonst
die Inkompetenz ihrer politischen Klasse ausweideten – mit dem amtierenden
Ministerpräsidenten, der seiner Interviewerin auf eben diese Frage die flapsige
Antwort gab:
– Das müssen Sie mich nicht fragen, ich bin erst seit zwei Jahren im Amt.
Der weitere Wortwechsel hielt sich monatelang in den Charts von Youtube:
– Sie, Herr Borelli, sind 65 Jahre alt, sie sind seit 45 Jahren Parteimitglied und seit
13 Jahren Parteivorsitzender oder stellvertretender Parteivorsitzender. Sie waren
dreimal Minister, das erste Mal vor zehn Jahren, davon eineinhalb Jahre
Umweltminister. Sie müssen also alles gewusst haben. Aber Sie haben in der Partei
und in der Regierung nie kritische Fragen zum Klimawandel gestellt, nie eine
290
Initiative dazu ergriffen, das haben wir recherchiert. Wie können sie da noch guten
Gewissens das Land regieren?
Borelli machte eine ausholende Handbewegung, versuchte vergeblich ein
herablassendes Lächeln, dann bellte er los:
– Und Sie? Sie machen diesen Job auch schon zehn Jahre. Haben Sie denn zum
Klimawandel kritische Fragen gestellt?
– Das ist nicht meine Aufgabe, antwortete sie mit provozierender Gelassenheit.
Politisch verantwortlich sind Sie.
– Was, glauben Sie denn, hätte ich tun sollen? Öffentlich Italien zum gewissenlosen
Klimasünder erklären? Den Wählern sagen: Ihr müsst euch heute einschränken,
damit eure Nachkommen in 50 oder 100 Jahren nicht zurückstecken müssen? Sie und
ihre Kollegen hätten mich doch zum Gespött der Nation gemacht.
– Trotzdem hätten Sie es tun sollen. Und Sie können es immer noch tun. Jetzt zum
Beispiel.
– Ausgerechnet Sie wollen mir das vorschreiben?
– Wenn Sie sich ihrer moralischen Verantwortung nicht stellen, dann sollten Sie die
politische Verantwortung abgeben.
Borelli verlor vollends die Fassung.
– Sie fordern mich also zum Rücktritt auf?, schrie er. Dann gehen Sie doch erstmal
mit gutem Beispiel voran.
– Aber gern. Weil ich Fragen, die ich in dieser Sendung hätte stellen sollen, nicht
gestellt habe, erkläre ich hiermit meinen Rücktritt.
Und dann mit bohrendem Blick:
– Nun Sie.
Borelli sah sie einen Moment fassungslos an, schnappte nach Luft, dann sagte er
hastig:
291
– Über Ihren Rücktritt wird sich ganz Italien freuen. Ich habe die Mehrheit der
Wähler hinter mir.
Die Interviewerin schwieg, aber sie hüllte ihr Schweigen in ein souveränes
herablassendes Lächeln, das die Kameras – im Wechsel mit Borellis hilflosen Gesten
der Empörung – minutenlag auskosteten.
Dies war natürlich ein journalistischer Coup. Nicht nur, weil hier ein führender
Politiker so gekonnt vorgeführt wurde. Es war auch ein Coup der klimapolitischen
Bewusstseinsbildung.
In den Vereinigten Staaten geschah kurz danach Ähnliches. Der
Präsidentschaftskandidat der Demokraten galt in Klimaschutzfragen als
unvoreingenommen, aber in der Öffentlichkeit hatte er sich nie ganz festgelegt. In
einem Hintergrundgespräch mit Journalisten ließ er seinen Gedanken dann etwas
freieren Lauf: Auch die Ölvorkommen der Vereinigten Staaten gingen rapide zur
Neige, auch für Amerikaner werde die Zeit billigen Benzins und billiger Energie bald
vorbei sein. Der bisherige amerikanische Lebensstil werde dann unbezahlbar werden.
Die Amerikaner müssten räumlich enger zusammenrücken, sagte er dann, sie
müssten ein Land der kurzen Wege werden, ihre Siedlungen und Häuser müssten
kompakter werden, und das sei längst nicht alles. "Und um all das zu ermöglichen,
sagte er, "werden wir unserem Staat viel mehr Geld geben müssen, als wir es bisher
tun."
Ob es ein Versehen oder eine gezielte Indiskretion war, dass eine Bild- und
Tonaufnahme hiervon an die Öffentlichkeit gelangte, wurde nie geklärt, aber schon
die Spekulationen hierüber heizten die Erregung weiter an. Die Mehrheit der Bürger
war, befeuert von einflussreichen Medien, empört. Der Kandidat zog sich schließlich
aus dem Rennen um die Präsidentschaft zurück. Viele engagierte Klimaschützer
waren hierüber bestürzt. Robert Yang sah sich nur bestätigt.
292
Die Auckland-Konferenz glich den meisten vorherigen Weltklimakonferenzen in
gleichgültiger Routine, und von dieser Routine waren mittlerweile auch die zahllosen
zivilgesellschaftlichen Protestinitiativen angesteckt, die diese Konferenzen schon
lange begleiteten. Die einzige große Ausnahme hiervon war Yangs Global Upgrade.
Sie präsentierte sich bei der Auckland-Konferenz selbstbewusster denn je, und sie
stieß auf größere Resonanz denn je.
In Auckland verkündete Yang keine neue Botschaft, es war die gleiche wie vorher.
Er protestierte nicht gegen die Konferenzteilnehmer und deren Untätigkeit, er
protestierte gegen niemanden, er propagierte nur weiter seine besondere Art von
Protest. Schon im Vorfeld der Konferenz appellierte er wieder an die
zivilgesellschaftlichen Initiativen, von der Klimakonferenz nichts Konkretes zu
erwarten und von ihren Teilnehmern nichts Konkretes zu fordern. Wenn er überhaupt
eine Botschaft an die Teilnehmerstaaten hatte, dann hieß sie: Ihr hört uns nicht zu,
also reden wir nicht mit euch. Ihr alle seid Vertreter von Regierungen, die das
Problem nicht verstehen wollen oder können, egal, aus welchen Parteien ihr kommt.
Ihre alle seid Vertreter politischer Systeme, die Klimapolitik in die Hände
klimapolitischer Dilettanten legen. Wir machen euch deswegen keinen Vorwurf. Ihr
arbeitet in Systemen, die dem Problem nicht gewachsen sind, fachlich nicht,
moralisch nicht und politisch nicht. Nicht ihr persönlich führt die Welt klimapolitisch
an den Abgrund, die politischen Systeme tun es, auch die demokratischen.
Und an die zivilgesellschaftlichen Initiativen richtete er wieder die Botschaft:
Konzentriert euch auf den politischen Systemwandel.
Yang war klar, dass er mit solchen Forderungen die Geduld zivilgesellschaftlich
engagierter Bürger strapazierte. Auch denen fiel es verständlicherweise schwer, auf
persönliche Feindbilder zu verzichten, und die allerwenigsten waren daher bereit, die
Ursache des klimapolitischen Versagens auch im System der Demokratie zu sehen.
Aber Yang hatte auch Konkreteres zu bieten. In Auckland propagierte er zum ersten
Mal seine Idee einer virtuellen Weltklimaregierung. Dieses Gremium sollte
klimapolitische Entscheidungen simulieren, wie sie sich aus wissenschaftlichem
293
Sachverstand und globaler Verantwortungsethik ergäben. Danach, so Yang, müsse
dann nach einer optimierten Staats- und Staatenordnung gesucht werden, die solche
oder ähnliche Entscheidungen auch in realer Politik hervorbrächte. Am
wissenschaftlichen Sachverstand fehle es in der Klimafrage ja nicht und auch nicht
an moralischer Einsichtsfähigkeit. Woran es fehle, sei die richtige Staats- und
Staatenordnung.
Noch nicht hierfür, aber für die Organisationsform einer virtuellen
Weltklimaregierung macht Yang schon einige konkrete Vorschläge. Deren
Mitglieder sollten möglichst unabhängige Experten sein, die auf ihrem Gebiet nie für
politische Auftraggeber gearbeitet hatten und es auch in Zukunft nicht zu tun
versprachen, und sie sollten für lange Amtszeiten bestellt werden. Zudem sollten sie
– um ihre politische Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit zu gewährleisten –
finanziell unabhängig sein. Die Mittel dafür stünden bereit.
Aber solche spröde und abstrakt wirkenden Vorschläge machte einer wie Yang
natürlich nicht, ohne sie publikumswirksam zu verpacken. Er verband sie mit der
These, dass kein Staat und keine Organisation je klimapolitisch so viel Gutes bewirkt
habe wie die verhasste Weltmonopolagentur für Öl und Gas, die WOGA. Man müsse
sich daher wünschen, erklärte Yang, dass eine virtuelle Weltklimaregierung eng mit
der WOGA zusammenarbeite, und dies umso mehr, als die Exporteure von Kohle
sich der WOGA inzwischen angeschlossen hatten. Vorerst könne nun einmal nichts
und niemand auf der Welt die großen Klimasünderstaaten so wirkungsvoll von ihrem
unverantwortlichen Tun abbringen wie die WOGA. Schon die Androhung eines Öl-,
Gas- und Kohleembargos würde Großes bewirken.
Aber natürlich wollte Yang das Klimaschicksal dieser Welt nicht in die Hände einer
eigennützigen Weltmonopolagentur gelegt sehen. Das Projekt der
Weltklimaregierung war nicht weniger existenziell, weil es eine WOGA gab. Für
Yang war und blieb es – neben dem Selbstbestimmungsrecht über die
Staatszugehörigkeit – das vorrangige politische Projekt seiner Zeit.
294
Yang war sich drüber im Klaren, dass ein solches Projekt nur gelingen könnte, wenn
es sehr geduldig vorbereitet würde. Er schätzte die Vorbereitungszeit auf etwa acht
Jahre. 2076, schlug er vor, könne eine solche virtuelle Weltklimaregierung vor die
Weltöffentlichkeit treten. Deren Vorschläge würde die bisherige Weltklimapolitik
dann endlich als das erscheinen lassen, was sie immer gewesen sei: organisierte
politische Unverantwortlichkeit.
2076 erschien noch weit hin, aber Yangs Ankündigung weckte zumindest große
Neugier. Global Upgrade wurde danach zu der von den Medien weltweit am meisten
beachteten zivilgesellschaftlichen Bewegung.
Kalter und heißer Cyberkrieg
Dass der SPIEGEL Konzernbetrieb geworden war, hat ihm nicht nur geschadet. Dem
SPIEGEL war u.a. die Konzernabteilung Cyber Security zu Diensten, und deren
Spezialisten erneuerten die Cyberabwehr des SPIEGEL von Grund auf. Zu
Schulungszwecken bereiteten sie auch Altfälle auf, vor allem natürlich den
damaligen großen Hackerangriff auf unser Archiv. Dabei kam heraus, dass die
Hacker damals mit größter Wahrscheinlichkeit Insiderinformationen aus dem Verlag
gehabt hatten. Danach wurden alle Führungskräfte, auch ich als Archivleiter, befragt,
ob sie einen Verdacht hätten. Alle verneinten.
Aber einen leisen Verdacht hatte ich doch. Klaus, den Computernerd, hatte ich einige
Male beiläufig über Datensicherheit und Hackerabwehr sprechen hören. Und später,
nach seinem Ausscheiden, erfuhr ich, dass er Mitglied im einem neu gegründeten
Kaos Komputer Klub war. Die Hacker-Szene kannte er also. Aber war es vorstellbar,
dass ausgerechnet unser Klaus, der sympathische Hofnarr des Archivs, uns so
hintergangen hat? Dass er als Narr in Wahrheit doch ein Böser war? Ein Kauz war er
schon, aber ein Komplize krimineller Hacker?
Ich wehrte mich mit aller Kraft dagegen, diesen Gedanken weiterzudenken.
Andererseits, überlegte ich dann: Haben die Hacker uns mir ihrer Attacke überhaupt
295
geschadet? Nein, sagte ich mir, das haben sie eigentlich nicht. Sie haben die Augen
der Welt für einen Moment auf den SPIEGEL gelenkt, sie haben uns aufgerüttelt,
und sie haben uns für unsere eigene Angreifbarkeit sensibilisiert. Der SPIEGEL war
danach weltweit noch bekannter, und wir waren am Ende besser geschützt, als wir es
ohne den Angriff gewesen wären. Selbst wenn also Klaus in die Sache verwickelt
war – konnte man ihm überhaupt einen Vorwurf machen?
Mir ging der Vorfall natürlich nie ganz aus dem Sinn, und ich stellte auch immer
wieder Vermutungen zu den Tätern an. Am Ende schien mir fast gewiss: Täter,
Mittäter oder Auftraggeber war ein Geheimdienst. Niemand sonst hatte ein so klares
Motiv, ein so selbstverständliches Interesse an unseren brisanten
Archivinformationen. Es konnte der BND gewesen sein, der BND zusammen mit
einem ausländischen Dienst wie der NSA oder dem GCHQ, ein russischer
Geheimdienst oder ein chinesischer, unter anderen. Aber Klaus als Helfer eines
Geheimdienstes? Oder irgendein anderer Kollege? Ich mochte es mir nicht
vorstellen.
Dass in einer digital bald lückenlos vernetzten Welt den Geheimdiensten eine immer
unheimlichere Macht zuwuchs, das war natürlich längst nichts Neues und nichts
Besonderes mehr. Das hatte auch ich inzwischen als Teil einer Entwicklung
hingenommen, die dennoch niemand würde rückgängig machen wollen. Niemand
wäre darauf gekommen, den Bürgern, dem Staat und der Wirtschaft ihre
Internetverbindung zu nehmen, nur um der digitalen Angreifbarkeit ein Ende zu
machen. Aber unheimlich blieb es doch. Ich fragte mich, ob, wenn nichts getan
würde, dieses Problem immer schlimmer und immer schwerer lösbar würde, ähnlich
wie beim Klimaproblem. Aber erst nach Jahren wurde mir klar, dass es hier
tatsächlich einen engen Zusammenhang mit Yangs Ideen zur Klimaschutzpolitik gab.
Yang hatte sich gefragt, ob der Klimaschutz bei den Regierungen dieser Welt in den
richtigen Händen liege. Die Erfahrung hatte ihm gezeigt: Nein, das tut er nicht. Dann
hatte er überlegt, wem sonst der Klimaschutz überantwortet werden sollte. Eine
296
solche Institution, so sah er es, gab es nicht. Also müssten solche Institutionen erst
geschaffen werden. Erst virtuell, dann real. Auf nationaler Ebene und auf globaler.
Ist es nicht, dachte ich, bei Cyber-Sicherheit und digitalem Datenschutz ähnlich?
Regierung und Staat sollen auf diesem Gebiet alles Notwendige für uns tun, das wir
aus eigener Kraft nicht können. Aber sind Staat und Regierung hierin wirklich
kompetent? Und verfolgen sie hierin wirklich unsere Interessen? Wenn Regierungen
beim Klimaschutz versagen, können wir von ihnen dann bei der Cybersicherheit
Besseres erwarten? Könnte nicht beiden Problemen gemein sein, dass unsere
jahrhundertealten staatlichen Strukturen – auch und vielleicht besonders die
demokratischen – damit überfordert sind?
Und machen wir in Sachen Cybersicherheit und Datenschutz nicht sogar den Bock
zum Gärtner, wenn wir diese Aufgabe in die Hände unserer Regierungen legen? Hat
nicht der Staat, wie er ist, sogar ein naheliegendes Interesse daran, seine Cybermacht
zu missbrauchen? Müssen wir nicht hiervor am allermeisten auf der Hut sein? Die
viel zu späte Verleihung des Friedensnobelpreises an den schon todkranken Edward
Snowden sollte uns das in Erinnerung gerufen haben.
Wir wollen immer noch eine Welt, in der alles mit allem vernetzt ist und in der
digitale Informationen für uns immer leichter verfügbar sind. So vernetzt zu sein ist
für uns fast ein Grundbedürfnis geworden, aber dieses kollidiert mit anderen
Grundbedürfnissen wie dem nach Sicherheit, nach Privatheit und nach Intimität und
mit dem Schutz geistigen Eigentums. Wenn die Vernetzung weiter zunimmt, nehmen
auch die Verletzlichkeiten zu.
Worum es hierbei für uns geht, das verstehen auch Laien wie ich, aber viel mehr
verstehen wir Laien davon nicht. Uns – oder zumindest Älteren wie mir - fehlen
immer noch die Worte und Begriffe, um über Cybersicherheit treffend reden zu
können. Wir können unser Vorstellungsvermögen dafür nur mit Vergleichen stärken.
Mir hilft es noch immer, über Cybersicherheit in den gleichen Begriffen und Bildern
zu denken wie über äußere und innere Sicherheit im alten Sinne, mit Begriffen also
297
wie Polizei und Streitkräfte. Ich stelle mir also vor, dass wir eine Cyberpolizei und
Cyberstreitkräfte brauchen. Cyberpolizei zum Schutz vor inländischen
Cyberangriffen, Cyberstreitkräfte zum Schutz vor Angriffen aus anderen Ländern.
Jüngere mögen ihre eigenen Begriffe dafür finden, aber für mich versuche ich es erst
einmal mit diesen.
In Yangs Sinne müssten wir uns demnach fragen: Wer sollte für eine Cyberpolizei
und Cyberstreitkäfte verantwortlich sein? Wer sollte deren politische Führung
haben? Wer sollte die dafür notwendigen Gesetze und Verordnungen schaffen?
Dieselben Politiker etwa, dieselbe politische Klasse, dieselben Geschöpfe unserer
Parteien, mit denen wir es in der Politik sonst zu tun haben? Lässt sich dauerhafte
verlässliche Cybersicherheit wirklich in unseren alten staatlichen Strukturen
schaffen, z.B. mit neuen Abteilungen in alten Ministerien?
Der Einwand von Yang wäre: Fast überall auf der Welt gibt es für Klimaschutz
zuständige Behörden, aber geholfen hat es wenig, und nicht anders wird es bei
Problemen wie der Cybersicherheit sein. Der andere, nicht weniger wichtige
Einwand wäre: Dann würden uns Institution schützen, vor deren Macht wir
möglicherweise selbst immer dringender Schutz brauchen. Die zwingende
Schlussfolgerung aus beidem ist: Auch für Cybersicherheit sollte eine eigenständige
politische Zuständigkeit neu geschaffen werden. "Vielleicht so unabhängig wie eine
Zentralbank?", war Constanzes spontaner Kommentar, als ich ihr diesen Gedanken
zum ersten Mal vortrug.
So kompliziert hatte ich noch nicht gedacht, aber Constanze hatte natürlich Recht.
Aber auch dieser Gedanke wurde umso komplizierter, je länger ich mich damit
befasste. Was würden z.B. kleinere Nationen tun, die für eigene Cyberstreitkräfte
nicht genug Geld und nicht genug Wissen hätten? Sie müssten natürlich mit anderen
Nationen gemeinsame Cyberstreitkräfte einrichten. Dann aber würde sich, so
beschrieb Constanze es später, in Sachen Cybersicherheit eine eigene politische
Landkarte formen. Dass dies eine Landkarte des gegenseitigen politischen
298
Vertrauens sein würde, diesen Gedanken Constanzes habe ich nicht sofort
verstanden, aber heute versteht ihn wohl fast jeder.
Eines aber war mir umso klarer: Für verlässlichen Datenschutz ist unsere Demokratie
so wenig gemacht wie für verlässlichen Klimaschutz.
Das waren natürlich brisante Gedanken, viel brisantere sogar, als ich es damals
ahnte. Erst Jahre später erfuhr ich, dass ähnliche Vorschläge seit Längerem zum
politischen Programm der Tagmakraten gehörten. Und fast zur gleichen Zeit kam
heraus: Keine politische Organisation in Deutschland, die Muslimisch Soziale Union
ausgenommen, wurde von deutschen Geheimdiensten so gründlich überwacht wie
die Tagmakraten. Einen besseren Beweis für die Brisanz dieser Gedanken hätte es
nicht geben können.
Mit Milliardären aus der Systemkrise?
Die Auckland-Konferenz stand im Schatten noch brisanterer Ereignisse. In Ägypten
wurde erneut ein Aufstand von der Militärdiktatur blutig niedergeschlagen, der junge
islamische Staat, der sich im Zentrum Nordafrikas gebildet hatte, zerfiel nach
jahrlangem blutigem Bürgerkrieg, die Euro-Zone bröckelte an ihren südlichen
Rändern weiter ab, und in Amerika zerfiel endgültig das alte Parteiensystem. Nach
den Republikanern spalteten sich nun auch die Demokraten in zwei eigenständige,
etwa gleich starke Parteien auf.
Die Auflösung der Demokraten folgte auf einen Akt politischer Aufklärung. In den
sozialen Medien zirkulierte ein Dokumentarfilm über den Bildungs- und
Bewusstseinsstand amerikanischer Parlamentarier. Mindestens die Hälfte von ihnen
hing mehr oder weniger offen Überzeugungen an, die bei aufgeklärten Bürgern
schon im letzten Jahrhundert als rückständig gegolten hatten. Viele waren z.B. noch
immer gegen konsequenten Klimaschutz, für die Todesstrafe, gegen Beschränkungen
des privaten Waffenbesitzes oder gegen die Evolutionstheorie im Schulunterricht.
Mindestens die Hälfte der Kongressmitglieder, so wurde es im Film kommentiert,
299
vertrete also Meinungen, die sie in vielen zivilisierten Ländern für jedes politische
Mandat disqualifizieren würden.
Vielleicht war es der aggressive Tonfall des Films, vielleicht aber erst die große
Resonanz hierauf, die zu einer breiten Solidarisierung mit den angegriffenen
Parlamentariern führte. In den Medien, von den Parteien und auch vom Präsidenten
wurde der Film als heimtückische Verunglimpfung unbescholtener Politiker
verurteilt. In der demokratischen Partei gab es aber auch viel Zustimmung, besonders
von Parlamentariern, die sich vor weiterem Ansehensverlust bei aufgeklärteren
Bürgern bewahren wollten. Die unvermeidliche Folge waren erbitterte und
zunehmend unversöhnliche innerparteiliche Auseinandersetzungen. Schließlich
spaltete sich eine große Gruppe demokratischer Parlamentarier ab und gründete eine
eigene Partei. Ihr Name: Die Neuen Demokraten. Schon in ersten darauffolgenden
Umfragen lagen die Neuen Demokraten mit den alten fast gleichauf.
Die Neuen Demokraten gewannen rasch potente Förderer, auch liberal gesinnte
Superreiche und viele vermögende Familien mit asiatischem Hintergrund. Es gab
nun in Amerika vier annähernd gleich starke Parteien, alte und neue Republikaner
und alte und neue Demokraten, von denen jede ihre eigenen regionalen
Wählerhochburgen hatte. Amerika driftete damit nicht nur im politischen
Bewusstsein weiter auseinander, es begann auch eine neue Entfremdung zwischen
Regionen.
In Deutschland war in dieser Zeit die Muslimisch Soziale Union in den Schlagzeilen.
Sie hatte bei der letzten Wahl viele nichtmuslimische Protestwähler gewonnen und
so ihr Wahlergebnis nochmals gesteigert. Bei den etablierten Parteien herrschte
darüber noch immer stummes Entsetzen. Trotzdem machten SPD und Grüne noch
einmal einen Versuch, mit der MSU Koalitionsverhandlungen zu führen.
Für SPD und Grüne begannen die Verhandlungen vielversprechend, aber dann brach
in der MSU ein heftiger innerparteilicher Machtkampf aus. Der stellvertretende
Vorsitzende, ein begnadeter Demagoge und Fundamentalist, warf die Frage auf, was
300
die Partei eigentlich im Parlament noch wolle. Dort habe sie noch nie etwas bewirkt,
rief er den Delegierten des nächsten Parteitages zu, dort habe man ihr nie ernsthaft
zugehört und dort werde man ihr auch nie zuhören. Verschwendet eure Energien
nicht in Parlamentsarbeit und Wahlkämpfen, rief er, kämpft für euren Glauben in der
Mitte der Gesellschaft. Innerhalb weniger Monate scharten sich mehr als ein Drittel
der Mitglieder hinter dem stellvertretenden Vorsitzenden. Sie gründeten innerhalb
der MSU die außerparlamentarische muslimische Plattform.
Dies weckte bei den anderen Parteien, bei den Bürgern und in den Medien natürlich
erst recht Ängste. Viele Bürger hatten das Bild einer muslimischen
außerparlamentarischen Opposition vor Augen, die ähnliche Schrecken verbreiten
würde wie im vorigen Jahrhundert die so genannte Rote Armee Fraktion. Die
Mehrheit dachte: So kann es nicht weitergehen. Aber zugleich: Niemand tut etwas
dagegen.
In dieser unruhigen Weltlage für ein so anspruchsvolles Projekt wie die virtuelle
Weltklimaregierung breite Aufmerksamkeit zu gewinnen, das konnte eigentlich nur
aussichtslos erscheinen. Umso bemerkenswerter, dass Robert Yang genau dies eine
Zeitlang gelang.
Yang hatte jetzt 17 Jahre aufreibender politischer Aktionsarbeit mit vielen
Enttäuschungen hinter sich. Am Sinn dieser Arbeit hatte er nie gezweifelt, aber
zunehmend doch am Erfolg, gerade in den Jahren vor Auckland. Der AucklandAuftritt gab ihm dann neue Zuversicht. Ohne die Erfahrung der letzten 17 Jahre,
sagte er noch während der Konferenz, ohne die Erfahrung, wie wenig er in dieser
Zeit letztlich erreicht habe, stünde er hier auf verlorenem Posten, aber jetzt sei er sich
seiner Sache sicherer denn je. Man werde Wichtiges bewirken, aber das wichtigste
Mittel dazu werde nicht lauter Protest sein.
Mehr als zehn Jahre war Yang in der Welt herumgereist, um Mitstreiter und
Sympathisanten zu gewinnen, Organisationsstrukturen zu schaffen und Kontakte zu
Sponsoren aufzubauen. Immer hatte dabei das Organisieren und Koordinieren von
301
Protestaktionen im Mittelpunkt gestanden. Sich aber darin so viele Jahre erschöpft zu
haben, erklärte er später einmal, sei sein großer Fehler gewesen.
Mit seinen Themenwechseln der voraufgegangenen Jahre hatte Yang viele
Sympathisanten, Mitstreiter und Förderer irritiert. Die meisten wollten ihn weiterhin
als den großen Umwelt- und Klimaschutzaktivisten sehen und als nichts anderes.
Dass für ihn das Thema Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit ebenso
wichtig geworden war, wollten die meisten nicht wirklich wissen, und auch nicht,
dass er mehr denn je an der herkömmlichen Demokratie zweifelte. Dies schwächte
Yangs Bewegung über Jahre. Viele Anhänger von World Upgrade sympathisierten
zwar mit der einen oder anderen Unabhängigkeitsbewegung, aber umso
entschiedener verurteilten sie alle anderen. Den meisten war noch jeglicher
Separatismus suspekt, und vielen auch immer noch jegliche Demokratieskepsis.
Nicht anders war es bei den Geldgebern. In seinen Präsentationen für die Reichen
und Superreichen war Yang mit kontroversen Themen immer sehr bedächtig
umgegangen, und so hatte er zahlreiche potente Spender bei Laune gehalten. Word
Upgrade schwamm in Geld und in Geldzusagen. Zu Puigs Millionen waren zuerst die
vielen Millionen hinzugekommen, die Halsdorf bei den Samwer-Brüdern und einem
halben Dutzend anderen deutschen, schwedischen und niederländischen
Superreichen akquirierte. Aber bald war Yang in den USA und Kanada im Fund
Raising ebenso erfolgreich. Eine Zeitlang drängten neue Superreiche World Upgrade
das Geld geradezu auf.
