Burkhard Wehner [email protected] Das Drama des 21. Jahrhunderts Wie Archivar Schmidt es sah II Inhalt Vorwort 1 Vorgeschichten 5 Staatstheater Generation Sichtflug Das 20. Jahrhundert 5 7 13 2000 – 2024 Ein schleichender Weltkrieg und andere Krisen 17 Jahrhundertauftakt Bewusstseinsstörung Exkurs Wirtschaft Russland und die Ukraine Afrika Die arabische Welt Amerika Israel und das historische Unrecht China und Indien Und Europa? Noch einmal Wirtschaft Zwischenstand 2025 – 2049 Hilflose Demokratie, Neues Denken Parteienzuwachs Was geht wie lange gut? Dauerkonflikt um Staatsgrenzen Flüchtlingsströme und territoriale Integrität Kurze Begegnung Scheidungsrecht für Staaten Neues Denken in China Eine Jahrhundertpartei? Das digitale Hiroshima Flächengewinne der Demokratie Wankendes Vorbild Europa Das Elend der Parteien Hundertjahrfeiern Sinnstiftungsversuche Kleine Staatsreparaturen 17 23 26 31 41 51 64 75 81 85 94 97 104 104 117 122 125 127 130 136 151 155 166 172 185 199 207 218 III 2050 – 2074 Globale Erschöpfung 223 Mächtige Senioren Neue Hoffnungsträger Rentnerrevolution? Das Yang-Konzept Noch mehr Ideologiefreiheit Die Krise der Archive Abschied von Hauser Ringen um Rohstoffe Ölkartell: Die Bösen tun Gutes Jahrhundertereignis Klimawandel Schwache Cyberwehr Mit Milliardären aus der Systemkrise? Chinesische Visionen Noch einmal Euphorie Yang, China und die Tagmakraten Wie Constanze es sah 2075 -… Ist das Jahrhundert noch zu retten? 227 230 242 246 250 256 263 273 281 285 294 298 308 328 333 337 342 Europas letzter Versuch Altfall Griechenland Deutsche Zustände Denkwürdige Zusammenkunft Kleine Neuerungen Stillstände Demokratiedämmerung Epilog 342 346 347 350 365 368 372 382 1 Vorwort Ein Buch über dieses Jahrhundert zu schreiben wäre mir allein nie den Sinn gekommen. Ein Protokoll zu dem halben Jahrhundert zwischen 2025 und 2075, eine Zusammenstellung von Aufzeichnungen und Gedanken zu dieser kurzen Epoche, das immerhin hatte ich mir nach langem Zögern zugetraut, und daran hatte ich schließlich zu schreiben begonnen. Ich wollte es so beginnen lassen, wie es hier im Abschnitt über das zweite Jahrhundertquartal zu lesen ist: Der Paukenschlag zum Auftakt des ersten Jahrhundertquartals war der Anschlag auf das World Trade Center gewesen, der Auslöser des Weltkriegs gegen den Terror, der ein Teil des schleichenden Dritten Weltkriegs war. Das zweite Jahrhundertquartal begann weniger aufsehenerregend. Nach der Jahrtausendwende war die Welt aus dem schönen Traum gerissen worden, mit der Vorherrschaft von Demokratie und Marktwirtschaft sei die Zeit ewigen Friedens und Wohlstands angebrochen. Dieser Traum war ausgeträumt, und die Erwartungen waren gedrückt. Statt mit einem Paukenschlag begann das zweite Jahrhundertquartal mit einem lang anhaltenden Trommelwirbel, der die Krisen der Zeit wie in einem großen politischen Welttheater aneinanderreihte. Aber man täte diesem zweiten Jahrhundertquartal Unrecht, wenn man nicht auch anerkennte, dass die Demokratie in dieser Zeit ihre beste Phase erlebte. Es gab Ausnahmen, es gab China, es gab noch Nordkorea, es gab muslimische Gottesstaaten und Emirate, es gab gescheiterte Staaten ohne etablierte Staatsordnung, es gab noch einige wenige bekennende Autokratien, und fast überallsteckte die politische Auseinandersetzung tief im populistischen Sumpf, aber immer weniger Staaten bekannten sich noch offen dazu, keine Demokratie im üblichen Sinne zu sein. Zumindest dem Schein nach orientierten sich mehr Staaten denn je am Beispiel westlicher Demokratien. Spätere Historiker dürften den Zenit der modernen Demokratie auf das frühe zweite Quartal des 21. Jahrhunderts datieren. 2 Keine der Krisen, die das erste Jahrhundertquartal geprägt hatten, war zu Beginn des zweiten Quartals wirklich gelöst, einige Konflikte waren mit militärischen und diplomatischen Mitteln vorerst eingefroren worden, aber fast alle schrieben sich in den Anfängen des zweiten Quartals neu in die Weltgeschichte ein. Es waren dann andere – von denen hier noch die Rede sein wird –, die mich drängten, mich hier doch auch auf die davorliegenden Jahrzehnte einzulassen. Ich dürfe nicht so mit der Tür ins Haus fallen, war der Einwand, nicht mit Andeutungen und Gedanken, die für mich im Lauf der Zeit selbstverständlich geworden seien, für viele andere aber noch immer nicht. Ich solle mir also die Mühe machen, zumindest noch ein paar Seiten über das erste Jahrhundertviertel voranzustellen. Diesem Drängen gab ich am Ende nach. Eine Geschichte des Jahrhunderts soll dies natürlich trotzdem nicht werden, nicht einmal in Ansätzen. Ich bin kein Historiker. Ich will weniger über die Ereignisse dieses Jahrhunderts schreiben als darüber, wie Menschen, wie Bürger und politische Akteure in diesem Jahrhundert gedacht haben. Ich weiß, auch das ist beinahe vermessen, wenigstens dann, wenn man dabei aus eigener Erinnerung schöpfen will. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis, und ich habe sogar ein eigenes kleines Archiv. Keines, wie ich es in meinem Berufsleben verwaltet habe, als Archivleiter des SPIEGEL, nur eines mit privaten Aufzeichnungen, die ich, Archivarseele, die ich nun einmal bin, akribisch verwahre. Wann ich wie und was als politischer Mensch gedacht habe, das finde ich wohlsortiert auch in meinen Dateien und Zettelkästen. Schrankfüllend ist es nicht. Im Beruf musste ich detailbesessen sein, aber damit war meine Neigung zum Detail für dieses Leben beinahe erschöpft. Im sonstigen Leben wollte ich die Welt eher aus der Vogelperspektive betrachten, aber immer auch geerdet durch archivarisches Faktenwissen. Menschen werden noch immer nicht alt genug, um ein Jahrhundert aus eigenem Erleben beschreiben zu können, aber ich bin immerhin in diesem Jahrhundert aufgewachsen und mit ihm ziemlich alt geworden. Ich könnte mit diesem 3 Jahrhundertporträt noch warten, bis das Jahrhundertende näherkommt, aber zwei Gründe sprechen dagegen. Erstens weiß ich nicht, wie lange ich als mittlerweile Achtzigjähriger zu einer solchen Arbeit noch fähig wäre. Zweitens könnte dieses Jahrhundert tatsächlich schon reif für eine abschließende Betrachtung sein. Würde nämlich der Rest des Jahrhunderts die überfällige Zeitenwende bringen, würde dies den Rahmen dieses Textes ohnehin sprengen. Dann hätte der Rest seinen Platz – als dessen Vorspiel gewissermaßen – eher in einem Porträt des 22. Jahrhunderts. Oder aber das letzte Jahrhundertviertel wird – ich fürchte, so wird es kommen – für dieses Jahrhundertporträt wenig Neues bringen. Dieses Jahrhundert hat natürlich auch mein eigenes politisches Bewusstsein geprägt, also bin ich Teil dessen, was ich hier beschreibe. Also muss ich mir auch darüber im Klaren sein, wie mein eigenes Denken sich in den Etappen dieses Jahrhunderts verändert hat. Das im Nachhinein zu verfolgen war fast ein Glückserlebnis. Ich weiß jetzt, dass ich nicht noch einmal so denken darf, wie ich in früheren Jahrhundertabschnitten gedacht habe, aber ich weiß natürlich auch, dass viel zu viele es immer noch tun. Als früherer Archivar falle ich aus der Rolle, wenn ich so etwas schreibe. Von einem Archivar erwartet man Fakten, keine Meinung, kein Urteil, und diese Erwartung habe ich in meinem Arbeitsleben lange erfüllen wollen. Aber gerade weil man von mir keine Meinung erwartete, genoss ich die denkbar größte innere Meinungsfreiheit. Ich nehme das als ein Privileg. Die schreibenden Kollegen haben dieses Privileg nicht. Nur wer meinungsstark schreibt, schreibt interessant, und interessant wirkt nur, was den Resonanzboden bestehender Vorurteile zum Schwingen bringt. Das bringt die schreibenden Kollegen immer wieder in Versuchung, sich Vorurteile zu eigen zu machen. Solcher Versuchung war ich nie ausgesetzt. Von einem Archivar erwartet niemand, dass er Vorurteile bedient. Das verleiht innere Freiheit, es hat allerdings auch seinen Preis: Wer keine Vorurteile hat, der findet selten Gleichgesinnte. 4 Aber das war bei mir natürlich nicht von Anfang an so, ich wurde schließlich nicht als Archivar geboren. Ich war achtundzwanzig, als ich in der Dokumentationsabteilung des SPIEGEL – ich nennen sie hier einfach SPIEGELArchiv – meine erste Stellung antrat, und natürlich hatte ich damals schon politische Meinungen und Urteile, und natürlich waren das großenteils Vorurteile. Ich könnte daher über die Zeit davor, über das zwanzigste und das frühe einundzwanzigste Jahrhundert, nicht so vorurteilsfrei schreiben, wie ich es möchte, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, im Archiv auf Hauser zu treffen, meinen Mentor, den großen Entzauberer von Vorurteilen. Aber darüber später. Kollase, den 25.04.2077 PS: Dieser Text wird wohl überwiegend Leser finden, die nach der Jahrhundertmitte geboren sind. Trotzdem wünsche ich mir natürlich, dass auch einige Ältere, vielleicht auch einige aus meiner Generation der um die Jahrtausendwende Geborenen, sich die Mühe des Lesens machen werden, auch wenn sie darin nur wenige eigene Meinungen bestätigt finden. Wem täte es nicht gut, sich im hohen Alter doch noch einen Reim auf dieses ungereimte Jahrhundert zu machen? 5 Vorgeschichten Staatstheater Irgendwo las ich, dass man sich jung fühlen muss, um für junge Leute zu schreiben, und sich alt fühlen muss, um für Alte zu schreiben. Das gilt auch für das Schreiben einer Geschichte des 21. Jahrhunderts. Ich kann nicht so tun, als wäre ich noch jung, aber vielleicht hilft es, hier mit meiner Zeit als junger Mensch zu beginnen, auch wenn ich damals manchmal meinte, nicht ganz in meine Zeit zu passen. Meine Erinnerung setzt mit der Nacht der Jahrtausendwende ein. Ich musste für ein Foto posieren: Mein Kindsgesicht todmüde vor einem vom Feuerwerk taghell erleuchteten Berliner Nachthimmel. Zum Glück war unten auf dem Foto das Brüstungsrohr unserer Dachterrasse zu sehen, sonst wären es wirklich nur der beleuchtete Himmel und ich gewesen. Unter dem Foto in der Handschrift meiner Mutter: Matthias und das neue Jahrtausend feiern Geburtstag. Ich, Matthias Schmidt, bin am 1. Januar 1996 geboren. Es gibt andere peinliche Jugendfotos von mir, aber dieses war für mich eines der peinlichsten. Neujahrsgeborene gehen ohnehin mit einer Last ins Leben, nun war meiner Kindheitserinnerung noch dieses Jahrtausendwendespektakel aufgebürdet. Ich hätte das Foto später vernichten mögen, aber das habe ich – irgendwie bin ich eben doch ein Zauderer – immer wieder aufgeschoben, bis heute. Das Foto wird diese Welt wohl nach mir verlassen. Vielleicht war es auch wegen dieses Fotos, dass ich mich später bei Feiern oft fragte, ob denn der Anlass der richtige sei. Man soll sich nicht zu früh freuen, das hatte ich früh gelernt, aber dann gilt doch auch: Man soll nicht zu früh feiern. Wie kann man guten Gewissens eine Jahrtausendwende feiern, wenn man für das neue Jahrtausend 6 neues Unheil fürchten muss? Ich weiß, dass die wenigsten Jungen sich mit solchen Gedanken befassen, aber die meisten Alten tun es leider auch nicht. Später habe ich das Feiern dann etwas besser verstehen gelernt. Bei jungen Menschen feiert man in die Zukunft hinein: In einem Jahr bist du schon sooooo groß. Bei deinem nächsten Geburtstag bist du schon ein Schulkind. Nächstes Mal darfst du schon wählen. Nächstes Jahr hast du schon deinen Führerschein. Nächstes Jahr hast du schon dein Abitur. Nächstes Jahr studierst du schon. Ganz anders bei alten Menschen. Sie feiern in die Vergangenheit hinein. Die späten runden Geburts- und Hochzeitstage und Jubiläen – keine Rede mehr von Herausforderungen, von Zielen und Plänen, von Zukunft überhaupt, höchstens noch ein trotziges: Auf weitere soundso viele Jahre. Ansonsten Erinnerungen, alte Geschichten, Erlebtes, Miterlebtes, Überstandenes, Geleistetes, einzelne Glücksmomente. Erlittenes? Schwamm drüber. Ich weiß, von privatem Feiern soll hier am allerwenigsten die Rede sein, aber politische Feiern, Staatsfeiertage, haben damit Gemeinsamkeiten. All die Feiern von politischen Jahrestagen sind Feiern in die Vergangenheit hinein. Mein Vater war noch bei Feiern zu Jahrestagen der Oktoberrevolution dabei gewesen. Großes Staatstheater mit Blick in die Vergangenheit, so sagte es einmal mein Großvater. Natürlich wurde dabei auch kurz über Zukunft geredet, aber dafür versetzte man sich erst einmal weit in die Vergangenheit. So fühlte sich die Gegenwart wie eine strahlende Zukunft an, und die wirkliche Zukunft kam nur als Floskel vor. Die Oktoberrevolution feiert niemand mehr, aber ist es mit dem Staatstheater unserer Zeit, unseres Jahrhunderts nicht ähnlich? All die Jahrestage von lange zurückliegenden Ereignissen, bei denen man sich in eine graue Vorzeit versetzt, um sich umso emphatischer zur Gegenwart zu gratulieren. Fühlen die meisten politischen Jahrestage, die wir heute feiern, sich nicht an wie diamantene Hochzeiten? Aber was gibt es in der Politik noch oder was könnte es geben, das man wie Kindergeburtstage, wie Geburtstage der Jugend feiern kann? Hat die Demokratie uns nicht alle, Alte wie Junge, schon politisch vergreisen lassen? In diesem 7 Jahrhundert standen uns Hundertjahrfeiern – hundert Jahre deutsches Grundgesetz und anderes – bevor, die genau diesen Gedanken aufdrängten. Generation Sichtflug Politische Vergreisung – das sind fast schon wieder Gedanken eines alten Mannes. Wie war es, als ich achtzehn war? Ich versuche, an diese Zeit zu denken. Der Blick ging damals in die Zukunft, die naheliegende eigene vor allem. Was wollte ich werden? Was würde ich studieren? Ich ging die Sache damals ziemlich systematisch an und stellte mir all die gängigen Fragen. Welcher Beruf gäbe deinem Leben Sinn? An welchem hättest du Spaß? Wofür hättest du Talent? Was würde für Spannung sorgen? Was gäbe dir Sicherheit? Womit ließe sich gutes Geld verdienen? Und welches Studienfach wäre zu all dem der Schlüssel? Vieles konnte ich vornherein ausschließen. Ich schaute in den Spiegel und wusste: Andere sehen besser aus, du gehörst nicht ins Rampenlicht. Ich hörte mir zu und wusste: Andere reden besser, flüssiger, überzeugender, also wirst du – Streitigkeiten anderer langweilen dich sowieso – kein Anwalt, auch kein Politiker. Und ich horchte in mich hinein und wusste: Andere sind durchsetzungsstärker, also wirst du kein Manager, kein Unternehmer. Technik interessiert dich nur mäßig, also wirst du kein Ingenieur. Naturwissenschaften hast du in der Schule gemieden, also wirst du kein Chemiker, kein Biologe, kein Physiker. Zeichnen können andere viel besser, also wirst du kein Künstler, kein Gestalter, kein Architekt. Du kannst kein Blut sehen, also wirst du kein Arzt. Du bist ungeduldig, also wirst du kein Lehrer. Schließlich ging ich zur Berufsberatung. Der Rat war: Sie sind noch nicht reif, sich zu entscheiden, Sie brauchen eine Orientierungsphase, studieren sie erst mal was Allgemeinbildendes. Was das denn sein könnte, fragte ich. Schauen Sie sich mal bei den Geistes- und Sozialwissenschaften um, war die Antwort. 