Aber was sollte er mit dem vielen Geld anstellen? Der Aufbau seiner Bewegung
stockte, die globalen Protestaktionen zum Klima- und Umweltschutz ließen sich
kaum noch sinnvoll steigern, und die Themen Demokratiekritik und politische
Selbstbestimmung konnten nur behutsam in Stellung gebracht werden. Irgendwann
wurde Yang klar, dass er seine Bewegung vorerst nicht weiter ausweiten durfte. Nun
konzentrierte er sich erst einmal auf Grundsatzfragen. Wie passten seine zwei großen
Themen eigentlich zusammen? Was hatten sie gemeinsam? Und würden sie je unter
dem Dach einer einzigen großen Bewegung zusammenfinden können?
302
Dass mit der Demokratie etwas Grundlegendes falsch sei, dafür war das Versagen im
Klimaschutz ihm schon ein sicheres Indiz gewesen. Den endgültigen Beweis lieferte
ihm das Versagen der Demokratie in der Selbstbestimmung über die
Staatszugehörigkeit – und damit die Verstrickung der Demokratie in den
schleichenden Dritten Weltkrieg. Aber was verband diese beiden Probleme? Gab es
den einen Schalter, der umgelegt werden müsste, um beide lösbar zu machen?
Scheinbar nicht. Aber beide Probleme, das immerhin wusste Yang, hatten ihre
Ursachen im politischen System, und bei beiden ging es daher um
Verfassungsfragen. Das war eine wichtige Gemeinsamkeit, aber es war anscheinend
die einzige.
Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit bedeutet: Die Bürger können direkt
entscheiden, wer mit wem einen gemeinsamen Staat unterhält. Der Fehler im
bestehenden System ist hier offensichtlich ein Zuwenig an Bürgerbeteiligung. Ganz
anders in der Klimafrage. Hier liegt die Problemlösung nicht in der
Bürgerbeteiligung. Hier würde es nicht helfen, die Bürger direkt darüber abstimmen
zu lassen, wie schnell, wie weit und womit klimaschädliche Immissionen reduziert
werden sollten. Hier liegt der Fehler in mangelnder Kompetenz und
Verantwortlichkeit der Entscheidungsorgane. Hier legt die Demokratie die
Entscheidungen in die Hände kurzfristig denkender Allround-Politiker statt
langfristig denkender, verantwortungsvoller Spezialisten. Die Demokratiekritik,
folgerte Yang, würde daher zwei ganz verschiedene Ansätze gleichzeitig verfolgen
müssen: Im Einen mehr Entscheidungsfreiheit für Bürger, im Anderen mehr
Entscheidungskompetenz für langfristig beauftragte Experten.
Vom alten, aber immer noch energischen Puig hatte Yang sich überreden lassen, sich
eine Zeitlang hauptsächlich auf das Thema Bürgerentscheidungen zu konzentrieren.
Die beiden waren sich einig, dass politische Unabhängigkeitsbewegungen umso
erfolgreicher wären, je genauer sie den Bürgerwillen repräsentierten. Dafür aber
müssten sie erst einmal den Bürgerwillen möglichst genau ermitteln, und das würde
natürlich am zuverlässigsten mit Referenden gelingen. Puigs Schlussfolgerung:
303
Unabhängigkeitsbewegungen dürften es sich nicht mehr gefallen lassen, dass
Referenden vom Staat organisiert werden müssen. Wie solche Referenden ohne
Zutun des Staates gelingen könnten, wisse auch er noch nicht, aber unmöglich könne
es doch nicht sein. Dann kam das Argument, das für Yang das entscheidende war:
Wenn Unabhängigkeitsbewegungen jederzeit eigene Referenden durchführen
könnten, dann müssten die Staatsbürger dieser Welt ihre Staatszugehörigkeit weniger
denn je noch als Schicksal hinnehmen, und dann könnten viele neue
Unabhängigkeitsbewegungen entstehen. Es würden Bewegungen mit vielen
verschiedenen Zielsetzungen sein, und allesamt würden sie friedlich sein. Dann
würde der bis dahin über ein dreiviertel Jahrhundert andauernde schleichende Dritte
Weltkrieg endlich zum Ende kommen, und wichtiger noch: Dann würde es solche
Kriege nie mehr geben. Nicht, wenn die Staatengemeinschaft die Referenden zur
Staatszugehörigkeit anerkennte.
Dies war der Impuls, der bei Yang noch mehr Energien in Sachen
Unabhängigkeitsreferenden wachsen ließ. Jetzt war ihm klar, dass das Projekt der
Online-Referenden, für das Puig schon seine ersten Millionen bereitgestellt hatte,
dringend einen neuen Schub brauchte. Yang zog sich monatelang von allen
Aktivitäten zurück, um eine neue Vorstudie zu diesem Projekt zu erarbeiten. Dann
schickte er sie seinem Studienfreund Prabas in Bangalore.
Die Antwort kam postwendend. Natürlich, schrieb Prabas, sei er bei diesem
spannenden Projekt weiter dabei. Auch er habe die Schwierigkeiten des Projekts
lange unterschätzt, aber unlösbar seien sie nicht. Dass seine erste Kostenschätzung
nicht zu halten sei, dass wisse Yang ja schon, aber er werde rasch eine neue erstellen.
Überschlägig schätze er die Entwicklungszeit jetzt auf drei bis vier Jahre. Er melde
sich bald wieder.
Welcher Glücksfall Prabas für dieses Projekt war, das erkannte Yang, als die nächste
Mail kam:
304
Lieber Robert, deine neuen Gedanken zur Referendumssoftware gefallen mir immer
besser. Das Projekt könnte auch für Indien einmal wichtig werden. Indien hat ja
seine eigenen Katalanen, seine Basken, seine Korsen, seine Flamen usw. Ich selbst
zähle mich dazu.
Wahrscheinlich hast du keine Vorstellung davon, wie viele Inder sich für solche
Referenden später einmal interessieren könnten. Nicht viel weniger, als Westeuropa
Einwohner hat. Aus solchen Referenden könnte also eines Tages eine neue Landkarte
des indischen Subkontinents hervorgehen. Und das – das ist das Faszinierende daran
– ganz friedlich. Ich bin also mit großer Begeisterung dabei. Für euch, aber auch für
Indien.
Darunter als PS:
Solche Ideen werden natürlich in westlichen Ländern eher umsetzbar sein als bei
uns. Aber das muss nicht so bleiben.
Das Referendumskonzept war eines jener bedeutenden Vorhaben, die vielleicht nie
gestartet worden wären, wenn ihre Initiatoren Schwierigkeiten, Kosten und
Zeitaufwand im Vorhinein auch nur annähernd erahnt hätten. Nach vier Jahren
Entwicklungszeit waren zwanzig Millionen Dollar verbraucht, zehn davon Puigs, die
anderen zehn, wie Yang später offenbarte, von einem amerikanischen Spender, der
nicht einmal genau wusste, worum es ging. Nach fünf Jahren wurde eine Testversion
in einem ersten Großversuch eingesetzt. Nicht in Katalonien, sondern in Estland.
Bis dahin hatte man fast überall auf der Welt geglaubt, Onlinereferenden könnten
nicht viel anderes sein als herkömmliche Meinungsumfragen. Auch ein kleines Team
der SPIEGEL-Redaktion hatte sich irgendwann damit befasst und war zum gleichen
Ergebnis gekommen. Heute ist klar, dass Online-Referenden mit Prabras' Software
Ergebnisse liefern, die den Ergebnissen herkömmlicher Wahlen in Zuverlässigkeit
nicht nachstehen. Sie sind damit zur denkbar stärksten Waffe von
Unabhängigkeitsbewegungen, aber auch von anderen großen zivilgesellschaftlichen
Bewegungen geworden.
305
Der Test der Referendumssoftware in Estland war ein Erfolg. Er sollte wirklich nicht
mehr sein als ein gründlicher Funktionstest, aber er machte dort immerhin den Weg
frei für neue Überlegungen zum Status der russischen Minderheit. Der alte Puig
drängte danach natürlich auf ein Referendum in Katalonien, aber die meisten
Katalanen waren in der Unabhängigkeitsfrage mittlerweile zermürbt. Die
Hoffnungen, der spanische Staat werde doch noch den Weg für ein legales
Referendum öffnen, war nach jahrzehntelangen fruchtlosen Anläufen geschwunden.
Ende der fünfziger Jahre spielte das Unabhängigkeitsthema in Katalonien keine
herausragende Rolle mehr.
Eine neue Idee, wie sich Prabras' Konzept doch auch in Katalonien einsetzen ließe,
kam dann einem jungen katalanischen Freund Puigs Anfang der sechziger Jahre.
Seine Name war Alex Vidal. Vidal schlug vor, in Sachen Unabhängigkeit an der
Monarchiefrage anzusetzen. Im Sommer 2060 hatte eine unbedachte Bemerkung des
schon leicht dementen Königs Felipe das Thema Monarchie in Katalonien neu
aufleben lassen. Er habe immer der König aller Bürger Spaniens sein wollen, hatte
Felipe gesagt, sogar der Katalanen. Für die Katalanen war dieses Sogar natürlich ein
Affront.
Das Verhältnis zwischen Katalanen und Felipe war schon lange gespannt gewesen.
In den vierziger und fünfziger Jahren hatten sich in Katalonien zunehmend
antimonarchistische Stimmungen verbreitet. Wenn überhaupt einen König, meinten
immer mehr Katalanen, dann nicht diesen, aber warum überhaupt einen? In den
sozialen Netzwerken kursierte der Schnappschuss eines mürrisch blickenden,
ungepflegt aussehenden, schlecht rasierten Felipe mit der Unterschrift: El nostre Rei
no ets. Unser König bist du nicht.
Lass uns diese Stimmung nutzen, schlug Puigs Freund Vidal vor, der Weg zur vollen
politischen Unabhängigkeit ist weit, versuchen wir es doch erst einmal mit dem
Naheliegenden, versuchen wir, uns erst einmal von der spanischen Monarchie zu
lösen. Puig war erst einmal skeptisch, aber Yang, der strategische Denker, pflichtete
Vidal sofort bei. Es komme in dieser Phase nicht darauf an, Begeisterungsstürme zu
306
entfachen, viel wichtiger sei es, möglichst wenig Widerstände zu wecken. Deswegen
sei es in der Tat klug, sich bei einem ersten Online-Referendum auf das Thema
Monarchie zu beschränken.
Von Yang kam dann der Vorschlag, das Referendum unter das schlichte Motto No
pagarem per la seva monarquia – Wir zahlen nicht für eure Monarchie zu stellen.
Katalonien könne seinen Kostenanteil am Unterhalt der Monarchie dem spanischen
Zentralstaat vorenthalten. Das sei zwar nicht mehr als ein Nadelstich, garantiere dem
Thema aber hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Und diese Aufmerksamkeit ließe sich
noch steigern, wenn die eingesparte „Monarchiegebühr“ am Jahresende gleichmäßig
an alle Katalanen verteilt würde, auch wenn es für jeden nur ein paar Euro seien. Ob
Felipe sich danach weiter als König auch der Katalanen ausgeben werde, wisse man
nicht, aber es würde ihm damit zumindest verleidet.
Die Zeit war, wie sich dann zeigte, reif dafür. Für den greisen Felipe gab es keinen
würdigen Nachfolger. Sein kontaktscheuer Sohn hatte die Thronfolge nie gewollt,
seine Tochter war eine schüchterne Frau ohne jedes Charisma. Gründe genug für die
Abwendung von der spanischen Monarchie.
Und wenn ihr später einmal wollt, hielten Puig und Vidal skeptischen Landsleuten
dann noch entgegen, könnt ihr euch irgendwann einen eigenen zivilen König wählen.
Ein Argument, von dem viele sich angesprochen fühlten.
Das Referendum wurde ein spektakulärer Erfolg. Wir zahlen nicht für eure
Monarchie erhielt fast 80% Zustimmung. Trotzdem würdigten Felipe und die
spanische Regierung das Ergebnis keines Kommentars. Fortan schwiegen die
Katalanen ebenso über Felipe, wie Felipe über die Katalanen schieg. Damit aber war
de facto die Monarchie für Katalonien schon abgeschafft.
Die Weltöffentlichkeit reagierte gespalten. In den Medien wurde die Aktion vielfach
als politisches Bravourstück gewürdigt, von Politikern westlicher Länder dagegen
wurde sie fast ausnahmslos als illegitim und respektlos verurteilt. In Katalonien aber
machte sie den Willen zur politischen Unabhängigkeit stärker denn je. Wir holen uns
307
die Unabhängigkeit stückweise, das war die neue, von Vidal, Puig und Yang
propagierte Losung, zu der es in Katalonien fast keinen Widerspruch gab. Dies
entsprach – aber das fiel mir erst viel später ein – ziemlich genau der Vorstellung von
politischer Selbstbestimmung, die Hauser in den zwanziger Jahren skizziert hatte.
Auch in ganz Spanien hatte sich lange vor dem katalanischen Online-Referendum
Gleichgültigkeit gegenüber der Monarchie breitgemacht, aber das Vorgehen der
Katalanen drehte die Stimmung. Es weckte bei vielen Spaniern neue Loyalität mit
ihrem alten König. Vereinzelt kam es sogar zu großen promonarchistischen
Demonstrationen. Diesen Stimmungsumschwung wollten spanische Politiker nutzen,
um die Stellung der Monarchie neu zu festigen. Woher dann der Vorschlag kam,
hierfür ein ebensolches Online-Referendum abzuhalten wie in Katalonien, wurde nie
ganz geklärt, aber ich will bis heute nicht von dem Gedanken lassen, dass Puig, Vidal
und Yang dahintergesteckt haben könnten. Wenn es so war, dann war es eine geniale
List.
Das Referendum fiel aus, wie alle es erwartet hatten. Die neu erwachte Loyalität mit
dem König führte zu einer klaren promonarchistischen Mehrheit. Danach sahen die
meisten Spanier ihre Monarchie auf absehbare Zeit gesichert. Aber dies war mehr als
voreilig. Die viel wichtigere Wirkung dieses Referendums war nämlich etwas ganz
anderes. Mit diesem Referendum war genau das Tabu gebrochen, das die Existenz
der Monarchie so lange gesichert hatte. Nach diesem Referendum war klar: Es muss
nicht das letzte seiner Art gewesen sein. In Spanien würde in Zukunft kein Monarch
mehr davor sicher sein, durch ein Referendum de facto abgesetzt zu werden. Spanien
war damit keine gesicherte Erbmonarchie mehr. De facto war Spanien auf dem Weg
zu einer Wahlmonarchie.
Was dies für die Ordnung der Staatenwelt langfristig bedeuten könnte, ahnten
zunächst nur wenige. Es war nur ein kleiner, fast unscheinbarer Eingriff in die
politische Ordnung, aber es war einer, der die Möglichkeit viel größerer
Veränderungen zumindest aufscheinen ließ. Yang machte sich sofort daran, mit
Aktionen in anderen Monarchien dieser Welt für weitere solche Referenden zu
308
werben. Auch einige Medien widmeten sich eine Zeitlang dem Thema. Im SPIEGEL
erschien – 15 Jahre, nachdem ich das Thema der Redaktion nahgelegt hatte – die
Artikelserie Die Neuerfindung der repräsentativen Monarchie. Dazu Artikel mit den
Themen Wenn Thronfolger sich einem Referendum stellen. Wie aus der
Erbmonarchie eine Wahlmonarchie wird / Trennung von Monarchie und Politik. Das
Überleben der Monarchie als Identifikationsinstanz / Monarchiesteuer. Wie eine
erneuerte Monarchie sich finanzieren kann / Sport, Kultur und kollektives Gedenken.
Repräsentative Monarchen als gewählte Sinnstifter.
So anspruchsvolle Beiträge hatte ich vom SPIEGEL seit Langem nicht mehr
erwartet, aber hier zeigte die Redaktion noch einmal Größe. Umso heftiger war dann
der SPIEGELinterne Streit darüber, ob dieses Thema das deutsche Publikum
wirklich interessierte. Die Schwesterverlage des Konzerns in Spanien und anderen
Ländern lehnten eine Übernahme des Themas ab.
Chinesische Visionen
Yang hatte seine spendablen Milliardäre überschätzt. Sie alle hatten Großes geleistet,
keiner von ihnen hatte seine Milliarden geerbt, keiner von ihnen verdankte sie
gewieften Spekulationen, alle waren mehr oder weniger visionäre
Unternehmensgründer gewesen. Dass sie sich aber – von Puig abgesehen – auch in
der Politik auf Visionäres würden einlassen wollen, darauf hätte Yang dann doch
nicht vertrauen sollen.
Constanze ist eine, die es besser gewusst hätte. Ihre Masterarbeit hatte sie über
Kalkül und Genie großer Unternehmensgründer geschrieben, und sie war dem
Thema lange verbunden geblieben. Das Genie der Gründer, hatte sie mir einmal
erklärt, sei etwas anderes als das Genie von Erfindern. Gründergenie, das sei vor
allem Organisationsgenie, Energie, Konzentration und die Fähigkeit, sich einer
bestimmten Aufgabe bedingungslos zu verschreiben. Solches Genie lasse sich nicht
von der Wirtschaft auf die Politik übertragen, und es lasse sich auch kaum ins Alter
hinüberretten.
309
Mit ihrem Verständnis von Wirtschaft hatte Constanze mir manches Mal auch Politik
verständlicher gemacht. Sie hatte mir z.B. erklärt, dass in der Wirtschaft das Neue
fast immer Einzelleistungen zu verdanken ist, den Leistungen von Erfindern oder
von Gründern, von Berühmtheiten wie Henry Ford, Ferdinand Porsche, Bill Gates,
Dietmar Hopp, Steve Jobs, Jeff Bezos, Larry Page, Sergey Brin, Mark Zuckerberg,
Larry Ellison, Jack Ma und von zahllosen Unbekannten. Schon immer sei es im
Übrigen so gewesen, dass es die Gründer in der Wirtschaft am ehesten dorthin ziehe,
wo sich am meisten bewegen lasse, in zukunftsträchtige Branchen. Gründernaturen
hätten dafür einen sicheren Instinkt. Und dann sagte sie:
– In der Politik gibt es keine Gründer mehr. Schon gar nicht in der Demokratie.
Sie sagte es so beiläufig, dass ich kaum darauf achtete. Es dauerte Monate, bis mir
die Bedeutung dieses Satzes richtig klar wurde. Gründernaturen zieht es dorthin, wo
sich viel bewegen lässt, zu zukunftsträchtigen Aufgaben. Wenn es in demokratischer
Politik keine Gründer mehr gibt, dann bedeutete dies, dass sich in demokratischer
Politik nicht mehr viel bewegen lässt. Dann gehört demokratischer Politik nicht die
Zukunft.
Ganz neu war mir der Gedanke natürlich nicht, schon wegen Hauser, aber er warf ein
neues Schlaglicht auf Bekanntes. In demokratischer Politik lässt sich viel weniger
bewegen, als bewegt werden müsste, daher zieht es diejenigen, die am dringendsten
dort gebraucht würden, nicht dorthin. In diesen wenigen Sätzen klang es so klar und
einleuchtend, so passend zu allem, was die Demokratien des 21. Jahrhundert bisher
geboten hatten, und genau deswegen so erschütternd. Demokratische Politik ist wie
Wirtschaft ohne Gründer, wie eine stagnierende Wirtschaft also, und Parteien,
Parlamente und Regierungen sind Nachlassverwalter von politischen Erfindern und
Gründern vergangener Jahrhunderte.
Als ich Constanze vor einigen Jahren an dieses Gespräch erinnerte, machte sie dazu
noch eine brisante Bemerkung. Das große Land der Gründer, sagte sie, könnte im 21.
Jahrhundert China sein.
310
– Du meinst, in der Wirtschaft, sagte ich.
– Vielleicht ja auch in der Politik, antwortete sie.
Ich war nie in China gewesen, nicht einmal, als unsere Zwillinge dort ihre langen
Praktika machten, und auch nicht in meinen frühen Pensionärsjahren, als Hilke,
meine Frau, viele Male auf eine China-Reise drängte. Als ehemaliger Archivar hatte
ich zu China meine Informationsquellen, und mehr, dachte ich, müsse ich über China
nicht wissen. Mit eigenen Augen müsse ich es nicht gesehen haben.
Ich wusste natürlich, dass China nach der Jahrhundertmitte zu den reichen
europäischen Staaten im Wohlstand aufgeschlossen hatte, dass das Wachstum
danach abgeflacht war und dass Europa, Japan, die Vereinigten Staaten und China
sich wirtschaftlich inzwischen etwa gleichauf entwickelten.
Politisch war es in China turbulenter zugegangen. China war von seiner so genannten
kommunistischen Partei weiter fast wie ein Unternehmen geführt worden,
professionell, zunehmend ideologiefrei und unübersehbar erfolgreich. Aber Ende der
fünfziger Jahre erlebte das chinesische Einparteienregime die erste ernste Krise
dieses Jahrhunderts. Die Konjunktur war eingebrochen, und neue
Korruptionsskandale hatten das Vertrauen der Bürger erschüttert. Im Westen wurde
wieder einmal über das Ende des politischen Systems in China spekuliert. China,
meinten renommierte China-Kenner, befinde sich politisch in einer ähnlichen Phase
wie Russland vor der Jahrtausendwende, zu Zeiten Jelzins. Ein sehr wahrscheinliches
Szenario sei, dass demnächst ein chinesischer Putin die Weltbühne betreten werde,
der dann mit Russland ein antiwestliches Bündnis zu schmieden versuche.
Chinas nächster Staatspräsident, der kommende mächtigste Mann der Welt, ein
Gesinnungsnachfahre Putins? Dieses Szenario versetzte die westliche Welt in Panik.
Die Vereinigten Staaten, Europa und Verbündete rüsteten sich für einen neuen kalten
Krieg, die Rüstungsetats westlicher Länder wurden aufgestockt, Japan, Südkorea und
Australien in die Nachfolgeallianz der NATO aufgenommen. Mit Indien wurden
311
bilaterale Beistandsverträge geschlossen, und in den bis dahin wirtschaftlich eng mit
China verbundenen Ländern Afrikas versuchten westliche Länder mit neuen
Initiativen den chinesischen Einfluss einzudämmen. Auch ich entzog mich dieser
Stimmung nicht. Auch ich presste China in diese Schablone westlichen Denkens.
Trotz Tian.
Als ein paar Jahre danach die westliche Angst vor China eine Pause machte, fragte
Hilke mich, ob nun nicht doch die Zeit gekommen sei für die immer wieder
aufgeschobene China-Reise.
– In unserem Alter?, fragte ich.
– Warum nicht?, sagte sie. Soweit sie wisse, habe Helmut Schmidt seine letzte
China-Reise mit zweiundneunzig gemacht, ich sei erst vierundsiebzig. Also wann,
wenn nicht jetzt?
Ich brauchte zwei Tage Bedenkzeit. China sehen, das war für mich noch immer nicht
das Ziel, aber noch einmal Tian treffen, zum vielleicht letzten Mal? Und erfahren,
was Tian, der vielleicht auch schon Rentner war, in diesen Zeiten über sein Land und
über den Westen dachte? Natürlich, das würde eine so weite Reise wert sein. Ich
schickte eine Mail an Tian, dann machte ich mich daran, die Reise zu planen.
Zwei Wochen später landeten wir in Peking. In der Ankunftshalle des Flughafens
kam Tian mit einem milden Lächeln auf mich zu. Ein Lächeln, dachte ich zuerst, aus
Mitleid mit einem alten Mann auf anstrengender Reise, aber dann merkte ich, wie ich
sein mildes Lächeln spontan erwiderte. War es die gemeinsame Erinnerung an viele
gemeinsame Gedanken der letzten vierzig Jahre? War es die Erwartung, nach so
vielen Jahren politische Altersweisheit miteinander zu teilen? Aber konnte der fast
sechs Jahre jüngere Tian sich wirklich schon altersweise fühlen? Schon möglich,
dachte ich, schließlich hatte er schon als junger Mann eine Ernsthaftigkeit
ausgestrahlt, als hätte er ein halbes Dutzend Jugendjahre übersprungen. Aber war er
überhaupt schon im Ruhestand? Hatte er schon den Schub an Altersweisheit erlebt,
312
der meistens Pensionären vorbehalten ist? Oder war er noch immer ein Glied im
Getriebe der chinesischen Think-Tank-Industrie?
Wir blieben kurz voreinander stehen, beide etwas verlegen, weil uns von dem vielen,
das wir einander in diesem Moment hätten sagen mögen, der passende erste Satz
nicht einfiel. Dann ein flüchtiger Händedruck, eine angedeutete Umarmung. Dann
fragte ich:
– Bist du auch schon im Ruhestand?
Ein hölzerne Frage natürlich, die mich noch verlegener machte. Tian sah mich mit
mildem, nachsichtigem Lächeln an.
– Das erkläre ich dir gleich, sage er dann.
Die Taxifahrt zum Hotel dauerte im Pekinger Dauerstau eine halbe Ewigkeit. Lange
saßen wir schweigend nebeneinander, sehr intensiv schweigend. Neben mir Tian,
allein das aufregend genug, und vor meinen Augen zogen die Silhouetten Pekings
vorbei, das sich mir noch moderner, kühler, gigantischer und einschüchternder
zeigte, als ich es mir ausgemalt hatte.
Während ich die vorbeiziehenden Bilder aufsog, rang ich im Geist mit den Zahlen.
Eine Stadt, die – längst viel größer als New York – allein in ihrem Kerngebiet mehr
Einwohner hat als die meisten Staaten Europas, darunter Schweden, Belgien,
Österreich und die Schweiz. Mit Stadtbezirken, die mehr Einwohner haben als
Berlin, Hamburg und ein Dutzend kleinerer europäischer Staaten. Was bei euch ein
Staatspräsident ist, so könnte ein Chinese es europäischen Besuchern erklären, ist
hier ein Bezirksamtsleiter oder Bürgermeister.
Ist diese Stadt nicht viel zu groß, zu anonym, zu seelenlos, ging es mir durch den
Kopf, als dass es unter ihren Bürgern noch fühlbare Gemeinsamkeiten geben könnte?
Oder, dachte ich dann, war das womöglich ein alteuropäischer Gedanke, über den
man hier in Peking nur den Kopf schütteln würde?
313
Ich spürte, wie Tian mich immer wieder schweigend aus dem Augenwinkel
beobachtete. Nach einer halben Stunde Schweigens sagte er leise, fast in
entschuldigendem Tonfall:
- Ja, so ist Peking.
- Ja, sagte ich, ich gewöhne mich schon daran. Ich versuche es.
Wie die Menschen in einer Stadt oder einem Land leben, davon macht man sich
schon im Vorbeifahren eine Vorstellung. Aber nicht davon, wie sie denken. Ich
wollte mir beides klarmachen. Ein alter Mann aus Europa, so fühlte ich mich, auf
seiner ersten und letzten Bildungsreise in China. Ja, wie die Menschen hier leben,
davon hatte ich schon nach einer halben Stunde viele Bilder im Kopf. Aber prägt
nicht das Leben immer auch das Denken? Ja, antwortete ich mir selbst, oberflächlich
tut es das, aber wie die Menschen politisch Denken, das zumindest ist doch eine
andere Frage, und auch, ob sie überhaupt politisch denken. Aber was würde ich
darüber auf einer so kurzen Reise lernen können, wenn ich nicht einmal Chinesisch
konnte? Egal, dachte ich, du sollst dir nicht zu viel vornehmen. Am wichtigsten war
mir natürlich, zu wissen, wie Tian dachte, und wenn ich das erführe, würde ich auch
etwas darüber wissen, wie andere in China dachten.
Tian hatte inzwischen angefangen, Hilke einige höfliche Fragen stellen. Ich hörte
kaum zu, weil ich gerade wieder mit meiner ungeschickten Begrüßungsfrage haderte,
diesem „Bist du auch schon im Ruhestand?“, das geklungen hatte, als begegneten
sich zwei flüchtige alte Bekannte im Vorbeigehen auf einem Stehempfang. Aber
dann begann Tian, halb Hilke und halb mir zugewandt, so spontan und so
selbstverständlich über das Arbeitsleben und den Ruhestand im Alter zu reden, als
wäre ich für nichts anderes nach Peking gekommen. Und schon war es wieder wie
früher so oft: Wir redeten über eine ziemlich spröde Materie und fühlten uns dabei
eng verbunden.
314
Wir scherzten zu dritt ein paar Minuten über das Lebensgefühl unserer Altersgruppe,
dann ging Tian schon zu einer ersten ernsten Frage über: Ob das Rentensystem in
Deutschland noch das gleiche sei wie vor dreißig Jahren.
Im Großen und Ganzen ja, sagte ich, und darauf antwortete Tian fast mitleidsvoll mit
einem „Wirklich?“.
Damit waren wir schon – Hilke war mit dem Thema fast besser vertraut als ich – in
unserem ersten kleinen politischen Gedankenaustausch. Ich hätte auf dieser Fahrt
noch mehr Bilder vom tosenden, abweisenden, quirligen, einladenden,
respektgebietenden und immer wieder jedes menschliche Maß übersteigenden
Peking aufnehmen mögen, aber Tian zog nun all meine Aufmerksamkeit auf sich.
Zuerst erklärte er mir, dass China ein Rentensystem geschaffen habe, im dem jeder
ganz frei darüber bestimme, wie viel und wie lange er im Alter arbeite. Er zum
Beispiel sei, was man in China jetzt einen Viertelrentner nenne. Das klinge etwas
kaltherzig, aber es sei leicht zu verstehen. Chinesische Viertelrentner arbeiteten ein
Viertel weniger als vorher, sie seien also Dreiviertelbeschäftigte. Und mit dem Lohn
sei es so: Viertelrentner bekämen im Durchschnitt halb so viel Geld wie vorher.
– Ohne eine zusätzliche Rente?, fragte ich.
Ja, sagte er, bei ihm sei das so. Die zusätzliche Rente könne man sich in China für
später aufsparen. Je länger man arbeite und je später man Rente beziehe, desto höher
sei sie natürlich.
Dreiviertelbeschäftigte zum halben Lohn, fuhr er dann fort, das sei nur eine von
vielen Möglichkeiten. Er hätte z.B. auch Halbrentner werden können, Halbrentner
bekämen im Durchschnitt ein Drittel ihres früheren Gehalts. Zumindest theoretisch
gebe es im chinesischen Rentensystem aber unendlich viele Wahlmöglichkeiten.
Ob er sich denn nicht ungerecht behandelt fühle mit seinem halbierten Gehalt, fragte
ich dann noch, wo er doch nur ein Viertel weniger arbeite als früher.
Nein, sagte Tian, ungerecht finde er das ganz und gar nicht, er sei ja schließlich nicht
mehr so schnell und leistungsfähig wie jüngere Kollegen, und er sei froh, sich nun in
315
manchem nicht mehr mit denen messen zu müssen. Er arbeite jetzt in
altersgerechtem Tempo.
Mir kamen dabei sofort Constanzes Gedanken über die Leistungsfähigkeit im Alter
in den Sinn. Ich hätte mir gewünscht, Constanze wäre bei diesem Gespräch dabei
gewesen. So mühte ich mich allein, den Schwächen und Widersprüchen auf die Spur
zu kommen, die ich in einem so einfachen und scheinbar einleuchtenden System erst
einmal vermutete. Aber welche Fragen ich auch stellte, Tian hatte immer
überzeugende Antworten. Hatte China, bisher fast unbeachtet von der westlichen
Welt, in wenigen Jahrzehnten ein Rentensystem geschaffen, wie Deutschland es in
anderthalb Jahrhunderten nicht zustande gebracht hatte? Eines, das den chinesischen
Rentnern die denkbar besten Wahlmöglichkeiten bot, die denkbare größte Flexibilität
am Ende ihres Arbeitslebens und zugleich eine faire Lastenverteilung zwischen den
Generationen? War also das chinesische Rentensystem genau dasjenige, das wir in
Deutschland bekämen, wenn wir es von Grund auf neu konzipierten, losgelöst vom
Ballast der Geschichte? Noch während der Taxifahrt ging mir durch den Kopf, wie
die Systembewahrer der deutschen Politik das chinesische System in den Medien
zerreden würden, wenn es für Deutschland ins Gespräch gebracht würde. Von
staatlich geförderter Ausnutzung wehrloser alter Arbeitnehmer wäre die Rede, und
der Viertelrentner, von dem Tian mit beinahe liebevollem Stolz sprach, wäre
hämischem Spott ausgesetzt. Alle Hinweise auf die viel größeren Wahlfreiheiten und
die generationenübergreifende Fairness des chinesischen Systems würden dabei
untergehen. Ich war mir sogar sicher, dass selbst die IG SENIOREN hierin
einstimmen würde.
Mir kamen dabei wieder Constanzes Gedanken über politische Gründer in den Sinn.
Waren in der chinesischen Rentenpolitik Gründer am Werk gewesen, wie
demokratische Politik sie nicht mehr hervorbringen kann? Herrschte ausgerechnet in
der nach außen hin so erstarrten chinesischen Einparteienherrschaft mehr politischer
Gründergeist als in der westlichen Parteiendemokratie? Wenn es so war, dann war es
erschütternd für die Demokratie, aber für die Welt ein kleiner Hoffnungsschimmer.
316
Auf dem Weg in unser Hotelzimmer sagte ich zu meiner Frau:
– Hilke, diese Reise hat sich jetzt schon gelohnt.
Wir hatten für nur elf Tage gebucht, sechs Tage für Peking, fünf für Shanghai. Es
wurden am Ende elf Tage Peking. Am zweiten Tag begann Tian, mir über politische
Zukunftsszenarien zu erzählen, die die Partei von führenden Forschungsinstituten des
Landes hatte ausarbeiten lassen. Zuerst glaubte ich, es seien vage Szenarien für das
22. Jahrhundert, aber Tians Schilderungen wurden immer konkreter, und schließlich
fragte ich ihn, was davon noch in diesem Jahrhundert Wirklichkeit werden könnte.
Seine Antwort: alles. Das war der Moment, in dem ich wusste, dass eine Woche
Peking nicht reichen würde.
Dass China sich in der jüngeren Vergangenheit viel rascher gewandelt hatte als der
Westen, darüber hatten wir früher oft gesprochen, aber ich hatte immer gemeint, dass
das nur für die Vergangenheit galt, dass es ein Aufholprozess sein würde, der China
bestenfalls an den wohlhabenden demokratischen Westen heranführt. Aber wenn
China den Westen schon mit seinem Rentensystem überholt hatte, waren ihm dann
solche Entwicklungssprünge nicht auch auf anderen Gebieten zuzutrauen? Hundert
Jahre vorher hatte die Führung der DDR die Losung ausgegeben, den Westen zu
"überholen ohne einzuholen". War China das Land, dem hundert Jahre später genau
dies gelingen würde?
Hätte ich gewusst, wie offen Tian über alles mit mir reden würde, hätte ich ihn von
Anfang an einfach erzählen lassen. Ich hätte ihm dann nicht diese erstbeste politische
Frage gestellt, die mir in den Sinn kam, die Frage, die sich in dieser Zeit im Westen
alle stellten, wenn sie an China dachten: Was hat China in seiner Rolle als führende
Weltmacht vor?
Tian machte eine wegwerfende Handbewegung.
– Ach, sagte er fast unwirsch, ihr Westler mit eurem Weltmachtthema.
317
Es klang, als wäre das für ihn eine Bagatelle.
– Aber China, sagte ich, ist doch die mächtigste Weltmacht, die es je gab. Es ist doch
klar, dass das den Rest der Welt beschäftigt.
Wieder schwieg er eine Weile.
– Ja, sagte er dann, aber ihr beschäftigt euch damit noch immer wie im 20.
Jahrhundert. Wie damals, als die Weltmächte noch westlich waren. Lass uns später
darüber reden.
Dann lud er mich ein, ihn am übernächsten Tag in seinem Institut zu besuchen.
Auf meinen Besuch zeigte Tian sich dann so gründlich vorbereitet, wie man es von
ihm nicht anders erwarten konnte. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel mit
Büchern westlicher Autoren über das Weltmachtthema. Er nahm sie nacheinander in
die Hand, zeigte mir die Titelseiten und gab einen kurzen sachlichen, aber
respektlosen Kommentar. Dann schob er mir eine Liste von Aufsätzen zu, die in
chinesischen Forschungsinstituten zum Thema Weltmacht entstanden waren, einige
davon in englischer Sprache. Einige Einträge hatte er unterstrichen. Einer davon:
Westliches Weltmachthandeln bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Lehren für
China.
Seit mehr als vierzig Jahren, erklärte er dann, arbeiteten chinesische Historiker und
Politologen an Forschungsaufträgen zum Thema Weltmacht. Die allerersten
Ergebnisse seien ziemlich konservativ gewesen, im Grunde Variationen zum
westlichen Weltmachtdenken. Im Westen sei es immer mehr oder weniger
selbstverständlich gewesen, dass Weltmachtstatus etwas Erstrebenswertes sei.
Chinesische Historiker seien aber zu einem anderen Ergebnis gekommen. Die Rolle
der Weltmacht verspreche erst einmal viele Vorteile, aber auf sehr lange Sicht
gesehen sei sie fast allen Weltmächten irgendwann zu Kopf gestiegen, habe sie also
keinem Land wirklich gutgetan. Außerdem sei die Weltmachtrolle unsicherer
geworden, als sie es in früheren Zeiten gewesen sei. Nicht einmal China könne
wissen, wie lange es diese Rolle würde spielen können.
318
Sicher seien sich die chinesischen Forscher inzwischen auch, fuhr er fort, dass es
Menschen auf Dauer nicht glücklicher mache, Bürger einer Weltmacht zu sein.
Weltmachtstreben sei immer von Politikern ausgegangen, nicht von den Bürgern.
Weltweit am zufriedensten seien die Menschen in erfolgreichen kleineren Staaten, in
Europa seien das Staaten wie Norwegen, Dänemark, Österreich, Finnland, die
Schweiz oder Luxemburg, das habe ja auch westliche Forschung seit Jahrzenten
immer wieder bestätigt.
– Aber China, unterbrach ich ihn, kann sich der Weltmachtrolle doch gar nicht
entziehen. Es kann sich nicht in einen kleinen Staat verwandeln, um seine Bürger
glücklicher zu machen.
Das könne China natürlich nicht, antwortete er, aber es habe sich immerhin schon
selbst davor bewahrt, die Sowjetunion des 21. Jahrhunderts zu werden, und nun
müsse es vermeiden, dass es ihm irgendwann im kommenden Jahrhundert so gehe
wie Russland und später Amerika nach dem Verlust ihrer Weltmachrollen. China
müsse daher versuchen, Weltmacht zu sein, ohne im herkömmlichen Sinne die
Weltmachtrolle zu spielen. Dass imperiales Denken veraltetes Denken sei, das wisse
man doch in Deutschland am besten.
– Also seht ihr Chinas Größe als eine Last?, fragte ich.
Natürlich nicht nur, antwortete er, die Macht des eigenen Landes sei irgendwie schon
beruhigend, aber die gegenseitige Verletzlichkeit von Staaten sei inzwischen doch so
groß, das wisse ich sicher auch, dass ein Staat sich nur dann vollends in Sicherheit
wiegen könne, wenn er keine ernst zu nehmenden Feinde habe.
Tian warf mir dabei einige scheue Blicke zu, als fürchte er, mich, einen alten
Europäer im achten Lebensjahrzehnt, mit solchen Gedanken zu überfordern. Ganz
falsch war das nicht. Ich hatte mich auf lange anregende Gespräche mit ihm gefreut,
aber dass ich Tian hier fast atemlos zuhören würde, wie er sich, bescheiden wie
früher zwar, aber doch mit der unerschütterlichen Gewissheit, westlichem Denken in
319
manchem weit voraus zu sein, über die Weltmachtfragen der Zukunft dozierte, hatte
ich mir nicht träumen lassen.
– Aber wer weiß denn, fragte ich ihn dann noch, ob die chinesische Führung nicht
doch nach immer mehr Macht strebt und womöglich auch Staatsgebiete
hinzugewinnen will? Muss sich die Welt darüber wirklich keine Sorgen machen?
– Lass und darüber später reden, sagte er in einem Tonfall, als wolle er mich
schonen.
Wir verbrachten noch drei lange Abende miteinander, und nach jedem Mal sagte ich
Hilke, ich fühlte mich wie nach einer Gehirnwäsche. Am längsten hielt Tian sich mit
meiner Frage auf, ob China nicht noch größer und mächtiger werden wolle. Auch
dazu, erklärte er, hätten seines und andere Forschungsinstitute die Empfehlungen der
Historiker bestätigt. Das Ergebnis sei: Wenn China größer würde, dann würde es
schwächer werden. Das denkbar stärkste China wäre wahrscheinlich eines, das
kleiner ist als das heutige.
Wie das angehen könne, fragte ich.
Eigentlich, sagte er, genüge für diese Einsicht der gesunde Menschenverstand, aber
nun sei es auch durch historische Forschung belegt. Nichts sei – auf sehr lange Sicht
zumindest – für die Stärke eines Landes so wichtig wie sein spontaner innerer
Zusammenhalt. Dieser Zusammenhalt stärke die Treue der Bürger zu ihrem Staat, er
stärke deren Solidarität und er stärke, was ja noch wichtiger sei, deren Zufriedenheit
und Glück, und das Glück der Bürger sei doch das höchste aller politischen Ziele.
Dem würde kaum jemand widersprechen, sagte ich, aber was das denn für die
praktische Politik bedeute.
Auf Dauer, sagte Tian, solle möglichst niemand, der es nicht wolle, ein Teil von
China sein, keine Gemeinschaft, keine Region, kein Volk. Wenn Tibeter, Uiguren
und andere Minderheiten nicht Bürger von China sein wollten, dann sollten sie es
320
zumindest auf lange Sicht nicht bleiben. Dann wäre eine Trennung für beide Seiten
von Vorteil. Das habe man in China früher ganz anders gesehen, aber das sei ein
Fehler gewesen.
Ich horchte auf. Bedeutete das, dass China sich allen eventuellen separatistischen
Ansinnen auf seinem Staatsgebiet würde beugen wollen? Würde China der Welt
genau das Beispiel geben wollen, für das Yang und Puig schon so viele Jahre
vergeblich geworben und gestritten hatten?
Ich starrte ihn ungläubig an.
– China wird also das volle Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit
einführen? Das würde die Welt auf den Kopf stellen. Oder besser gesagt…
– Ja, sagte Tian, besser gesagt: vom Kopf auf die Füße.
Dabei lächelte er selbstbewusst, mit unverkennbarem Stolz.
Dann erklärte er, dass man in dieser Sache zwar von einem Recht auf
Selbstbestimmung sprechen könne, dass es im Grunde aber um eine neue Dimension
von Freiheit gehe, die in Recht umgesetzt werden müsse. Diese Freiheit nenne man
inzwischen auch in China politische Assoziationsfreiheit.
– Kennst du Robert Yang?, unterbrach ich ihn.
– Robert Yang, den Kanadier?, sagte er. Natürlich weiß ich von ihm. Wir beobachten
ihn in China schon sehr lange. Ein sehr interessanter Mann. Wir halten viel von
seinen Ideen.
– Wer ist wir?, wollte ich wissen.
– Unsere Institute. Unsere Wissenschaftler.
– Aber eure Politiker denken natürlich noch ganz anders.
– Sagen wir es so: Noch handeln sie anders. Aber immer mehr von ihnen, die
meisten sogar, wissen, dass China sich in den nächsten fünfzig Jahren noch einmal
321
von Grund auf wandeln muss. Sie wissen aber noch nicht, wie. Daran forschen
unsere Institute.
In den nächsten Tagen breitete Tian dann ein Zukunftsszenario aus, wie ich es am
allerwenigsten von einem Chinesen erwartet hatte. Langfristig werde China sich
wohl gesundschrumpfen, um die Zufriedenheit seiner Bürger zu optimieren, aber
dies könne hundert Jahre oder länger dauern. Ein mögliches Übergangsszenario sei,
dass sich an Chinas Rändern kleine teilselbstständige Staatsgebilde abspalteten, die
nur durch eine gemeinsame Armee und vielleicht eine gemeinsame Währung mit
dem Kernland verbunden blieben. So könne ein loser Staatenverbund entstehen, der
anpassungsfähiger wäre als ein zentralistisches Großchina und in dem die
Mitgliedstaaten voneinander lernen könnten.
– Würde China dann nicht ein bisschen wie die Europäische Union werden?, fragte
ich vorsichtig.
Tian schüttelte heftig den Kopf.
– Glaubt ihr in Europa denn noch immer, ihr könntet für China ein Vorbild sein?
Vorbild sei Europa für viele gebildete Chinesen eine Zeitlang wohl gewesen, fuhr er
fort, auch noch in der Zeit, als er Praktikant im SPIEGEL-Archiv war, aber die Welt
sei ja inzwischen eine ganz andere. Inzwischen stünden Europa und Amerika doch
fast am Rand des Weltgeschehens. Inzwischen sei China doch das Land, das für
Wissenschaftler und Studenten aus aller Welt das attraktivste sei, Europa dagegen
halte an einer – ich möge den Begriff verzeihen – beinahe musealen Hochkultur fest,
so sehe man es nicht mehr nur in China. Zumindest hätten Chinas beste
Universitäten, die zum Teil auch in englischer Sprache lehrten und forschten, denen
Europas und der USA den Rang abgelaufen, das wisse ich doch auch.
So weit war es noch ein fast normales Gespräch gewesen, aber was dann kam, war
eher ein Vortrag, oder auch das nicht, eher war es eine behutsame Heranführung an
Gedanken, von denen Tian wohl annahm, dass ich ihnen nur langsam würde folgen
können.
322
Wenn er sage, Europa sei etwas museal geworden, dann möge ich nicht denken, dass
er nicht auch das Museale an China sehe, aber China werde sich daraus zügiger
befreien. Es werde dabei das westliche Modell schon deswegen nicht kopieren, weil
es nicht zur chinesischen Kultur passe. Außerdem habe das westliche Modell, so
sähen es ja nicht etwa nur er und seine Kollegen, auch in Europa seinen Zenit schon
lange hinter sich. In Europa, den USA und anderswo auf der Welt befinde die
Demokratie sich doch schon seit den zwanziger Jahren in einem schleichenden
Niedergang. Oder wie Forscherkollegen in China es formulierten: in einem
Niedergang durch schleichende Überforderung.
Seine und die Aufgabe seiner Kollegen sei es, Politik in großen historischen
Zusammenhängen zu sehen, so wolle es auch die Partei. Die Partei habe in China
zwei historische Phasen hinter sich. Die erste, die maoistische, sei die Zeit des
großen, ehrgeizigen Experiments gewesen, das tragisch gescheitert sei. Nun neige
sich auch die zweite Phase ihrem Ende zu, in der die Partei dem Volk als guter
Manager des Staates immerhin Wohlstand und Stabilität gebracht habe. In der nun
folgenden Phase müssten Wohlstand und Stabilität selbstverständlich gewahrt
werden, aber das allein werde den Bürgern nicht mehr lange genügen. Als
technokratische Organisation, wie sie es in den vergangenen siebzig Jahren gewesen
sei, werde die Partei nicht überleben. Chinas politische Zukunft werde mit viel mehr
Sinnstiftung, viel mehr Bürgerbeteiligung und viel mehr Selbstbestimmung zu
gestalten sein als bisher, und – er hielt kurz inne – viel mehr davon übrigens auch als
in den so genannten Demokratien.
– Und außerdem mit noch mehr Professionalität. Mit mehr Professionalität jedenfalls
als in eurer Parteiendemokratie.
Und dann fügte er etwas verlegen hinzu:
– In eurer Laiendemokratie.
Das alles, fuhr er fort, sei aber mit dem bestehenden politischen System Chinas nicht
zu realisieren. Dieses System müsse sich daher, wie gesagt, früher oder später
323
gründlich wandeln. Die große Frage sei, ob die Partei es schaffe, diesen Wandel
selbst zu gestalten, oder ob sie ihm irgendwann zum Opfer falle.
– Ein grundlegend erneuertes China unter einer Einparteienherrschaft, unterbrach ich
ihn, das wäre doch ein Widerspruch in sich.
– Wirklich?, fragte er. Wenn die Partei den Wandel selbst gestalte, dann seien die
Gefahren für Wohlstand und Stabilität am geringsten. Im Übrigen werde die Partei,
dessen sei er ganz sicher, bei der nächsten Erneuerung des Landes kaum Tabus
kennen.
Ich sah ihn etwas ratlos an. Erst als ich dann aufmunternd mit dem Kopf nickte, fuhr
er fort:
Erst einmal müsse China für den Systemwandel die richtige Sprache finden. Es solle
ja möglichst niemand ausgegrenzt werden, möglichst alle Parteimitglieder sollten
mitgenommen werden, auch die in letzter Zeit wieder stärker gewordenen NeoMaoisten. Sein Institut habe daher vorgeschlagen, Maos Begriff der permanenten
Revolution aufzugreifen, ihm aber einen gänzlich neuen Sinn zu geben.
Welcher Sinn das denn sein sollte, fragte ich ungläubig.
– Eine permanente Erneuerung der politischen Ordnung, sagte er. Eine solche
permanente Erneuerung zu garantieren, dass könne einmal zur Hauptaufgabe der
Partei werden. Und der Volkskongress könne sich irgendwann zu einem
Verfassungskongress transformieren, der über die Vorschläge der Partei zur
politischen Ordnung entscheidet.
– Dann könnte es aber sein, dass die Partei damit ihre eigene Entmachtung einleitet.
Vielleicht, antwortete er, würde die Partei Macht verlieren, aber als Garant des
permanenten friedlichen Systemwandels bliebe sie vorerst unentbehrlich. Das sähe
ich als Europäer vielleicht anders, aber den meisten Chinesen brauche man das nicht
zu erklären.
324
Mit diesem etwas verstörenden Satz ließ er das Gespräch für diesen Abend enden.
Ich ging mit einem unguten Gefühl zurück ins Hotel. In welcher Gedankenwelt lebte
Tian? Woher nahmen er und seine die Kollegen ihre Anregungen? Woher ihre
Selbstsicherheit? Tians Gedanken schienen einiges mit der Gedankenwelt Hausers
gemeinsam zu haben. Aber gab es wirklich Dinge, die Europäer schwerer verstanden
als Chinesen? War ich für Tian ein alter europäischer Archivar im Ruhestand, der
neuem chinesischen Denken, wenn überhaupt, allenfalls mit viel Mühe und
geduldiger Hilfestellung folgen kann?
Schon in den Tagen davor war mir nicht danach zumute gewesen, zusammen mit
Hilke die kleinen touristischen Unternehmungen zu machen, die wir uns in Peking
vorgenommen hatten. Nun erst recht nicht. Noch immer hatte ich von Peking außer
dem Hotel wenig gesehen, und ich ahnte schon, dass es dabei bleiben könnte. Ich
hatte mir viele Notizen über die Gespräche mit Tian gemacht und hatte im Internet
über die Partei, über die zurückliegenden Volkskongresse und über Chinas
sozialwissenschaftliche Institute recherchiert. Ich hatte auch ein paar erste Mails an
Constanze geschickt, die Tians Gedanken noch am ehesten, hoffte ich, würde folgen
wollen, aber noch hatte ich von ihr keine Antwort.
Am nächsten Tag breitete Tian sein Zukunftsszenario für Chinas Staatspartei weiter
aus. Wenn die Partei ihre führende Stellung behalten wolle, erklärte er, müsse sie,
wie schon gesagt, unter anderem immer professioneller werden. Das werde ihr nur
gelingen, wenn sie den Anspruch aufgebe, die Politik als ganze zu beherrschen. Sie
werde sich daher vermutlich in einen losen Verbund spezialisierter
Politorganisationen aufspalten müssen. Es werde z.B. eine Organisation geben, die
sich auf regionale Verwaltung spezialisiert. Andere Organisationen würden sich auf
einzelne Felder zentralstaatlicher Politik konzentrieren, z.B. Wirtschaftspolitik,
Sozialpolitik, Geldpolitik, Verteidigungspolitik und Verfassungspolitik. Eine Partei,
sagte er, und eine Parteiführung, die sich die Zuständigkeit für die Politik als ganze
anmaßten, werde es im 22. Jahrhundert in China nicht mehr geben.
325
Das war aufregend genug, aber in den Tagen danach wurde es noch aufregender.
Wenn die Partei sich auf diese Weise reformiert habe, erklärte Tian, dann solle der
Staat nach dem demselben Prinzip reformiert werden. Auch eine Staatsführung, die
für die Politik als ganze zuständig sei, solle es dann irgendwann nicht mehr geben.
Das werde die langsame permanente Revolution mit sich bringen, deren Garant die
Partei später einmal werden solle.
Schon da hatte ich ein Gefühl, als verweigerte sich mein politisches
Vorstellungsvermögen. Aber am nächsten Tag legte Tian noch einmal nach.
Aufspaltung von Partei und Staat und Einrichtung eines dauerhaften
Verfassungskongresses, das seien natürlich auch für die Partei höchst
gewöhnungsbedürftige Ideen. Selbst wenn sie auf Verständnis stießen, würden sie
doch als ein Experiment wahrgenommen, und die Bereitschaft zu gesellschaftlichen
Experimenten sei nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch in China noch
immer begrenzt. Die Frage, ob man ein solches Experiment mit einem Volk von fast
1,3 Milliarden Menschen anstellen solle, sei daher allzu berechtigt. Daher überlege
man in China, ein solches Experiment zuerst in einem kleineren Staat durchführen zu
lassen.
– Aha, sagte ich. Also doch imperiales Denken. China soll ein kleines Land unter
seine Kontrolle bringen, um es für gesellschaftliche Experimente zu missbrauchen.
Ich erschrak selbst über meinen aggressiven Tonfall, aber bevor ich mich dafür
entschuldigen konnte, nickte Tian schon verständnisvoll mit dem Kopf.
Er verstehe meine Reaktion ja, sagte er, aber imperial sei der Gedanke ganz und gar
nicht. China wolle auf gar keinen Fall ein anderes Land zu politischen Experimenten
zwingen, wie vielversprechend diese auch seien. China könnte aber irgendwann mit
anderen Ländern darüber verhandeln, unter welchen Bedingungen sie zu solchen
beispielhaften Experimenten bereit seien. Es könnte z.B. den Einwohnern eines
kleinen Staates über viele Jahre eine hohe dafür Prämie zahlen, dass sie an einem
326
solchen Experiment teilnehmen. Das genüge sicher, um eine Mehrheit für solche
Reformen zu gewinnen.
Wahrscheinlich, sagte er zum Schluss, werde die Entwicklung diesen Weg gehen
müssen. Seine Größe mache China eben doch unbeweglich. Wir, sagte er, wir oder
unsere Nachkommen, werden irgendwann ein anderes Staatsvolk dafür bezahlen, im
Kleinen für uns auszuprobieren, was wir uns im Großen nicht trauen.