8 Ich durchforstete die Websites der Universitäten. Von den mehr als 200 Studiengängen – tausende spezialisierte Unterstudiengänge nicht mitgezählt – schloss ich zwei Drittel sofort aus, mehr als 60 allgemeinbildende blieben übrig. Viele mit klingenden Namen, sehr viele, von denen ich nie gehört hatte, viele, unter denen ich mir nichts vorstellen konnte. Studiengangerfinder, dachte ich, das wäre mein Beruf. Ich war in einem schwierigen Alter. Ich schob die Entscheidung vor mir her. Ein guter Freund wollte Medizin in Halle studieren, also entschied auch ich mich erst einmal für Halle. Welche anderen Gründe sprachen dafür? Ich erinnere mich an keine, an Gründe, die dagegensprachen, schon eher. Mein Freund entschied sich dann doch für München. Für mich zu spät, ich blieb bei Halle. Die Entscheidung für Politik – genauer gesagt, die so genannte Wissenschaft davon – hatte ich buchstäblich in letzter Minute getroffen. Jemand hatte mir von Graf erzählt, der in Halle Politikwissenschaft lehrte. Graf sei anders als die meisten, ein hoch interessanter Mann, für angehende Politologen Grund genug, nach Halle zu gehen. Warum also nicht Politikwissenschaft in Halle? Im Nebenfach habe ich dann – allgemeinbildend – Geschichte, Soziologie und Philosophie studiert. Mit Halle hatte ich dann nach zwei Jahren meinen Frieden gemacht. Natürlich war Halle mir zu klein und zu provinziell und die Stimmung zu depressiv, und die Wochenenden waren zu lang, um dort bleiben, und fast immer zu kurz, um zu Freunden nach München, Heidelberg oder Hamburg fahren zu wollen. Aber irgendwann wurde Halle mir dann doch vertraut genug. Ähnlich mochte es lange vorher Graf gegangen sein. Er lehrte seit über zwanzig Jahren in Halle, schien aber mit seinen Gedanken dort nie ganz angekommen zu sein. Von vielen Studenten wurde er „Der Fremde“ genannt. Aber Halle brauchte so einen. Er war das Glanzlicht im Hallenser akademischen Alltag. Nach sieben Jahren Halle war ich dann so weit, dass ich wusste, was ich hätte werden wollen: Stadtplaner. Zu spät. Nun musste ich als studierter Politologe ins 9 Berufsleben eintreten. Aber was ließ sich daraus machen? Ich wusste es nicht, und die meisten Kommilitonen auch nicht. Wir alle wussten nur, dass wir viel zu viele waren für die Jobs, in denen wir unser Studienwissen anwenden konnten. Wenn wir uns den akademischen Stil schnell genug abgewöhnten, hatte ein Dozent einmal gesagt, könnten wir z.B. Journalisten werden oder Redenschreiber für Manager. Es war spannend, und noch fühlte es sich gut an. Noch hatte ich nichts zu verlieren. Als Student hatte ich oft darüber gelesen, welche Gedanken Ältere sich über unsere Studentengeneration machte. Damals wurde in fast jeder Dekade eine neue Generation ausgerufen, und unsere nannte man seltsamerweise Generation Z. Der Tonfall, in dem man über uns schrieb, war ärgerlich, aber vieles Geschriebene war richtig. Wir waren viel mit uns selbst beschäftigt. Die Wenigsten waren politisch ernsthaft interessiert, auch unter den Politikstudenten, und wenn, dann ohne jegliche Leidenschaft. Zeit für politisches Engagement hatten wir nicht oder nahmen wir uns nicht. Die Bereitschaft, Lebenszeit für politische Ziele zu opfern, wächst eben – so hat Graf es einmal gesagt – am ehesten aus Empörung, und empört waren wir nicht. Empörung und Zorn herrschten anderswo. „Euer Wohlstand frisst eure Zeit.“ So sagte Graf es in einer Vorlesung kurz vor seiner Emeritierung, einer denkwürdigen Vorlesung, in der er aussprach, was keiner seiner Kollegen je gewagt hätte. Er begann im üblichen akademischen Tonfall. Dann, ganz spontan, ganz offensichtlich ungeplant, vielleicht sogar ungewollt, zuerst im Tonfall einer beiläufigen Anmerkung, dann immer erregter, für Augenblicke wie in unterdrücktem Zorn, rechnete er mit uns ab, mit seinen Studenten, nein mit einer ganzen Studentengeneration. Und dann, fast am Schluss: Ihr seid die Generation Sichtflug. Generation Sichtflug. Das wurde bei uns ein geflügeltes Wort. "Na, du Sichtflieger", so pflaumten wir einander amüsiert an. Ich nahm es nicht so locker. Hatte Graf nicht irgendwie Recht? Ja, irgendwie waren wir eine Generation Sichtflug. Aber hatte er uns denn Besseres gelehrt? Den politischen Instrumentenflug? Nein, das hatte auch er nicht. Sein kaum verhohlener Zorn traf, ohne dass er es merkte, auch ihn selbst. 10 Aber Graf legte kurz darauf noch einmal nach. Alle wussten, dass es sein allerletzter Auftritt in Halle sein würde, der Hörsaal quoll über bis weit in die Flure hinein. Er fing wieder streng akademisch an mit Anmerkungen zur politischen Theorie der Gegenwart. Dann brach er unvermittelt ab, ließ seinen Blick in die Weite des Hörsaals schweifen, dann sagte er: – Aber das ist für euch natürlich alles graue Theorie. Für euch, sagte er. Er hatte, solange ich ihn kannte, nie einen Studenten geduzt, nun dieses „für euch“. – Ihr wisst ja, fuhr er dann fort, dass ihr die Generation Sichtflug seid. Dann wurde sein Tonfall schärfer, fast schneidend. – Aber ihr macht nicht einfach nur Sichtflug, ihr macht Sichtflug im Nebel. Ohne Kompass, ohne Orientierung. Und trotzdem gut gelaunt. Dann der Zwischenruf eines Studenten: Woher kommt denn der Nebel? Großes Gelächter im Hörsaal. Darauf Graf – jetzt siezte er uns wieder: – Es ist der Nebel der Begriffe. Von überall her. Von den Medien, von Parteien, von Regierungen, in Wahlkämpfen. Dann, nach einer kurzen, kunstvollen Pause: – Aber auch von den nebulösen akademischen Begriffen. Wieder ein langer, weiter Rundblick in den Hörsaal. – Den einen Rat gebe Ihnen noch mit: Behalten Sie die wenigen Prozente des Lehrstoffs, die wichtig sein könnten, die Sie vielleicht zu etwas besseren Staatsbürgern machen. Und vergessen Sie möglichst schnell den ganzen Rest. Machen Sie den Kopf frei für Neues, das im wirklichen Leben hilft. Im Saal eine fast unheimliche Stille. Dann ein anschwellendes Klopfen auf die Tische. 11 Dann wieder Graf: – Ich wünsche Ihnen viel Weitsicht auf Ihrem weiteren Lebensweg. Alles Gute. Er schob die vor ihm liegenden Papiere zusammen und steckte seine Brille ein. Alle im Hörsaal blieben sitzen. Dann standen die Ersten auf, keiner ging. Dann fingen einige an zu klatschen, dann immer mehr, dann standen fast alle, fast alle klatschten, einige riefen "bravo". Graf blieb stehen, kämpfte sichtlich mit den Tränen, dann machte er eine beschwichtigende Handbewegung. Das Klatschen ebbte ab. Dann sein allerletzter Satz: – Ich sage das noch einmal: Vergessen sie möglichst schnell möglichst viel von dem, was Sie hier gelernt haben. Dann ging er, die Standing Ovations sichtlich genießend, mit einem verschmitzten Lächeln. Es war der bewegendste Moment meiner Zeit in Halle. Vielleicht der einzige wirklich bewegende. Aber zu was hatten wir Graf eigentlich so heftig applaudiert? Zu seiner unverhofften Wahrhaftigkeit? Dazu, dass unser Studium größtenteils Zeitverschwendung war, all die schönen Demokratie- und sonstigen Theorien eingeschlossen? Wir wussten es nicht. So begeistert wir von Grafs Auftritt gewesen waren, so schnell war er vergessen. Am nächsten Tag tauchten die Gedanken wieder in den Alltag ein, die nächste Seminararbeit, die nächste Klausur, das anstehende Praktikum, die Fertigstellung der Bewerbungsmappe und so weiter, und schon waren die Standing Ovations für Graf nur noch ein aus dem Zusammenhang gerissener Erinnerungsfetzen. Eine Zehnsekundenaufnahme davon auf YouTube war nach ein paar Tagen gelöscht. Drei Tage nach seiner Abschiedsvorlesung hatte Graf Halle für immer verlassen. 12 Wenn ich mich richtig erinnere, sah ich Constanze – die Cramer, wie viele sie nannten – zum ersten Mal in einer von Grafs Vorlesungen. Constanze Cramer. Politik und Informatik im Nebenfach, Hauptfach Ökonomie. Ich war im dritten von vierzehn Semestern, sie in ihrem vorletzten, dem siebten. Ein älterer Kommilitone neben mir machte eine Kopfbewegung zu ihr hin. „Schau mal!“ Man kannte sie. Eine Erscheinung. Auffallend schön, auffallend athletisch, auffallend weiblich, auffallend schwarzes langes Haar, einschüchternd groß, manchmal auf hohen Absätzen, auffallend gepflegt, auffallend gut gekleidet, auffallend geschminkt. Auf den ersten Blick eine Allerweltseleganz wie aus Modejournalen, ein Karrieretyp. Eine von jenen, die einmal von Weitem gesehen zu haben mir eigentlich vollauf genügt hätte. Im ersten Moment konnte man sie auch für einen akademischen Jungstar halten, eine angehende Professorin. Alles an ihr, ihre Körperhaltung, ihre Mimik, ihre Gestik, ihre Blicke, sagte: Kommt mir nicht zu nahe; ich weiß, ihr würdet gern, aber tut es nicht. Dazu passte ihr immer in voller Länge, nie in Kurz- oder Koseform ausgesprochener Vorname. Immer Constanze, niemals Connie oder sonstwas. Bei uns Politologen gab es keine Frauen und auch keine Männer, die es mit einer wie ihr hätten aufnehmen mögen. "Bei solcher Frau bist du als Mann doch immer nur der Kofferträger." Nur einmal – ich saß ihr in Grafs Seminar näher als sonst – erahnte ich in ihrer Miene für einen kurzen Moment Tiefgründigeres. Auch in Grafs Seminar war sie immer wortgewandt und schlagfertig, sie argumentierte glänzend, aber wenn sie sprach, dann in angestrengtem, fast schrillem Tonfall. Einer Erscheinung wie ihr hätte man eine wohlklingendere Stimme gewünscht. Aber dann hätte man vielleicht auch sie spontan zur Generation Sichtflug gezählt. Das wäre, wie ich später herausfand, ein großer Fehler gewesen. Ich habe ihr viel zu verdanken, auch für dieses Buch. 13 Das 20. Jahrhundert Die Geschichte orientiert sich nicht am Kalender. Ein kalendarisches Jahrhundert, auch das einundzwanzigste, als zusammenhängende Epoche zu behandeln ist im Grunde, ich weiß es, schlicht Unsinn. Wenn man unser Jahrhundert als historische Epoche betrachten will, dann hat diese eher mit dem letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts begonnen, mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt. Ich fange daher mit einer Anmerkung zum zwanzigsten Jahrhundert an. Wie haben Menschen im vorigen Jahrhundert politisch gedacht? Was haben sie mit ihrem Denken angerichtet, und was haben sie damit – im Guten wie im Schlechten – verhindert? Welche Fortschritte gab es im politischen Bewusstsein? In Geschichtsbüchern wird man vieles anders lesen, aber gerade deswegen will ich hier aufschreiben, wie Hauser es mir schon vor 50 Jahren zu sehen geholfen hat. Das zwanzigste Jahrhundert – nicht das kalendarische – hatte einigermaßen klare Konturen. Die Zeit bis zur Jahrhundertmitte war das wohl dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte, die Zeit der Weltkriege, die Zeit massenmörderischer Despotien und die Zeit menschenverachtender Ideologien. Es war die Zeit von kolonialistischer Ausbeutung und Rassismus, wozu, um nur ein Beispiel zu nennen, das lange geleugnete und fast vergessene Terrorregime in Belgisch Kongo mit seinen ca. 10 Millionen Opfern gehörte. Und es war auch – und das wird hier eine herausragende Rolle spielen – das Jahrhundert in politischem Leichtsinn, politischer Ignoranz, in Siegerwillkür und kolonialistischer Überheblichkeit gezogener Staatsgrenzen. Daneben war es aber auch die Zeit, in der eine vergleichsweise zivilisierte politische Ideologie, die Ideologie der Demokratie, sich global durchzusetzen begann. Das Ende des Zweiten Weltkriegs war natürlich eine historische Zäsur. Im nachfolgenden Ost-West-Konflikt steigerten sich die militärischen Bedrohungsszenarien zu atomaren Weltuntergangsszenarien. Auch dem militärisch 14 Stärkeren drohte nun schlimmstenfalls die vollständige Vernichtung, und militärische Überlegenheit bewahrte nicht mehr vor Vernichtungsangst. Vor allem in der westlichen Welt war das Weltkriegsende daher auch eine Bewusstseinswende. Das politische Bewusstsein wurde zuallererst zu einem Welt- und Atomkriegsverhinderungsbewusstsein. Das war das Verbindende dieser Ära. Auf diesem Entwicklungsstand war die westliche Welt mit sich zufrieden. Gegenüber dem Rest der Welt konnte sie immerhin einen politischen Zivilisierungsvorsprung für sich reklamieren, der nach Jahrzehnten und teilweise nach Generationen und Jahrhunderten zu bemessen war. Auch der sozialistischen Staatenwelt sah man sich natürlich moralisch weit überlegen. Und da diese erst mit jahrzehntelanger Verzögerung kollabierte, wurde auch die Selbstzufriedenheit der westlichen Welt weit über ihre Zeit hinaus konserviert. Sonst wäre es spätestens in den siebziger Jahren Zeit für die Einsicht gewesen, dass dem Zivilisierungsschub der Nachkriegszeit ein neuer folgen muss. Mit dem politischen Bewusstsein ging es in der späteren Nachkriegszeit kaum noch voran. Den Schreckensregimen der ersten Jahrhunderthälfte folgten Diktatoren wie Franco und Salazar, terroristische Militärjuntas wie in Argentinien, kommunistische Schreckensherrscher wie Mao Zedong, Pol Pot und Ceausescu, archaische Despoten wie Idi Amin und Saddam Hussein und Völkermorde wie in Ruanda. Es wurden – auch von demokratischen Weltkriegssiegermächten – weiter konventionelle Kriege geführt, u.a. in Korea, Vietnam und Afghanistan, allein in diesen Ländern mit mehr als acht Millionen Todesopfern. Dies wurde im Westen nicht etwa als zivilisatorische Entgleisung gesehen, sondern eher als natürliche Fortsetzung der Geschichte. Die Beschränkung der Atommächte auf konventionelle Kriegführung galt in dieser Zeit schon als Ausweis zeitgemäßer zivilisatorischer Reife. Solche Beispiele zeichnen ein düsteres Bild dieser Epoche, aber in der westlichen Welt wurde die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dennoch nicht als düstere Zeit erlebt. Man lebte weiter im Bewusstsein, dass zumindest in der eigenen Welt das Schlimmste verhindert und das Mögliche im Großen und Ganzen erreicht wurde. Die 15 westlichen Staaten führten gegeneinander keine Kriege, die noch verbliebenen Despoten der westlichen Welt wurden schließlich gestürzt, und es gab vor allem keinen Atomkrieg. Die konventionellen Kriege fanden woanders statt, wenn auch immer wieder mit militärischer, finanzieller und geheimdienstlicher Beteiligung etablierter Demokratien. Ansonsten blieben die westlichen Staaten ganz darauf konzentriert, in der eigenen Welt den erreichten Status zu bewahren. Nichts anderem diente auch die europäische Integration. Dass der Weg zur politischen Einigung Europas aber nicht nur Konflikten vorbeugen, sondern sich später selbst als konfliktträchtig erweisen würde, ahnte damals niemand. So wurde in der westlichen Welt eine zwischenstaatliche Nachkriegsordnung festgezurrt, die den durch die Weltkriege geschaffenen Status bewahrte. Als dann zehn Jahre vor der Jahrtausendwende endlich die sozialistischen Regime des Ostens kollabierten, war man in der westlichen Welt sicherer denn je, die denkbar höchste Stufe politischer Zivilisierung erreicht zu haben. Nach zwei Weltkriegen und jahrzehntelangem kaltem Krieg schien die Zeit der großen weltgeschichtlichen Dramen vorbei und die Zeit reif für ein entspanntes neues Jahrhundert. Europa würde auf absehbare Zeit friedlich und demokratisch vereint sein, und der Rest der Welt würde zur politischen Zivilisierung des Westens aufschließen. Wir haben unsere großen politischen und wirtschaftlichen Probleme gelöst, glaubte man, zumindest die grundsätzlichen, wir haben die sozialen Konflikte hinreichend entschärft, und nach unserem Vorbild wird nach und nach auch die restliche Welt es schaffen. Auch die zwischenstaatliche Friedensordnung schien zumindest dem Prinzip nach fest gefügt zu sein, nicht nur für Europa und den Westen. Die Staatengemeinschaft hatte sich auf die Unverletzlichkeit bestehender Staatsgrenzen als vermeintlich friedenswahrendes Prinzip geeinigt, auf das so genannte Prinzip der territorialen Integrität. Damit hatten bestehende Staaten einen Anspruch auf Unveränderlichkeit ihrer Staatsgrenzen. Da die meisten Kriege bis dahin mit Übergriffen auf Staatsgrenzen begonnen hatten, versprach man sich von der Durchsetzung dieses Prinzips eine vollends nichtkriegerische Zukunft. 16 Fast über die gesamte zweite Jahrhunderthälfte hinweg gab es aber militante Konflikte, die nicht in dieses Bild passten. Es gab innerstaatliche Konflikte wie in Nordirland, im Baskenland, in Kaschmir und vielen anderen Krisenregionen, die im Kern Konflikte um Staatsgrenzen waren und damit auch Konflikte um das Prinzip der territorialen Integrität. Ähnliche Konflikte gab es fast permanent in Afrika, wo sie allein in den neunziger Jahren Millionen Todesopfer forderten. Und Europa, das das kriegerische Zeitalter zumindest für sich selbst überwunden glaubte, erlebte schon bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Jugoslawien-Kriege und andere ähnliche Gewaltkonflikte. Dies zeigte, wie brüchig die politische Zivilisierung auch in Europa noch immer war. Diese Kriege waren nicht, wie viele damals glaubten, die letzten Nachwehen eines kriegerischen zwanzigsten, sie waren vielmehr der unheilvolle Auftakt zu einem unfriedlichen 21. Jahrhundert. Aber die westliche Welt ließ sich von ihrer Selbstzufriedenheit zum Jahrtausendausklang nicht ablenken. Die Sektkorken sollten knallen. So feierte man ziemlich unbesorgt in ein verstörendes neues Jahrhundert hinein. 