Noch in der Nacht schickte ich Constanze eine lange aufgeregte und etwas konfuse
Mail, in der ich sie auf den letzten Stand brachte. Schon am nächsten Morgen hatte
ich die Antwort. Sie hatte fast alles, so konfus es geschrieben war, auf Anhieb
verstanden, und sie war nicht schockiert, sie war nicht befremdet, sie war nicht
überrascht, wie ich es am ehesten erwartet hatte. Sie war begeistert. Ihre Antwort
zeigt einmal mehr den sarkastischen Humor, den sie sich im hohen Alter zugelegt
hatte:
– Wenn das in Deutschland bekannt würde! Stell dir die Kommentare vor, die
Überschriften im SPIEGEL und anderswo: China auf Abwegen. China demontiert
sich selbst. China sucht fremdes Volk als Versuchstier. Staatspartei verweigert echte
Demokratisierung. Und so weiter. Du solltest mal über politisches Asyl in China
nachdenken!
Bei unserem letzten Treffen fragte ich Tian, ob er wirklich meine, dass seine
Gedanken sich in der Partei irgendwann durchsetzen würden.
– Was wäre die Alternative?, fragte er. Dann gab er sich selbst die Antwort: Eine
Demokratie nach westlichem Muster ganz sicher nicht. Die Alternative wäre ein
Rückfall in Verhältnisse wie zu Anfang des Jahrhunderts.
Ob das ganz auszuschließen sei, fragte ich.
Er zögerte einen Moment.
– Das hoffe ich doch.
327
Am Morgen vor dem Abflug war ich in Hochstimmung. Wenn ich diese Reise nicht
gemacht hätte, sagte ich zu Hilke, dann hätte ich etwas sehr Wichtiges verpasst. Aber
schon beim Abflug begann die Hochstimmung zu schwinden, und in Stunden darauf
erschienen mir all die Gedanken, die Tian ausgebreitet hatte, immer unwirklicher.
Zurück in Deutschland, fühlte es sich wieder ganz anders an. Nun erschien mir alles,
was hier politisch gedacht und diskutiert wurde, mindestens ebenso unwirklich, und
es kam mir sinnlos vor, Tians Gedanken in Deutschland diskutieren zu wollen. Ich
hatte erlebt, wie in China neue politische Ideen brodelten, und nun fühlte ich mich
zurückversetzt in eine Welt politischer Ideen- und Ereignisarmut. All der immer
gleiche vorgeschobene Parteienstreit, die immer gleiche Rhetorik der
Kommentatoren und Talkshows und sogar die Einwürfe kritischer Parteien wie der
MSU, der IG SENIOREN und gelegentlich der Deutschen Demokraten waren mir
gleichgültiger denn je. Was und wo war hier das Neue? Politik war hier das
gewohnte vorhersehbare Spektakel, das gelegentlich neue Gesichter, aber keine
wirklich neuen Gedanken hervorbrachte. Und nicht einmal die jungen neuen
Gesichter waren wirklich neu, in Deutschland so wenig wie in anderen westlichen
Demokratien. Die dem Anschein nach Jungen waren Wiedergänger von Mesäcker
und Seinesgleichen, und es gab auch neue Gesichter mit alten Namen, dritte
Generation Guttenberg, vierte Generation Bush, vierte Generation Le Pen und so
weiter, die als neue Hoffnungsträger gehandelt wurden. Das politische Kalkül
dahinter: Da neue Gesichter keine neuen Ideen bringen, sollen sie wenigstens an
Vertrautes erinnern. Verständlich ist das. In dieser Zeit nahm der schleichende Dritte
Weltkrieg wieder einmal einen neuen Anlauf, als zweiter Kurdenkrieg im Nahen
Osten und mit neuen Sezessionskriegen in Asien, ohne dass dies die politische
Öffentlichkeit im Westen noch erregte. Und China schien, obwohl unangefochtene
Weltmacht, doch sehr weit weg, und Leute wie Tian erst recht. Wäre ich nicht schon
seit Jahrzehnten Nichtwähler gewesen, wäre ich es allerspätestens in dieser Zeit
geworden.
328
Einige Wochen nach meiner Rückkehr fragte ich unsere Zwillinge, ob sie denn
glaubten, dass die Menschen in China für so radikale Reformen, wie Tian sie
skizziert hatte, bereit sein können. Damals, zu seiner Praktikantenzeit in China, ganz
sicher nicht, meinte der eine. Der andere: Wenn die Partei es vorgebe, dann
vielleicht. Auch das machte mich natürlich nicht klüger. Dann fragte ich sie, wie weit
die Chinesen damals, Mitte der fünfziger Jahre, im politischen Bewusstsein hinter
dem Westen zurück gewesen sein. Die Chinesen dächten anders, sagten beide, aber
einen Rückstand würden sie das nicht nennen. Schließlich fragte ich, ob sie meinten,
dass die Chinesen überhaupt etwas vom Westen zu lernen hätten, von westlichem
Bewusstsein.
– Westlichen Humor, sagte der eine.
– Und Ironie, sagte der andere.
Immerhin, dachte ich. Wenigstens das.
In den folgenden Wochen und Monaten hätte ich mir nichts so dringend gewünscht
wie Nachrichten, die auf politische Erneuerungen in der westlichen Welt hoffen
ließen. Dann las ich, dass Robert Yangs katalanischer Förderer und Freund Xavi
Puig im Alter von 79 Jahren gestorben war. Nicht nur ich war um eine Hoffnung
ärmer.
Noch einmal Euphorie
Tian hatte mir bei meiner Abreise einen Umschlag mit – teilweise schon leicht
vergilbten - dünnen englischsprachigen Broschüren mitgegeben, die ich auf dem
Rückflug nur oberflächlich angeschaut und zu Hause dann in einem hohen Stapel
unerledigter Lektüre abgelegt hatte. Beim ersten Durchblättern waren diese
Broschüren mir wie trockene, in Bürokratenenglisch verfasste Staatspropaganda
erschienen. Das sollten sie wohl auch sein, aber mindestens eine von ihnen erwies
sich dann doch als brisante Lektüre. Nichts daran war wirklich neu und nichts
besonders originell, und die präsentierten Fakten waren nicht wirklich überraschend,
329
aber sie waren so klar und schlüssig zusammengestellt, dass mir sofort der Gedanke
kam: Dies hätte schon vor Jahrzenten Pflichtlektüre in westlichen Schulen sein
sollen.
Das Wesentliche war in einer einfachen Grafik zusammengefasst, einem Diagramm
mit zwei übereinandergelegten Kurven. Die eine zeigte die klimaschädlichen ProKopf-Immissionen der USA und europäischer Wohlstandsstaaten im Verlauf des
Wohlstandswachstums. Die andere Kurve zeigte die entsprechende Kurve für China.
In China hatten sich, wie das Diagramm zeigt, die Pro-Kopf-Immissionen mit
wachsendem Wohlstand zunächst in ähnlicher Größenordnung entwickelt wie in
westlichen Staaten. Von einem mittleren Wohlstandsniveau an aber – in China dem
der zwanziger und frühen dreißiger Jahre – flachte die Kurve im Vergleich zu der des
Westens stark ab.
Weitere Grafiken zeigten, was geschehen wäre, wenn Chinas Wohlstandswachstum
von einem etwa gleichen Anstieg der Immissionen begleitet gewesen wäre wie in
den USA. Wie viel weiter also z.B. die Wüstengebiete vor allem Nordafrikas sich
schon ausgebreitet hätten. Und wie viel mehr tiefliegendes Küstenland schon
überflutet oder von Überflutung akut bedroht wäre. Teile Shanghais gehörten dazu.
Ja, dass China klimapolitisch viel weniger gesündigt hatte als westliche
Wohlstandsstaaten, lag letztlich auch in seinem eigenen Interesse. Trotzdem stand
China vor der Welt mit reinerem Gewissen da, viel reinerem als die
Wohlstandsstaaten des Westens.
Einer wie Yang, dachte ich, wird das schon lange gewusst haben. Aber warum war
sich darüber nicht längst alle Welt im Klaren? Wessen Versäumnis war das? Hätte
nicht auch einer wie Yang mehr dafür tun können, solches Wissen in der westlichen
Welt zu verbreiten? Hätte dies seiner Bewegung genützt? Oder hätte es – auch das ist
denkbar - ihre Krise vorübergehend noch verschärft?
Viele von Yangs Mitstreitern warfen ihm Ende der sechziger Jahre vor, schuld an der
Krise der Bewegung zu sein. Zu viele, auch Yang, hatten sich daran gewöhnt, dass
330
amerikanische und europäische Superreiche die Kassen von World Upgrade füllten
und Geld daher keine Rolle zu spielen schien. Die Krise zwang Yang dann zur
Konzentration auf das Wesentliche. Im Nachhinein war die Krise insofern ein Glück.
Sonst wäre vielleicht auch mir noch immer nicht ganz klar, was dieses Wesentliche
ist.
Je mehr ich über Yang wusste, desto mehr Gemeinsamkeiten entdeckte ich zwischen
ihm und Hauser. Ähnlich wie Hauser war Yang überzeugt, dass in der Politik ein
globaler Neuanfang vonnöten war. Und wie Hauser fragte er sich: Wie würde man
die Welt politisch gestalten, wenn man noch einmal ganz von vorn anfangen könnte,
aber mit allem inzwischen gesammelten Wissen und Können? Wie wäre es, wenn
wir uns von allen Vorurteilen, allen Ideologien und allen erstarrten Denkmustern
befreien könnten, die wir als Altlasten mit uns herumtragen? Und was wäre, wenn
wir dabei auch von allen persönlichen Interessen absähen? Wenn wir also u.a. über
Staatsgrenzen, Staatszugehörigkeiten, Klimapolitik, Ressourcenpolitik,
Bevölkerungspolitik, EU, Monarchie, NATO, Wirtschaftsordnung, Sozialstaat und
das politische System ganz und gar neutral und unbelastet nachdächten? Würden wir
es dann wieder so einrichten, wie es ist? Yangs Antwort darauf war ein kategorisches
und umfassendes Nein. Die Welt, wie sie ist, so formulierte er es, sei politisch kaum
noch manövrierfähig. Umso unabweisbarer wurde aber der Gedanke, dass
irgendwann tatsächlich ganz von vorn angefangen werden müsste. Aber so
unabweisbar dieser Gedanke war, so realitätsfern erschien er natürlich. Wie sollte
man eine Nation oder gar die Welt dazu bringen, in der Politik alles Gewachsene in
Frage zu stellen?
Aber Geld macht Mut, Geld verleiht der Phantasie Flügel, Geld kann große Ideen
Wirklichkeit werden lassen, und auch bei Yang war eine große Idee gereift. Das
katalanische Monarchiereferendum war ein ermutigendes Beispiel gewesen, und nun,
meinte er, müsse ein größerer Wurf folgen. Seine Idee war fast die gleiche, wie Tian
sie mir in Peking erläutert hatte. Ganz von vorn anfangen, dafür sei kein größerer
Staat manövrierfähig genug, keine Staaten also wie Deutschland. Nur ein kleiner
331
Staat könne der Welt daher mit großen Reformen ein Beispiel geben. Zum Beispiel
ein hoch zivilisierter kleiner Staat, in dem eine akute Krise den Reformwillen der
Bürger gestärkt habe.
Aber wo waren die kleinen Krisenstaaten, die sich mit einer beispielhaften
Systemreform aus der Krise würden befreien wollen? Yang fand sie nicht. Er hatte
auf kleine europäische Staaten gehofft, aber genau diese Staaten gehörten zu den
politisch stabilsten. Welche Hoffnung blieb also? Für Yang war es die Hoffnung auf
neu zu gründende Staaten, auf Staaten also, die ihre Unabhängigkeit separatistisch
erkämpften hätten, die sich von verkrusteten Staaten abgespalten hätten und nun für
sich selbst eine bessere Ordnung finden wollten. Yang überlegte sogar – auch das
eine Parallele zu Tians Gedanken -, die Bürger solcher neu zu gründenden Staaten
finanziell dafür zu belohnen, dass sie der Welt in Sachen Staatsordnung ein Beispiel
geben. Seine Milliardäre würden, überschlug er, genug Geld bereitstellen, um einen
Staat mit einigen Millionen Staatsbürgern für ein solches Reformprojekt zu
gewinnen.
Es war Yang immer leichtgefallen, Menschen für sich zu gewinnen, und auch, sie
sich gewogen zu halten. Aber mit seiner Idee eines Modellstaats, der so viel
scheinbar Bewährtes aufgäbe, war er für viele seiner Förderer zu weit gegangen,
auch für die gealterten Milliardäre, die ihn seit den fünfziger Jahren unterstützt
hatten. Ob er denn wirklich, musste Yang sich fragen lassen, ausgerechnet
separatistische Revolutionäre als Vorreiter von Reformen im Sinn habe. Und ob es
wirklich eine gute Idee sei, Reformbereitschaft mit Geldgeschenken zu wecken, das
könne ja als politisches Bestechungsgeld aufgefasst werden. Auch Yang hatte darauf
noch keine schlüssige Antwort.
Der Facebook-Gründer Zuckerberg war in dieser Zeit 89 Jahre alt geworden. Bei
Zuckerberg, das wusste Yang, war in den zurückliegenden Jahren die
Altersschwäche weit fortgeschritten. Dreißig Jahre lang hatte er sich neben seiner
Stiftung ganz und gar seiner privaten Forschungsuniversität gewidmet, aber nun
wollte er sich auch daraus zurückziehen, verbittert auch darüber, dass Facebook den
332
Anschluss an die Kommunikationsformen der jungen Generation verpasst hatte. Als
Yang Zuckerbergs Stimme am Telefon hörte, ahnte er, dass das nichts Gutes
bedeutete.
Er habe bisher nie gezweifelt, so begann Zuckerberg, dass Yangs Projekte die
hundert Millionen Dollar, die er ihm überlassen habe, verdienten. Die Welt leide
unter schlechter Politik, so sehe er es noch immer, und im Kampf dagegen seien
selbst Milliarden gut investiert. Aber für Ziele, wie Yang sie in letzter Zeit verfolge,
wolle er sein Geld nicht hergeben. Früher einmal hätten Yang und er doch sicher
beide das Konzept privater Staatsmanagementorganisationen für das beste der Welt
gehalten, und das gelte für ihn, Zuckerberg, noch immer. Zuckerberg beendete das
Gespräch mit einem Monolog darüber, dass er als amerikanischer Patriot immer noch
glühender Anhänger der amerikanischen Verfassung sei und sich immer noch den
Gründungsvätern der amerikanischen Nation verpflichtet fühle. Was nun offenbar in
Yangs Kopf vorgehe, sei damit nicht vereinbar.
Unvorhersehbar war dies nicht gewesen. Nicht wenige von Yangs superreichen
Spendern hatten große Sympathien für das Konzept der
Staatsmanagementorganisationen gezeigt, und Yang wusste auch, warum. Als
Betreiber von Staatsmanagementorganisationen kämen nur ausnahmsweise Staaten
oder Unternehmen in Frage. Naheliegender war, dass Stiftungen superreicher
Milliardäre solche Organisationen gründen würden. Was wäre für einen ruhelosen
Multimilliardär im Ruhestand auch verlockender, als nach einer großen
Unternehmerkarriere an etwas noch Größerem beteiligt zu sein? Als Mitgründer und
Mitbetreiber einer weltweit agierenden Staatsmanagementorganisation womöglich
sogar in die Geschichte einzugehen? Auch Yang glaubte daran, dass
Staatsmanagementorganisationen das Elend gescheiterter Staaten würden lindern
können, aber mehr als eine kurzfristige Übergangslösung sah er in ihnen natürlich
nicht.
Nach dem Anruf von Zuckerberg ging alles ganz schnell. So alt und so gebrechlich
Zuckerberg war, so intakt war noch immer das Netzwerk, über das er auf die
333
Stimmungen anderer Milliardäre einwirken konnte. Der einstige Hoffnungsträger
Yang versteige sich nun in vollends utopische Reformideen, so machte es in
Milliardärkreisen schnell die Runde.
Bald darauf brach über Yang eine Welle von Rückrufen gezahlter Fördergelder
herein. Aus einer politischen Bewegung, bei der an Geldmangel nichts scheitern
konnte, wäre damit in kurzer Zeit fast eine Bewegung wie viele andere geworden.
Noch einmal ganz von vorn anzufangen, danach war Yang nach so vielen Jahren
aufreibenden globalen Aktionismus nicht zumute.
Yang, China und die Tagmakraten
Seit meinem Ausscheiden aus dem Archiv hatte ich mich immer wieder gefragt, ob
die Zivilisierung des politischen Bewusstseins wirklich vorankommt. Ich schwankte
zwischen Hoffen und Bangen, aber das Bangen überwog bei Weitem. Schleichender
Dritter Weltkrieg, Bevölkerungsentwicklung, soziale Ungleichheit,
Fremdbestimmung über die Staatszugehörigkeit, schwindender gesellschaftlicher
Zusammenhalt, Klimawandel, Verknappung natürlicher Ressourcen,
Flüchtlingsströme – bei keinem solcher Probleme kam die Lösung näher. Politiker
dieser Welt rangen um Zukunftsfragen in veralteten Institutionen nach veralteten
Regeln, und nicht einmal diese Regeln hielten sie halbwegs verlässlich ein. Ihre
Regeltreue hing ab von parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen und nationalen
Interessenlagen.
Aber dann gab es diese fast untrüglichen Zeichen der Hoffnung. Dass es einen
Robert Yang gab, dass seine Bewegung weltweit hunderttausende Mitglieder und
Millionen Sympathisanten hatte und dass es noch immer ein paar Superreiche gab,
die sie unterstützen wollten, war das nicht schon Beweis genug, dass die Welt
politisch im Aufbruch war? Dass sie den Problemen unseres Jahrhunderts nicht mehr
lange mit den Methoden früherer Jahrhunderte zu Leibe rücken würde? War also die
politische Gleichgültigkeit der Mehrheit nur die Ruhe vor einem Sturm der
334
Erneuerung? Standen wir genau jetzt, wo selbst in China so neues politisches Denken
aufkeimte, am Beginn einer neuen Ära der Aufklärung? Ja, diese Hoffnung gab es.
Und dann waren da noch diese Tagmakraten. Warum ich sie so viele Jahre lang nicht
beachtet hatte, ist mir noch immer nicht ganz klar, aber sie hatten um Beachtung
auch nicht wirklich gekämpft. Sie hatten keine politische Partei sein wollen, sie
hatten fast nie aktiv für sich geworben, sie hatten keine charismatische
Führungsfigur, in den Medien spielten sie nie eine Rolle, und sie hatten sich nie einer
Wahl gestellt. Auch als ich von Hausers Kontakt zu den Tagmakraten erfuhr, machte
mich selbst das noch nicht viel neugieriger. Ich stellte sie mir als blasse Theoretiker
vor.
Keine Partei sein zu sollen, das scheint bei den Tagmakraten lange ein Dogma
gewesen zu sein. Aber 2069 traten sie dann doch zur Bundestagswahl an, auf ihre
besondere Weise. Nur in einem einzigen Wahlkreis stellten sie einen Kandidaten auf.
Sein Wahlslogan: Die Anderen können alles, ich kann nur Eines. Max Kruse für
Klima- und Umweltpolitik.
Das war natürlich kein Slogan für jedermann, die Wenigsten verstanden ihn, aber die
Tagmakraten wollten damit eines der Grundübel der Demokratie aufdecken: dass
Parlamentarier über alles und jedes mitentscheiden dürfen, auch wenn sie nichts
davon verstehen. Sie wollten daher das Stimmrecht von Abgeordneten auf das
beschränkt sehen, worin sie wirklich kompetent sind. Ein Gedanke, dem man sich
vernünftigerweise eigentlich nicht verschließen kann. Max Kruse sollte hierfür ein
Beispiel geben. Im Fall seiner Wahl sollte er nur an Abstimmungen teilnehmen, bei
denen es um sein Spezialgebiet geht.
Kruse gewann in seinem Wahlkreis immerhin 6 Prozent der Wählerstimmen. Nicht
viel, und doch viel mehr, als die Tagmakraten erwartet hatten. Nach langen internen
Auseinandersetzungen beschlossen sie danach, sich auf die nächste Bundestagswahl
bundesweit vorzubereiten. In dieser Zeit studierte ich zum ersten Mal ihre politischen
Zukunftsszenarien.
335
Yang hatte eine virtuelle Weltklimaregierung erdacht, der später einmal eine reale
folgen sollte. Ihm war aber schon lange vorher klar gewesen, dass die Staaten dieser
Welt eine reale Weltklimaregierung nicht schaffen würden, solange ihre politischen
Systeme sich nicht änderten. Die logische Konsequenz: Damit das
Weltklimaproblem lösbar wird, müssten erst einmal die nationalen Staatsordnungen
erneuert werden.
Wie aber könnte es dazu kommen? Die Staaten selbst würden dies nicht wollen und
aus eigener Kraft nicht können. Jemand müsste es ihnen erst einmal vorführen,
zumindest in der Theorie. Anfang 2069 gründete Yang daher ein neues virtuelles
Gremium, von dem er sich genau dies erhoffte: Politische Prozesse zu simulieren, die
in die Schaffung einer Weltklimaregierung münden könnten.
Im Nachhinein fragt man sich, warum Yang und die Tagmakraten nicht schon in den
fünfziger Jahren zusammengefunden hatten. Die Tagmakraten hatten sich immer
schon für eine radikal erneuerte Demokratie eingesetzt, in der auch die Umwelt- und
die Klimaschutzpolitik kompetenter würden. Sie hatten dabei das Konzept eines
"ewigen" Verfassungsrats entwickelt, der für die ständige Weiterentwicklung der
Staatsordnung zuständig sein sollte. Sie hatten auch einen virtuellen Verfassungsrat
eingerichtet, der die Arbeit eines späteren realen Verfassungsrats simulieren sollte.
Das waren Reformideen, wie Yang sie auch für die globale Staatengemeinschaft im
Sinn hatte. Und unübersehbar war auch: Der Verfassungsrat der Tagmakraten würde
eine ganz ähnliche Rolle haben, wie Tian sie für einen künftigen chinesischen
Volkskongress skizziert hatte.
Der virtuelle Verfassungsrat der Tagmakraten war schon weit vorangekommen und
hatte einen ersten Verfassungsentwurf für eine erneuerte Demokratie erarbeitet.
Damit hatte er etwas erreicht, wofür Yang noch einen jahrzehntelangen
Entwicklungsprozess veranschlagt hatte.
336
Die Tagmakraten hatten sich auch des zweiten großen Themas angenommen, für das
Yang und seine Bewegung sich engagierten: des Selbstbestimmungsrechts über die
Staatszugehörigkeit. Dabei hatten sie auch einen Gedanken entwickelt, mit dem sich
schon Hauser in seinen frühen Aufzeichnungen befasst hatte: dass die
Staatszugehörigkeit nicht für alle Politikbereiche dieselbe sein muss. Als
Staatsbürger ist man Mitglied u.a. einer staatlichen Solidargemeinschaft,
Verteidigungsgemeinschaft, Währungsgemeinschaft und Kulturgemeinschaft, und
die Mitglieder dieser Gemeinschaften müssen nicht dieselben sein. Wie Hauser es
sich damals schon ausgemalt hatte: Die Schotten sollten sich in freier Entscheidung
von Großbritannien loslösen können, ohne z.B. eigene Streitkräfte und eine eigene
Währung einrichten zu müssen. Die Bürger Europas sollten dementsprechend ihre
politische Landkarte in freier Entscheidung gestalten können, und sie sollten es für
Währungsgemeinschaften, Verteidigungsgemeinschaften, Solidargemeinschaften und
andere mit je eigenem Ergebnis tun können. Zu dieser großen neuen politischen
Freiheit war das separatistische Recht auf Unabhängigkeit, für das Puig und Yang
ursprünglich gestritten hatten, nur ein erster Schritt.
Was hier nur noch fehlte, war die Verbindung mit Yangs und Prabas‘ Konzept der
Online-Referenden über die Staatszugehörigkeit. Hieraus würde sich eine sehr
konkrete neuartige Freiheits- und Friedensbotschaft ergeben. Zuallererst wäre es eine
konkrete Friedensbotschaft an alle Separatisten der Welt und alle ihre Gegner und
damit auch an fast alle Konfliktparteien des schleichenden Dritten Weltkriegs. Die
Botschaft wäre: Nach unseren Regeln und mit unserem Verfahren könntet ihr eure
Konflikte gewaltfrei und zivilisiert lösen, und ihr könntet euch und euren
Mitbürgern, Mitstreitern und Gegnern großes Leid ersparen. Und wenn ihr es noch
nicht sofort könnt, habt ihr zumindest die Aussicht, es in absehbarer Zukunft zu
können. Also geduldet euch. Wartet friedlich ab, bis andere es euch vormachen, und
schärft inzwischen euer Vorstellungsvermögen für diese Möglichkeiten.
All das klang einfach, es klang plausibel, aber auch ich brauchte geraume Zeit, bis
ich mir diese Gedanken wirklich zu eigen gemacht hatte.
337
Nicht nur zwischen den Tagmakraten und Robert Yang gab es fundamentale
Übereinstimmungen, noch erstaunlicher waren die Übereinstimmungen mit Tians
Gedanken über die Zukunft Chinas. Wie viel also wussten Yang, die Tagmakraten
und die Tians Chinas voneinander? Gab es zwischen ihnen womöglich schon einen
Gedankenaustausch, sei es offen oder vertraulich? Oder hatte es ihn von Anfang an
gegeben?
Am einfachsten war es natürlich, Tian zu fragen. Ich schickte ihm eine kurze Mail,
und er schrieb postwendend zurück. Ja, antwortete er – schon dieses Ja ließ mein
Herz höher schlagen –, natürlich wüssten er und seine chinesischen Fachkollegen
von Robert Yang und auch von den deutschen Tagmakraten. Ob wir das nicht auch
bei meinem Besuch angesprochen hätten.
Tian wusste also Bescheid. Aber wenn man sich sogar in China schon mit den
Tagmakraten befasst hatte, dachte ich, musste dann nicht auch Yang von ihnen
gehört haben? Ja, zwischen Yang und den Tagmakraten hatte es, das fand ich bald
heraus, tatsächlich eine Verbindung gegeben. Claude Halsdorf war es, der
Milliardärflüsterer, der Yang als Erster einen Hinweis auf die Tagmakraten gegeben
hatte.
Wie Constanze es sah
Die Ereignisse dieser Zeit beobachtete ich, so jung ich mich trotz allem noch fühlte,
doch als alter Mann. Manchmal erschrak ich über mich selbst. Worauf hatte ich mich
eingelassen? War Yang nicht doch ein unverbesserlicher Utopist?
Weltklimaregierung, real oder virtuell – klang nicht allein das schon verdächtig nach
Weltrevolution und damit nach schlimmstem zwanzigstem Jahrhundert? Und waren
Yangs Mitstreiter und Sympathisanten, auch wenn es ein paar Millionen waren, doch
größtenteils Außenseiter, die unter sich bleiben würden?
338
Und dann die Tagmakraten. Wer waren sie? Welche Generationen waren dort
vertreten? Nicht wenige, das hatte ich herausgefunden, gehörten zu meiner
Generation, die meisten waren in ihren Zwanzigern, aber die Fluktuation unter den
jüngeren Mitglieder war groß. Die tagmakratischen Reformideen waren vielen eben
noch sehr fremd.
Und wie war es in China? Auch Tian war inzwischen ein ziemlich alter Mann.
Interessierten sich kluge junge Chinesen ernsthaft für große Reformideen? Auch das
erschien mir höchst ungewiss. Könnte es dann nicht sein, dass Yang, die
Tagmakraten und die Tians in China in Wahrheit allesamt doch nur utopische
Gedankenspiele spielten? Weckten Begriffe wie Weltklimaregierung, ewiger
Verfassungsrat und Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit nur unerfüllbare
Erwartungen? Waren Leute wie Tian nur Feigenblätter des chinesischen Systems, die
systemkritische Geister vorsorglich ruhigstellen sollten? Nichts von dem erschien
mir vollends abwegig.
Constanze hatte das neunte Lebensjahrzehnt erreicht, und wir beiden Alten hielten in
diesen Jahren engeren Kontakt denn je. Je älter wir geworden waren, desto klarer
wurde uns, wie sehr gemeinsame Erinnerungen uns verbanden. Wir hatten zahllose
Mails über Yang, Tian und die Tagmakraten ausgetauscht und über Ähnlichkeiten
ihrer Ideen mit früheren Gedanken Hausers, als Constanze vorschlug, wir sollten uns
bald noch einmal sehen. Ich hatte schon lange darauf gehofft. In manchem erschien
mir Constanze noch immer als die Souveränere, die ein sicheres Urteil hatte, wo ich
lange ergebnislos grübelte. Ob Yang und die Tagmakraten Aufklärer oder doch eher
Revolutionsromantiker waren, auch darauf würde Constanze die besseren Antworten
haben.
Wir trafen uns, nostalgisch wie wir in solchen Dingen inzwischen doch geworden
waren, wieder in dem früher vertrauten kleinen Restaurant in der Nähe des
Verlagsgebäudes, aus dem der SPIEGEL nach der drastischen Verkleinerung von
Redaktion und Archiv demnächst ausziehen würde. Ich kam wenige Minuten zu spät.
Constanze saß schon an einem Zweiertisch mit Blick aufs Wasser. Sie wollte sich
339
erheben, aber ich merkte, wie schwer es ihr fiel, und unterbrach sie mit einer
bedächtigen Handbewegung. Sie streckte mir sitzend die Hand entgegen und sah
mich mit ihrem wachen, herausfordernden Blick an, wie sie es immer getan hatte.
– Ich freue mich, sagte ich nur. Freu mich, dich zu sehen.
– Ja, sagte sie, es wurde Zeit. Zeit, dass wir wieder miteinander reden.
Constanze hatte sich natürlich gründlich vorbereitet. Über Yang und seine Bewegung
wusste sie mindestens so gut Bescheid wie ich, und über die Tagmakraten viel
besser. Auf fast alle meine Fragen hatte sie schlüssige Antworten. Auf die Frage, ob
Yang und die Tagmakraten nicht Utopisten oder Revolutionsromantiker seien,
antwortete sie, vielleicht seien es ja gerade vermeintliche Utopisten oder
Revolutionsromantiker, die in diesen Zeiten am dringendsten gebraucht würden.
Natürlich, sagte sie dann, schreckten Begriffe wie Utopie und Revolution ab, weil
diese früher in große Desaster geführt hätten. Und natürlich werde, wer vor
langfristigen Fehlentwicklung warne, noch immer gern als Apokalyptiker abgetan.
Aber in der Politik, das wisse ich ja, müsse zunehmend langfristiger gedacht und
geplant werden, und daher werde man sich früher oder später doch auf das besinnen
müssen, was Böswillige als utopisch und revolutionär abtäten.
Dann fragte sie mich, wie genau ich über die vermeintliche Utopie der Tagmakraten
Bescheid wisse.
– Wahrscheinlich nicht gut genug, sagte ich.
Dann könne Sie es ja, sagte sie, kurz für mich zusammenfassen. Mit den
kurzfristigen Problemen, die das Denken und Handeln von Politikern beherrschten,
befassten die Tagmakraten sich so gut wie gar nicht. Politiker dächten bekanntlich
kaum über die nächste Legislaturperiode hinaus, auf der Agenda der Tagmakraten
seien dagegen fast nur langfristige Aufgaben. Als Beispiele nannte sie eine aktive
Bevölkerungspolitik für eine stabile demographische Entwicklung, eine weltweit
beispielgebende Rolle beim Klimaschutz und ein Rentensystem ohne staatlich
festgesetzte Altersgrenzen. Vieles davon erscheine den meisten noch immer
340
wirklichkeitsfremd, sagte sie, aber in Wahrheit komme all das, wenn es denn
komme, mindestens hundert Jahre zu spät.
Viel wichtiger, fuhr sie fort, als die Formulierung solcher Ziele sei etwas ganz
anderes. Viel wichtiger sei die Einsicht, dass diese Ziele in bestehenden politischen
Systemen nicht erreichbar seien, auch nicht in der Demokratie.
– So sieht es Robert Yang, sagte ich.
– Aber auch die Tagmakraten, sagte sie. Deswegen sei, das wisse ich ja, deren
wichtigstes Ziel der schrittweise Übergang von der Demokratie zu reiferen
Staatsformen. Wohlgemerkt ein schrittweiser.
Ob ich denn die Demokratieskepsis der Tagmakraten wirklich teilte, fragte sie dann.
– Im Prinzip ja, sagte ich.
Das hoffe sie doch sehr, sagte sie. Was sie zuerst für die Tagmakraten eingenommen
habe, sei deren Überzeugung, dass niemand, kein Bürger, kein Parteimitglied, kein
Abgeordneter, kein Regierungs- und kein Staatschef und auch keine Partei heute
mehr die Politik als ganze verstehen könne. Das habe ihr sofort eingeleuchtet. Die
Politik als ganze politischen Parteien anzuvertrauen, wie es die Demokratie von den
Bürgern verlange, sei eine überholte Vorstellung. Deswegen sei auch die Forderung,
Wähler sollten ihre Skepsis gegenüber der Parteiendemokratie als Wähler förmlich
bekunden können, sehr plausibel. Und ebenso plausibel sei es, diese Skepsis vorerst
durch aktives Nichtwählen kundzutun.
Das verstünde ich wohl, sagte ich, Nichtwähler sei ich schon lange, aber um viele
Bürger zu überzeugen, sollte dies doch erst einmal auf einfachere Formeln reduziert
werden.
– Die Demokratie, sagte sie, war die Antwort auf die Intoleranz der Monarchie. Jetzt
brauchen wir die Antwort auf die Inkompetenz der Demokratie. Klingt das einfach
genug?
341
– Vielleicht, sagte ich. Aber nimmt es den Menschen die Angst vor grundlegenden
Reformen?
– Ich weiß es nicht, sagte Constanze. Die Illusion, man müsse sich nur für die
richtige Partei entscheiden, damit in der Politik alles gut werde, bleibt natürlich
verführerisch. Der Abschied von dieser Illusion ist schmerzlich. Aber er ist der Preis
dafür, in höher entwickelten Gesellschaft leben zu dürfen.
– Aber wann wird eine Mehrheit diesen Preis zahlen wollen?
– Erst dann, sagte Constanze in fast barschem Ton, wenn es zu spät ist.
Ich wusste keine Antwort. Constanze erlöste mich nicht aus einem langen verlegenen
Schweigen. Danach fragte ich sie nur noch, welche politische Großtat sie sich denn
für dieses Jahrhundert am meisten wünschte.
– Das Ende des schleichenden Dritten Weltkriegs, sagte sie, ohne eine Sekunde zu
zögern. Und, was damit ja zusammenhänge, das Selbstbestimmungsrecht über die
Staatszugehörigkeit. Das allein sei ein Jahrhundertprojekt.
Am nächsten Tag verbrachten wir Stunden damit, uns gemeinsam das aktuelle
Weltszenario der politischen Zivilisierung vor Augen zu führen: ein erstarrtes, sozial
gespaltenes Europa; ein ebenso erstarrtes und sozial noch tiefer gespaltenes Amerika;
Staaten, die wieder einmal die Kontrolle über Teile ihres Staatsgebietes verloren
hatten; anhaltendes Elend verarmter Mehrheiten in vielen Staaten Afrikas und
Asiens; immer wieder aufflammende gewaltsame ethnische und konfessionelle
Konflikte; schwelende Bürgerkriege und Kriege um Staatsgrenzen im Nahen Osten
und in Asien; weiterer dramatischer Bevölkerungszuwachs in Afrika und anderen
Weltregionen; dramatische Schrumpfung der Bevölkerung in Teilen Europas; wieder
eskalierende Konflikte um Einwanderung; wachsende Energieknappheit und
explodierende Preise für knappe Rohstoffe und fossile Energieträger; Ausschluss
großer Teile der Weltbevölkerung von bezahlbarer Energie; und schließlich: die
globale politische Inkompetenz, die all das zulasse.
342
Aber es gebe doch kleine Lichtblicke, wandte ich ein. Länder wie Kanada, die
skandinavischen Länder, die Schweiz, Österreich oder Luxemburg und mit
Einschränkungen auch Deutschland und sogar die USA hätten doch nicht nur ihren
Wohlstand weiter gesteigert, sie seien auch in ihrer politischen Zivilisierung
einigermaßen stabil geblieben.
– Stabilität, sagte Constanze, ist doch nicht das, was die Welt braucht. Stabilität
bedeutet Stagnation.
Ganz so düster wollte ich die kostbare Zeit mit Constanze nicht ausklingen lassen.
Ich erzählte ihr dann doch noch von meinen langen Gesprächen mit Tian in Peking.
Wenn Tian und Gleichgesinnte sich dort durchsetzten, erklärte ich, könnte China
auch mit politischen Reformen die führende Rolle in der Welt übernehmen, es
könnte sogar Vorreiter in der politischen Zivilisierung werden. Die Tians in China,
die Tagmakraten und Robert Yang im Westen, sagte ich, solche Dinge gäben doch
Hoffnung für den Rest unseres Jahrhunderts.
– Wer weiß, sagte sie versöhnlich. Große Veränderungen fangen immer irgendwo im
Kleinen an.
Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob sie es wirklich so meinte oder ob sie mich
nur nicht entmutigen wollte.
2075 -… Ist das Jahrhundert noch zu retten?
Europas letzter Versuch
Eigentlich wollte ich dieses Buch mit dem dritten Jahrhundertquartal enden lassen,
auch weil ich fürchtete, danach würde ich – in meinem neunten Lebensjahrzehnt - für
eine Fortsetzung allmählich zu alt. Aber schon nach den allerersten Ereignissen des
letzten Jahrhundertquartals war mir klar, dass dies doch ein allzu willkürlicher
343
Abschluss gewesen wäre. Also bündelte ich noch einmal die Kräfte, um diese letzten
Kapitel hinzuzufügen.
In den Jahren davor hatte ich gemeint, auf das Thema Europa nicht noch einmal
eingehen zu sollen, aber nun kann ich die neue Krise der EU, die im Frühjahr 2075
ihren Anfang nahm, nicht übergehen.
Die EU hatte sich schon in den sechziger Jahren Großes aufgebürdet. Das Projekt
gemeinsamer Streitkräfte aller EU-Staaten, das schon im ersten Jahrhundertquartal
jahrelang diskutiert wurde und sich dann im Sande verlief, lebte Ende der fünfziger
Jahre wieder auf. 2065 fiel die Entscheidung, die gemeinsame Armee schrittweise zu
realisieren. Bis 2080 sollten die Armeen der Mitgliedsstaaten in der gemeinsamen
europäischen Armee aufgegangen sein.
Nachdem seit den vierziger Jahren nach und nach Montenegro, Mazedonien, Serbien,
Bosnien und Albanien in die EU aufgenommen worden waren, waren 2066 auch die
Ukraine und Moldawien dazugekommen. Auch diese Länder sollten also an der
kommenden europäischen Armee beteiligt werden. Weitere Beitrittskandidaten mit
mittlerweile sehr guten Aussichten auf eine Aufnahme in die EU und deren Armee
waren Armenien und Georgien und auch wieder die Türkei. Eine kleine Gruppe von
Mitgliedsländern setzte sich zudem trotzig für die Aufnahme Israels ein.
Die Entscheidungen über die Osterweiterungen der EU und viel mehr noch die
Entscheidung über die europäische Armee waren unter den Mitgliedstaaten lange
umstritten gewesen. Der gemeinsamen Armee stimmten u.a. Finnland, Dänemark,
Schweden, Portugal und Irland erst unter massivem Druck der anderen
Mitgliedstaaten zu.
Diese Länder wollten aber sichergehen, nicht noch einmal solchem Druck ausgesetzt
zu sein. Daher knüpften sie ihre Zustimmung an eine Reform der
Entscheidungsverfahren. Sie setzten durch, dass bei künftigen herausragenden
Entscheidungen der EU, insbesondere bei Aufnahmen neuer Mitglieder und bei
Einsätzen der europäischen Armee, fünf auszulosende Mitglieder ein Vetorecht
344
erhielten. Russland ausgenommen, hatte die Europäische Union nun zwar fast ganz
Europa als kommende militärische Weltmacht geeint, aber sie hatte sich, wie sich
bald zeigte, zugleich politisch vollends handlungsunfähig gemacht.
Entscheidungsfähig war die EU von nun an nur noch in Routinefragen.
Was am Ende den Ausschlag dafür gab, dass die seit fast siebzig Jahren schwelende
Europaskepsis in den siebziger Jahren ihrem bisherigen Höhepunkt zutrieb, ist
schwer zu ergründen. Eine Rolle spielte bei vielen sicher die Furcht, die EU verliere
mit ihren Erweiterungen weiter an politischer Reife, und eine wichtige Rolle spielte
natürlich auch die Entscheidungsschwäche der EU. Bei vielen schürte das Nahen der
gemeinsamen europäischen Armee – den Vetorechten zum Trotz – darüber hinaus
offenbar die Angst, ihr Land könne gegen ihren Willen in riskante militärische
Abenteuer verwickelt werden. Wahrscheinlich musste all dies aber
zusammenkommen, um den Unmut über die EU so eskalieren zu lassen.
Hätte auch nur eine Regierung eines EU-Landes dies vorausgesehen, wäre wohl
weder das Projekt der gesamteuropäischen Armee je beschlossen worden noch das
Vetorecht für ausgeloste Mitglieder. So aber konnten europaskeptische Parteien
genau diese Schwachstelle der EU erfolgreich für sich nutzen. Sie forderten das
Vetorecht für alle EU-Staaten. Eure Stimme für das Veto – FPÖ, mit solchen Slogans
warben immer mehr europakritische Parteien, nicht nur bei den Europawahlen. Der
Graben zwischen europakritischen Populisten und traditionsreichen Altparteien
wurde dabei immer tiefer, und die Europakritischen wurden stärker denn je. In
immer mehr EU-Staaten bildeten sich Notkoalitionen zwischen Parteien, die außer
dem Festhalten an den alten Strukturen der EU kaum politische Gemeinsamkeiten
hatten. So verloren mit der EU auch immer mehr Mitgliedstaaten an politischer
Handlungsfähigkeit.
Fast alle politischen Beobachter waren bis dahin überzeugt, dass die europapolitische
Stimmungslage in den späten sechziger Jahren ihren Tiefstpunkt erreicht hatte. Die
frühen Siebziger belehrten sie eines Besseren. Seit den zehner Jahren war in jeder
Dekade mindestens ein Land der EU in eine ernste wirtschaftliche Krise geraten.
345
Jedes dieser Länder, darunter dreimal Griechenland, zweimal Italien, Portugal,
Polen, Bulgarien, Rumänien, nacheinander alle anderen Staaten Südosteuropas und,
wenn auch weniger dramatisch, Frankreich, mussten von der Europäischen
Zentralbank vor dem Bankrott bewahrt werden, und die Zentralbank wurde mehrfach
mit Steuergeldern der Mitgliedstaaten, vor allem natürlich der großen und
wohlhabenden, rekapitalisiert. Jedes dieser Ereignisse trieb natürlich den
europakritischen Parteien neue Wählermassen zu.
2071 machten dann der Front National und die niederländische Partij voor de
Vrijheid mit einem Plan Furore, von dem erst später bekannt wurde, dass er mit
europakritischen Parteien anderer Länder abgestimmt war: Aufkündigung des
Projekts einer EU-Armee und Gründung einer gemeinsamen Armee zunächst
Frankreichs, der Niederlande, Belgiens, Deutschlands und Dänemarks. Bei den
folgenden Wahlen errangen die Partij voor de Vrijheid und der Front National
erstmals absolute Mehrheiten.
In den Jahren danach herrschte in Sachen Zukunft Europas eine fast gespenstische
Stille. Natürlich wussten auch die Europaskeptiker nicht, wie es mit Europa
weitergehen sollte, vom Konzept der "kleinen" Europa-Armee einmal abgesehen.
Aber auch sonst wagte kaum jemand, die Entwicklung der EU in aller Offenheit
weiterzudenken. Zu groß war die Angst, mit solchen Gedanken ins politische Abseits
zu geraten.
Die meisten politisch interessierten Europäer wandten sich erst einmal tröstlicheren
Wendungen der Weltpolitik zu. Einen Hauch von Zuversicht verbreitete in dieser
Zeit die Erschöpfung der arabischen Welt, die der Erschöpfung Europas nach seinen
zwei Weltkriegen zu ähneln schien. In der Tat war die Gewaltbereitschaft im
arabischen Raum schon seit Ende der vierziger Jahre langsam zurückgegangen. Die
meisten westlichen Beobachter waren sich wieder einmal einig, dass dieser Teil der
Welt nun keine andere Wahl hatte, als sich endlich nach europäischem Vorbild
friedlich zu demokratisieren. Weiter war die Vorstellungskraft noch immer nicht
gediehen.
346
Altfall Griechenland
Dass 2075 vier Länder der Euro-Zone gleichzeitig in eine Finanz– und
Wirtschaftskrise gerieten, hat natürlich Constanze viel mehr erregt als mich. Die
ganze Geschichte des Euro, schrieb sie mir in einer Mail, sei ein historisches
Lehrbeispiel für politische Unbelehrbarkeit. Ob nicht auch dafür in meinem
Manuskript noch Platz sei. Sie wisse natürlich, dass ich alles andere als ein Lehrbuch
schreiben wolle, aber ein Lehrbeispiel für Unbelehrbarkeit sei keineswegs nur eine
Sache für Lehrbücher. Diesen Wunsch konnte ich ihr nicht abschlagen. Ich will es
aber kurz machen und hierzu von Constanzes Gedanken nur den einen wiedergeben,
den ich am leichtesten verstand.
Schon bei der ersten Griechenland-Krise, meint Constanze, sei die Politik der EU
von Anfang an eine schleichende Konkursverschleppung gewesen. Dabei habe die
EU sich ganz darauf konzentriert, die Kosten dieser Politik vor den Bürgern zu
verbergen. Diese Kosten seien immens gewesen, aber trotzdem seien sie nicht als das
gewürdigt worden, was sie eigentlich doch hatten sein sollen: solidarische Hilfe.
Die Kritiker, erklärte Constanze, hätten immer wieder angeprangert, mit den
Finanzhilfen der EU würden vor allem griechische und europäische Banken und
nebenbei der griechische Staat gestützt, die Bürger Griechenlands dagegen
profitierten von diesen Hilfsgeldern kaum.
Das sei zwar sehr vereinfacht, meint Constanze, aber im Grunde doch richtig. Eine
wirklich solidarische Politik, die auch moralisch gewürdigt würde, hätte ganz anders
ansetzen müssen. So hätten die reichen EU-Staaten in den Krisenjahren jedem
Griechen eine laufende Einkommenshilfe zukommen lassen können, pro Kopf z.B.
monatlich bis zu 250,- Euro. Im Gegenzug hätte die EU den Griechen dann die
bittere Wahrheit beibringen müssen, dass ein Crash, eine Staats- und Bankenpleite
also, nicht zu verhindern sei, auch wenn es ein Crash auf Raten wäre. Die Botschaft
hätte also sein müssen: Wir können euren Staat nicht retten und nicht alle eure
Banken, wir können euch auch nicht in der Euro-Zone halten, eure Einkommen
347
werden eine Zeitlang erheblich sinken, aber mit der Übergangshilfe für jeden von
euch, vom Baby bis zum Greis, wird es für euch glimpflich ausgehen. Also
konzentriert euch schon jetzt auf die Zeit nach dem Crash. Findet euch damit ab, dass
ein Teil eurer Ersparnisse verloren ist und dass viele von euch nach dem Crash
andere Arbeit an einem anderen Ort zu geringerem Lohn werden tun müssen. Je
rascher ihr das annehmt, desto eher wird der Crash überwunden sein. So könnte ihr
eure Wirtschaft und euren Staat aus eigener Kraft neu aufbauen, und ihr werdet stolz
darauf sein.
– Welcher Grieche hätte dazu Nein gesagt?, fragte Constanze, und sie gab sich selbst
die Antwort: Nur die, die sehr viel zu verlieren hatten. Die Wohlhabendsten.
– Aber warum, fragte ich, hat dann niemand in Europa diese Lösung gewollt?
– Alte Dogmen, sagte sie nur.
Ob die EU sich denn wenigstens bei den absehbaren neuen Krisen auf solche
Konzepte einlassen werde, fragte ich noch.
– Nein, sagte sie.
Deutsche Zustände
Das Ereignis in Deutschland, das sich mir für einen Nachtrag an dieser Stelle zuerst
aufdrängte, war auf den ersten Blick unscheinbar. Im Sommer 2075 begannen die
noch halbwegs etablierten Altparteien mit ihren Planungen für die Bundestagswahl
2077. Sie entwickelten die üblichen Szenarien denkbarer Wahlausgänge und stellten
fest, dass die politische Lage instabiler werden könnte denn je. Scheinbar ausweglose
Szenarien ergaben sich schon bei einem Stimmenanteil der Tagmakraten von
4 Prozent. Das aber war nach letzten Umfragen nicht mehr auszuschließen.
Und noch etwas ließ die Lage für die Altparteien zunehmend aussichtlos erscheinen:
Die Deutschen Demokraten hatten mit ihrer zunehmend moderaten und
experimentierfreudigen Programmatik einen Teil ihrer nationalkonservativen
348
Altwähler verprellt. Die Folge war, dass die Alternative für Deutschland, die längst
zu einer Karteileiche des deutschen Parteiensystems verblichen schien, mit
finanzieller Unterstützung des reichsten deutschen Einzelhandelsunternehmers einen
furiosen Neustart inszenierte. Bald gab es Prognosen, die den Deutschen Demokraten
und der neuen Alternative für Deutschland zusammen 45 % der Stimmen
zurechneten.
Das konnten die Altparteien nicht tatenlos hinnehmen. Sie einigten sich schließlich
mit den Deutschen Demokraten darauf, das Wahlgesetz zu ändern und die Hürde für
den Einzug in den Bundestag wieder anzuheben, jetzt auf 8 Prozent der Stimmen,
was neben den Tagmakraten vorerst auch die neue AfD ausschließen würde. Dass
dies verfassungskonform sei, ließen sie sich durch das Gutachten eines renommierten
Verfassungsrechtlers bestätigen. Die Begründung lautete: Die prekäre Lage in
Deutschland und Europa erfordere größtmögliche politische Stabilität und
Berechenbarkeit, und diese seien mit dem Wahlrecht in seiner aktuellen Fassung
nicht mehr gewährleistet. Das frühere Urteil des Verfassungsgerichts, das
Sperrklauseln bei Bundestagswahlen für unzulässig erklärt hatte, sei unter den
damaligen Umständen zwar richtig gewesen, aber die Umstände seien nun andere.
Das Verfassungsgericht bestätigte diese Rechtsauffassung im Dezember 2075 in
einer Eilentscheidung, und es fügte hinzu: Die Demokratie müsse sich in instabilen
Zeiten gegen Systemveränderer zur Wehr setzen können, und das Wahlrecht sei
dafür ein legitimes Mittel. Erfahrene Beobachter schlossen daraus, dass das Gericht
die Tagmakraten zu den Systemveränderern zählte.
Ich fragte mich, ob das Land mit dieser Entscheidung in seiner Reformfähigkeit nicht
weit zurückgeworfen sei. Wieder einmal war es Constanze, die mich in meiner
Vermutung bestätigte. Die Stabilität, meinte sie, der diese Wahlrechtsänderung
dienen solle, das wisse ich doch, sei nichts anderes als Erstarrung. Es war mir fast
peinlich, dass ich mir das von Constanze sagen lassen musste. Natürlich geht fast
jeder großen Erneuerung ein gewisses Maß an Instabilität und Unordnung voraus.
349
Wer Instabilität ausschließt, der schließt daher auch Erneuerung aus. Genau das,
meinte Constanze, sei doch das Drama der Demokratie in unserem Jahrhundert.
Alles sprach tatsächlich dafür, dass die etablierten Parteien sich jetzt erst einmal ein
paar Jahrzehnte lang würden zurücklehnen können. Die Muslimisch-Sozialen hatten
sich selbst geschwächt, die Tagmakraten waren auf absehbare Zeit aus dem
Parlament ausgesperrt, und neue Parteien, die die 8-Prozent-Hürde überspringen
könnten, waren nicht in Sicht. Was hätte auch deren Botschaft sein sollen?
Ein einziges Ereignis in Deutschland ließ in dieser Zeit wirklich aufhorchen, ein
Vorstoß der Deutschen Demokraten. Sie forderten Bürgerentscheide über die
europäische Armee. Aber sie forderten dazu nicht etwa nur ein simples Ja oder Nein,
ihre Forderung war viel klüger. Die Bürger sollten darüber entscheiden, welche
Länder an einer solchen Armee beteiligt sein sollten und welche nicht. Immerhin
eine viel klügere Forderung zu diesem Thema, als die niederländische Partij voor de
Vrijheid sie in ihrem Programm hatte.
Diese Forderung mochte auf den ersten Blick unverfänglich erscheinen, aber bei
näherem Hinsehen war sie alles andere als das. Um zu urteilen, mit welchen Ländern
sie eine gemeinsame Armee betreiben wollten und mit welchen nicht, müssten die
Bürger sich erst einmal über die friedenspolitische Kultur dieser Länder im Klaren
sein. Das war schwierig genug. Noch schwieriger war: Der Kreis der Länder, die an
einer gemeinsamen Armee zu beteiligen sind, würde sich kaum in einem einmaligen
Bürgerentscheid bestimmen lassen. Hierfür sei ein langer, mehrstufiger
Entscheidungsprozess nötig.
Als die Deutschen Demokraten dies verstanden hatten, machten sie sich auf die
Suche nach brauchbaren Lösungsvorschlägen. Dabei stießen sie schließlich auf
Robert Yang. In seinem Konzept für Online-Referenden zur politischen
Unabhängigkeit vermuteten sie einen aussichtsreichen Ansatz.
Fast gleichzeitig stießen sie darauf, dass auch die Tagmakraten sich sehr genau mit
dieser Frage befasst hatten. Für sie war das Selbstbestimmungsrecht darüber, wer mit
350
wem gemeinsame Streitkräfte unterhält, sogar den Grundrechten zuzurechnen. Zur
Wahrnehmung dieses Grundrecht hatten sie schon Jahrzehnte vorher
Verfahrensvorschläge entwickelt. Die Deutschen Demokraten mussten dagegen
erkennen, wie wenig sie die Konsequenzen ihres Vorschlags durchdacht hatten.
Dass die Deutschen Demokraten sich mit ihren jüngsten Vorschlägen ausgerechnet
den Tagmakraten und Yangs World Upgrade inhaltlich angenähert hatten, war eine
heikle Angelegenheit. Für die meisten ihrer Anhänger galten die Tagmakraten und
auch World Upgrade als politische Gegner, und Gleiches galt umgekehrt. Dass sich
hier unverhofft inhaltliche Gemeinsamkeiten aufgetan hatten, dazu wollte sich daher
niemand bekennen.
Eines aber hat der Vorstoß der Deutschen Demokraten dennoch bewirkt. Er führte
dazu, dass Yang und die Tagmakraten enger zusammenfanden. So begann deren
gemeinsames Konzept zu reifen: Landesverteidigung, Cyberabwehr eingeschlossen,
wird zur eigenständigen Staatssparte, und über deren territoriale Grenzen entscheiden
die Bürger – mit Online-Referenden, wie Yang sie konzipiert hatte. Die politische
Landkarte der Landesverteidigung würde so direkt von den Bürgern gestaltet. Das
war schon fast ein Stück Utopie, und die Deutschen Demokraten waren unversehens
in deren Nähe gerückt.