17 2000 – 2024 Ein schleichender Weltkrieg und andere Krisen Jahrhundertauftakt Meine Großeltern würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, wie ihr Jahrhundert hier auf ein paar Seiten abgefertigt wird. Auch meine Eltern haben die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als große Selbstverständlichkeit erlebt wie fast alle damals. Sie waren stolz darauf, was in ihrer Zeit überwunden, erkämpft und verteidigt worden war, und sie wollten sich diese Zeit nicht kleinreden lassen. Mir fällt der distanzierte Blick natürlich leichter. Für mich ist auch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Zeit, in der Menschen – auch die im so genannten Westen – sich von Überzeugungen haben tragen lassen, die sich heute mit Vernunft nicht mehr erklären lassen. Aber nun endlich zu unserem, dem 21. Jahrhundert, in dem ich mein Berufsleben als Archivar verbracht habe. Dass ich Archivar geworden bin, ist eigentlich ein Zufall. Eigentlich hatte ich doch eher Redakteur werden wollen. Bis irgendwann ein älterer Freund mir sagte, auch etwas wie Archivarbeit sollte man als Redakteur einmal gemacht haben. Das Wort Archivarbeit hatte bei mir keinen guten Klang. Archive sind eben keine Orte, in die es viele lebenshungrige Mitt- oder Endzwanziger zöge. Aber dann war da diese von Hauser verfasste verführerische Stellenanzeige des SPIEGEL. Dann das Bewerbungsgespräch. Ich ging auf das einschüchternde Verlagsgebäude in der Hamburger Hafen City zu und dachte: Hier wärest du ein winziges Rädchen einer großen Maschinerie, das kannst du nicht wollen. Dann stand ich vor Hausers fast bescheidenem Büro, die Tür stand offen, hinter einem großen, hellen Schreibtisch ein schlanker Mann mit etwas gedrungener Figur, schmalem Gesicht, fast filigraner Hornbrille und dichtem, leicht gewelltem dunklem Haar. Mit einer Geste bat er mich herein, lenkte mich auf den spartanischen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Ein eher stiller Typ, dachte ich, kein autoritärer Chef, nicht unsympathisch. Dann sah er mich 18 einen kurzen Moment lang mit einem eindringlichen, bis ins Innerste ausforschenden Blick an, dann hörte ich seine helle, freundliche Stimme sagen: – Ich bin Jan Hauser. Als wäre damit alles gesagt. Aber ein paar Sätze später waren wir schon in einem intensiven Gespräch, und nach wenigen weiteren Sätzen wussten wir beide: Wir vertrauten einander. Und dann seine Begeisterung für die Archivarbeit. Nirgendwo sind Sie so unabhängig wie hier, erklärte er mir, nirgendwo erfährt man Überraschenderes, nirgendwo kann man klarer denken. Ganz verstand ich es damals noch nicht, aber es machte mir Mut weiterzufragen, so naiv und so direkt, wie es nur ein Anfänger tun kann. – Aber was bewirkt man als Archivar? Welchen Einfluss hat man? – Mehr, als Sie vermuten, sagte er. Vielleicht mehr als die meisten Redakteure. Ich sah ihn erstaunt an, und genau das hatte er offenbar erwartet. – Manche, die sich hier bewerben, wollten eigentlich Redakteur werden. Sie auch? Ich tat, als müsse ich überlegen. – Ich selbst wollte es nie, sagte er. Hier arbeitet man viel freier. Als Redakteur ist man immer auch gefangen. – Worin? – Im Zeitgeist? In der Aktualität? In Vorgaben des Verlags? Er sah mich auffordernd an, als warte er auf meine Bestätigung. Dann sagte er: – Außerdem hat man hier im Archiv den Blick ins Weite. – Weit in die Vergangenheit, meinen Sie? – Das hängt ganz von Ihnen ab, sagte er. Dabei sah er mich wieder mit seinem eindringlichen Hauser-Blick an, einem Seelenfängerblick, verführerisch und auftrumpfend zugleich, der Menschen für 19 Augenblicke sprachlos machen kann. Ich will dich, sagte mir der Blick in diesem Moment, ich will dich für unser Archiv, ich will dich als Kollegen. Ich senkte den Blick und horchte in mich hinein. Dann spürte ich, wie meine Miene sich ganz ohne mein Zutun zu einem stummen, widerstandslosen „Du kriegst mich“ formte. Hauser lehnte sich mit entspanntem Stöhnen zurück. – Ich glaube, Sie passen zu uns. Kurzes Schweigen. – Vor allem wegen Ihrer breiten Allgemeinbildung. Er beugte sich wieder vor. – Allerdings… über meinen Kopf hinwegsehend – …ein bisschen mehr Wirtschaftswissen hätte nicht geschadet. Dann: – Aber egal, dafür haben wir jemand anderes. Dann gab er sich einen Ruck, richtete sich auf, sah mich mit befreitem Lächeln an. – Also? Sind wir uns einig? So fing alles an. So kam ich zum SPIEGEL-Archiv, so kam ich mit Jan Hauser zusammen, ohne den ich kein Archivar geworden wäre oder doch einer, wie die meisten Menschen sich Archivare vorstellen, ohne den mein politisches Bewusstsein noch heute ein ganz anderes wäre, als es geworden ist, und ohne den ich nicht einmal auf den Gedanken hätte kommen können, dieses Buch zu schreiben. Die meisten Menschen machen sich von einem Archiv wie unserem falsche Vorstellungen. Sie meinen, wir archivierten nur Informationen, die unseren 20 Redakteuren beim Schreiben nützlich sind. Hauser hat mir erklärt, dass das bei uns von Anfang an anders war: Wir archivierten nicht nach dem Kriterium Nützlichkeit, darüber dürften wir uns kein Urteil anmaßen. Es gebe immer wieder unscheinbare Informationen, die erst nach Jahrzehnten in ihrer Bedeutung erkannt würden, und manche davon würden nirgendwo anders als in Archiven wie unserem zu finden sein. Auch darin liege der Sinn unserer Arbeit. Natürlich ist man als Archivar zuerst einmal Quellensammler, eine Art Buchhalter des Zeitgeschehens. Im Umgang mit Informationen war ich immer auch passionierter Systematiker. Mein Gedächtnis ist ein systematisches Privatarchiv, manche meinten damals sogar, es sei ein Autistengedächtnis. Aber ich hatte nicht nur ein Bild davon, was in diesem Jahrhundert politisch getan und gedacht wurde, mein Gedächtnis versuchte auch zu speichern, was zu tun, zu denken oder zu dokumentieren möglicherweise versäumt wurde. Insofern sah ich als Archivar vieles anders, als andere es taten. Zum Aktuellen musste ich professionelle Distanz halten, daran gewöhnte ich mich. Beruflich lebte ich insofern in der Vergangenheit. Aber manches Mal bin ich aus dieser Rolle gefallen. Manchmal habe ich der Redaktion Archiveinträge aufgedrängt, die mir für mögliche spätere Artikel wichtig erschienen, auch sehr viel spätere. „Wozu denn das?“, war dann oft die erstaunte Antwort, und darauf hätte ich antworten mögen: „Das werdet ihr noch sehen.“ Habe ich natürlich nicht. Seit ich im Archiv arbeitete, vom Beginn des zweiten Jahrhundertquartals an, hinterließen politische Ereignisse bei mir viel tiefere Spuren als vorher. Ich versuchte nun auch, mir ein möglichst klares Bild vom Denken und vom Handeln von Politikern meiner bisherigen Lebenszeit zu machen. Dabei zehrte ich natürlich auch von Erinnerungen aus zweiter Hand, aber es ist genug Zeit vergangen, um daraus allzu Einseitiges herauszufiltern. Deutschland war zur Jahrtausendwende noch immer in der Rolle des schuldbeladenen Weltkriegsverlierers. Nicht noch einmal auffallen in der 21 Weltgeschichte, das war noch immer eine Maxime deutscher Politik. Nicht negativ auffallen, aber auch nicht mit dem Anspruch, besser zu sein als traditionsreichere Demokratien. So waren die anderen mit Deutschland einigermaßen zufrieden und erst recht Deutschland mit sich selbst. Anders ging es den Weltkriegssiegerdemokratien. Sie taten sich, auch wenn sie es sich selbst noch kaum eingestanden, schwer mit ihrem schleichenden Bedeutungsverlust. Keine guten Voraussetzungen für eine vernunftgesteuerte Weltpolitik. So war man zur Jahrtausendwende im so genannten Westen vor allem mit sich selbst beschäftigt. „Es geht uns besser denn je“, dachte man, oder „Es könnte uns viel schlechter gehen.“ Großen Veränderungswillen gab es nicht. Gedanken wie „Könnte es uns und anderen nicht noch besser gehen?“ oder „Wie lange wird es uns noch so gut gehen?“ waren Gedanken von Spielverderbern. Man wollte nicht in längeren Zeiträumen denken als gewohnt. Meine Generation, die Generation Sichtflug nicht, aber auch nicht die Generationen der Älteren. Vielleicht war ich bis weit in die erste Jahrhunderthälfte hinein einfach noch zu jung, um besondere Erwartungen an unser Jahrhundert zu haben. Erst Jahre nach meinem Eintritt ins Archiv begann ich, Vergleiche zwischen unserem und dem 20. Jahrhundert anzustellen. Wie weit sind Menschen, Staaten und die Staatenwelt im letzten Jahrhundert vorangekommen, fragte ich mich nun, und um wie viel weiter könnten sie in diesem Jahrhundert vorankommen? Fragen, mit denen ich mich ziemlich allein fühlte. Bis ich darüber mit Hauser sprach. Anfang unseres Jahrhunderts war bei Älteren die größte Sorge noch immer: Nicht noch eine Jahrhunderthälfte wie die vorletzte, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich selbst hatte diese Sorge nie. Der Anspruch hätte doch sein müssen: nicht noch eine Jahrhunderthälfte wie die jüngste, die fünf Nachkriegsjahrzehnte. Also habe ich später die erste Hälfte unseres Jahrhunderts immer wieder an der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts gemessen. Je länger ich dies tat, desto besorgter wurde ich. Das habe ich aber, so gut ich konnte, für mich behalten. 22 Wem hätte ich es auch anvertrauen sollen? Kein Redakteur hätte darüber schreiben wollen. Ein einziges Mal habe ich mich damit vorgewagt, und die Antwort war: „Dafür finden wir keine Leser.“ Der Kollege hatte natürlich Recht. Dass die Geschichte der politischen Zivilisierung mit der Ausbreitung der Demokratie abgeschlossen sei, glaubte inzwischen niemand mehr, aber man sah sich dem Ziel doch immer noch nah. „Was erwartest du eigentlich?“, sagte der Kollege noch, „so viel Fortschritt in so kurzer Zeit gab es noch nie.“ Auch das mochte richtig sein, aber die Antwort darauf wäre gewesen: „Es gab in so kurzer Zeit auch noch nie so viele neue Probleme.“ In dieser Zeit war der Niedergang des demokratischen Parteiensystems längst unübersehbar, aber selbst das änderte nichts an der herrschenden Selbstzufriedenheit. Das gehört aber schon nicht mehr hierher, es gehört in die Geschichte späterer Jahrhundertabschnitte. 23 Bewusstseinsstörung Dieses kleine Jahrhundertporträt soll vor allem eine Bewusstseinsgeschichte sein. Auch deswegen kann man dabei nicht über den barbarischen Jahrhundertauftakt hinweggehen, den islamistischen Anschlag auf das New Yorker World Trade Center im September 2001. Was haben die Täter dabei gedacht, was ihre Inspiratoren, was ihre Sympathisanten? Was haben diejenigen gedacht, die auf diesen Anschlag politisch reagierten, die dabei im Namen der Opfer zu handeln meinten und selbst zu Tätern wurden? Wer hat bei all dem wie weit über die Folgen seines Handelns nachgedacht, wer wie weit über die Folgen des Handelns der Anderen? Ein Problemknäuel, das die Welt zu überfordern schien. Erst einmal aber zu einer anderen fast unentwirrbaren Geschichte, über die ich im Archiv lange recherchiert habe, zu den Jugoslawien-Kriegen der frühen neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Heute wissen wir, dass dies exemplarische Kriege zur Lösung einer Jahrhundertaufgabe waren: der Entflechtung falsch zusammengesetzter Staaten. Dass Jugoslawien nach dem Zusammenbruch des Sozialismus nicht als zusammenhängender Staat zu halten sein würde, war den Beteiligten offenbar rasch klar. Niemand schien aber zu wissen, wie man einen solchen Staat friedlich auflöst. Also gab es über die neunziger Jahre hinweg Krieg, genauer gesagt mehrere Kriege, in die auch NATO-Staaten verwickelt waren. Das Ergebnis, der Zerfall Jugoslawiens in Serbien, Kroatien und fünf weitere eigenständige Nachfolgestaaten, war eigentlich für alle vorhersehbar. Warum brauchte es dafür dann aber diese Kriege, eine Intervention der NATO und ein anschließendes endlos langes Besatzungsregime im Kosovo und in Bosnien? Und was, wenn überhaupt etwas, hat man daraus gelernt? Und wenn man nichts oder zu wenig gelernt hat: Konnte das der Auftakt einer Abfolge ähnlicher Kriege sein, womöglich einer langen Ära von Kriegen zur Auflösung von Staaten? Und konnte es wirklich sein, dass niemand, weder Politiker noch Bürger noch Experten, sich 24 ernsthaft diese Frage stellte? War die Welt womöglich in der Hand politischer Schlafwandler, ähnlich wie sie es vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen war? Genau diesen Anschein hatte es. Unser Jahrhundert begann ähnlich unheilträchtig wie das vorherige. Ein schlichter Rückfall in ein Denken wie hundert Jahre zuvor war dies aber nicht, davon hat mich auch die Archivarbeit überzeugt. Wer sich mit den JugoslawienKriegen näher befasste, dem musste klar sein: Die Kriege des 21. Jahrhunderts würden ganz andere sein als die großen Kriege der Vergangenheit. Die meisten großen Kriege waren Ausbrüche überschießenden Machtgefühls gewesen. Wenn man andere Staaten besiegen und damit Macht und Einfluss über fremde Staatsgebiete ausweiten konnte, warum dann nicht? Gelohnt haben sich die großen Kriege dieser Art aber auf sehr lange Sicht fast nie, und in der Welt des 21. Jahrhunderts war dies weniger denn je zu erwarten. Dass auch unser Jahrhundert eine Ära von Eroberungskriegen sein würde, war kein plausibles Szenario. Nun aber Kriege wie die um Jugoslawien. Viele hieran Beteiligte waren natürlich noch ganz in altem Denken befangen, hatten also Eroberung und Unterdrückung als Kriegsziele im Sinn. Im Kern ging es bei diesen Kriegen aber um etwas ganz anderes. Hier wollte kein Despot oder Monarch oder ideologisch verblendetes Regime seinen Herrschaftsbereich ausweiten. Hier wollten werdende Demokratien sich Staatsgrenzen schaffen, in denen es unter ihren Bürgern genügend spontanen Zusammenhalt geben würde und damit die Voraussetzungen für innerstaatlichen Frieden. Das waren verständliche, vernünftige und alles andere als unmoralische Anliegen. Trotzdem war die Staatenwelt hierauf völlig unvorbereitet. Konzepte für eine friedliche Erfüllung dieser Anliegen hatte die Weltpolitik nicht. Die aus der Geschichte gezogenen Lehren reichten hierfür offensichtlich nicht aus. Heute wissen wir, dass die Staatenwelt auch aus den Jugoslawienkriegen keine Lehren gezogen hat, nicht einmal diese, die sich unmittelbar aufdrängte: Wo Autokraten stürzen, die ihr Staatsvolk nur mit eiserner Faust hatten zusammenhalten können, leben bei den Bürgern generationenalte Zusammengehörigkeitsbedürfnisse 25 und Fremdheitsgefühle neu auf. Wenn diese Bedürfnisse missachtet werden, kommt es zu schweren innerstaatlichen Konflikten. Nur eine herausragende politische Zivilisierung kann dann noch verhindern, dass die Zusammensetzung von Staatsvölkern mit Gewalt, Terror, Bürgerkrieg oder Krieg neu ausgekämpft wird. Für diese einfache Wahrheit war die Zeit noch nicht reif. Man muss wohl froh sein, wenn in einem Jahrhundert wenigstens einige wenige politische Ideologien und Dogmen überwunden werden. Das vorige Jahrhundert war damit beschäftigt, Ideologien wie Kolonialismus, Imperialismus, Kommunismus, Rassismus und Geschlechterdiskriminierung zu überwinden oder zumindest abzumildern. Würde im 21. Jahrhundert wenigstens der alte ideologische Umgang mit Staatsgrenzen überwunden werden? Diese Frage hatte mich in meiner Zeit im Archiv immer wieder beschäftigt, und sie begleitet mich bis heute. Zum politischen Bewusstsein nach der Jahrtausendwende an dieser Stelle nur noch dies: In dieser Zeit war viel von Globalisierung die Rede, also auch davon, dass fast überall auf der Welt