Nach der Wahl 2077 bildeten die Sozialdemokraten mit der IG Senioren und den
Grünen eine Minderheitsregierung. Diese stützte sich auf einen Wählerauftrag von
13% der Wahlberechtigten.
Denkwürdige Zusammenkunft
Interessierte es mich als 79-jährigen – in einem Alter, in dem wohl die Wenigsten
politische Ereignisse noch mit großer Anteilnahme verfolgen – wirklich noch, ob und
wie Yang und die Tagmakraten miteinander kooperieren wollten? Wenn das die Welt
spürbar verändern würde, dann erst lange nach meinem Tod. Ich hatte jahrzehntelang
im Zwiespalt zwischen politischer Weitsicht im Hauserschen Sinn und der kürzeren
351
Sicht der Generation Sichtflug gelebt. Was lag näher, als sich in meinem hohen Alter
mit der kürzeren Sicht zu begnügen?
Demnächst würde ich achtzig werden. Der Gedanke irritierte mich. Nicht etwa, weil
ich mir selbst zu alt war. Das Älterwerden hatte mich nie irritiert, auch nicht das
Altsein, aber irritiert war ich von dem Gedanken, meinen achtzigsten Geburtstag
feiern zu sollen. Würde es so sein wie meistens bei späten runden Geburtstagen, bei
denen nostalgisch in die Vergangenheit hineingefeiert wird? Keine Rede also mehr
von Herausforderungen, von Wagnissen, von Zukunft überhaupt, meistens nur ein
trotziges: auf weitere soundso viele Jahre? Nein, so würde ich es nicht wollen, das
wussten auch die anderen. Wenn es zu meinem Achtzigsten etwas anderes zu feiern
gäbe als mich, irgendetwas Zukunftsträchtiges, ja, dann würde ich mitfeiern wollen,
ein rauschendes Fest sogar, soweit ich es noch kann, ein Fest in die Zukunft hinein,
und dann würde ich, wenn es so sein soll, nebenbei auch mich mitfeiern lassen. Nur
dann.
Constanzes Mann war 2074 gestorben, nach zwei für sie beide schweren Jahren in
einer betreuten Wohnanlage. Aber auch in dieser Zeit staunte ich, wenn ich ihre
Mails las, noch oft über die Jugendfrische ihrer Gedanken. Ich habe sie im geistigen
Altern überholt, dachte ich einige Male, ich bin im Denken bequemer geworden.
Nach dem Tod ihres Mannes kam von ihr dann fast ein Jahr lang kein
Lebenszeichen.
Aber dann, ganz unvermittelt, als sei der letzte Kontakt erst gestern gewesen, schrieb
sie: Du denkst doch sicher schon an deinen Achtzigsten.
– Nein, tue ich nicht, antwortete ich. Und feiern will ich sowieso nicht.
– Ein Grund zum Feiern findet sich schon, schrieb sie Wochen später.
Eine Floskel, dachte ich. Danach tauschten wir wieder Mails über die üblichen
Themen aus, meist über kleine politische Beobachtungen und darüber, ob sie eher zu
Hoffnung oder zu Hoffnungslosigkeit Anlass gaben. Bei mir war mehr
Hoffnungslosigkeit, bei ihr etwas mehr Hoffnung.
352
Ein Grund zum Feiern finde sich schon – ich hätte wissen sollen, dass das mehr als
eine Floskel war. Wenn es jemanden gab, der Floskeln scheute, dann Constanze.
Was also konnte sie gemeint haben? Zum Beispiel: Wenn mir mein Achtzigster kein
Grund zum Feiern war, dann würde sie einen anderen Grund schaffen. Mit etwas
mehr Phantasie hätte ich es mir denken können. Aber so viel Phantasie hatte ich
nicht. Ich hatte nie so viel Phantasie gehabt wie Constanze.
Ich weiß nicht, ob ich je mit ihr darüber gesprochen hatte, aber in den Jahren davor
hatte ich manches Mal darüber nachgedacht, wen ich zu Lebzeiten unbedingt noch
einmal würde treffen und wen ich noch würde kennenlernen wollen. Es waren
flüchtige Gedanken. Ich dachte dabei natürlich auch an Tian, dann an Klaus, den
Hofnarr des Archivs, an Tilman, seinen Nachfolger, an Kiesewetter, den geschassten
Chefredakteur, und sogar an den alten Mesäcker. Einmal meinte ich sogar, ich würde
Robert Yang gern noch kennenlernen, was mir dann aber vermessen erschien.
Warum sollte der große Weltaktivist Yang einen pensionierten SPIEGEL-Archivar
treffen wollen? Dann doch eher Halsdorf, den Milliardärflüsterer, überlegte ich, aber
auch den Gedanken verwarf ich.
Drei Monate vor meinem Achtzigsten schickte Constanze mir eine lange Mail. Die
Tagmakraten würden demnächst ein Seminar in Hamburg veranstalten, für das sich
auch Nichtmitglieder anmelden könnten. Der Seminartermin war der Tag vor
meinem Geburtstag. Wenn ich hinginge, schrieb sie, dann würde sie auch kommen.
Natürlich sagte ich dann zu.
Wir vereinbarten, uns am Seminartag in der Eingangshalle des Tagungshauses zu
treffen. Als ich eintraf, waren dort schon viele Menschen versammelt. Ich sah mich
von der Eingangstür aus um, von Constanze keine Spur. Dann sah ich im hinteren
Winkel eine kleine Personengruppe, jemand winkte mir zu. Ich musste lange
hinschauen. War das Klaus? Ja, die Art, wie er sich bewegte, das konnte nur er sein.
Neben ihm ein älterer Mann, etwa in meinem Alter, schien es mir, mit einem Profil,
353
das mir bekannt vorkam. Auch ihn schaute ich lange an, bis er Arme und Lippen
bewegte. Kiesewetter! Klaus und Kiesewetter, zwei vertraute SPIEGEL-Leute von
damals. Ein warmes Gefühl kam auf, gegen das ich mich nur kurz wehrte. Ja, ich
freute mich.
Aber wer waren die anderen? Wo war Constanze? Ich ging auf die Gruppe zu, dann
sah ich einen jüngeren Mann, Mitte bis Ende vierzig, selbstbewusste Miene, elegante
schwarze Brille. Seine Hände lagen auf den Handgriffen eines Rollstuhls. Im
Rollstuhl eine Frau mit schlohweißem Haar. Erst als ich ganz nah war, sah ich ihr
Gesicht. Constanze.
Constanze im Rollstuhl, schlohweiß. Ich erschrak, fasste mich, ging auf sie zu,
drückte ihr die Hand, umarmte sie.
Sie gab dem Mann hinter ihr ein unauffälliges Signal, der schob den Rollstuhl aus
der Gruppe heraus, und ich folgte ihr.
– Ich sehe bekannte Gesichter hier, sagte ich. Das kann doch kein Zufall sein.
– Nein, sagte sie, Zufall ist es nicht. Sie sind deinetwegen hier.
Dann schwieg sie und lächelte und drehte sich um zu dem Mann hinter ihr.
– Dein Sohn?, frage ich. Sie sind der Sohn?
– Ja, sagte er.
– Freut mich, dass alles so geklappt hat, sagte Constanze, und dass alle gekommen
sind. Wir gehen zusammen ins Seminar, danach treffen wir uns im Bistro. Das ist für
uns reserviert.
– Wer ist wir?, fragte ich.
– Lass dich überraschen.
Dann das Seminar. Zuerst ein Vortrag von Paul Meier, Vorstandsmitglied der
Tagmakraten. Es war eine Tour de Force durch deren Programmatik. In einer
354
knappen Stunde breitete Meier politische Zukunftsszenarien aus. Manches davon
erinnerte mich an Hauser, anderes an Tian, wieder anderes an das, was ich über
Robert Yangs Ideen wusste, nur weniges erschien mir ganz und gar fremd. Trotzdem
kostete es mich einige Anstrengung, Meier zu folgen. Bei den meisten Teilnehmern
dagegen von Anstrengung keine Spur. Ich bin viel älter als die meisten, dachte ich,
daran wird es liegen.
Dann die Podiumsdiskussion. Ein kleiner Tisch mit vier Stühlen. Meier bat die
Mitdiskutanten zu sich. Ich war in Gedanken noch bei Fragen, die ich zu seinem
Vortrag hätte stellen mögen, dann sah ich, wie Meier mit strahlendem Lächeln auf
drei Männer zuging, einer etwa in meinem Alter, einer eine halbe, der andere fast
eine Generation jünger, und ihnen die Plätze zuwies. Jetzt erst hörte ich die Namen:
Hier bitte, Herr Kiesewetter; here on my left please, Mr Yang; Sie, Herr Mesäcker,
bitte hier rechts. Dann erst erkannte ich die Gesichter. Yang, Kiesewetter und
Mesäcker an einem Tisch, zu Gast bei den Tagmakraten. Morgen wirst du achtzig,
sagte ich mir, du musstest achtzig werden, um das zu erleben. Aber immerhin, du
erlebst es. Altwerden kann sich lohnen, das zumindest hatte ich immer geahnt.
Was folgte, war keine Diskussion, eher eine Befragung. Meier hatte eine klare
Agenda. Sie alle wissen, sagte er, dass wir hier keine Talkshow machen, wir
simulieren konkrete künftige Entscheidungssituationen. Dass die Zuhörer über die
Ideen der Tagmakraten und Robert Yangs Bescheid wussten, setzte er offenbar
voraus.
Dann wandte er sich Robert Yang zu.
– Sie und wir, sagte er zu Yang, wünschen uns eine politische Zukunft jenseits der
alten Demokratie. Darüber müssen wir hier nicht diskutieren. Wir wollen darüber
reden, wie wir unsere Konzepte bekannter machen.
Das sei schwierig genug, fuhr er fort, und dabei könne man bekanntlich viel falsch
machen. Überall lauere die Gefahr, mit alten Ideologien und Vorurteilen in
Verbindung gebracht zu werden. Eben deswegen habe Yang sich früher ja mit
355
öffentlichen Auftritten lange zurückgehalten, und die Tagmakraten täten es immer
noch. Die Frage sei nun, ob die Zeit reif sei für ein offensiveres Auftreten.
– Sie, Robert Yang, sagte er dann, haben sich in letzter Zeit sehr dafür eingesetzt.
Warum?
– Weil es eilt, sagte Yang. Dass die Spätfolgen unentschlossener Klimapolitik und
Bevölkerungspolitik zu einem Weltdrama würden, sei schon nicht mehr abwendbar,
und umso notwendiger seien nun konkrete Aktionen hiergegen. Ebenso auch gegen
die Missachtung des politischen Unabhängigkeitsstrebens, die ja auch längst zu
einem Weltdrama geworden sei. Wir sind bereit, sagte Yang dann. Die virtuelle
Weltklimaregierung habe großartige Vorarbeit geleistet, jetzt könne darauf aufgebaut
werden. Auch die Verfahren für die volle Selbstbestimmung über die
Staatszugehörigkeit seien praxisreif, jetzt müsse um deren Anwendung gekämpft
werden.
Dann hielt er kurz inne, und dann sagte er fast beiläufig: Es werde dauern, aber
einiges Aufsehenerregende werde vielleicht doch schon sehr bald passieren. Es
könne in Europa bald förmliche Entmonarchisierungen geben, die erste vermutlich in
Katalonien. Das dürfe aber natürlich nur ein Anfang sein.
Meier unterbrach ihn. Er, Yang, wisse ja, mit wie viel Sympathie die Tagmakraten
seine Aktivitäten seit Langem verfolgten, aber er wisse auch, welche
Zwischenschritte zu grundlegenden Reformen sie für notwendig hielten, angefangen
mit einem breit angelegten Protest durch Nichtwählen, Stichwort Delegitimierung.
Hierfür erhofften die Tagmakraten sich auch den Schulterschluss mit Yang und
seiner Bewegung.
Dann wandte Meier sich an Kiesewetter. Welche Chancen er, Kiesewetter, denn
sehe, dass Konzepte wie die Yangs und der Tagmakraten die Unterstützung
einflussreicher Medien gewönnen.
356
Kiesewetters Antwort war kurz und bündig. Die Eigentümer einflussreicher Medien
hätten kein Interesse an großen politischen Veränderungen. In diesen Medien würden
die Tagmakraten in der nächsten Zukunft kaum eine Rolle spielen.
Meier wandte sich nun Mesäcker zu.
Was der denn hier wolle, flüsterte ich Constanze zu, und sie flüsterte zurück:
– Wart's ab, auch ein Mesäcker könnte sich verändert haben.
Meier fragte Mesäcker, ob über die Konzepte Yangs und der Tagmakraten in den
Parteien überhaupt gesprochen werde, und wenn, dann in welchen.
In seiner Partei offiziell nicht, sagte Mesäcker, und wahrscheinlich auch nicht in
anderen Parteien. Eine Ausnahme seien vielleicht die Deutschen Demokraten. Er
halte es sogar für möglich, dass Deutsche Demokraten die Unabhängigkeit Bayerns
wieder ins Gespräch bringen und sich dabei u.a. auf die Tagmakraten berufen
werden.
– Etwas Schlimmeres, warf Meier entrüstet ein, könnte uns nicht passieren.
– Das verstehe ich sogar, sagte Mesäcker.
Meier sah Mesäcker verblüfft an. Er war auf ein Streitgespräch mit Mesäcker
eingestellt gewesen, und nun dies, diese verständnisvolle Bemerkung Mesäckers, mit
der er am wenigsten gerechnet hätte.
Meier hielt kurz inne, als wolle er doch noch die streitigen Argumente gegen
Mesäcker vorbringen, mit denen er sich im Voraus gewappnet hatte, aber all das
wäre nun ins Leere gegangen. Stattdessen setzte er zu einem versöhnlichen
Schlusswort an. Wenn irgendwelche bizarren bayerischen Separatisten sich auf
Konzepte von Yang oder den Tagmakraten berufen sollten, sagte er, dann würde das
wieder einmal zeigen, wie leicht neue Ideen zwischen alte politische Fronten geraten.
Wenn das einigen an diesem Abend noch klarer geworden sei, dann habe die
Veranstaltung sich schon deswegen gelohnt.
Fast alle im Raum klatschen Beifall.
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Ich wollte danach rasch aufstehen, aber Constanze fasste mich am Arm.
– Interessant genug für jemanden, der morgen achtzig wird?, flüsterte sie.
– Natürlich. Danke, dass du mich hierhergelockt hast.
– Das war nur das Vorprogramm, sagte sie dann. Im Bistro geht's gleich weiter.
Im Bistro waren zwei große Tische zusammengestellt. Als ich hineinkam, saß
Constanze schon am Kopf eines der Tische, die Ellenbogen aufgestützt, vor ihr ein
Blatt mit handschriftlichen Notizen. Die Plätze um sie herum waren besetzt, ich
setzte mich auf einen der beiden freien Plätze ihr gegenüber. Dann schaute ich in der
Runde von einem zum anderen. Neben Constanze ihr Sohn, daneben Robert Yang,
dann Claude Halsdorf, der Milliardärflüsterer, dann ein Sohn von Xavi Puig, dann
Klaus vom Archiv, dann Kiesewetter, dann Meier von den Tagmakraten, dann
Mesäcker.
Einer fehlt leider noch, sagte Constanze, sein Flug ist verspätet.
Im selben Moment schon öffnete sich die Tür, ich drehte mich um. Tian! Ich stand
auf, ging auf ihn zu, umarmte ihn, geleitete ihn wortlos zum Platz neben mir.
Constanze brachte mit einer kurzen Handbewegung alle zum Schweigen. Sie
begrüßte einen nach dem anderen, dann stellt sie jeden mit ein paar treffenden Sätzen
vor. Dann sagt sie:
– Ich hatte nicht erwartet, je Teil einer solchen Runde sein zu können. Danke euch
allen, dass ihr da seid.
Dann begann sie zu reden, beredt und souverän wie immer, aber so bewegend, ja fast
ergreifend wie jetzt hatte ich sie nie erlebt. Meinen Geburtstag erwähnte sie dabei
mit keinem Wort, aber alle schienen Bescheid zu wissen. Ich, Matthias Schmidt, ein
alter pensionierter SPIEGEL-Archivar, werde morgen achtzig, und Constanze bringt
eine Gästerunde zusammen, wie ich sie mir nicht zu wünschen gewagt hätte. Keine
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Feier, nur eine kleine Gesprächsrunde in einem kleinen Bistro, und doch das denkbar
größte Geschenk.
Constanze sprach lange, aber zu lang wurde es niemandem. Sie und ich seien neben
Mesäcker die Ältesten in der Runde, wir kennten uns seit Studienzeiten, und eine
unserer ersten gemeinsamen Erinnerungen sei ein Professor Graf gewesen, der uns
als kurzsichtige Generation Sichtflug abgekanzelt habe. Später hätten wir beide im
SPIEGEL-Archiv unter dem mittlerweile legendären Archivleiter Hauser, meinem
Vorgänger, gearbeitet, einem Mann, für den die Weitsicht oder, wie er es genannt
habe, der Blick ins Weite ein lebenslanges Leitmotiv gewesen sei. Seitdem hätten
wir beide, jeder für sich, uns immer wieder gefragt, zu wie viel Weitsicht Politik in
diesem Jahrhundert fähig sein werde. Eine hoffnungsvolle Antwort darauf sähen wir
nicht.
Dann fing sie an, eine Art politisches Weltszenario auszubreiten, von dem ich zuerst
meinte, dass es in dieser hochkarätige Runde überflüssige Selbstverständlichkeiten
seien. Aber sie trug es mit solcher verblüffenden Verve und solch altersweisem
Charme vor, dass niemand auch nur für einen Moment den Blick abschweifen ließ.
Sie sprach vom schleichenden Dritten Weltkrieg, der ja wieder nur eine
Verschnaufpause eingelegt habe, von den schwelenden Konflikten um politische
Unabhängigkeit und davon, dass auf Dauer nur die größtmögliche Wahlfreiheit über
die Staatszugehörigkeit die Welt werde befrieden können. Dann streifte sie kurz die
gefährlichsten Konfliktherde der Welt in Asien und Afrika, dann sprach sie über die
weltweit zunehmende wirtschaftliche, politische und militärische Verwundbarkeit
durch Cyber-Attacken, die inzwischen die atomare Bedrohung fast habe vergessen
lassen, dann über die Überbevölkerung, die trotz verringerten
Bevölkerungswachstums immer gefährlicher werde, da sie den Raubbau an
Rohstoffen weiter beschleunige. Den Preis dafür würden viele Menschen noch in
diesem Jahrhundert zahlen – mit verringerten Chancen auf Wohlstand und damit auf
Bildung und Zivilisierung. Dann sprach sie über die globale Erwärmung, die noch
nicht einmal annähernd gestoppt sei, eine böse Hinterlassenschaft der lebenden
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Generationen nicht nur an das nächste Jahrhundert, und darüber, dass die großen
sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die skandalösen Gerechtigkeitslücken, die
immer irgendwo lauernde Massenarbeitslosigkeit und die Unbelehrbarkeit der
Zentralbanken fast in Vergessenheit gerieten, aber nur, um irgendwann mit umso
größerer Wucht auf die politische Agenda zurückzukehren.
Die Mehrheit hier am Tisch, sagte sie dann, sei sich sicher darüber einig, dass das
nicht – dabei sah sie Mesäcker aufmunternd an – die Schuld einiger führender
Politiker dieser Welt sei, sondern ein Systemversagen. Ein Versagen auch der
Demokratie, vor allem – jetzt streifte sie Mesäcker mit einem eher entschuldigenden
Blick – der Parteiendemokratie.
Dann machte sie eine Pause, drückte den Rollstuhl von der Tischkante weg und
schaute in die Runde. So, sagte sie dann, nun habe sie ein Problemszenario
ausgebreitet, das möge genug sein. Den meisten in dieser Runde sei ja die
Beschreibung von Problemen nicht genug, sie dächten über deren praktische Lösung
nach. Nun habe sie den unbescheidenen Wunsch, dass reihum jeder dazu etwas
beitrage, was ihm wichtig erscheine, mich ausgenommen, denn ich sei heute ja zum
Zuhören eingeladen.
Mesäcker war der Erste. Er habe geahnt, sagte er, dass er an diesem Tag
Erstaunliches hören werde, aber es sei noch erstaunlicher, als er es erwartet habe. Er
habe großen Respekt vor dieser Runde, aber spontan könne er dazu nichts Wichtiges
beitragen. Auch er wolle lieber nur Zuhörer sein.
Klaus sah ihn mit verschmitztem Lächeln an.
– Schön, wenn einmal ein früherer Politiker im Alter zum guten Zuhörer wird.
Mesäcker blieb gelassen.
– Sie mögen sogar Recht haben, sagte er, und ja, dazu könne er sich in dieser kleinen
Runde als alter Mann durchaus bekennen, auch er denke manchmal darüber nach, ob
er sich in seinem Politikerleben fürs Zuhören und auch für das Nachdenken genug
360
Zeit genommen habe. Auf jeden Fall wünsche er sich, dass Politiker es damit in
Zukunft leichter hätten.
– Ich gratuliere Ihnen zu dieser Einsicht, warf Meier ein, sie ist der erste Schritt zu
systemveränderndem Denken.
Und dann, in die Runde blickend:
– Sie, Herr Mesäcker, haben also als Politiker Dinge entschieden, über die sie zu
wenig wussten und zu wenig nachgedacht haben. So verstehe ich Sie.
– Vielleicht, sagte Mesäcker. Aber hatte ich eine andere Wahl?
– Nein, sagte Meier, die hatten sie nicht. Auch Sie waren eben Opfer eines
Systemversagens.
Er schaute wieder in die Runde.
– Und wir alle mit Ihnen.
Mesäcker sah ihn verdutzt an, dann lächelte er, dann sah er, wie alle anderen
schmunzelten, dann lachten alle, auch Mesäcker, für eine Sekunde befreit auf. Von
dem Moment an war die Stimmung ganz und gar gelöst, und wir waren eine
vertraute, fast intime Runde.
– Bin ich dran?, fragte Halsdorf dann.
– Ja, sagte Constanze. Sie erklären uns ganz kurz, ob Geld die Welt rettet.
Halsdorf lächelte. Dass die Welt mit Geld allein nicht zu retten sei, sagte er, auch mit
viel Geld nicht, dass wüssten hier natürlich alle, aber ohne viel Geld erst recht nicht.
Yang habe ja gezeigt, wie viel Geld sich, wenn man es sehr geschickt anstelle, für
große politische Ideen mobilisieren lasse, nicht nur in Amerika. Immer mehr private
Milliardenvermögen würden in Stiftungen überführt, und fast alle diese Stiftungen
seien irgendwie auf Sinnsuche, und das bedeute auch: auf Ideensuche. Was derzeit
knapp sei, sei daher nicht großes Geld, das in der Politik Gutes tun wolle, knapp
seien vielmehr große Ideen, aus denen Gutes entstehen könne. Deswegen habe
Robert Yang für seine Ideen viele Jahre lang so viel Geld mobilisieren können, und
361
nun sollten die Tagmakraten in Deutschland es auch versuchen. Sie sollten es tun,
schloss er, solange noch genügend Superreiche offen seien für neue politische Ideen.
Keiner wisse, wie lange es so bleibe.
Der junge Puig fühlte sich angesprochen, und er nickte Halsdorf zu. Die meisten
Milliardäre seien als Ideenförderer in der Tat launisch und unstet. Sein verstorbener
Vater sei allerdings seinem großen politischen Thema bis zum Lebensende treu
geblieben und zu Robert Yang immer loyal, und er selbst wolle das auch sein.
– Andererseits, mischte Meier sich ein, hat die Abhängigkeit vom großen Geld
politischen Ideen nie gutgetan. Wenn der Sponsor einer Idee in Misskredit gerät,
dann gerät die Idee oft mit unter die Räder. Daher wollen wir unsere Sache weiter
behutsam voranbringen. Die politische Erneuerung, das wissen wir alle, verträgt
keinen Aufschub, aber ein gescheiterter Versuch könnte alles noch schlimmer
machen.
Yang hob ungeduldig die Hand. Das verstehe er, sagte er, aber so behutsam wolle er
es nicht mehr angehen. Wenn er dann scheitere, dann habe er vielleicht hunderte
Millionen verschwendet, vielleicht auch Milliarden, dann zögen sich womöglich
auch die letzten Milliardäre dieser Welt von solchen Projekten erst einmal zurück,
aber dann müsse er sich wenigstens nicht vorwerfen, zu lange gezögert zu haben.
Dann sei es nicht seine Schuld, sondern dann sei der Welt eben nicht zu helfen
gewesen. Er werde in nächster Zeit versuchen, die Weltöffentlichkeit auch mit
aufsehenerregenden Aktionen aufzurütteln.
Meier wollte mit einem Kopfschütteln auf sich aufmerksam machen, aber Yang ging
gleich zu seinem nächsten Thema über.
– Ich weiß, sprach er Meier an, dass auch ihr Tagmakraten euch für das
Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit einsetzt, vielleicht sogar noch
konsequenter als ich. Das hat mich natürlich bestärkt. Inzwischen weiß ich auch, dass
euer Konzept und das von Puig und mir entwickelte einander ideal ergänzen.
362
Dann sprach er lange über Online-Referenden zur politischen Unabhängigkeit. Ein
großes Problem sei dabei die Fälschungssicherheit gewesen, aber nicht weniger
schwierig der Ausschluss von Zufallsergebnissen. Erst Puig habe ihn darauf
gestoßen, dass die Ergebnisse herkömmlicher demokratischer Wahlen oft
Zufallsergebnisse seien, Momentaufnahmen, die nur flüchtige Stimmungen
abbildeten. Sein Abstimmungserfahren sei dagegen so weit entwickelt, dass es
Zufallsergebnisse nahezu ausschließe. Im Übrigen hätte sein Team auch großartige
Lösungen für die Probleme in Unabhängigkeitsreferenden unterlegener Minderheiten
gefunden. Wenn eine Region sich z.B. nur mit knapper Mehrheit für unabhängig
erkläre, dann sei es natürlich fraglich, ob damit der Freiheit und dem Frieden
wirklich nachhaltig gedient sei. Mit einem solchen Ergebnis dürfe der politische
Entscheidungsprozess daher nicht beendet sein.
– Richtig, warf Meier ein, das sehen wir genauso. Was wir politische
Assoziationsfreiheit nennen, schützt auch eventuelle neu entstehende Minderheiten.
– Glauben Sie mir, sagte Yang, die Zeit ist reif dafür. Viel Behutsamkeit können wir
uns nicht mehr leisten.
Kiesewetter, der zuletzt mit halb geschlossenen Augen zugehört hatte, hob
demonstrativ die Augenbrauen.
– Kann sein, dass die Zeit reif ist, murmelte er, aber die Presse, die Medien, die
Redaktionen sind es nicht.
In diesem Moment hob Constanze die Hand, als wolle sie die Gesprächsrunde damit
beenden. Dann begann sie im Tonfall eines Schlussworts:
– Hoch interessant, was wir gerade gehört haben….
– Aber wie sieht denn Tian das Ganze?, unterbrach ich sie. Wollen wir das nicht
auch noch hören?
363
Constanze schaute mich etwas verlegen und schuldbewusst an, dann sah sie
auffordernd zu Tian hinüber, dann Tian zu mir, dann ich zu Tian, und dabei nickte
ich ihm so lebhaft zu, dass er kurz entschlossen das Wort ergriff.
Er habe hier sehr interessante Gedanken gehört, sagte er, deren Entwicklung er und
seine Kollegen in China übrigens schon lange verfolgten. Dann deutete er vorsichtig
einiges von dem an, was er mir in unseren langen Gesprächen in Peking erklärt hatte.
Einige in der Runde, Meier vor allem und Yang, Constanze und auch Kiesewetter,
hörten ihm staunend zu, als trauten sie ihren Ohren nicht. Aber dann brach Tian – er
hatte kaum mehr als zwei Minuten geredet – unvermittelt ab.
– Sie sehen, sagte er dann noch, in China hält man sich viele Wege offen, auch
einige, denen der Westen sich noch verschließt. Aber Sie sollten die kommenden
Entwicklungen in China aufmerksam beobachten.
Alle in der Runde nickten anerkennend. Nur mich hatte dieses Aber etwas stutzig
gemacht. Aber wir sollten die Entwicklungen in China beobachten. Was bedeutete
das?
Constanze dankte Tian, und nun kam sie – auch das natürlich gut vorbereitet – zu
ihrem Schlusswort, jetzt mit einer ersten Spür Müdigkeit in der Miene, aber immer
noch sprühend vor geistiger Frische.
Was wir heute gehört hätten, mache doch viel Mut, sagte sie. Die große
Demokratiemüdigkeit, die den Westen in den letzten Jahrzehnten befallen habe,
müsse eben nicht bedeuten, dass das Rad der Geschichte zurückgedreht werde, ganz
im Gegenteil. Auch dass die alte Sehnsucht nach einem starken Mann bzw. einer
starken Frau an der Staatsspitze in demokratischen Staaten so unfassbar stark
zurückgekehrt sei, dürfe uns von unseren Zielen nicht ablenken. Von den
Tagmakraten hätten wir ja gehört, dass in Wahrheit niemand mehr die Rolle des
starken Staatslenkers kompetent ausfüllen könne, und das sei doch sehr einleuchtend.
Demnach könne es kein Zurück hinter die Demokratie geben, wie sie ist, sondern nur
eine Entwicklung über die Demokratie hinaus. Wenn also unsere Art von
364
Demokratie untergehe, wie beispielsweise die klassische Demokratie Athens
untergegangen sei, dann führe das nicht in ein neues Zeitalter von Autokratien.
Allein die von Yang skizzierten neuen Abstimmungsverfahren zeigten, dass auf
unsere Demokratie viel höher entwickelte Staatsformen folgen könnten.
Wir hätten aber auch gehört, fuhr Constanze fort, wie unterschiedlich der Zeitbedarf
für diese Entwicklungen eingeschätzt werde. Meier zufolge könnten wohl selbst die
Jüngsten in der Runde nicht sicher sein, diese Entwicklungen noch zu erleben. All
dem wolle sie als Ökonomin nur noch hinzufügen: Auch die Wirtschaft sei von der
Inkompetenz überforderter demokratischer Staatsführungen stark betroffen. Auch die
Wirtschaft könne daher von einer Weiterentwicklung der Demokratie nur profitieren.
Dabei strahlte Constanze eine zuversichtliche Stimmung aus, von der wir uns alle
anstecken ließen. Nur Tians Miene blieb so ernst, wie sie seit seiner Ankunft
gewesen war.
Natürlich hatten wir bis dahin nichts zu Ende diskutiert, aber das durfte ich auch
nicht erwarten. Wir kamen schon zum Ende unserer Begegnung, und auch das war
von Constanze perfekt inszeniert. Es gab eine mehrsprachige Speisekarte, deutsch,
englisch, katalanisch, chinesisch und luxemburgisch, mit je einem deutschen,
englischen, katalanischen, chinesischen und luxemburgischen Gericht. Dann wurde
unser kleiner Kreis von fünf Kellnern umsorgt, allesamt Studenten, einer Deutschen,
einem Kanadier, einer Chinesin, einem Luxemburger und einer Katalanin. Und nach
der ersten Speise hatte Constanze noch eine Überraschung parat. Jeder von uns sollte
die politische Idee, die ihm für die Zukunft am wichtigsten schien, den fünf
kellnernden Studenten in einem Kurzvortrag erläutern, und anschließend sollte ein
anderer herausfinden, wie gut die Studenten es verstanden hatten. Alle machten
begeistert mit.
Aber das Ergebnis war dann doch eher ernüchternd. Genau verstanden hatten die
Studenten nur, was Mesäcker über die Zukunft seiner Partei gesagt hatte. Ganz
überrascht habe sie das nicht, sagte Constanze am Ende, es habe uns aber zumindest
gezeigt, wie viel Überzeugungsarbeit noch zu leisten sei.
365
Vielleicht, sagte sie, bevor wir danach auseinandergingen, hätten wir für alles noch
immer nicht die richtige Sprache gefunden. Vielleicht müssten wir bei diesen
Themen viel mehr in Bildern sprechen, die die politische Phantasie anregten. Ob
jemandem dazu spontan etwas einfalle.
Meier hob die Hand.
- Was haltet ihr davon: Demokratien sind die Larven, aus denen sich die
Schmetterlinge postdemokratischer Staatsformen entwickeln werden.
Ich brauchte eine Weile, bis das Bild sich in meiner Vorstellung ganz entfaltet hatte.
– Das passt, sagte ich.
Kleine Neuerungen
Wie hatte Constanze es geschafft, diese Runde zu diesem Tag zusammenzubringen?
Ganz leicht sei es nicht gewesen, untertrieb sie, als ich sie am nächsten Morgen
danach fragte, aber im Zusammenbringen von Menschen habe sie ja einige Übung.
Viel mehr konnte ich ihr, bescheiden wie sie war, dazu nicht entlocken.
Natürlich war ich von dem Treffen beglückt, und auch Constanze tat es gut. Das
Leben wird im Alter, spätestens aber im neunten Lebensjahrzehnt ereignisärmer, und
nicht nur Yang hatte uns an diesem Tag das Gefühl gegeben, uns stünden zumindest
politisch vielleicht doch noch große Ereignisse bevor.
Ganz falsch lagen wir damit nicht. Weniger als ein halbes Jahr nach unserem Treffen
gab es in Schottland ein Probereferendum über die Monarchie, wie es schon in
Katalonien stattgefunden hatte. Der Zeitpunkt war denkbar günstig. Die royale
Familie hatte gerade mit neuen Skandalen Schlagzeilen gemacht. Im Internet
kursierten heimlich aufgenommene Bilder eines offenbar alkoholseligen
Königspaares, der König hörbar Unflätiges murmelnd, und dazu gab es Gerüchte
über einen alles andere als königlichen Erziehungsstil und seelische Nöte der
366
Königskinder. Von dieser Familie wollten sich weniger Schotten denn je
repräsentiert sehen.
Nach dem ersten Probereferendum wurden – wie Yangs Verfahren es vorsah – zwei
Bestätigungsreferenden durchgeführt. Das Ergebnis war eindeutig. Fast alle
schottischen Bezirke lehnten die britische Monarchie mit großer Mehrheit für sich
ab. In diesen Bezirken war damit auch in Schottland die Monarchie de facto
abgeschafft. Dem König wurde die Botschaft übermittelt, als Gast sei er dort
weiterhin willkommen, aber nicht mehr als Staatsoberhaupt und König der Schotten.
Wenige Monate später gründete sich in Flandern eine Bewegung, die sich die
Loslösung von der belgischen Monarchie zum Ziel setzte.
Ich hatte die europäischen Monarchien immer für bedeutungslos gehalten und tat es
noch immer, aber die Medien waren erfüllt von dem Thema, und ich ließ mich davon
anstecken. Wirklich bedeutende politische Entwicklungen hatte ich in Europa bisher
kaum erleben dürfen, nicht einmal den Willen dazu, aber wenigstens in dieser
Angelegenheit war nun ein breiter Veränderungswille zu spüren. Immerhin war es
ein Stück Staatsordnung, das hier in Frage gestellt wurde. Ich wollte meine Freude
hierüber teilen und rief Constanze an. Auch sie sei doch sicher froh, dies in unserem
Alter noch zu erleben.
– Ja, antwortete sie, interessant ist das, aber es ist doch auch erschütternd, dass eine
solche Kleinigkeit schon als großes Ereignis gilt. Eine Provinz erklärt einen
machtlosen König auf ihrem Gebiet zum Privatmann. Na und?
Sie hatte natürlich wieder einmal Recht. Es gab einen kleinen Funken Hoffnung auf
spätere größere Veränderungen, mehr nicht.
Aber schon ein paar Monate später bewegte sich wieder etwas. Es gab Neues aus
Island und China. Wirtschaftlich hatten beide Länder schon lange eng
zusammengearbeitet, vor allem natürlich in Fischereiangelegenheiten. Nun wollten,
so hieß es, Island und China auch bei politischen Reformen kooperieren. Ich dachte
natürlich sofort an das, wovon Tian mir in Peking erzählt hatte: dass China in kleinen
367
Modellstaaten Reformen erproben lassen wollte, die man sich an einem
Milliardenvolk nicht zu erproben traute. War Island mit seinen 300.000 Einwohnern
nicht ein geradezu idealer Testfall? Würde Island sich also, ermutigt durch
großzügige chinesische Finanzhilfen, demnächst zum globalen Vorreiter politischer
Systemerneuerung machen? Das beobachten zu dürfen, dafür würde ich mir noch ein
ziemlich langes Leben wünschen.
Aber auch anderswo kamen Reformvorhaben in Bewegung. Yangs
Referendumskonzept hatte einige Initiativen angeregt, die Größeres im Sinn hatten
als eine Loslösung von monarchischem Zeremoniell. In Indien suchten immer mehr
Regionen nach Wegen zu mehr Autonomie, und auch hier sprach sich herum, dass
Yangs Konzept hierfür neue Perspektiven eröffnete. Auch in Südosteuropa wuchs bei
ethnischen und sprachlichen Minderheiten, ungarischen, albanischen und anderen,
das Interesse an diesem Konzept heran. Auch in Estland wurde darüber neu
diskutiert. Estland hatte seit mehr als einem halben Jahrhundert die Furcht vor einer
russischen Invasion fast zur Staatsräson gemacht und als NATO-Mitglied militärisch
immer weiter aufgerüstet, was zwischen der estnischen Mehrheit und der russischen
Minderheit des Landes Misstrauen und Missgunst hatte wachsen lassen. Dass nun die
russische Minderheit mehr Eigenständigkeit einforderte, könnte auch von Yangs
Konzept inspiriert gewesen sein. Dazu passten die Slogans, mit denen die russische
Minderheit jetzt für ihr Anliegen warb, wie Eure Armee ist nicht unsere und Wir
zahlen nicht mit für euren Rüstungswahn. Was anderes konnte das Ziel solcher
Initiativen sein als ein, wie es jetzt auch in den Medien genannt wurde, YangReferendum? Hier also ein Referendum über das Lossagen der russischen Minderheit
von der estnischen Landesverteidigung? Das aber würde nur möglich sein in
Zusammenhang mit einem Umbau der Staatsordnung. So weit immerhin war es
zumindest in einem kleinen europäischen Land gekommen.
368
Stillstände
Ein paar Monate lang hatte ich geglaubt, hier mit dieser hoffnungsvollen Note enden
zu können, aber das wäre, wie man inzwischen weiß, ganz und gar irreführend
gewesen.
Von der Bundestagswahl 2077 hatte ich mir keine Veränderungen erwartet, aber es
kam dann doch anders. Die Schlussphase des Wahlkampfs brachte eine Debatte, wie
man sie seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Den Anfang machten die Deutschen
Demokraten. Als Umfragen ihnen immer bedrohlichere Stimmenverluste
vorhersagten, schossen sie sich immer gezielter auf die EU ein. Die EU sei ein
verkorkstes Jahrhundertprojekt, und zwar von Anfang an, und man müsse endlich
den Mut haben, es auch so benennen. Dieses politische Europa sei nicht mehr
reparabel, eine Sanierung sei zwecklos, es helfe nur noch ein Neubau. Mit uns
Europa neu bauen, das wurde die zentrale Wahlkampfbotschaft.
Für die Tagmakraten hätte es Schlimmeres kaum geben können. Dass man das
politische Europa von Grund auf neu bauen müsse, das hatten sie schon immer
vertreten, und Konzepte dafür hatten sie über Jahrzehnte entwickelt. Dieses Thema
durften sie nicht von den immer noch populistischen Deutschen Demokraten
vereinnahmen lassen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stürzten sie sich daher in
eine reguläre Wahlkampfdebatte. Sie traten den Deutschen Demokraten mit dem
Slogan entgegen: Baumeister für ein neues Europa – Die Tagmakraten.
Helfen tat es nicht. Die Deutschen Demokraten wurden bei dieser Wahl erstmals
stärkste Partei. Dabei gelang es ihnen, viele politikmüde Wähler wieder an die
Wahlurnen zu bringen und damit die Wahlbeteiligung auf unerwartete 37 Prozent zu
steigern. Die Leitmedien deuteten dies trotzig als ein Wiedererstarken der
Demokratie. Die Deutschen Demokraten gewannen am Ende die SPD und die
Unionsparteien als Koalitionspartner, womit weitere vier Jahre Stillstand gesichert
waren.
369
In den Monaten danach bemerkte ich an mir zum ersten Mal, wovor mein Verstand
mich bis dahin hatte bewahren sollen: Das Altern macht ungeduldig. Wenn es um
große, grundlegende Reformen geht, hatte schon Hauser mir oft vorgehalten, müsse
man in historischen Zeiträumen denken, sich also vor Ungeduld hüten. Die
Geschichte nehme eben auf den Wunsch, ein bestimmtes Ereignis noch selbst zu
erleben, keine Rücksicht. Aber ausgerechnet im Alter konnte ich diesen Wunsch
immer weniger unterdrücken. Ich hoffte, dass wenigstens anderswo auf der Welt
demnächst Stillstände aufbrechen würden.
Dann kam eine Mail von Tian, die erste nach langer Zeit. Was weißt du Neues über
Yang? Was über Meier? Halten sie durch? Nur diese drei Sätze, sonst nichts. Kein
Wort über China, kein Wort über die Reformideen von Tian und Kollegen, kein Wort
darüber, wie weit die Partei und womöglich die Regierung in China sich darauf
eingelassen hatten. Ich wusste: Ein gutes Omen war das nicht.
Manchmal ähnelt die Wirklichkeit einem schlechten Roman. Manchmal folgen
spontane reale Ereignisse wie gekünstelt aufeinander. So erschien es mir, als nur
einige Tage nach Tians Mail die Vanuatu-Tragödie ihren Lauf nahm. Meteorologen
sagten voraus, dass wieder einmal ein südpazifischer Wirbelsturm Vanuatus Inseln
streifen würde. Dann wurden die Meldungen bedrohlicher. Was da komme, hieß es
jetzt, könne der heftigste je beobachtete Wirbelsturm sein. Die nächste Nachricht:
Der Zyklon ändere die Richtung, sein Zentrum bewege sich genau auf Vanuatu zu.
Dann die Warnung: Viele kleinere Inseln Vanuatus würden vollständig überflutet
werden. Jetzt blickte die Welt auf Vanuatu.
Vielleicht hatte Yang so etwas schon lange erwartet, und vielleicht wusste er auch
längst, was er in solchem Fall tun würde. Viele Dutzend wagemutige Journalisten
aus aller Welt, manche von ihnen bekannte Kriegsberichterstatter, machten sich
sofort auf den Weg nach Vanuatu. Und Yang wollte dabei sein. Für ihn, den globalen
Klimaschutzaktivisten, war das vielleicht die große Chance seines Lebens, ein
weltweit sichtbares klimapolitisches Signal zu geben.
370
Yang brauchte zwei Tage für die Vorbereitung. Er charterte ein Flugzeug, ließ es mit
Schlauchbooten, Fahnen, Transparenten und Ballons beladen, alle mit unübersehbar
großer Beschriftung. Eine davon: World Upgrade in Aktion für Vanuatu. Eine
andere: Weltklima-Regierung - virtuell. Drei von deren Mitgliedern flogen mit ihm.
Zum ersten Mal, hoffte Yang, würden die Augen der Welt sich auf dieses Gremium
richten.
Yangs Flugzeug landete in Vanuatus Hauptstadt Port Vila einen halben Tag, bevor
der Wirbelsturm sie erreichte. Am nächsten Morgen erkannte ich auf Fernsehbildern
vom Flughafen Port Vila Yangs Fahnen und Transparente. Ein paar Stunden später
sah ich Yang im Kurzinterview mit einem Reporter, im Hintergrund seine Mitstreiter
von der virtuellen Weltklimaregierung, umgeben von Schlauchbooten und Ballons,
alle beschriftet mit Yangs großformatigen Botschaften.
Dies waren die letzten Bilder von Yang. Am nächsten Tag meldeten die Medien
seinen Tod. Er war nicht Opfer seines Wagemuts geworden, er war nicht bei einer
spektakulären Aktion verunglückt, er war einen ganz banalen Tod gestorben. Eine im
Orkan herabfallende Balkonplatte hatte ihn erschlagen.
Ich hätte ihm gewünscht, mit seinem Tod wenigstens noch seiner Sache gedient zu
haben, aber selbst das war ihm nicht vergönnt. Die Welt schaute auf die Bilder von
den Verheerungen des Zyklons, der Fall Yang war eine drittrangige Nachricht. Die
Medien verwehrten ihm sogar noch im Tod den verdienten Respekt. Klimaaktivist
Robert Yang bei Spaziergang in Vanuatu verunglückt, so ähnlich meldete es nicht
nur BILD-Online.
Umso eindrucksvoller war der spontane Nachruf, den zur gleichen Zeit Claude
Halsdorf auf seiner eigenen Internetplattform veröffentlichte und der später
Millionen Leser fand. Ich will hier nicht Halsdorfs ergreifende Schilderung der
Persönlichkeit Robert Yangs wiedergeben, der fast verglüht sei in seinem
Engagement für die Rettung des Weltklimas. Fast ebenso beachtenswert war
Halsdorfs Reminiszenz an das Seminar über die Anthropologie von
371
Staatsverfassungen, das Yang und er in Stanford gemeinsam besucht hatten. Yangs
eigener Beitrag zu diesem Seminar habe davon gehandelt, welche Schlüsselrolle
Feindbilder und Empörung bei großen politischen Veränderungen gespielt hätten,
Feindbilder also wie verhasste Monarchen, Autokraten, Oligarchen, Ethnien,
Gesellschaftsschichten, Parteikader, Un- oder Andersgläubige oder auch abstrakte
Feindbilder wie das Großkapital oder vermeintliche Verschwörercliquen. Diesen
Zusammenhang zwischen Feindbild und Empörung einerseits und politischem
Wandel andererseits habe Yang als anthropologische Konstante gesehen. Empörung,
so Yang damals weiter, wirke aber, auch wenn sie noch so berechtigt sei, für sich
genommen erst einmal nur destruktiv, was auch in der Geschichte großer politischer
Bürgerbewegungen seinen traurigen Niederschlag gefunden habe. Dies sei ein
Schlüsselgedanke, der in der politischen Ideengeschichte bisher kaum eine Rolle
gespielt habe. Früher oder später, so sei Yangs Schlussfolgerung gewesen, bedürfe es
daher neuer Staatsverfassungen, die es Menschen leichter machten, politischen
Wandel auf den Weg zu bringen, ohne sich zuvor in Feindbilder verbissen zu haben.
Diesen Gedanken, so Halsdorf, habe Yang nie aufgegeben, aber er sei zu früh
gestorben, um ihm in aller Gründlichkeit nachzugehen. Hoffnung gebe aber, dass
einige andere – an erster Stelle nannte er Meier – diesen Gedanken schon seit
Längerem sehr konkret weitergedacht hätten.
Ich wollte über Yangs Tod nicht nur lesen, ich wollte meine Trauer darüber mit
jemandem teilen, und wen anders konnte ich anrufen als Constanze. Auch sie war
natürlich bestürzt. Ob sie denn glaube, fragte ich sie, dass Yangs Bewegung ihren
Weg auch ohne ihn mit gleicher Entschlossenheit weitergehen werde.
Auch Constanze hatte sich diese Frage natürlich sofort gestellt, und sie hatte, kurz
entschlossen wie immer, darüber auch schon mit Claude Halsdorf gesprochen. Wenn
einer ein Gespür dafür hatte, wie es um Yangs Bewegung nun bestellt sein würde,
dann er, das wusste sie.
Halsdorfs Antwort war bedrückend: Er glaube nicht, dass jemals wieder
irgendjemand so leicht so viel Geld für ein politisches Projekt einwerben könne.
372
Einige Milliardäre, zuletzt sogar aus China, hätten Yang im Lauf der Zeit ja veritable
Blankoschecks ausgestellt. Im Umgang mit den Superreichen dieser Welt sei Yang
ein Jahrhunderttalent gewesen, ein Genie geradezu, und auf ein neues solches Genie
solle man nicht hoffen. Das große Geld werde für World Upgrade nicht mehr fließen.
Die großen Projekte, die Yang in jüngster Zeit auf den Weg gebracht habe, würden
also rasch ins Stocken geraten.
Dann erzählte er Constanze, worüber Yang zuletzt verhandelt hatte: informelle
Unabhängigkeitsreferenden in Indien und in europäischen Ländern, die meisten über
Unabhängigkeiten für einzelne Staatssparten. Übergangshilfen für den Umbau zum
klimapolitischen Modellstaat für mehrere kleine europäische Staaten.
Vorübergehende Übergabe der Staatsgeschäfte des Kosovo, des früheren Libyens
und des früheren Somalias an die Staatsmanagementorganisation der Gates-Stiftung
mit dem Auftrag einer politischen Systemerneuerung.
– Aber auch all das, fasste Constanze zusammen, war noch ganz in den Anfängen.
Noch würde sich kein Land der Welt einem Robert Yang retten lassen wollen.
Demokratiedämmerung
Wie viel einfacher wäre es gewesen, wenn ich diese Geschichte, wie ich es zuletzt
geplant hatte, mit der Bundestagswahl 2077 hätte enden lassen können. Dann kam
Yangs Tod, und den konnte ich natürlich nicht übergehen. Aber durfte Yangs Tod
das Ende dieser Geschichte sein? Wäre nicht auch das ein Ende gewesen wie in
einem schlechten Roman? Mit Yangs Tod gingen viele Hoffnungen unter, das war
klar, aber war damit wirklich irgendetwas zum Abschluss gekommen? Keiner wusste
es.
Ich nahm mir in dieser Sache noch einige Wochen Bedenkzeit, und dabei verfolgte
ich die Nachrichten über den aktuellen Volkskongress in China. Es waren die
üblichen starren Bilder, dazu immerhin ein paar Meldungen über unvorhergesehene
Personalien, aber dann kam am Ende die Meldung über die Resolution zur Einheit
373
und Einigkeit Chinas. Die westlichen Medien machten zu Anfang wenig Aufhebens
davon. Der tiefere Sinn der Resolution erschloss sich erst bei genauem Studium,
nichts also für eilige Korrespondenten und Redakteure. Aber mich machte es
hellhörig, und ich besorgte mir den vollständigen Text.
Es war, wie ich befürchtet hatte. Einheit und Einigkeit, das hieß Einheitlichkeit in
starren Staatsgrenzen. Die Botschaft war: Ganz China hat einig hinter der
Parteiführung und ihren Dogmen zu stehen. Ganz China, das hieß: alle Regionen,
alle sozialen Schichten, alle Ethnien, alle Konfessionen, aber es hieß auch: alle
Wissenschaftler, auch Leute wie Tian. Die Vielfalt der wissenschaftlichen
Meinungen, die sich, wie Tian es mir erklärt hatte, auch im Auftrag der
Parteiführung herausgebildet hatte, war der Partei unheimlich geworden.
Dass die Entwicklung von Reformkonzepten ein Wettlauf mit der Zeit sein würde,
hatte auch Tian gewusst. Für China schien dieser Wettlauf nun verloren. Die
Parteiführung glaubte nicht mehr, das Land mit Reformen befrieden zu können, also
versuchte sie es wieder mit harter Hand. Das Signal an die Kritiker, Querdenker und
Vordenker im eigenen Land und in der Welt war: Das neue China wird das alte sein.
Die grandiose Idee, Systemreformen zunächst von kleineren Nationen testen zu
lassen, um sie dann später ggf. auf China zu übertragen, war zu spät gekommen.
Oder würde Tian sagen, zu früh? Viel zu früh womöglich?
Ich schickte Tian eine Mail. Nichts, was ihn in Bedrängnis bringen konnte, nur die
kurze Frage: Wie weit, glaubst du, geht es zurück?
Seine Antwort kam rasch und überraschend klar und offen.
– Mit der Entscheidung des Volkskongresses? Für den Rest des Jahrhunderts ist sie
bindend. Aber das Denken verbietet sie nicht.
Nicht das reformerische Denken verbot sie, aber das Handeln. Damit war klar: Das
21. Jahrhundert wird für China als das zu Ende gehen, was es für die Chinesen bisher
gewesen war, als ein Jahrhundert des Wohlstandswachstum. Nicht weniger, aber
auch nicht mehr. Alles andere war damit den Generationen des 22. Jahrhunderts
374
aufgebürdet. Auch ich war tief enttäuscht. Wie viel Hoffnung hatte Tian in mir
geweckt, dass China einem verkrusteten Westen politische Impulse geben würde, zu
denen dieser selbst nicht mehr fähig war. Diese Hoffnung war nun erloschen.
Wenigstens insofern, sagte ich mir dann, klare Verhältnisse. Yangs Tod und der
Rückschlag in China, beides zusammen kann eine Epoche um ihre Chancen bringen.
Aber manchmal, wenn ich in den Spiegel schaute, auf mein faltiges Gesicht und den
fast kahlen, nur noch von einem schmalen Streifen halblanger schlohweißer Haare
gesäumten Kopf, dachte ich auch: Sollen doch Jüngere sich darüber Gedanken
machen. Du hast wenigstens deine Chronistenpflicht erfüllt.
Als Achtzigjähriger hat man nicht mehr viele Gesprächspartner, bei denen man sich
in solchen Dingen vergewissern kann, aber ich hatte ja noch immer Constanze. Ich
rief sie an, und ohne dass ich es gewollt hatte, begann ich zu klagen, über die
entmutigenden Zeiten und über das Nachlassen der körperlichen Kräfte, das auch ich
immer mehr spürte, über den schmerzenden Rücken, den schwächelnden Kreislauf
und darüber, dass auch ich nun immer öfter eine Gehhilfe benutzte. Wenn mein
Körper noch etwas ordentlich beherrschte, sagte ich, dann allenfalls die Tastatur des
Computers. Darauf gab sie wieder einmal eine Antwort, die alles zurechtrückte: Das
Wichtigste ist dir am längsten geblieben, nimm das als dein Glück.
Dann schilderte ich ihr, dass ich dieses Buch nicht mit Ereignissen enden lassen
wollte, die sich später als folgenloses Randgeschehen unseres Jahrhunderts erweisen
würden. Ob sie denn meine, dass das bei Yangs Tod und der aktuellen Resolution
des chinesischen Volkskongresses der Fall sein könnte.
Sie versuchte mich zu beruhigen. Natürlich seien das Momentaufnahmen, und
niemand wisse genau, wie lange diese Ereignisse in die Zukunft hineinwirken
würden. Aber wir beide seien doch sicher, dass, wenn irgendwelchen Gedanken
unserer Zeit die Zukunft gehöre, es Gedanken wie die von Yang, Tian und
Ihresgleichen seien. Daran änderten doch auch die jüngsten Ereignisse nichts.
375
Natürlich hatte sie Recht. Umso irreführender wäre es aber doch, ein Buch über
unser Jahrhundert mit genau diesen Ereignissen enden zu lassen. Aber womit sonst?
Auch dazu bat ich Constanze um ihren Rat.
Schon am nächsten Tag überfiel sie mich Ideen, fast alle davon auf Anhieb hoch
plausibel. Das Allerwichtigste sei natürlich, sagte sie, nach Yangs Tod und den
Ereignissen in China nicht zu resignieren. Reformer brauchten nun einmal einen
langen Atem, am allermeisten, das wisse ich ja, Systemreformer, und nur wer den
allerlängsten Atem habe, der könne am Ende Gewinner sein.