ähnliche Informationen und gleiches Wissen verfügbar würden. Dies, so glaubte man, würde zu einer globalen Angleichung der politischen Zivilisierung führen. Diese Auffassung war zum Ende des 20. Jahrhunderts geradezu zum Dogma geworden. Aber eine Ideologie sah man hierin natürlich nicht, allenfalls eine Ideologie zur Überwindung von Ideologien, also ein denkbar harmlose. Aber es war eben doch eine Ideologie, und diese hatte, wie sich zeigen sollte, ähnlich fatale Auswirkungen wie die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Sie war Wegbereiterin für die größte politische Katastrophe des ersten Jahrhundertviertels, den Krieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak und den mörderischen Flächenbrand, der ihm im Nahen Osten folgte. Möglich wurde dieser Krieg nur, weil Figuren wie George W. Bush und Tony Blair ernsthaft glaubten, ein besiegter und vom Diktator Saddam befreiter Irak würde sich ähnlich rasch modernisieren, sich also ähnlich rasch zu einer stabilen modernen Demokratie entwickeln können, wie die Nachkriegs-Bundesrepublik es getan hatte. Bush, Blair und ihre zahllosen Gesinnungsgenossen und Sympathisanten hatten aber, wie die Nachkriegsgeschichte 26 des Irak dann zeigte, vom Modernisierungspotential des Irak und vergleichbarer Länder nicht die geringste Ahnung. Nach dem Sturz Saddam Husseins offenbarte sich im Irak ein politischer Bewusstseinsstand, der eher Parallelen zum Dreißigjährigen Krieg nahelegte als zur Situation Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Der vermeintliche Befreiungskrieg wurde damit zum exemplarischen Fall eines gescheiterten Modernisierungskrieges. Der Nachkriegs-Irak wurde formal demokratisiert, aber als Demokratie war er von Anfang an nicht lebensfähig. Er zerfiel in Bürgerkriegen, die noch archaischer geführt wurden als im zerfallenden Jugoslawien. Die westlichen Modernisierer, die Krieg für eine höhere Stufe politischer Zivilisierung zu führen vorgaben, standen damit in der Wirkung ihres Tuns moralisch auf dem Niveau ihrer Kriegsgegner. Nach dem Zerfall des Irak gab es keine politische und militärische Weltmacht mit glaubhafter moralischer Autorität mehr. Die Welt war in der politischen Zivilisierung zurückgefallen. Exkurs Wirtschaft An meinem zweiten Arbeitstag im Archiv stellte Hauser mich den Kollegen vor. Alle freundlich, einige beinahe herzlich. Die meisten schienen hoch konzentriert zu sein, manche introvertiert, manche etwas verschroben, wie die meisten Menschen sich Archivare wohl vorstellen. Vielleicht ist wirklich etwas Wahres daran, dass typische Archivare leicht autistische Züge haben. Aber wenn Hauser auf sie zuging, hellte sich bei fast allen die Miene auf. Am Ende unseres Rundgangs standen wir, Hauser und ich, vor einer geschlossenen Tür am Ende eines langen Flurs. "Hier sind wir in der Abteilung Wirtschaftsordnung ", sagte Hauser. Er ging hinein, ich einen Schritt hinter ihm. Im Raum nur ein Schreibtisch, dahinter eine junge Frau mit auffallend kurzem schwarzem Haar, markanter Brille. Sie sah kurz auf, schaute Hauser aus dem Augenwinkel an, sagte ein kurzes "hallo?". – Ihr neuer Kollege. – Ach so, sagte sie. Dann, mit einem freundlichen Lächeln, noch einmal: Hallo! 27 Ich sagte nichts, sah sie eine Weile unschlüssig an. Ein bekanntes Gesicht? Sie erwiderte meinen Blick, zögerte, zog die Augenbrauen hoch, dann, mit geweitetem Blick, ein Anflug von Lächeln. – Haben wir uns schon mal gesehen? Diese Stimme! Die angestrengte, etwas schrille und kratzige Stimme von Constanze Cramer. Ich rührte mich nicht. Dann stand sie auf, kam auf mich zu, streckte die Hand aus. Was tun? Mich in Luft auflösen? Ihre Hand griff schon nach meiner, da stand sie vor mir mit ihrem jetzt kurz geschnittenen Haar und ihrer markanten Brille, so selbstbewusst wie früher, so imposant wie früher und ebenso elegant wie früher. Aber unnahbar? Nein. Nicht unnahbar, nicht einschüchternd, nicht abweisend. Hatten wir uns alle in ihr getäuscht? – Vielleicht im Seminar?, fragte ich mit viel zu leiser Stimme. In Grafs Seminar? – Ja, genau. – Constanze Cramer? Frau Cramer? – Constanze. – Matthias. Matthias Schmidt. – Ja, jetzt erinnere ich mich. Ach, ihr kennt euch?, fragte Hauser. Dabei sah er uns abwechselnd mit dem gütigen Blick eines Vaters an, der zusieht, wie sein Kind einen Freund von früher trifft. – Ihr werdet öfter miteinander zu tun haben. – Würde mich freuen, sagte Constanze. Dann setzte sie sich wieder an den Schreibtisch. Als wir gegangen waren, sagte Hauser: Sehr selbstbewusste Frau. Ja, genau, hätte ich sagen mögen, aber ich traute mich nicht. Tagelang ging mir diese Bemerkung Hausers durch den Kopf. Würde er das später einmal auch über mich sagen: Sehr selbstbewusster Mann, dieser Schmidt? Würde ich das wollen? War ich von Constanze, der sehr selbstbewussten, der Cramer, schon wieder eingeschüchtert 28 wie damals als junger Student? Von der Constanze, die Informatik und Ökonomie studierte, Fächer, die ich mir nicht zugetraut hätte? Die fast doppelt so schnell studiert hatte wie ich? Die, wie sie bald erzählen würde, vier Jahre bei einer Unternehmensberatung gearbeitet hatte, zu einem Gehalt, das ich vielleicht nie im Leben erreichen würde, vier Jahre ein Leben aus dem Koffer, 13-Stunden-Tage, 60Stunden-Wochen, die vielen Reisezeiten nicht mitgerechnet, und die dabei gelernt hatte, sich ganz ungeniert unbeliebt zu machen? Die also nicht nur eine Erscheinung war, sondern auch ein Arbeitstier, konsequent und durchsetzungsstark? Die gerade einmal drei Jahre älter war als ich, mir aber mindestens sechs Jahre Berufs- und vielleicht auch Lebenserfahrung voraushatte? Aber warum saß sie nun hier im Archiv? Warum machte sie nicht Karriere im Management? Warum nicht, wie es damals viele erwartet hatten, eine Hochschulkarriere? Viele Jahre später hat sie mir auch das freimütig erklärt: Starke Erscheinung mit schwacher Stimme, so habe man an der Hochschule über sie geredet. Man habe sie sehen und man habe Texte von ihr lesen wollen, aber ihr zuhören wollen habe man nicht. Das habe sie gerade noch früh genug gemerkt. – Und?, fragte ich. Hast du es bedauert? – Nein, sagte sie. Die Erinnerung an Grafs Abschiedsvorstellung hat es mir leichtgemacht. Spezialistin für Wirtschaftsordnung im SPIEGEl-Archiv zu sein ist ein ziemlich einsamer Job. Die Archivarbeit allein brachte uns selten zusammen, aber wir schafften uns unsere Gelegenheiten. Wenn wir uns trafen, dann bestimmte natürlich meistens Constanze die Themen, und natürlich ging es dann oft um Wirtschaft. Ich versuchte dann, wenigstens höfliches Interesse zu zeigen, und sie dankte es mir mit immer mehr Geduld. Sie konnte einem Laien wie mir Wirtschaftsthemen so leichthändig, so gut gelaunt und mit so wenigen Worten verständlich machen wie niemand sonst. Hätte sie mir diesen Nachhilfeunterricht nicht gegeben, würde ich 29 mich heute nicht trauen, hier kurz etwas Eigenes zur Wirtschaftsentwicklung in unserem Jahrhundert anzumerken. Aber sind Wirtschaftsfragen für die Bewusstseinsgeschichte unseres Jahrhunderts überhaupt wichtig? Oder sind sie zumindest dann eher unwichtig, wenn eine Epoche vom Scheitern großer historischer Projekte wie Friedenswahrung oder globaler Modernisierung geprägt ist? So würde ich vielleicht noch heute denken, wenn die Gespräche mit Constanze nicht gewesen wären. In meinen ganz jungen Jahren glaubte ich, politische Stimmungen seien von nichts so abhängig wie von der Wirtschaftslage. Constanze erklärte mir, dass das einmal so gewesen sein mag, aber nicht mehr so ist. Die meisten Bürger sind zufrieden, solange es für sie wirtschaftlich nicht bergab geht. Solange es nur überschaubaren Minderheiten wirtschaftlich schlecht geht, will die demokratische Mehrheit keine großen politischen Veränderungen. Wer will es ihr verübeln? Dass eine ganz andere Politik mehr Wohlstand für alle bringen könnte, lässt sich schwer beweisen. Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts begann eine schwere Finanzmarkt- und Bankenkrise, und in Teilen Europas folgte ihr eine lange Staatsverschuldungs- und Wirtschaftskrise. In manchen Medien war die Rede davon, dass in dieser Krise Marktwirtschaft und Kapitalismus versagt hätten, aber wirklich ernst nahmen das nur wenige. Die große Mehrheit der Bürger war gelassener. In Deutschland sowieso, aber selbst in den Staaten, die die Krise viel stärker zu spüren bekamen, blieben große politische Veränderungen aus. Was hätte sich, von einer etwas strengeren Kontrolle der Banken abgesehen, politisch auch ändern sollen, um Krisen solcher Art zu verhindern? Auch Constanze hatte darauf noch keine Antwort. Eine Zeitlang glaubte ich, in Kreisen der Wissenschaft wisse man dies genauer, aber dann hat Constanze es mir so erklärt: Es gebe zwei verschiedene Arten von Wirtschaftswissenschaften, und beide führten in dieser Frage nicht weiter. Die eine, im Elfenbeinturm der Theorie, beschäftige sich vor allem mit sich selbst, die andere mische sich in die Politik ein. Die eine, die theoretische, sei intellektuell auf 30 höchstem Niveau, die andere sei auf dem Niveau der Politik, der sie sich andiene. Die eine sei für politische Fragen unbrauchbar, die andere gebe politischen Rat, wie ihre Geld- und Auftraggeber ihn suchten. So sei es schon immer gewesen, sagte sie, und so werde es sicher auch bleiben. Ich habe sie dann gefragt, ob die Wissenschaft nicht doch dazulerne und in Zukunft besser vor Wirtschaftskrisen werde bewahren helfen. Sie wisse von Krisen, erklärte sie, die durch Wirtschaftstheorien verursacht wurden, aber von keiner, die durch Wirtschaftstheorie verhindert wurde. Sie glaube auch nicht, dass sich daran viel ändern werde. Ob es wirklich alles so einfach sei, fragte ich sie noch, und ihre schnippische Antwort war: Nein, aber für einen Laien wie dich ist es das Wesentliche. Aber genug davon, mehr als ein kleiner Exkurs in Wirtschaftsfragen soll hier nicht sein. Womit ich nicht sagen will, dass Wirtschaft für das politische Bewusstsein in diesem Jahrhundert doch eher nebensächlich sei. Natürlich erleichtert Wohlstandswachstum auch Fortschritte in der politischen Zivilisierung. Aber wirtschaftlicher Fortschritt wird, wie mir Constanze einmal erklärte, nicht von der Politik und nicht von Politikern gemacht. Politiker behaupteten oft das Gegenteil, die meisten glaubten es sogar, aber es sei nicht so. Politik könne wirtschaftlichen Fortschritt behindern oder zulassen, aber machen könne sie ihn nicht. – Noch nicht?, fragte ich. – Schon das Zulassen des Fortschritts ist eine hohe Kunst. So redete sie. Kurze, knappe Erläuterungen, gekrönt von einem Satz wie ein Schlusswort, der mich erst einmal sprachlos machte, der mir dann aber immer plausibler erschien. Das war ihr großes Talent. Ob sie einige ihrer Talente als Archivarin nicht doch vergeude, fragte ich sie einmal, und auch darauf gab sie eine Antwort, die mir allmählich immer plausibler wurde: Ja, sagte sie, das habe sie sich natürlich auch gefragt. In der Unternehmensberatung habe sie gelernt, Dinge genau auf den Punkt zu bringen. Da müsse man zeigen, dass man manches auch ganz anders sehen kann, als die Mandanten es schon viel zu lange 31 gesehen hätten, und dabei gehe es weniger um die richtige Lösung als um die Möglichkeit einer Lösung, und da dies, was die Kunden nicht gleich merken dürften, oft eher diffuse Botschaften seien, fast wie in der Politik, sei es umso wichtiger, sie knackig zu präsentieren. „Es muss sitzen. Es muss ein kleiner Schock sein." Das, meinte sie, sei ihr meistens gelungen. Es klang so engagiert, als würde sie nichts lieber tun wollen als genau solche Arbeit, und doch so distanziert, als erzählte sie von einem früheren Leben. Wieso sie dann nicht dabei geblieben sei, fragte ich. – Auch solches Leben wollte ich einmal gelebt haben. Aber man zahlt einen Preis. – Welchen? – Ich bin hier in der Reha. Das Archiv ist meine Reha. Viel klüger fühlte ich mich danach nicht, aber ich fühlte, dass, was die Wirtschaft angeht, viele doch viel weniger klug waren, als sie glaubten. Ein gutes Gefühl. Die Wirtschaftsentwicklung unseres Jahrhunderts hat ihm Recht gegeben. Russland und die Ukraine Mit der Arbeit im Archiv hatte ich mich bald angefreundet. Begeisterung war es nicht, aber wann immer ich über Alternativen nachdachte, fühlte ich mich dort bestens aufgehoben. Was kein Wunder war, wenn man einen Hauser als Chef hatte. Zwischen Hauser und mir wuchs eine Vertrautheit, die unseren großen Altersunterschied manchmal fast vergessen ließ. Aber Hauser überraschte auch immer wieder mit irritierenden Bemerkungen. Einmal sagte er beiläufig, er kenne das Archiv fast auswendig. Ich sah ihn ungläubig an. Nein, sagte er, natürlich nicht buchstäblich das ganze Archiv, aber das, worauf es ankomme. Die Schätze des Archivs sozusagen. Die Augenöffner. Von einer Million Archivinformationen seien das höchstens ein paar Dutzend. Über die Jahrzehnte habe er ein Gespür dafür 32 entwickelt, welche das sein könnten. Lernen könne man das nicht, sagte er, lehren könne man es auch nicht, man könne eben nur ein Gespür dafür entwickeln Nur ein paar Dutzend von einer Million Archivinformationen seien Augenöffner? Pflegten wir also doch einen Riesenberg von Karteileichen, in dem es nur sporadisch Spuren von Bedeutsamkeit gab? Ich fragte Constanze, ob sie es nach ihren zweieinhalb Jahren Archiverfahrung auch so sehe. Ja, sagte sie, im Archiv einen wirklichen Schatz zu finden, das sei fast wie ein Lottogewinn. Archivarbeit erfordere nun einmal Geduld. – Aber wenn es wirklich so ist, fragte ich, machen wir dann nicht etwas grundsätzlich falsch? – Vielleicht, sagte sie. Einen Unternehmensberater sollte man vielleicht nicht darauf ansetzen. Was der denn sagen würde, wollte ich fragen, aber dann wusste ich schon selbst die Antwort. Er würde eine große Reorganisation vorschlagen. Constanze hatte mir ja geschildert, wie es geht. Ein langer diffuser Bericht, am Ende eine knackige Botschaft: Das Archiv muss schrumpfen, das Archiv muss sich ganz und gar in Frage stellen. Weiter wollte ich es mir damals noch nicht ausmalen, auch wegen Hauser nicht. Das Archiv in Frage zu stellen hieße, Hauser in Frage zu stellen, und nichts lag mir ferner. Hauser war nicht nur ein kollegialer Chef für uns alle, auch im Umgang mit Redakteuren, meinte ich, zeige er sicheres Gespür. Trotzdem war sein Verhältnis zur Redaktion nicht ohne Spannungen. Jahre später, lange nachdem ich sein Nachfolger geworden war, hörte ich im Vorbeigehen einen unserer Chefredakteure sagen: „Einen zweiten Hauser hatten wir uns eigentlich nicht gewünscht, oder?“ Nach Hochachtung für einen früheren Kollegen klang das nicht. Hatte es also eine Seite Hausers gegeben, von der ich nichts ahnte? Hatten sich Redakteure irgendwann von Hauser falsch informiert gefühlt oder sogar manipuliert? 