– Und wer, meinst du, wird das sein?, fragte ich.
Vielleicht, sagte sie zögernd, Leute wie Meier. Die könne ja niemand zum
Schweigen bringen, wie das chinesische System es jetzt mit seinen Reformern tue,
und die seien auch nicht auf Leitfiguren wie einen Robert Yang angewiesen. Aber
für dieses Jahrhundert mache ihr auch das nicht viel Hoffnung.
Auch mit dieser pessimistischen Note will ich hier aber nicht enden, das wäre wohl
auch nicht in Constanzes Sinn. Aber was wäre zu den großen politischen Themen
noch nachzutragen? Zur lähmenden Stimmung von politischer Stagnation,
Inkompetenz und Sinnleere, zum Niedergang der Parteiendemokratie, zum
schleichenden Dritten Weltkrieg, zum Ringen um die Bändigung der
Flüchtlingsströme – das viele für Europa schon verloren gegeben haben –, zur
weltweiten Missachtung des Selbstbestimmungsrechts über die Staatszugehörigkeit,
zum auch in Europa immer wieder aufflackernden sozialen Unfrieden usw.? War das
Resümee am Ende doch nur, dass wir in einem Jahrhundert verpasster Chancen
lebten?
Auch dazu gab Constanze noch einen klugen Kommentar. Ja, sagte sie, Chancen
habe es durchaus gegeben, aber – auch darüber hätten wir ja schon oft gesprochen –
es ließe sich niemand benennen, der sie bewusst vergeben hätte. Unser Jahrhundert
sei, politisch gesehen, nun einmal ein Jahrhundert der organisierten Überforderung.
376
Politische Schuld gebe es viel, aber nur selten hätten demokratische Politiker sie
wissentlich auf sich geladen.
Ob das für sie denn das vorläufige Fazit für unser Jahrhundert sei, fragte ich.
– Vielleicht, sagte sie zögerlich, als hätte sie mit dieser Frage am allerwenigsten
gerechnet.
Dann, nach einer Pause, als warte sie darauf, dass sich in ihrem Kopf eine genauere
Antwort formte, sagte sie:
– Unserem Jahrhundert fehlt noch immer eine Kultur langfristen Denkens. Ich weiß,
die hat es auch früher nicht gegeben, aber jetzt ist sie überlebensnotwendig
geworden, und jetzt wir leben mit einer Demokratie, die eine solche Kultur nicht
gedeihen lässt.
– Grafs altes Thema, sagte ich. Wir, die Generation Sichtflug, haben es vermasselt.
– Ja, sagte Constanze, aber auch Graf hat es nicht wirklich durchschaut. Er hat uns
Kurzsichtigkeit vorgehalten, aber auch er hat nicht gesehen, wie fest die
Kurzsichtigkeit in unserer Demokratie angelegt ist. Deswegen sind die Jüngeren
heute ja nicht besser als wir damals. Wir hatten wenigstens noch einen Graf, der es
uns vorgehalten hat. Die Generationen nach uns hatten keinen Graf.
Die Kultur des langfristigen Denkens. Das war das Stichwort, das mich nach
unserem Gespräch lange beschäftigte. Ich suchte nach Beispielen großer politischer
Irrtümer der Vergangenheit, vor denen eine solche Kultur uns bewahrt hätte. Dabei
kam mir auch die Atomenergie in den Sinn. Was wäre gewesen, wenn die Kosten für
den Rückbau der Atomkraftwerke und für die Zwischen- und Endlagerung des
Atommülls von Anfang an vollständig eingerechnet worden wären? Diese Frage
stellte ich einem früheren Kollegen vom SPIEGEL, und der zögerte keinen Moment
mit der Antwort. Wenn alles einkalkuliert worden wäre, sagte er, wäre nie ein
Atomkraftwerk gebaut worden. Die immensen Kosten des Rückbaus kenne man ja
inzwischen, dazu kämen die Kosten der mindestens zwei Jahrhunderte dauernden
Zwischenlagerung, danach müsse der strahlende Atommüll bis zu einer Million Jahre
377
in Endlagern gesichert werden, was wiederum mit Kosten und Risiken verbunden
sei. Wenn man sämtliche, also die in einer Million Jahren anfallenden Kosten
berücksichtigt hätte, dann wäre die Atomenergie von Anfang völlig indiskutabel
gewesen. Sie sei nie etwas anderes gewesen als ein zynisches Geschäft dreier
egoistischer Generationen zulasten zahlloser nachfolgender.
Dazu will ich noch einen eigenen Gedanken nachtragen, der mir schon viele Jahre
vorher gekommen war. Ich habe mehrmals Atomkraftwerke besichtigt und habe
dabei versucht, deren Technik zu verstehen. Gelungen ist mir das nicht, von ein paar
ganz einfachen Prinzipien abgesehen. Geblieben ist mir aber das Staunen über den
technischen Erfindungsgeist, der solche Gebilde entstehen lässt, im Großen und in
zahllosen Details. Wie simpel sind dagegen die politischen Systemreformen, die für
einen verantwortungsvollen Umgang mit der Atomenergie hätten sorgen können.
Wie kann es also sein, dass Menschen etwas so Kompliziertes wie Atomkraftwerke
ersinnen konnten, aber im Aufbau ihres Staates im Dampfmaschinenzeitalter
stehenbleiben? Wie kann es sein, dass menschliche Innovationskraft sich nur in der
Technik so frei entfaltet? Ist nicht schon das Beweis für einen Systemfehler?
Ja, das ist es, und eben dieser Systemfehler verhindert auch eine Kultur langfristigen
Denkens. Das zeigt sich nicht nur im Umgang mit der Atomenergie, es zeigt sich
auch in fast allem, wovon hier bisher die Rede war, und klarer noch bei einem ganz
anderen Thema, über das Hauser mit mir schon in den späten zwanziger Jahren
gesprochen hat: der Umgang mit menschlichem Erbgut. Hauser sah darin schon
damals eine Schicksalsfrage der Menschheit.
Auch er sei immer ein entschiedener Gegner von Eingriffen in das menschliche
Erbgut gewesen, erklärte er mir, und das sei er im Grunde noch immer. Aber
inzwischen habe er verstanden, wie folgenschwer auch das Nichtstun in dieser Frage
sei. Die menschliche Spezies habe es durch technischen und medizinischen
Fortschritt geschafft, fast allen auf die Welt kommenden Menschen ein langes
Überleben zu sichern und damit auch die Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen.
Dadurch habe sich die Menschheit als einzige Spezies, genauer gesagt, als einzige
378
nicht von Menschen gezüchtete, von der natürlichen Selektion des Erbguts
ausgenommen, und das sei in höchstem Maße unnatürlich. So etwas habe es in der
Welt vorher nie gegeben, hier stelle also die Menschheit ein hoch riskantes
genetisches Experiment mit sich selbst an. Noch reiche die menschliche Phantasie
nicht aus, erklärte Hauser, um sich den Verlauf dieses Experiments auszumalen, aber
eines sei doch sicher: Ewig könne es nicht gutgehen. Die Menschheit sehe sich
insofern ungerührt dabei zu, wie sie genetisch aus dem Ruder laufe.
Verglichen hiermit seien Klimawandel und Bevölkerungsentwicklung beinahe
kurzfristige Probleme, aber das sei natürlich alles andere als ein Grund zur
Beruhigung. Um die Entwicklung ihres eigenen Erbguts nicht in einer
Menschheitskatastrophe enden zu lassen, müsse die Menschheit noch viel mehr
politischen Weitblick entwickeln und ein noch viel höheres Niveau der politischen
Zivilisierung erreichen als für den Umgang mit Problemen wie der Atomenergie und
der globalen Erwärmung. Das aber, sagte er, sei mit unserer Art von Demokratie erst
recht nicht vorstellbar.
Mit diesem Gedanken habe ich mich fast fünfzig Jahre lang nicht mehr befasst, aber
als Achtzigjährigem erscheint er mir nun umso unabweisbarer. Auch dieses Beispiel
zeigt wieder: Je weiter man in die Zukunft schaut, desto fragwürdiger werden unsere
politischen Überzeugungen und auch einige unserer moralischen. Desto kläglicher,
nein desto unsäglicher erscheint uns die Politik der Gegenwart.
Aber relativieren sich nicht, werden manche fragen, wenn man so weit in die Zukunft
schaut, die Versäumnisse unseres Jahrhunderts? Hat es nicht schon in der
Vergangenheit Jahrhunderte politischer Stagnation gegeben, ohne dass dies im
Nachhinein als historische Katastrophe erschienen wäre? Natürlich. Aber schon
Hauser hat gewusst: Die Menschheit verändert sich und ihre Lebensbedingungen
heute schneller denn je, und ein Jahrhundert politischer Versäumnisse wiegt in
diesen Zeiten so schwer wie früher ein Jahrtausend.
379
Ich fragte Constanze, ob sie es denn für möglich halte, dass der Rückstand in der
politischen Zivilisierung sich noch in diesem Jahrhundert merklich verringert.
Sie zögerte, als wolle sie mir eine negative Antwort ersparen.
– Was hilft es uns, darüber zu spekulieren?, sagte sie dann.
Jüngere in meiner Lage könnten sich solche Spekulationen ersparen, sie könnten
einfach das Ende des Jahrhunderts abwarten. Aber ich habe mir nun einmal auferlegt,
als Achtzigjähriger diesen verfrühten Rückblick auf unser Jahrhundert zu Ende zu
bringen, und Zeit zum Abwarten bleibt mir nicht mehr. Trotzdem hatte ich die fixe
Idee, für den Ausklang des Jahrhunderts irgendein passendes Schlagwort zu finden.
Schließlich fragte ich Constanze, wie sie die politische Gegenwart mit einem Wort
beschreiben würde. Und wieder hatte sie eine Antwort parat.
– Demokratiedämmerung, sagte sie.
– Siehst du es wirklich so düster?, fragte ich.
– Nein, sagte sie. Genau das macht ja Hoffnung.
Für einen Moment war ich von diesem Satz fast beglückt, aber dann fragte ich mich,
ob nicht auch damit in Wahrheit nur Ratlosigkeit verschleiert wird, und schon war
mein Mut, dieses Jahrhundert doch noch auf den Begriff zu bringen, wieder
gesunken.
Ich habe mich oft im Leben über mich selbst geärgert, wenn ich solchen Gedanken
nachging, den Gedanken eines Zauderers, aber es gibt auch die seltenen Momente im
Leben, in denen das Zaudern, sogar ein quälend langes Zaudern, sich auszahlt. Hätte
ich an dieser Stelle nicht gezaudert, hätte ich hier nicht dies noch nachtragen können,
was doch noch Hoffnung macht: Nach der kurzen Schockstarre, in die die Global
Upgrade Bewegung nach Yangs Tod verfallen war, wendete die Stimmung sich dort
in ein Jetzt-erst-recht. Eine wichtige Rolle spielte dabei ein Zitat aus einem
unveröffentlichten Artikel Robert Yangs. Darin schrieb er, dass die
Bewährungsprobe großer zivilgesellschaftlicher Initiativen erst komme, wenn sie
380
sich ohne ihre großen Leitfiguren und ohne große Geldgeber behaupten müssten. Der
neu gewählte Vorstand von World Upgrade konnte die Mitgliederzahl in kurzer Zeit
fast um die Hälfte steigern.
Und jetzt, nur ein paar Wochen später, kann ich auch dies noch nachtragen, ein Lohn
für weiteres Zaudern: Eine Mail von Tian, unerschrocken, selbstbewusst und fast
zuversichtlich. Er sehe nun manches klarer nach der Resolution des
Volkskongresses. Die Parteiführung wisse, dass die Gedanken von
Fundamentalreformern – er, Tian, zähe sich dazu – schon zu weit verbreitet seien,
um sie auf Dauer unterdrücken zu können. Die Zeiten, in denen man unbequeme
Geister einfach mundtot machen, sie also unter Hausarrest stellen, in Gefängnissen
verschwinden lassen oder gar umbringen lassen konnte, seien eben auch in China
vorbei, und Ältere wie er ließen sich ohnehin nicht mehr einschüchtern. Die Partei
habe mit der Resolution zur Einheit und Einigkeit zwar Zeit gewonnen, aber weniger
Zeit, als man im Westen befürchte. Vielleicht sogar weniger, als er, Tian, noch zu
leben habe.
Und dann folgte noch dieses PS über die westliche Welt:
Die Mächtigen in China können neue Ideen nicht mehr unterdrücken, sie können sie
nur eine Zeitlang totschweigen. Aber ist das nicht in eurer Demokratie ähnlich?
Sollte ich mich danach auf die Wette einlassen, dass auch ich noch
aufsehenerregende Reformen in China erleben würde? Während ich darüber
grübelte, überraschte mich Constanze, die immer noch eifrige, die ihre Tage immer
mehr mit Internetrecherchen zu verbringen schien, mit neuen Nachrichten.
Auch der neuen Führung von World Upgrade war klar geworden, wie wenig all ihre
Proklamationen, Aktionen und Publikationen am Ende bewirkten, so originell und
innovativ sie auch waren. Wollten sie nicht weiter so wirkungslos bleiben, mussten
sie nach neuen Methoden suchen. Es war dann aber Meier, der zuerst auf die Idee
kam, die Energien von World Upgrade mit Ideen der deutschen Tagmakraten
kurzzuschließen. In einem ersten gemeinsamen Projekt sollte Yangs Referendums-
381
Software für informelle Volksabstimmungen über den Parteienstaat eingesetzt
werden. Zuerst in Deutschland.
War nicht auch das ein Hoffnungszeichen? Ich begann mir auszumalen, wie gegen
Ende des Jahrhunderts Fundamentalreformer in China und Deutschland zusammen
mit World Upgrade zu Keimzellen eines politischen Systemwandels würden. Ein
verschwommener Gedanke, aber doch ein wohltuender. Und wie wäre es um die
Staaten dieser Welt heute bestellt, überlegte ich dann, wenn genau das schon vor
fünfzig Jahren passiert wäre? Ganz so weit reichte meine Phantasie nicht, aber dass
wir mindestens fünfzig verlorene Jahre hinter uns hatten, das zumindest war
vollkommen klar.
Und in genau diesen Tagen stieß ich im Internet auf eine von World Upgrade
finanzierte aufsehenerregende Studie. Darin wurden die großen politischen
Versäumnisse unseres Jahrhunderts beschrieben und dazu eine politische und
wirtschaftliche Entwicklung skizziert, wie ein Übergang zu neuen,
postdemokratischen Staatsformen sie ermöglicht hätte. Der Kontrast zur Realität war
atemberaubend. Wohlstand, sozialer Zusammenhalt, Freiheit, Frieden, Bildung,
Zivilisierung, politische Sinnerfüllung – in all dem waren wir weit hinter dem
Möglichen zurückgeblieben. Das zeigte auch, ein wie viel besseres Beispiel wir der
Welt hätten geben können. Wir haben es verpasst.
Mit diesen Gedanken wollte ich nicht allein sein. Ich wollte Constanze noch einmal
einladen, aber nein, dachte ich dann, wenn es ein Treffen geben soll, dann würde
natürlich ich es sein, der die Reise macht. Also lud ich mich bei ihr ein. Ich wolle,
sagte ich ihr, ein paar sehr wichtige Gedanken mit ihr teilen. Aber schon auf dem
Weg zu ihr kamen mir wieder Zweifel, und sie steigerten sich noch, als ich ihr
endlich gegenübersaß. War es nicht eine skurrile Szene? Hier saßen zwei Uralte,
Constanze und ich, achtzig und dreiundachtzig Jahre alt, die einige im Internet
zusammengesuchte Informationen als Hoffnungszeichen für kommende
Generationen gedeutet hatten, zusammen, und ich erklärte Constanze, dass es um die
382
wichtigsten Dinge der Welt gehe. Unser Gespräch stockte schon noch nach ein paar
Sätzen.
– Ausgerechnet wir, sagte ich. Ausgerechnet wir suchen händeringend nach solchen
Hoffnungszeichen. Müssten nicht hunderttausende Jüngere längst das Gleiche tun?
Oder tun sie es womöglich schon, ohne dass wir es wissen?
Constanze saß reglos mit gesenktem Kopf in ihrem Rollstuhl und schwieg.
– Oder sehen sie keine Chance gegen die Übermacht derer, die Gedanken wie die
von Tian und Yang als weltfremde Irrwege abtun und dann totzuschweigen
versuchen?
Jetzt hob Constanze den Kopf und sah mich mit einem Blick an, als hätte sie auf
genau diese Bemerkung gewartet. Dann streckte mir aus dem Rollstuhl die Arme
entgegen, zog mich an sich heran und schwieg.
Aus solcher unbarmherzigen Nähe hatte ich ihr altes Gesicht noch nicht betrachtet.
Constanze war für mich immer die geistig unfassbar jung Gebliebene gewesen, ihr
körperlicher Verfall eigentlich Nebensache. Bis jetzt.
Ja, sagte ich schließlich, für uns ist alles Wichtige gesagt.
Epilog
Hätte ich mir bei dieser kleinen Geschichte unseres Jahrhunderts nicht von Anfang
von Constanze helfen lassen sollen? So hatten wir es früher einmal verabredet, daran
erinnerte ich mich, aber vielleicht war es immer noch das alte Unterlegenheitsgefühl,
das mich davon abgehalten hatte. Natürlich würde mit ihrer Hilfe nichts schlechter,
manches vielleicht sehr viel besser werden, aber als ich darüber endlich nachdachte,
war die Chance vertan. Eine solche Anstrengung wollte ich ihr nicht mehr
zuzumuten. Aber ganz und gar übergehen wollte ich sie am Ende auch nicht, also
schickte ich ihr, kurz bevor ich das vorangegangene Kapitel begann, meinen
gesamten Textentwurf. Nicht mit der Bitte um Korrekturen, nicht mit der Bitte um
383
ein Urteil, nur mit der schuldbewussten Notiz: Damit du weißt, was ich im
vergangenen Jahr gemacht habe.
Sie hat sich dann sehr rasch, viel rascher, als ich es meinte erwarten zu können,
aufgerafft, alles zu lesen, und sie hat – die Constanze halt, wie sie immer war –
danach kluge Fragen gestellt, auch solche, die ich mir von Anfang selbst hätte stellen
sollen.
Ob wir, fragte Constanze, sie und ich, ein solches Buch in unseren jungen Jahren
hätten lesen mögen, als vorausschauende Jahrhundertgeschichte. Nein, gab sie selbst
die Antwort, wirklich gern gelesen hätten wir es nicht, dafür wäre uns zu vieles zu
abwegig erschienen und vieles zu weit in der Zukunft, als dass es uns nahegegangen
wäre. Auch wir, sagte sie, waren auf so etwas nicht vorbereitet, so wenig wie die
allermeisten damals.
Natürlich hat sie Recht. Dieses Buch, hätte es damals geheißen, sei voller
wirklichkeitsfremder Szenarien und fragwürdiger Faktendeutung, wissenschaftlich
unplausibel, und es würde von den realen Ereignissen sehr bald widerlegt werden.
Und auch wir hätten dem kaum widersprochen. Wie hätten wir auch damals schon
wissen können, dass politische und wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten im
weiteren Jahrhundertverlauf auf so breiter Front wegbrechen würden?
Aber was ändert das aus heutiger Sicht? Im Grunde nichts. Natürlich bleiben viele
auch heute noch im Denken des ersten Jahrhundertquartals befangen, aber darauf
kann ich hier natürlich keine Rücksicht nehmen. Hier geht es gerade darum, wie sehr
es in diesem Jahrhundert an politischer Voraussicht gefehlt hat, und darum, für das
kommende zu mehr Voraussicht zu ermutigen. Darüber sind Constanze und ich uns
vollkommen einig.
In unseren jungen Jahren glaubten ja auch wir, Constanze und ich, dass der Rest der
Welt zu den etablierten Demokratien aufschließen müsse, und alles würde gut. Oder
gut genug. Oder so gut, wie es eben besser nicht geht. Vielleicht sieht eine knappe
Mehrheit es heute noch so.
384
Diese knappe Mehrheit, meinte Constanze zuletzt, werde um ihre Überzeugungen
weiter kämpfen, auch mit den schamlosesten Argumenten. Dass z.B. ein
pensionierter SPIEGEL-Archivar die Demokratiegeschichte unseres Jahrhunderts
– und damit die Lebensleistungen zahlloser verdienter Demokraten – mit so wenig
Respekt abhandele, werde mit größtmöglicher Häme kommentiert werden. Auch
Verschwörungstheoretiker würden sich zu Wort melden, die in mir, dem SPIEGELArchivar, eine vorgeschobene Frontfigur dunkler ideologischer Hintermänner sehen
wollen.
Es soll hier aber nicht scheinen, als sei Constanze am Ende ganz und gar fatalistisch
geworden. Nichts behindere den Fortschritt so sehr wie Verharmlosung, das war ihr
spätes Credo, und nichts sei daher wichtiger als die Auseinandersetzung mit den
politischen Verharmlosern. Solange es Hoffnung gebe, dürfe man nichts
beschönigen, und etwas Hoffnung hätten wir beide doch.
Das stimmt natürlich, und daher will ich mich auch nicht dem geringsten Verdacht
der Verharmlosung aussetzen. Ich täte es, wenn ich hier nicht noch einmal auf einige
der unheilvollsten Entwicklungen unserer Zeit hinwiese: Die große Mehrheit findet
sich noch immer mit existenziellen Bedrohungen, globalen wie lokalen, leichtfertig
ab. In der politischen Zivilisierung gibt es weiterhin weltweit keinen Fortschritt.
Auch demokratische Staaten verweigern sich weiter neuen politischen Freiheiten,
deren Respektierung die Welt friedlicher werden ließe. Staaten mit eher
rückständiger politischer Zivilisierung werden noch größer, mächtiger und politisch
dominanter. Politisches Denken bleibt weiter geprägt vom zeitlichen Horizont von
Legislaturperioden. All das – und vieles mehr, was hier ausführlich beschrieben
wurde – hat sich bis in die jüngste Zeit sogar noch verschärft, und damit hat auch die
Sinnleere der Demokratie eine neue Dramatik erreicht.
Dass die Demokratie eine missbrauchsträchtige Staatsform ist, muss ich hier nicht
wiederholen. Dass aber schon in politischer Untätigkeit ein schlimmer Missbrauch
der Demokratie liegen kann, das ist noch nie so deutlich geworden wie jetzt.
385
Natürlich sind es die Populisten, die für diesen Missbrauch am anfälligsten sind.
Diejenigen also, die am schamlosesten Wahlen mit unerfüllbaren Versprechungen
gewinnen und deren Politik sich daher auch nach gewonnenen Wahlen meistens in
markigen Sprüchen erschöpft.
Ich war gerade zwanzig, als in den USA Donald Trump Präsident wurde, dieses
Menetekel der Demokratie, und ich erinnere mich noch gut, wie während Trumps
Wahlkampagne vielen nur deswegen nicht vor Schreck das Blut in den Adern
gefroren war, weil sie meinten, ein Trump sei in einer gereiften Demokratie
chancenlos. Dieses Jahrhundert hat uns eines Schlechteren belehrt. Wir haben mehr
als ein Dutzend Trumps an der Spitze etablierter Demokratien erlitten und zahllose
Pendants in weniger etablierten, Nachfolger also der Generationen Berlusconi, Putin,
Erdogan & Co., dieser vergifteten Früchte der Demokratie
Und nun, in der Gegenwart, der fast weltweite neue Schub an Populismus und damit
an politischer Inkompetenz. Constanze fragte mich einmal, ob ich mich noch
erinnere, was früher einmal als Modernisierungsverlierer bezeichnet wurde. Das war
die Minderheit derjenigen, die vom Wohlstandswachstum nicht oder viel weniger als
die Mehrheit profitierte, und es war die bevorzugte Klientel der Populisten, von
Parteien wie damals der Alternative für Deutschland. An den Begriff
Modernisierungsverlierer denkt heute fast niemand mehr, aber das damit bezeichnete
Lebensgefühl ist verbreiteter denn je. Es ist natürlich weiterhin nicht das
Lebensgefühl einer klaren Mehrheit, aber es ist zu weit verbreitet, als dass
demokratische Politik noch gegen die Modernisierungsverlierer von heute gemacht
werden könnte. Und die Demokratie hat diesen Verlierern nun einmal nichts anderes
als billigen Populismus zu bieten.
Deren Schuld, die Schuld der Verlierer, ist es nicht. Was sie sich erhoffen, ist
Gerechtigkeit und neue Sinnerfüllung, und dafür greifen sie immer wieder zu
populistischen Rauschmitteln. Die Plünderung der Staatsfinanzen ist damit häufig
verbunden.
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Aber ich will hier trotz allem nicht mit der Prognose enden, die Demokratie werde
im Sumpf des neuen Populismus untergehen. Denn welchen Sinn machte eine solche
Prognose, ohne zugleich zu fragen, was nach dem Untergang der Demokratie
geschähe? Zu dieser Frage soll hier ein Satz genügen, den Constanze mir aufgegeben
hat. Schreib es so, sagte sie: Was uns gelingen muss, ist der Übergang in eine
postdemokratische Ordnung. Und schreibe, dass uns dafür nicht mehr viel Zeit
bleibt.
Über eine postdemokratische Ordnung muss ich hier keine weiteren Worte verlieren.
Aber ich will hier nicht schließen, ohne Constanzes ausgreifendem Gedanken einen
Kontrast entgegenzusetzen: chinesische Bescheidenheit. Noch in den letzten Jahren
hatte es ja den Anschein gehabt, als seien Constanzes politisches Denken, meines
und früher eine Zeitlang auch Hausers mit dem politischen Denken Tians fast im
Gleichklang. Aber dann kam eine Nachricht von Tian, die mir klarmachte, worin
unsere Denkweisen sich doch immer noch deutlich unterschieden. Tian schrieb, dass
nun doch endgültig auf einige Jahrzehnte hinaus in China keine großen politischen
Neuerungen mehr zu erwarten seien. Und dann dies: Aber er sei dennoch dankbar für
die Jahre, in denen er mehr Zuversicht hatte haben dürfen.
Dankbarkeit für einige Jahre enttäuschter Zuversicht? Dankbarkeit womöglich
gegenüber einem chinesischen Staat, weil er ihn eine Zeitlang in falscher Hoffnung
gewiegt hatte? Konnte so etwas ernst gemeint sein? Ganz und gar ironisch, wie ich es
im ersten Moment gehofft hatte, war es jedenfalls nicht.
Natürlich hätte ich Tian anstelle von Dankbarkeit nicht Zorn und Verzweiflung
gewünscht, aber von solcher fatalistischen Bescheidenheit war ich doch irritiert.
Wenn selbst ein Tian den neuen Stillstand in China ohne erkennbare
Unmutsaufwallung hinnahm, war das Grund zur Beunruhigung auch weit über China
hinaus. Und ich fragte mich auch: Hat sich die westliche Welt dieser chinesischen
Mentalität nicht schon ein Stück weit angenähert? Ja, gab ich mir selbst die Antwort,
gerade unter den Jüngeren.
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Aber Tian wäre nicht Tian, wenn er seinen so irritierend fatalistischen nicht noch
diese klugen Worte hinzugefügt hätte:
Ich hoffe, dass ihr im Westen ganz aus eigener Kraft neue Zuversicht schöpfen
könnt. Verlasst euch nicht auf China.
Ein bewegender Satz. Eine Mahnung aus China an die klügeren Köpfe im Westen,
sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ihrer Demokratie zu ziehen. Wenigstens
damit war Tian dem westlichen Denken immer noch ein gutes Stück voraus.
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