33 Hatte er Archivinformationen für sich behalten? Hatte er Informationen weitergegeben, von denen er wusste, dass sie falsch waren? War er so bei der Chefredaktion in Misskredit geraten? Nichts davon wollte ich glauben. Dann erinnerte ich mich, wie Hauser einmal Archive mit Geheimdiensten verglichen hatte. Geheimdienstler, hatte er gesagt, arbeiteten diskret und unauffällig, deswegen werde ihre Macht weit unterschätzt, und ähnlich sei es bei Archivaren. Ein Geheimdienstchef könne Regierungschefs und Minister ins offene Messer laufen lassen, er könne ihnen Macht über andere geben, er könne, das wisse ich doch, sogar Kriegsbereitschaft wecken und Kriegsausbrüche verhindern helfen, und daran habe sich nichts geändert. Ein Archivleiter sei ein Geheimdienstchef im Kleinen. Auch er könne Menschen, vor allem natürlich Redakteure, ins offene Messer laufen lassen und Menschen Macht über andere geben. Ganz unauffällig. Ich fragte ihn, ob er es schon einmal getan habe, und er antwortete, das glaube er nicht. Archivare, fuhr er dann fort, könnten herausfinden, wer welche Archivinformationen genutzt, also auch, wer welche Informationen Kollegen und Lesern vorenthalten hat. Deswegen seien viele Redakteure vor Archivaren auf der Hut, auch ich würde das noch erleben. Sprach er aus Erfahrung? War er womöglich ein kleiner Intrigant? Hatte er sogar mitgemischt, als einige Jahre vorher zwei Chefredakteure entlassen wurden? Und hatte ein Gespräch, das wir über Information und Desinformation im Krieg geführt hatten, nicht auch damit zu tun? Redaktionen gehe es im Krieg nicht viel anders als Regierungen, hatte er gesagt. Man erwarte von ihnen, dass sie wissen und schreiben, wer im Krieg die Guten und wer die Bösen seien. Auch wenn sie es nicht wüssten, werde der Druck irgendwann zu groß, dann lege die Redaktion sich fest, auch wenn ein fundiertes moralisches Urteil noch unmöglich sei. Und wie diese Festlegung dann ausfalle, das hänge auch von Informationen aus dem Archiv ab. Ich fragte nach einem Beispiel, und darauf gab er eine lange Antwort über den Anschluss der Krim an Russland und den Bürgerkrieg in der Ostukraine. 34 Alle Regierungen, alle Geheimdienste, alle politischen Parteien und alle Medien hätten in dieser Sache ebenso viel desinformiert wie informiert. Moskau habe es getan, Kiew ebenso und die Staaten des Westens kaum weniger. Wir vom Archiv, sagte er, gaben uns damals alle Mühe, Information von Desinformation unterscheiden zu helfen, aber genützt hat es wenig. Die Redaktion habe sich Beweise dafür gewünscht, dass Putin böswilliger Friedensstörer und Kriegstreiber war, die Regierungen des Westens und der Ukraine dagegen dem Frieden dienten. Nur zwei Redaktionskollegen – es tue ihm immer noch leid um sie – hätten sich daran nicht gehalten. An dieser Stelle kann ich nicht anders, als einen ersten Ausschnitt aus Hausers Aufzeichnungen einzuflechten, auf die ich zwei Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Archiv gestoßen bin. Ich hätte mir gewünscht, Hauser hätte mir diese Aufzeichnungen selbst anvertraut, aber ich fand sie rein zufällig bei einer Recherche im Archiv. Sie waren noch vollkommen unberührt, augenscheinlich noch von niemandem gelesen oder auch nur durchgeblättert oder angeschaut. Hauser hatte am Tag seiner Verabschiedung ein einziges Exemplar dieser Aufzeichnungen ins Archiv gestellt, als unauffällige Hinterlassenschaft, als wollte er es dem Zufall überlassen, ob sie je von jemandem gelesen würden. Ich hatte das Glück, ihr Finder und erster Leser zu sein. Auch mit diesen Aufzeichnungen ist Hauser für mich dann zu einem Zeitzeugen des ersten Vierteljahrhunderts geworden. Natürlich hat Hauser darin auch einiges über Russland und Russlands Rolle im Ukrainekonflikt geschrieben, und natürlich hatte er dazu eine Meinung, die damals alles andere als die gängige war. Als Archivar hätte ich mir manchmal doch gewünscht, Überflüssiges und Nebensächliches aus dem Archiv herauszuhalten und dem, was ich für das Besondere hielt, einen bevorzugten Platz zu geben. Aber ich habe es nicht getan. Auch zum Ukraine-Konflikt mussten wir natürlich wahllos das viele Redundante archivieren, das westliche Politiker, Organisationen, Ämter und Medien hierzu absonderten und das die Rollen von Gut und Böse fast immer auf die gleiche Art verteilte. Eine Zeitlang waren "Russlandversteher" und "Putinversteher" 35 unter Journalisten Schimpfworte. Die anderen, die Nichtversteher also, waren die selbstsichere Mehrheit, auch bei uns. Russland als Restgebilde der Sowjetunion, das den Verlust der Großmachtrolle nicht verkraftet und sich Teile der Ukraine einverleiben will, um sich dabei doch noch einmal als Großmacht zu inszenieren – das war im Westen die gassenläufige Deutung. Aber was war daran stimmig? Richtig war das innere Bild von Russland als verstörter Ex-Großmacht. Geschwächte nationale Identität, bedrohtes politisches Selbstbewusstsein und ein Verlangen nach Ersatzbefriedigungen, dazu ein Präsident Putin, der für eben diese Gefühle ein sicheres Gespür hatte. Populistische Rhetorik und Symbolik, autokratischer Führungsstil, neuer Nationalismus, neue Feindseligkeit gegenüber Minderheiten jeglicher Art, Durchsetzungskraft vor Rechtsstaatlichkeit, neue Religiosität, das waren – nach einer kurzen Phase versuchter Verwestlichung – die Quellen des politischen Empfindens im postsowjetischen Russland. Putins Nachfolger werden dieser Linie auf absehbare Zeit folgen. Amerika verkraftet den Entzug der Weltmachtrolle etwas besser, schon wegen seiner viel längeren demokratischen Geschichte, aber Ähnlichkeiten werden bleiben. Und die Ukraine? Opfer verschleppten russischen Großmachtwahns? So wollten die Regierenden im Westen es sehen, aber plausibel war es nie. Als dort die inneren Unruhen mit Protesten in Kiew begannen, war die Ukraine, innerlich zerrissen und wirtschaftlich rückständig, schon fast ein gescheiterter Staat. Seit der Ausgliederung aus der Sowjetunion immer wieder inkompetente, korrupte und abgewählte Staatsführungen, die der Westen zum Teil dennoch hofierte. Dann im Winter 20013/14 der Kiewer Bürgeraufstand gegen den Präsidenten Janukowitsch, in dem sich alles andere offenbarte als landesweit staatstragende Gemeinsamkeiten. Auch im Archiv finden sich die Belege für eine ganz andere Sicht der Dinge: Die Staatsgrenzen der Ukraine waren ähnlich willkürlich gezogen wie die Staatsgrenzen vieler ehemaliger Kolonien. Also war die Bevölkerung dieser Ukraine nicht dafür gemacht, auf Dauer in einem gemeinsamen Staat zu leben. In Teilen des Landes war diese Ukraine für die Mehrheit der Bevölkerung nicht zur politischen Heimat geworden. Dort herrschte gegenüber dem eigenen Staat ein spontaner und ganz und gar legitimer Widerwille, auch wenn die dafür gebräuchliche Bezeichnung keinen guten Klang hat: Separatismus. 36 Das Weitere will ich zusammenfassen: Die Krim sei Russland zugefallen, weil die Krim-Bewohner es so wollten. Russland habe dabei unauffällig und fast gewaltlos geholfen, also hinlänglich zivilisiert, ohne gewalttätiges Großmachtgehabe. Es habe sich, im Gegenteil, taktisch klug für die Freiheit von Bürgern eingesetzt, über ihre Staatszugehörigkeit selbst zu bestimmen. Selbst wenn Russland hier das moralisch Richtige aus niederen Motiven getan habe, bleibe es doch das moralisch Richtige, und wer das moralisch Richtige tue, dürfe dafür nicht mit Sanktionen bedroht und bestraft werden. Genau das aber hätten die westlichen Demokratien bekanntlich getan. Sie hätten eine Sanktionsmaschinerie in Gang gesetzt, um Russland für einen legitimen Einsatz für das Selbstbestimmungsrecht der Krim-Bewohner zu bestrafen. Hausers Fazit des Krim-Konflikts: Hier sei eine falsch gezogene, konfliktträchtige Staatsgrenze ohne Blutvergießen nachhaltig korrigiert worden, ohne dass dadurch größere neue Minderheitenprobleme geschaffen seien. Dies sei geradezu ein historischer Glücksfall. Selten in der Geschichte sei eine umstrittene Grenze so reibungslos im Sinne der Bürger korrigiert worden. Einer Figur wie Putin könne man vieles vorwerfen, aber die Loslösung der Krim von der Ukraine ganz sicher nicht. Die Welt habe ja erlebt, wie kurz danach in der arabischen Welt um umstrittene Grenzen ganz anders, nämlich mit schlimmstem Terror und Krieg gekämpft wurde, vorher habe sie dies in den Jugoslawienkriegen erlebt, und die Welt werde sich wundern, wie oft sich dies noch wiederholen werde. Spätere Historiker würden sich einmal fragen, warum der Westen die von Russland unterstützte Loslösung der Krim damals nicht als friedenswahrende Bereinigung der politischen Landkarte gewürdigt habe. Und dann Hausers Kommentar zum Konflikt um die Ost-Ukraine: Die Krim ließ sich von der Ukraine mit einem sauberen chirurgischen Schnitt abtrennen. Im Fall der Ost-Ukraine war dies anders. Russlands Rolle war hier dubioser. Vielleicht hatte Putin, geblendet von der Leichtigkeit der Operation Krim, die Komplikation dieses Konflikts unterschätzt, als er die ostukrainischen Separatisten bestärkte. Er könnte geglaubt haben, auch hier könne nach einem rasch 37 anberaumten Referendum die ukrainische Staatsgrenze schnell und friedlich korrigiert werden. Es gab zwar ein Referendum in der Region Donezk, in dem eine überwältigende Mehrheit für die Abspaltung von der Ukraine votierte. Aber welcher Grenzverlauf würde der richtige sein? Wie sollten die Minderheitenrechte im abgespaltenen Gebiet geregelt werden? Und sollte das abgespaltene Gebiet ein vollständig eigenständiger Staat werden, mit eigener Armee und eigener Währung, oder sollte er auf eine eigene Armee, eine eigene Währung und womöglich noch auf andere Zuständigkeiten verzichten? Oder sollte die Ostukraine sich ganz und gar Russland anschließen? Die ostukrainischen Separatisten zu unterstützen, ohne diese Fragen zu Ende gedacht zu haben, war höchst fahrlässig. Insofern trifft Putin und seine Mitstreiter große Mitschuld am Leid im ostukrainischen Bürgerkrieg. Nicht weniger Schuld tragen aber die ukrainische Staatsführung und deren westliche Unterstützer, diejenigen also, die den Ostukrainern eine freie Entscheidung über ihre Staatszugehörigkeit verweigern wollten. Das Ergebnis dieser Verweigerung: nach einem opferreichen Bürgerkrieg ein schwelendes Staatsgrenzenproblem und damit ein neuer schwelender Konfliktherd in Europa. Aber was konnte man vom ukrainischen Staat damals anderes erwarten? Von einem Staat in der denkbar kompliziertesten politischen Lage, um dessen Führung sich in dieser Zeit nur politische Anlernlinge bewarben, darunter ein Boxweltmeister und ein Schokoladenfabrikant, noch blutigere Laien also als die Staatslenker sonstiger, auch westlicher Demokratien? Präsident wurde damals – als das in der Tat kleinere Übel – zuerst der Schokoladenfabrikant, der dann aber natürlich in jeder nur denkbaren Hinsicht überfordert war. Dass auch der Westen in diesem Konflikt nicht flexibler reagierte, lässt sich ebenso wenig mit Vernunftgründen erklären. Erklärbar ist es nur mit Dogmengläubigkeit. Nach dem Dogma der territorialen Integrität sollte jedem Staat die Unverletzlichkeit seiner Grenzen garantiert sein, auch dann, wenn er, wie die Ukraine es tat, einem Teil seiner Bürger das Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit verweigert. Alles, was die Grenzen bestehender Staaten eigenmächtig in Frage 38 stellte, also auch die von Separatisten abgehaltenen Referenden und Wahlen in der Ostukraine, wurde demnach von westlichen Regierungen für illegitim erklärt, nicht zuletzt unter Berufung auf das Völkerecht. Von Regierungen also, die selbst, allen voran die USA, das Völkerrecht immer wieder nach Gutdünken auslegten. Natürlich ist das Dogma der territorialen Integrität aus leidvoller historischer Erfahrung entstanden. Die Erfahrung war, dass die meisten Kriege von Staatsführungen ausgingen, die eigenmächtig und gewaltsam Staatsgrenzen verändern wollten. Vom Dogma der territorialen Integrität versprach man sich, dass es den bisher wichtigsten aller Kriegsgründe aus der Welt schaffen und damit eine weitestgehend friedliche Welt schaffen würde. Das war sicherlich gut gemeint, aber es hat alles andere als nachhaltigen Frieden gebracht. Auch in der Ukraine wurde im Namen dieses Dogmas ein Krieg der Regierung gegen eigene Bürger geführt, die frei über ihre Staatszugehörigkeit entscheiden wollten. Wie werden künftige Historiker hierüber einmal urteilen? Mit Entsetzen über das politische Denken in unserem Jahrhundert? Hoffentlich. Wie Hauser es hier formulierte, klang es so wohltuend selbstverständlich. Ich war beim Ukraine-Konflikt immer unsicher gewesen, welche Seite – wenn überhaupt eine – moralisch im Recht ist. Wie hatte ich übersehen können, dass das Dogma der territorialen Integrität mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker unvereinbar ist? Schon einmal, als ich erfuhr, dass sogar der greise Helmut Schmidt den Anschluss der Krim an Russland mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker verteidigt hatte, war ich diesem Gedanken nahegekommen. Hatte die Staatengemeinschaft sich also mit dem Dogma der territorialen Integrität ein globales Denkverbot auferlegt? War die Auffassung, ein Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit sei mit dem Frieden unter den Völkern unvereinbar, ein fataler historischer Irrtum? Genau das mochte Helmut Schmidt in seinen letzten Jahren gedacht haben. Aber was bedeutet es dann, dass es nach Helmut Schmidts Tod ausgerechnet Donald Trump war, der sich den westlichen Vorurteilen in der Causa Krim entschlossen entgegenstellte und deren Anschluss an Russland rechtfertigte? Wie konnte es 39 angehen, dass Schmidt und Trump, der eine altersweiser Staatsmann und Intellektueller, der andere kruder, scheinbar bildungsferner politischer Novize, sich vom herrschenden westlichen Denken in dieser Frage übereinstimmend absetzten? Ich erinnere mich noch, wie schon Graf uns in einem Einführungsseminar in Halle genau diese Frage stellte. Die Antwort darauf blieb er allerdings schuldig. „Denken Sie darüber mal nach“, sagte er nur mit bedeutungsvoller Miene, aber – nichts anderes erwartete er natürlich – keiner von uns tat es. Als ich im SPIEGEL-Archiv zum ersten Mal Recherchen zum diesem Thema anstellte, stieß ich auf den seit Mitte des 20. Jahrhunderts andauernden ZypernKonflikt. Seit Jahrhunderten lebten im Norden des Inselstaates mehrheitlich Türken, im bevölkerungsreicheren Süden mehrheitlich Griechen. Die Türken fühlten sich von der griechischen Mehrheit seit jeher schlecht behandelt. Als die griechische Mehrheit den Anschluss Zyperns an Griechenland anstrebte, war dies für die türkische Minderheit natürlich ein Schreckensszenario. Der Konflikt hierüber wurde zwei Jahrzehnte lang mit beiderseitigem brutalem Terror geführt, ein opferreicher Konflikt also, in dessen Verlauf Hunderttausende innerhalb des Landes und aus dem Land flüchteten und vertrieben wurden. Schließlich besetzte die Türkei 1974 Nordzypern, das sich daraufhin zu einem unabhängigen Staat ausrief. Die Türkei half damit den türkischen Zyprioten, über ihre Staatszugehörigkeit frei zu entscheiden, und intervenierte so gesehen für die Freiheit und gegen das Dogma. Allerdings war hiernach die Vorgeschichte schon mit zu viel Gewalt und Unrecht, mit zu vielen Verbrechen beider Konfliktparteien belastet, als dass das Problem allein mit Referenden über die Staatszugehörigkeit noch hätte gelöst werden können. Erst nach fast einem halben Jahrhundert komplizierter Vermittlungsarbeit, begleitet von einer ganz allmählichen politischen Bewusstseinsveränderung, konnte zur Staatszugehörigkeit der Zyprer wenigstens eine provisorische Übereinkunft erzielt werden. Selbst in diesem vergleichsweise übersichtlichen Fall reichte also eine Generation nicht aus, um die Denkblockade in Sachen Separatismus auch nur ansatzweise zu lösen. Der auf Zypern jahrzehntelang herrschende Terror und die 40 Invasion Nordzyperns durch die Türkei lassen sich sogar als Vorboten der neuen Ära des Unfriedens deuten, die mit den Jugoslawien-Kriegen der neunziger Jahre begonnen hat. Aber auch hierzu war Hauser, wie ich bald herausfand, mit seinen Gedanken schon viel weiter. Gegen Ende seiner Aufzeichnungen schrieb er: Nicht der Separatismus ist maßlos und radikal, sondern dessen Unterdrückung. Nicht Radikalisierung führt zum Separatismus, sondern die Verweigerung separatistischer Anliegen führt zur Radikalisierung. So war es auch in Zypern, in Jugoslawien und in der Ukraine. Aber es gibt Beispiele dafür, dass es anders geht. Tschechien und die Slowakei z.B. haben sich friedlich voneinander getrennt, weil beide Seiten es so wollten, weil keine Seite dogmatisch verblendet war und weil zudem der künftige Grenzverlauf ziemlich unstrittig war. So einvernehmlich hätte es auch mit der Krim ausgehen können, wenn die dogmatische Verblendung nicht gewesen wäre. Aber auch in Russland war das Bewusstsein in Sachen Separatismus natürlich nicht weiter fortgeschritten. Russland trat für das separatistische Selbstbestimmungsrecht da ein, wo es um die Interessen von Russen ging. Wenn es um die Bewahrung eigener Staatsgrenzen ging, um den Separatismus von Minderheiten im eigenen Staat, beharrte auch Russland auf dem Dogma der territorialen Integrität. Damit rechtfertigte es seine brutal geführten Kriege in Tschetschenien und anderen abtrünnigen Regionen. Im opportunistischen Umgang mit völkerrechtlichen Dogmen standen Russland und der Westen einander also kaum nach. Der Westen hätte hierbei moralische Überlegenheit wiedergewinnen können. Er hätte z.B. die Zustimmung zum Anschluss der Krim davon abhängig machen können, dass Russland auch in Tschetschenien und anderen Landesteilen Referenden über die Staatszugehörigkeit zulässt. Auch wenn Russland Jahrzehnte gebraucht hätte, um sich ernsthaft hierauf einzulassen: Ein erster Schritt in Richtung einer neuen Weltfriedensordnung hätte dies werden können. Die Rückwärtsgewandtheit des Denkens in Sachen Staatsgrenzen bezeugte in dieser Zeit kaum ein Politiker so unverblümt wie Putin, als der den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Damit zeigte er, wie schwach auch bei ihm, der sein politisches Handwerk besser beherrschte als die meisten 41 Staatslenker des Westens, das Vorstellungsvermögen für langfristige politische Veränderungen ausgeprägt war. Die Sowjetunion war ein auf Zwang gegründetes künstliches Staatsgebilde gewesen, also konnte ihr Zerfall keine geopolitische Katastrophe sein. Die friedliche Auflösung der Sowjetunion hat vielmehr diverse Kriege vermeiden helfen, wie sie im zerfallenden Jugoslawien geführt wurden. Wenn die Auflösung der Sowjetunion eine Katastrophe zur Folge hatte, dann war es die in Russland entstandene politische Sinnleere. Westliche Vorstellungen von Demokratie konnten diese Leere nicht füllen. So war es kein Wunder, dass sich im politischen Bewusstsein Russlands postsowjetische, chauvinistische, zaristische und westlich-demokratische Denkfiguren irrational und unberechenbar verknäuelten. Natürlich stutze ich, wenn ich so etwas las. Meinte Hauser wirklich, die westliche Demokratie sei für Russland nicht die passende Staatsform? Ganz fremd war mir der Gedanke nicht, aber noch zu fremd, als dass ich ihm damals hätte nachgehen wollen. Vielleicht hätte ich mich näher damit befasst, wenn ich mich schon damals gefragt hätte, welche ethnischen und religiösen Minderheiten Russland auf Dauer die Treue halten würden. Konnte man sich dessen z.B. bei den mehr als 20 Millionen russischen Muslimen sicher sein, aus denen schon eine Generation später fast 30 Millionen werden sollten? Würden diese sich in Russland nicht früher oder später als unwillkommene Minderheiten fühlen und über ihre Staatszugehörigkeiten neu entscheiden wollen? Auszuschließen war das schon damals nicht. Sicher war nur, dass diese Minderheiten sich von politischen Dogmen nicht ewig würden einschüchtern lassen. Afrika Es gäbe an dieser Stelle noch viel über die zwei gemeinsamen Jahre im Archiv zu erzählen, in denen Hauser und ich einander so nahe kamen. Aber dies ist nicht die Geschichte von Hauser und mir, es soll vor allem eine kurze Bewusstseinsgeschichte des Jahrhunderts sein, soweit möglich sogar eine Weltgeschichte, und daher muss hier erst einmal von anderen Weltregionen die Rede sein, in denen sich im ersten 42 Jahrhundertviertel ähnliche Dramen abspielten wie die gerade geschilderten, Dramen also um Fragen der Staatszugehörigkeit. Im demokratischen Europa galt Streit um Staatsgrenzen lange als ein Problem von gestern. Es komme nicht darauf an, so war die herrschende Meinung, in welchem Staat man als Bürger lebe, es komme nur darauf an, dass Staaten die Minderheitenrechte wahrten. Dies konnte zur herrschenden Meinung werden, weil in Westeuropa nur noch ein kleiner Teil der Bürger von dem Problem betroffen war. Die Kriege der Vergangenheit bis hin zu den Jugoslawienkriegen hatten in Europa viele Willkürgrenzen korrigiert, und in der Tat war auch der Umgang mit Minderheiten zivilisierter geworden. Aber durfte man Ostukrainern, Krimbewohnern und anderen deswegen vorschreiben, sich unerfüllte Staatszugehörigkeitswünsche zu versagen? Darüber, sagte Hauser einmal, dürfe sich doch niemand ein Urteil anmaßen, ohne die Betroffenen selbst gehört zu haben. Ob ich denn selbst einmal mit Betroffenen darüber geredet hätte. Und als ich darauf nicht antwortete: Ich könnte ja einmal einen Griechen fragen, was heute geschähe, wenn Griechenland oder Teile davon noch immer türkisches Staatsgebiet wären, aber die Antwort könne ich mir sicher auch denken. Ich könnte auch einmal einen Finnen fragen, was Finnen heute täten, wenn ihr Land noch immer zu Russland gehörte. Die Finnen würden dies, da sei er ganz sicher, selbst dann nicht tatenlos hinnehmen, wenn Russland Minderheitenreichte ähnlich respektierte wie westeuropäische Staaten. Falsche Staatsgrenzen seien nun einmal keine von selbst heilenden Wunden, und sie würden es wahrscheinlich nie werden. Die vielen Kriege in Europa hätten viele Staatsgrenzen korrigiert, aber, das wisse ich doch auch, damit sei die Frage der Staatszugehörigkeit auch in Europa nicht für immer und nicht überall vom Tisch, auch nicht im Europa der Europäischen Union. Nach solchen Gesprächen mit Hauser war ich immer wieder verblüfft, in welcher politischen Ahnungslosigkeit ich, nein wir alle, unsere ersten Lebensjahrzehnte verbracht hatten. 43 Mit Hausers Hilfe hatte ich den Separatismus neu verstehen gelernt, aber es gab noch einen anderen politischen Begriff, den ich ebenso neu verstehen lernen musste: Parallelgesellschaften. Dieser Begriff war in der westlichen Welt ebenso negativ besetzt, er löste ebensolche Abwehrreflexe und ebensolche Empörung aus wie der des Separatismus. Es hat lange gedauert, bis ich Hausers Ausführungen dazu wirklich ernst nahm, und noch länger, bis sie mir ganz und gar einleuchteten. Wir wollen keine Parallelgesellschaften in unserem Land. Darüber herrschte in Deutschland und vielen anderen Ländern Einvernehmen. Dieser Spruch ging konservativen Politikern am leichtesten über die Lippen, aber Widerspruch gab es dagegen auch anderswoher nicht. Was aber, fragte Hauser, waren die Alternativen? In vielen Ländern sei längst ein Zustand erreicht, in dem es nur noch darum gehe, ob sich Parallel- oder ob sich Gegengesellschaften im eigenen Land bilden würden. Gegengesellschaften bedeuteten unvermeidlich Gewalt und Terror. Parallelgesellschaften dagegen stünden für die Chance auf ein friedliches Nebeneinander. Notfalls müsse der Staat Parallelgesellschaften sogar gezielt fördern, um daraus nicht Gegengesellschaften entstehen zu lassen. Nur so werde in manchen Ländern der innerstaatliche Frieden künftig noch zu wahren sein. Diese Länder müssten lernen, Parallelgesellschaften nicht als Schreckensszenarien zu betrachten, sondern als ein Befriedungskonzept. Ich gestehe, dass ich mir erst mehr als dreißig Jahre später ernsthaft die Frage stellte, wie mit staatlicher Förderung funktionierende Parallelgesellschaften entstehen können. Aber genug erst einmal davon. An dieser Stelle muss von Afrika die Rede sein. Auch die Probleme Afrikas hätte ich in meinen ersten Lebensjahrzehnten fast ignoriert, wären nicht die Flüchtlings- und Migrantenströme gewesen, die in manchen europäischen Ländern schon Parallelgesellschaften und teilweise sogar militante Gegengesellschaften heranwachsen ließen. 44 Afrika hatte Hauser immer am Herzen gelegen. In seiner Jugend hatte er mit seiner Familie ein Jahr lang in Kenia gelebt, eine Erfahrung, sagte er, die ihn gelehrt habe, die Welt des wohlhabenden Westens mit dem nötigen Abstand zu betrachten. Zu Afrika hat er solchen Abstand nicht immer gewahrt. Manche seiner Aufzeichnungen zum Afrika des ersten Jahrhundertviertels lesen sich wie verzweifelte Klageschriften, aber ich will hier etwas nüchterner bleiben. Hier geht es mir darum, ob die herrschenden politischen Ideologien in Afrika Ähnliches anrichteten wie im Westen und anderswo in der Welt. Die Antwort nehme ich vorweg: Genau so war es natürlich. Und so ist es noch immer. Ich will mich den Problemen Afrikas auf einem Umweg nähern, dem Umweg über den Fall Ukraine. Die Ereignisse dort verstanden zu haben kann helfen, das Afrika des ersten Jahrhundertviertels zu verstehen. Deswegen ist hier aus Hausers Erinnerungen noch ein Abschnitt zu Jugoslawien und der Ukraine am Platz. Er beginnt – ganz und gar untypisch für Hauser – mit einem Zitat aus einer Zeitung. Im Juli 214 las ich in einer deutschen Tageszeitung diesen Beitrag Carl Bildts, des schwedischen Außenministers, der im Jugoslawien-Konflikt lange für die UNO tätig gewesen war: (FAZ vom 7./8.Juli 2014) „…Die meisten Grenzen Europas wurden mit Blut gezogen, im Laufe von Jahrhunderten brutaler Konflikte, ethnischer Säuberungen und Bevölkerungsbewegungen. Diesen abgeschlossenen Prozess wieder zu öffnen hieße, erneutem Blutvergießen Tür und Tor zu öffnen. Daher wurde in den Turbulenzen nach dem Kalten Krieg ein fundamentales Prinzip formuliert: Das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wurde anerkannt, alle existierenden Grenzen mussten jedoch respektiert werden. Jede Veränderung bedürfte der Zustimmung. Dieses Prinzip wurde … von der EU in der Jugoslawien-Krise… bekräftigt. Wir haben auf der territorialen Integrität Kroatiens bestanden und es abgelehnt, eine Auflösung Bosniens in Erwägung zu ziehen. Die Grenze zwischen nördlichem Kosovo und Südserbien sollte bleiben. 45 "Alle existierenden Grenzen müssen respektiert werden" und "Jede Veränderung bedürfte der Zustimmung". So also denken die Carls Bildts dieser Welt, so denkt die UNO, so denkt die Staatengemeinschaft, und danach hat die ganze Welt sich zu richten. Welche Anmaßung! Als ich diese Sätze las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das Drama um die Ukraine glich im Prinzip nicht nur dem JugoslawienKonflikt, sondern auch vielen anderen mit Krieg, Bürgerkrieg und Terror ausgetragenen Konflikten. Ich dachte an Kaschmir, an Nordirland, an den Kaukasus, an die Tamilen in Sri Lanka, an Tibet, an die Kurden, an Aceh in Indonesien, an Libyen, Irak und Syrien, an den Sudan und Ruanda und viele andere aktuelle und potentielle Konfliktregionen. In all diesen Fällen ging es um die Frage, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben wollte und wer mit wem besser nicht. Und es ging darum, sich dies von niemandem vorschreiben zu lassen. Könnte also der Jugoslawien-Konflikt der Beginn einer neuen weltgeschichtlichen Bereinigung von Staatsgrenzen gewesen sein? Der Anfang einer langsamen Lösung vom Dogma der territorialen Integrität von Staaten und damit der Anfang eines langen Kampfes für die Freiheit der Bürger, in freien Wahlen Staatsgrenzen korrigieren und über ihre Staatszugehörigkeit entscheiden zu können? Könnten also die Jugoslawienkriege der Auftakt zu einem Weltkrieg in Etappen gewesen sein, zu einem Dritten Weltkrieg, der unser Jahrhundert prägen wird wie die ersten beiden Weltkriege das vorherige? Ich wusste darauf natürlich keine Antwort, aber ich versuchte nun, im Archiv erst einmal mein Wissen aufzubessern. Ich fand heraus, dass es mehr als hundert aktive separatistische Bewegungen in der Welt gab, um ein Vielfaches mehr, als ich vermutet hatte. Aber wer im Archiv zu suchen weiß, der erfährt auch, dass separatistische Neigungen noch viel weiter verbreitet sind. Es gab mindestens so viele latente separatistische Bewegungen wie aktive. Bei diesen Recherchen wurde mir allmählich klar: Selbst die stabilsten Staaten der Welt können sich nicht sicher sein, dass sich nicht irgendwann, und sei es nach Jahrhunderten, ein Teil ihrer Bürger von ihnen lösen will. Bei den Konflikten um 46 Staatsgrenzen wird es daher nie ein Ende der Geschichte geben. Wenn das aber so ist, dann darf die Welt nie nachlassen, ihren Umgang mit diesen Konflikten weiter zu entwickeln und weiter zu zivilisieren. Sonst kann es keine friedliche Welt geben. Das war bei Hauser der beinahe kühle Prolog zu einer leidenschaftlichen Schilderung mehrerer afrikanischer Dramen des frühen 21. Jahrhunderts. Hier, in einer Geschichte des politischen Bewusstseins, soll so viel Leidenschaft nicht sein. Hauser schrieb über Afrika noch ganz in der politischen Gefühlslage seiner Zeit, aber inzwischen sieht man die Ereignisse natürlich distanzierter. Deswegen fasse ich Hausers Schilderung hier auf meine Weise zusammen. Beginnen will ich mit dem Fall Sudan. Der unabhängige Staat Sudan war eine der unheilvollen Hinterlassenschaften des Kolonialismus. Seine Grenzen waren – nach langer kriegerischer Vorgeschichte – Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von Europäern mit dem Lineal auf die afrikanische Landkarte gezeichnet worden. Dieser Sudan wurde von Anfang an von schweren inneren Konflikten heimgesucht. Der überwiegend christliche Süden führte gegen den dominanten arabisch-muslimischen Norden einen jahrzehntelangen Sezessionskrieg. Viele Hunderttausende starben, Millionen wurden vertrieben. 2011 konnte der Süden des Landes schließlich eine Volksabstimmung über seine Eigenständigkeit durchsetzen. Dabei gab es natürlich eine überwältigende Mehrheit für die Gründung des eigenen Staates. Warum mussten, bevor es zur ersten Teilung dieses fehlkonstruierten Staates kam, Millionen Menschen leiden und sterben? Waren auch sie Opfer einer Ideologie? Opfer des von der Staatengemeinschaft, auch vom Westen und allen demokratischen Staaten vertretenen Dogmas der territorialen Integrität? Und damit Opfer des lange vorher begonnenen, sich in Etappen vollziehenden Dritten Weltkriegs? Eine plausiblere Erklärung dieser Tragödie gibt es nicht. Mitverursacher dieser Tragödie sind demnach die Staaten, die dieser Ideologie Eingang ins Völkerrecht verschafft haben und danach nicht von ihr lassen mochten. Also vor allem die demokratischen Staaten des Westens. 47 Ist der Sudan aber nicht ein Extremfall, der nur mit der rückständigen politischen Zivilisierung Afrikas zu erklären ist? Die politische Gewaltbereitschaft war in Ländern wie dem Sudan natürlich höher als im weltkriegsgeläuterten Westeuropa. Trotzdem drängen sich die Parallelen zu innereuropäischen Konflikten der jüngeren Vergangenheit auf, vom Zypernkonflikt bis zum Fall Jugoslawien. Die Fälle Sudan und Jugoslawien haben noch etwas gemeinsam: Bei beiden waren die Probleme der Staatszugehörigkeit mit einer einmaligen Aufteilung des Staatsgebiets keineswegs gelöst. Im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina schwelten danach Minderheitenkonflikte weiter, die nur durch ein unabsehbar langes Besatzungsregime eingefroren konnten. Auch im Nord- und im Südsudan war durch die Teilung kein innerstaatlicher Frieden hergestellt. Die zwischen diesen Staaten gezogene neue Staatsgrenze war wiederum ein Willkürkonstrukt, das sich über den Willen eines Großteils der Bürger hinwegsetzte. Darfur und zwei weitere Regionen, deren Bewohner mit denen des Südsudans lange und verlustreich für ihre Unabhängigkeit gekämpft hatten, wurden dem Staatsgebiet des Nordsudan zugeteilt. In diesen Regionen schwelte der Bürgerkrieg blutig weiter. Nicht besser war es im Südsudan. Dieser erwies sich bald als unfreiwillige Zwangsgemeinschaft zweier einander seit jeher fremder Volksgruppen, der Dinka und der Nuer. Der Konflikt zwischen diesen Gruppen wurde durch Waffenstillstände und durch improvisierte Machtteilungen zwischen Stammesführern zeitweilig entschärft, aber gelöst wurde auch er nicht. Nach ähnlichem Muster wurden auch in Ländern östlich des Südsudans Bürgerkriege und Bürgerkriege geführt, der Unabhängigkeitskrieg Eritreas und der erbitterte Bürgerkrieg in Somalia, der Hungersnöte mit Hunderttausenden Todesopfern zur Folge hatte. Auch in diesem Krieg spielte die Frage, wer mit wem in welchen Grenzen einen gemeinsamen Staat würde betreiben wollen, eine wichtige Rolle. Weitere Bürgerkriegs- und Terrorszenarien spielten sich in den Folgejahrzenten in vielen anderen Regionen Afrikas ab, darunter Nigeria, Mali, Äthiopien, Kenia, Burundi und Kongo, und immer wieder ging es dabei auch um die Frage, welche 48 Stammes-, Religions- oder sonstige Gemeinschaften weiter in einem gemeinsamen Staat leben wollten. Immer wieder war der Befund, dass Staatsvölker, die in Kolonien und Diktaturen als Zwangsgemeinschaften lange funktioniert hatten, bei allmählicher Demokratisierung und Liberalisierung auseinanderdrifteten. Der beunruhigendste Befund für Afrika war, dass mit Nigeria ausgerechnet sein bevölkerungsreichstes Land – dank seiner Ölförderung zugleich eines der wohlhabendsten –, in seiner nationalen Einheit besonders gefährdet war. Es waren immer wieder Landesteile mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, in denen Separatisten mit Gewalt und Terror für die Loslösung vom nigerianischen Vielvölkerstaat kämpften. In Nigeria war es lange vorher schon zu einem der tragischsten Konflikte dieser Art gekommen. Mit seiner ethnisch, sprachlich und konfessionell äußerst inhomogenen Bevölkerung war Nigeria von Beginn an, seit seiner 1960 erlangten Unabhängigkeit, eine Brutstätte innerer Konflikte. Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit kam es zum Sezessionskrieg um das abtrünnige Biafra, der in einen Völkermord mündete und fast drei Millionen Menschen das Leben kostete. Auch dieser Krieg muss im Nachhinein als Teil oder Vorläufer des schleichenden Dritten Weltkriegs um die Korrektur falsch gezogener Staatsgrenzen verstanden werden. Wie unheilvoll die westliche Welt in diesem neuen Weltkrieg von Anfang an agierte, wurde hier so deutlich wie kaum irgendwo sonst. Den Krieg um Biafra führte Nigerias Regierung mit Billigung und mit militärischer und finanzieller Unterstützung zahlreicher westlicher Staaten. Natürlich wollte kein westlicher Staat bekennen, mitschuldig zu sein an nigerianischen Staatsgrenzen, innerhalb deren ein friedliches und gewaltfreies Miteinander unmöglich war. Und erst recht wollten westliche Staaten vermeiden, dass das Dogma der territorialen Integrität ausgerechnet in Afrika ins Wanken geriet. Sie zogen es vor, für dieses Dogma in Afrika Kriege zu führen und führen zu lassen, denen Millionen von Menschen zum Opfer fielen. 49 Auch in den Folgejahrzehnten blieben politische Bewusstseinsfortschritte aus, die Afrika vergleichbare Tragödien erspart hätten. Ende des vorigen Jahrhunderts kam es zum Völkermord in Ruanda, einem innerstaatlichen Konflikt zwischen den Stämmen der Hutus und Tutsis, dem fast eine Million Menschen zum Opfer fielen. Auch in diesem Konflikt war eine falsche, von den Bürgern nicht gewollte Zusammensetzung eines Staatsvolks die Hauptursache. Und auch in der Entstehungsgeschichte und im Verlauf dieses Konflikts haben westliche Staaten Mitschuld auf sich geladen. Auch dies ist eine der afrikanischen Tragödien, die zur leidvollen Vorgeschichte unseres kaum weniger leidvollen Jahrhunderts gehören. Im Gefolge des ruandischen Bürgerkriegs, bei dem große Teile der ruandischen Bevölkerung nach Kongo flohen, erlebte dann auch Kongo immer wieder neu aufflackernde blutige Bürgerkriege, für die eine ungewollte Zusammensetzung des kongolesischen Staatsvolkes mitursächlich war. Diese Kriege haben mittelbar und unmittelbar vermutlich Millionen Todesopfer gefordert, ohne dass damit das Land befriedet und die zugrundeliegenden Konflikte gelöst wären. Die schon damals gängige Sicht der Dinge war natürlich, dass die Täter in solchen Tragödien im Zweifel und fast immer die Separatisten seien. Man müsse doch einen Staat nicht auseinanderreißen, so meinte man, nur weil ein Teil seiner Bürger sich einen anderen Pass wünsche. Das Beispiel Schweiz mit seinen vier Sprachgemeinschaften zeige ja, was bei gutem Willen der Beteiligten möglich sei. Dazu soll hier ein wörtliches Zitat von Hauser genügen: Wer die Schweiz als den Normalfall annimmt, an dem der Rest der Welt, auch Afrika, sich gefälligst zu orientieren habe, der ist mit seinen Gedanken nicht in diesem Jahrtausend. So viel zur Rolle westlicher Dogmen in afrikanischen Tragödien. Natürlich haben westliche Staaten in postkolonialen Zeiten nicht nur Unheil über Afrika gebracht, sie haben auch zu helfen versucht. Aber auch hierzu hatte Hauser eine besondere Meinung, und auch damit, denke ich, verriet er – wie mit allem, was er über Afrika 50 schrieb – ein ziemlich sicheres Gespür. Deswegen will ich hier noch diesen Ausschnitt aus seinen Aufzeichnungen zu Afrika anschließen: Wie viel hat die Entwicklungshilfe westlicher Staaten Afrika genützt? Ein Bruchteil davon hat die Lebensbedingungen der Menschen eine Zeitlang, fast nichts davon hat sie nachhaltig verbessert. Ein Teil wird in die Verwaltung nicht lebensfähiger Staaten gepumpt, ein Teil von korrupten Eliten abgezweigt, ein Teil versandet in unfähigen Bürokratien, viel wird – das habe ich mit eigenen Augen gesehen – für in fernen Geberländern ersonnene Projekte verpulvert, die unter afrikanischen Bedingungen nicht funktionieren können. Einen beträchtlichen Teil verbraucht zudem die Selbstorganisation. Es ist nicht einmal abwegig, dass die bisherige Entwicklungshilfe mehr Schaden als Nutzen gestiftet haben könnte. Ganz sicher hat sie viele falsche Hoffnungen geweckt und damit in Afrika viele Energien fehlgelenkt. Aber viel schlimmer ist natürlich dies: Dass Helferländer – Biafra war eines der frühen Beispiele – mit Militärhilfe Leid über Afrika gebracht haben, das durch keine noch so großzügige Entwicklungshilfe wiedergutzumachen war. Mit ihren Waffenlieferungen waren westliche Helferländer in den Machterhalt vieler skrupelloser afrikanischer Regime und in fast alle afrikanischen Kriege und Bürgerkriege verstrickt, oft sogar – wie in Biafra, Ruanda und im Sudan – auf beiden Seiten eines Konflikts zugleich. Westliche Kolonialmächte haben Afrika zuerst mit falschen Staatsgrenzen durchzogen, dann haben sie die Hand dazu gereicht, solche falschen Staatsgrenzen mit brutalster Waffengewalt zu verteidigen. Was hätte anderes getan werden müssen? Natürlich Hilfe zum Aufbau von Staaten und Staatsordnungen, die unter afrikanischen Lebensbedingungen bestmöglich funktionieren. Aber sollten das Demokratien nach westlichem Muster sein? Ein einfaches Ja darauf verbietet sich längst. Man kann für Afrika nur hoffen, dass eine hilfreichere Antwort vor der nächsten Welle von Krieg und Terror gefunden wird. 51 Ja, auch das konnte Hauser: Abgründe ausleuchten, dass es einem für Momente die Sprache verschlug. Dabei blitzte aber auch auf, was Hauser mit dem weiten Blick des Archivars gemeint hatte, dem Blick auch weit in die Zukunft. Er sah, wie langsam das politische Bewusstsein seit dem Ende des Kolonialismus vorangekommen war, und er fragte sich, ob es im kommenden halben Jahrhundert schneller gehen könnte. Seine Antwort war negativ. Die arabische Welt In meinen jungen Jahren waren – soweit ich mich damit befasste – die großen politischen Konflikte dieser Welt für mich Einzelereignisse. Jeder Konflikt schien seine eigenen Ursachen zu haben, und für den Umgang mit jedem Konflikt musste demnach Politik ein eigenes Konzept entwickeln. Erst Hausers Aufzeichnungen haben mir die Augen dafür geöffnet, dass die meisten dieser Konflikte, besonders die gewaltsamen, ähnlichen Mustern folgen. Sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich hier mit so vielen Weltregionen zu befassen. Du übernimmst dich, hätte ich gedacht, und du versuchst zusammenzubringen, was nicht wirklich zusammengehört. Nun also auch noch die arabische Welt? Ja, es muss sein. Eine der Ursachen fast aller großen Konflikte sei Phantasielosigkeit, schreibt Hauser, Phantasielosigkeit sei weltweit unerschöpflich, und allein das sei ein großer globaler Erklärungszusammenhang. Schon deswegen verzettele man sich nicht, wenn man sich mit vielen Konflikten zugleich befasse. Solche Aussagen erschienen mir damals noch reichlich abstrakt, aber später bewahrten sie mich vor vielen vorschnellen Urteilen. Über die arabische Welt des ersten Jahrhundertviertels hat Hauser in vielen Details geschrieben, immer wieder mit der Empörung des zeitgenössischen Betrachters. So viel Detail soll hier nicht sein und auch nicht so viel – dafür liegt vieles mittlerweile zu weit zurück – Empörung. Zumindest dieser eine Absatz aus Hausers Aufzeichnungen passt aber unverändert hierher: Wenn schon nicht in Afrika, hätte dann nicht zumindest in der arabischen Welt zu Beginn des Jahrhunderts eine Modernisierung nach westlichem Muster gelingen sollen? Als es Anfang 52 2011 in mehreren arabischen Ländern zu Massenprotesten gegen die herrschenden Regimes kam, galt dies im Westen als Ausbruch eines endlich erwachten Modernisierungswillens. Man wollte darin einen „arabischen Frühling“ erkennen, mit dem im arabischen Raum die Zeit der Demokratisierung nach westlichem Muster anbreche. Die Bürger müssten nur ihre Despoten mit der notwendigen Entschlossenheit stürzen, wo nötig mit militärischer Hilfe des Westens, und sich dann demokratische Verfassungen nach westlichem Muster geben. Und man glaubte auch, die danach zu wählenden arabischen Regierungen und ihre Bürger würden sich dem Dogma der territorialen Integrität unterwerfen. Staatsgrenzen würden also unangetastet bleiben. So werde in der arabischen Welt die Demokratie den innerstaatlichen Frieden bringen, und das Prinzip der territorialen Integrität werde den Frieden zwischen den Staaten wahren. Die arabische Welt werde demnach in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts einen ähnlichen Weg nehmen wie Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Grundlegender hatte der Westen nicht irren können. Wenn schon nichts anderes, hätte der westlichen Welt zumindest dies von vornherein zu denken geben müssen: Die arabische Welt hatte in der jüngeren Vergangenheit kein einziges Jahrzehnt ohne Krieg erlebt, keine einzige anhaltende Phase des Friedens, wie sie fast überall in Europa und der übrigen westlichen Welt schon zur Selbstverständlichkeit geworden waren. Dementsprechend weit lag dieser Teil der Welt in der politischen Bewusstseinsentwicklung zurück. Die Folge war absehbar: Der so genannte arabische Frühling war der Anfang einer entsetzlichen Tragödie. So weit Hauser, und ich muss dem nichts hinzufügen. Was er hier schreibt, ist ja zur traurigen Gewissheit geworden. Ich will hier für diesen Teil der Welt erst einmal die Entwicklungen im ersten Jahrhundertviertel aus Hausers Sicht, aber mit eigenen Worten kurz rekapitulieren. Nicht für Ältere wie mich, die all das noch gut in Erinnerung haben, aber für die Jüngeren, die sich hiervon vielleicht nur ein einfaches und einseitiges Bild haben machen können. Alles handelt hier vom, wie Hauser es nannte, unermesslichen Unglück in der arabischen Welt und davon, wie westliche Vorstellungen von Demokratie und Völkerrecht vor diesem Unglück versagten. Dabei betrachte ich die arabischen Staaten, so willkürlich ihre Grenzen noch immer gezogen sind, erst 53 einmal je für sich. Das war zwar damals irreführend und ist es noch heute, aber es macht die Sache einfacher. Diese Staaten existieren ja dem Namen nach noch immer. Ägypten Nachdem Anfang 2011 der tunesische Autokrat Ben Ali außer Landes geflohen war, verloren kurz danach auch die Bürger Ägyptens die Geduld mit ihrer Staatsführung. In Kairo und anderen Städten kam es zu Massenprotesten gegen das seit drei Jahrzehnten herrschende scheindemokratische Mubarak-Regime. Die Lage war explosiv. Schließlich sahen selbst die ägyptischen Militärs keinen anderen Ausweg mehr, als Mubarak, eigentlich einen der Ihren, zu entmachten und es mit demokratischen Wahlen zu versuchen. Die Präsidentschaftswahl gewann ein islamistischer Kandidat, die Parlamentswahl gewann seine islamistische Partei. Das war nicht, was ein Großteil der Bürger, was das ägyptische Militär, was die Mehrheit der ägyptischen Beamtenschaft und was auch die westliche Welt sich erhofft hatten. Dieses Wahlergebnis spaltete das Land. Das Militär machte schließlich kurzen Prozess. Der demokratisch gewählte islamistische Präsident und die von Parlament gewählte islamistische Regierung wurden gewaltsam abgesetzt, ein einflussreicher General ließ sich mit Rückdeckung der Streitkräfte zum neuen Präsidenten wählen, viele hundert politisch aktive Islamisten wurden in Massenprozessen zum Tode verurteilt. Damit herrschte de facto wieder ein Militärregime, nunmehr aber ein unverbrauchtes, vom Misskredit der Mubarak-Ära geläutertes und damit vorerst stabiles. Die Einlassung auf ein demokratisches Verfahren nach westlichem Muster hatte Ägypten keinen Schritt vorangebracht, auch nicht in 54 der politischen Zivilisierung. Der Wille, es mit solcher Art Demokratie noch einmal zu versuchen, war damit auf absehbare Zeit erloschen. Libyen Irgendwann, das war leicht vorhersehbar, würde auch in Libyen ein Großteil der Bürger ihren Despoten nicht mehr ertragen können. Anfang 2011, nach über vierzigjähriger Gaddafi-Herrschaft, kam es, vom Osten des Landes ausgehend und mit verdeckter Unterstützung westlicher Regierungen, zu Protesten, die sich rasch zu einer starken Rebellenbewegung ausweiteten. Luftstreitkräfte mehrerer NATO-Staaten unterstützten die Rebellen mit zehntausenden Kampfflugzeugeinsätzen, natürlich in der Erwartung, den Übergang in eine geordnete demokratische Zukunft herbeizubomben. Die westliche Militärintervention – sie forderte mehr Todesopfer als der gesamte jahrzehntelange Terror des Gaddafi-Regimes – führte zum Sturz und zur Ermordung Gaddafis, aber danach versank das Land in blutige Anarchie. Statt zu einer blühenden Demokratie wurde Libyen zu einem innerlich zerrissenen, ohnmächtigen und regellosen, einem so genannten gescheiterten Staat. Auch in diesem Libyen waren die Bürger von keinerlei Willen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit getragen. Welche Hilfe konnten westliche Staaten in dieser Situation noch leisten? Bald zeigte sich, dass keine der innerlibyschen Konfliktparteien der Nach-GaddafiZeit sich westlichen Werten und Verfahren ernsthaft verpflichtet sah. Für westliche Demokratisierungshilfe fehlte es an geeigneten seriösen Adressaten. Die in Libyen engagierten westlichen Staaten waren also mit ihrem politischen Latein am Ende. Sie hatten das militärische Know-how gehabt, um einen Gaddafi stürzen zu helfen, aber ihnen fehlte jegliches politische Know-how, um auf den Trümmern des Gaddafi-Regimes einen besser funktionierenden neuen Staat entstehen zu lassen. 55 Was war hier unter Berufung auf westliche Werte erreicht worden? Die Antwort ist: weniger als nichts. Die Post-Gaddafi-Ära brachte den allermeisten Libyern weniger Sicherheit, weniger Wohlstand und weniger Lebensqualität als die Zeit der Gaddafi-Despotie. Und niemand schien zu wissen, wie dies zu ändern war. Wie anders wären westliche Staaten mit Gaddafi und seinem Regime umgegangen, wenn sie geahnt hätten, dass sich dessen düstere Prophezeiung in Sachen Flüchtlingsströmen bewahrheiten würde? Dass also ein künftiges zerfallenes, zerstrittenes und schwaches Libyen ein Anschwellen der Migrantenströme nach Europa weder aufhalten können noch wollen und daher zum Haupttransitland für viele Millionen legal oder illegal nach Europa strebender Afrikaner werden würde? Sicher ist nur: Klüger hätten die westlichen Staaten auch dann nicht gehandelt. Syrien Der so genannte arabische Frühling führte in Ägypten zum Scheitern der Demokratie, in Libyen führte er zum Staatszerfall, aber eine noch viel größere Tragödie erlebte Syrien. In Teilen des Landes kam es zu Aufständen gegen die seit vier Jahrzehnten andauernde Despotie von Vater und Sohn Assad. Wie in Libyen, wollte der Westen hierin zunächst den Aufstand eines politisch heranreifenden Staatsvolkes gegen seinen Unterdrücker erkennen, einen Aufstand also, der Assad unweigerlich stürzen und aus Syrien bald eine funktionsfähige Demokratie machen würde. Anders als in Libyen, trauten NATO-Staaten sich hier aber nicht, militärisch zu intervenieren. Das militärische und politische Risiko erschien zu groß, auch weil das AssadRegime mit Russland verbündet war. 56 Im anschließenden Bürgerkrieg zeigte sich, dass auch die Rebellion in Syrien alles andere war als der Aufstand eines im Widerstand gegen das Regime einigen Staatsvolkes. Das Land zerfiel in eine Region mit mehrheitlich regimetreuer Bevölkerung und Regionen, in denen andere Bürgerkriegsparteien erbittert um Macht und Vorherrschaft kämpften, fast alle mit verdeckter Unterstützung westlicher, arabischer oder anderer Staaten, wobei die fundamentalistische sunnitische Terrororganisation Islamischer Staat bald zum militärisch, finanziell und auch nach Anhängerzahl stärksten Akteur wurde. Auch hier brach also mit der Rebellion alles andere an als Fortschritt in der politischen Zivilisierung. In diesem Bürgerkrieg kämpften Rebellen ebenso unerbittlich gegeneinander wie gegen das Assad-Regime, und all diese Kämpfe wurden mit äußerster Härte und Grausamkeit geführt. Dem Krieg fielen fast eine halbe Million Menschen zum Opfer, mehr als zehn Millionen – mehr als die Hälfte der vormaligen Bevölkerung – wurden zu Flüchtlingen im eigenen Land oder flohen außer Landes. Von diesem Flüchtlingsstrom sahen sich nicht nur Syriens Nachbarstaaten in ihrer Stabilität bedroht, sondern auch ein Teil Europas. Auch hier verlief also alles ganz anders, als ein blauäugiger Westen es zunächst erwartet hatte. Ein syrisches Volk, das geeint in einem von Assad befreiten Syrien leben wollte, gab es nicht. Auch Syrien war ein Staat gewesen, der nur mit der eisernen Faust eines Despoten hatte zusammengehalten werden können und mit der Schwächung des Despoten unweigerlich zerfallen musste. Despoten wie Assad waren sich dessen immer bewusst, und ihre Herrschaftsmethoden waren immer auf diesem Wissen gegründet. Eben deswegen waren sie so lange gegenüber denkbaren Alternativen das kleinere Übel geblieben. Für ein Syrien mit einem geschwächten oder gar ohne einen Assad war der blutige Zerfall vorgezeichnet und damit die Herausbildung neuer Staatsgebilde, deren Grenzen in langen Bürgerkriegen auszukämpfen sein würden. 57 In einem Fall wie Jugoslawien war einigermaßen vorhersehbar gewesen, entlang welcher Grenzen das Land in Einzelstaaten zerfallen würde, und daher waren die Kriege zur Auflösung Jugoslawiens noch vergleichsweise glimpflich verlaufen. Im Fall Syrien aber waren die Vorstellungen über die Aufteilung syrischen Staatsgebiets viel verworrener. Diese Vorstellungen konkretisierten sich großenteils erst in einem Prozess grausamer konfessioneller und ethnischer Säuberungen, an dem als Täter und Opfer Araber und Kurden, Sunniten und Schiiten, Alawiten, Christen und andere ethnische und konfessionelle Gruppen und Minderheiten beteiligt waren. Dieser mörderische Prozess hätte allenfalls dann ein absehbares vorläufiges Ende finden können, wenn die Konfliktparteien nicht noch von äußeren Mächten, von arabischen Staaten, Iran, der Türkei, Russland und dem Westen gegeneinander aufgehetzt und aufgerüstet worden wären. Selten hat daher ein Staat im Bürgerkrieg eine so totale Zerstörung erfahren. Natürlich wäre jede politische Lösung dieses Konflikts für fast alle Beteiligten unvergleichlich glimpflicher gewesen. Aber wie Hauser sagte: Die verfügbare politische Phantasie – und auch die verfügbare Vernunft – war hierfür viel zu schwach, auch im Westen. Nach der Rebellion entstand auch auf syrischem Territorium nichts anderes als ein von kriegsmüden Kämpfern notdürftig gedeckeltes Pulverfass. Was haben westliche Staaten getan, um diese Tragödie wenigstens abzumildern? Die Antwort ist: so gut wie nichts. Sie haben stattdessen über viele Jahre wechselnde Bürgerkriegsparteien mit Waffen beliefert, und sie haben unbewohnte und bewohnte Gebiete bombardiert, weil sie von den falschen Rebellen besetzt waren. Hätten westliche Staaten anderes und Besseres getan, wenn sie frühzeitig geahnt hätten, dass auch von Syrien aus Millionen Migranten nach Europa drängen würden? Hätte wenigstens dies westliche Politiker dazu gebracht, politische Dogmen des vergangenen Jahrhunderts ernsthaft in Frage zu 58 stellen? Und vielleicht auch dazu, nach historischer Mitschuld an der arabischen Tragödie zu fragen? Hausers Antwort darauf wäre natürlich, dass die große Konstante westlicher Politik weiterhin die Phantasielosigkeit war. Europas politische Führung ängstigte sich mehr vor der Abkehr von politischen Dogmen als vor den Folgen der Massenmigration. Dass Teile Europas durch diese Massenmigration den Herkunftsländern der Migranten in manchem ähnlicher werden könnten, war ein verbotener Gedanke. Irak Die Tragödie Syriens, schon für sich genommen eine der schlimmsten des ersten Jahrhundertviertels, verschmolz mit der des Irak. Dessen Zerfall folgte einer ähnlichen Logik, er war von ähnlichen Gräueln geprägt, er forderte ähnlich viele Opfer, er überschnitt sich geographisch mit dem Zerfall Syriens, aber er hatte auf ganz andere Weise begonnen. Den Sturz des Despoten hatten westliche Streitkräfte besorgt. Die USA und Großbritanniens hatten den Irak unter falschem Vorwand angegriffen, dabei die irakischen Streitkräfte weitgehend ausgeschaltet, das Land besetzt, Saddam Hussein festgenommen und ihn von irakischen Staatsorganen hinrichten lassen. Die danach bis 2011 andauernde Besatzung des Irak war geprägt von ständigem Terror, allgegenwärtiger Gewaltkriminalität, von bürgerkriegsartigen religiösen und ethnischen Konflikten und immer wieder auch von Terroranschlägen auf westliche Besatzungstruppen. Als diese 2011 abzogen, war der Irak formell eine eigenständige Demokratie, die sich nach westlichen Vorstellungen stabilisieren sollte. Auch diese Illusion zerstob aber sehr rasch. Auch den Bürgern des Irak fehlte es am Willen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit. Der stärkere Wille war der Wille zur Trennung, wie blutig diese auch zu erkämpfen wäre. 59 Auch im Irak waren die Motive der verfeindeten Bevölkerungsgruppen, ihrer Milizen und ihrer Geldgeber vielfältig und zeitweise schwer zu entwirren. Auch hier kämpften u.a. Araber gegen Kurden, Sunniten gegen Schiiten und sunnitische Gruppierungen gegeneinander. Dieser Bürgerkrieg erwuchs aber auch aus der Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit einer Männergeneration, die nach der Saddam-Despotie über ein Jahrzehnt lang von Krieg, Besatzung, Terror und Bürgerkrieg geprägt worden und für die danach eine Sinnerfüllung ohne Feindbilder und Gewaltkonflikte kaum noch vorstellbar war. Auch dies trug dazu bei, dass die Terrororganisation Islamischer Staat über lange Zeit große Teile irakischen und syrischen Territoriums unter ihre Kontrolle bringen konnte. Dabei half ihr, dass sie mit der Errichtung eines sunnitischen Kalifats ein scheinbar klares Ziel in Sachen staatlichen Zusammenhalts und Staatsgrenzen vorgab. Hier mischten sich also, begünstigt durch die heillose Vorgeschichte, legitime Zusammengehörigkeitsbedürfnisse von Staatsbürgern auf mörderische Weise mit archaischem Religionsverständnis und niedersten Gewalt- und Racheinstinkten. So blieb vom Irak nur ein politisch, wirtschaftlich und auch kulturell gescheiterter Phantomstaat, auf dessen Trümmern sich dann im weiteren Bürgerkrieg allmählich mehrere eigenständige staatsähnliche Gebilde entwickelten. Ich will es hier bei diesen kurzen Skizzen zu einzelnen arabischen Staaten belassen und nicht auch noch auf kriegerische Auseinandersetzungen jener Zeit im Jemen und anderen arabischen Staaten eingehen. Praktisch nirgendwo in der arabischen Welt, auch nicht in Saudi-Arabien, den Golf-Emiraten und im arabischen Nordafrika, herrschte ein politisches Regime, von dem man erwarten konnte, dass es bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte würde bestehen können. Hauserscher Weitblick zeigte: In der arabischen Welt spielten sich keine isolierten Dramen einzelner Staaten ab, sondern dies war ein großes gesamtarabisches Drama mit wiederkehrenden Mustern. Vor allem aber war es Teil des großen Weltdramas um falsch gezogene Staatsgrenzen und erzwungene Staatszugehörigkeiten. 60 Als ich ein zweites und drittes Mal in den Hauserschen Aufzeichnungen darüber las, durchlebte ich noch einmal, wie mich vor Jahren die Nachricht vom Tod eines älteren Studienfreundes aufgewühlt hatte. Er war Journalist gewesen. Schon als Student ein ruheloser Geist, nach dem Studium ein Praktikum bei SPIEGEL, dann ein Jahr bei einer Presseagentur, dann beim Rundfunk, danach Freiberufler, spezialisiert auf Reportagen aus Krisengebieten. Wenn ein bekannter Fernsehjournalist in einem Krisengebiet getötet wird, erfährt davon die Welt, der Tod eines Freiberuflers ist den Medien selten eine Nachricht wert. Spiegel-Online, wo ich davon erfuhr, immerhin einen Vierzeiler. Ich war tieftraurig, aber ich verdrängte es rasch. Erst als ich dann Hausers Aufzeichnungen über die arabische Welt las, recherchierte ich dazu weiter. Im Netz verstreut fanden sich zum Tod meines Freundes Dutzende Beiträge. Er war im heftig umkämpften früheren Grenzgebiet zwischen Irak und Syrien getötet worden. Ein gewaltsamer Tod, so viel war klar, alles andere blieb im Nebel kriegs- und bürgerkriegstypischer Desinformation. Schiitische und sunnitische Milizen, Geheimdienste, ein USDrohnenkommando, gewöhnliche Kriminelle, ein missgünstiger Kollege, ein enttäuschter arabischer Liebhaber, ein schießwütiger Polizist, all das waren mutmaßliche Täter. Es gab einfach zu viele, die, wo immer sich die Gelegenheit bot, Gegnern einen Mord in die Schuhe schoben, auch weil sie selbst etwas zu vertuschen hatten. Wer behauptet, im arabischen Drama die Wahrheit zu kennen, der lügt, hatte Hauser einmal gesagt. Hier begann ich es zu verstehen. Nur Eines war in diesem Drama klar: Die westliche Vorstellung, arabische Despotien würden sich in ihren bestehenden Staatsgrenzen zu friedlichen Demokratien wandeln, war kläglich gescheitert. Erst recht gescheitert war natürlich die Vorstellung, solche friedliche Demokratisierung ließe sich durch Militärintervention und Besatzung erzwingen. Wenn es eine erste plausible Lehre aus diesen Geschehnissen gab, dann konnte es nur diese sein: Demokratisierung und das Festhalten an willkürlichen Staatsgrenzen waren auf Dauer nicht miteinander vereinbar. Von dieser Einsicht war die Staatengemeinschaft aber noch weit entfernt. 61 Sie sah zu, wie die arabisch-muslimische Zivilisation zusammenbrach, wie die arabischen Bürgerkriegsstaaten in Hoffnungslosigkeit versanken und wie mit den Flüchtlingsströmen Armut, Entwurzelung und Elend sich auch in deren Nachbarstaaten ausbreitete und auch bis hin nach Europa. Hier blieb nur die vage Hoffnung, dass sich irgendwann geläuterte Nachkriegsgenerationen nach neuen Regeln aus diesem Elend würden befreien wollen. So viel zu den Tragödien der arabischen Welt im ersten Jahrhundertviertel. Waren diese etwas anderes als die Fortsetzung des schleichenden Dritten Weltkriegs, der im 20. Jahrhundert in Afrika und Europa begonnen hatte? Nein. Hauser sah es schon damals so, ich erkannte es Jahre später. Der Versuch, der arabischen Welt die Demokratie aufzuzwingen, war gescheitert, und ebenso der Versuch, für Frieden durch Festschreibung von Staatsgrenzen zu sorgen, durch das Dogma also der territorialen Integrität. Die westliche Welt ließ trotzdem nicht davon ab, dass die von Kolonialmächten gezogenen Staatsgrenzen im Nahen Osten Bestand haben sollten. Diese Grenzen hatten schließlich fast ein Jahrhundert lang gehalten, Zeit genug, so meinte man, um unter Staatsbürgern letztlich doch den nötigen Zusammenhalt wachsen zu lassen. Aber auch hier zeigte sich, dass ein Jahrhundert eine kurze Zeitspanne sein kann, wenn es um den Willen und Unwillen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit geht. Auch nach einem Jahrhundert ohne Krieg und Bürgerkrieg kann politisch Trennendes, seien es ethnische, konfessionelle, kulturelle, ideologische, sprachliche oder andere Differenzen, neu aufbrechen oder neu entstehen und einen Staat zerreißen. Je demokratischer ein Staat sich organisiert, desto anfälliger wird er dafür. So hat Hauser es damals in seinen Erinnerungen beschrieben: Solange ein autokratisches System wirklich stark geführt ist, mit Charisma und repressiver Gewalt zugleich, wird die Staatsgrenzenfrage von den Bürgern selten offensiv gestellt, auch wenn es an spontanem Zusammengehörigkeitswillen mangelt. Zu den vielen historischen Beispielen hierfür gehörten zeitweilig die österreichisch-ungarische Monarchie, das 62 Zarenreich und kurzzeitig sogar die Sowjetunion. Die Bürger solcher Regimes entwickeln ein gemeinsames Untertanenbewusstsein, das über viele Differenzen hinweg miteinander verbindet. Eine Demokratie kann solche Art Gemeinsamkeit nicht bewahren. Wird ein solches autokratisches System demokratisiert, müssten sich daher neue staatstragende Gemeinsamkeiten formieren. Wenn dies innerhalb bestehender Staatsgrenzen gelingt, ist das ein Glücksfall. Solch seltenes Glück aber für selbstverständlich zu nehmen ist politische Brandstiftung. Die Grenzen im heutigen Europa, sagte Hauser in einem späteren Gespräch, seien über Jahrhunderte mit viel Blut gezogen worden, dies geschehe nun auch im Nahen Osten, und es sei dort noch längst nicht abgeschlossen. Solange falsche Grenzen mit Blut verteidigt würden, könnten richtige Grenzen nicht ohne Blutvergießen gezogen werden. So werde es im Nahen Osten weitergehen, und die demokratische Welt werde dabei weiter mitmischen, die USA, die NATO, Staaten der EU und sogar die Vereinten Nationen. Selbst wenn eine richtigere Grenze einmal erkämpft worden sei, könne der Weg zum förmlichen Frieden noch sehr weit sein. Ein Beispiel wie Nordzypern zeige, wie die Welt Staaten, die nach der Dogmatik des Völkerrechts keine sein dürfen, mehr als ein halbes Jahrhundert ignorieren könne, nur um ihre Dogmen nicht ins Wanken zu bringen. Der schleichende Dritte Weltkrieg unserer Zeit werde daher neue gefährliche Provisorien hervorbringen und damit neue politische Brandherde. Ich fragte Hauser, ob es vielleicht doch etwas übertrieben sei, von einem schleichenden Weltkrieg zu sprechen. Nein, sagte er damals, es sei ja schon jetzt ein Jahrhundertkrieg, und allein aus dem Archivmaterial lasse sich leicht zusammenrechnen, dass es auch nach den Opferzahlen ein wirklicher Weltkrieg sei. Trotzdem habe er Verständnis für jeden, der daran zweifele. Ein Dritter Weltkrieg vor aller Augen, und kaum jemand will offen darüber reden und darüber schreiben, das könne doch eigentlich nicht sein, so habe er ja zu Anfang auch gedacht. Ob denn auch er mit niemandem darüber gesprochen habe, fragte ich. 63 Bei der Arbeit fast nie, sagte er, nur ein einziges Mal, eher aus Versehen, als eine Redakteurin von ihm etwas zur Lage in Syrien und dem Irak wissen wollte. Da sei es aus ihm herausgerutscht: Das sei ein Stück Dritter Weltkrieg, und ob sie nicht einmal darüber schreiben wolle? Wie bitte?, habe sie gefragt, und er darauf: Doch, wir erleben einen schleichenden Dritten Weltkrieg. Da habe sie ihn wie einen Außerirdischen angesehen. Es werde schon nicht so schlimm wie der Zweite Weltkrieg werden, habe sie dann gesagt. Nein, ganz so schlimm nicht, habe er geantwortet, insofern könne man eigentlich beruhigt sein. Solchen Wortwechsel habe er sich nicht ein zweites Mal zumuten wollen. Dass dieser Dritte Weltkrieg ein Krieg um Staatsgrenzen ist und dass der Verlauf von Staatsgrenzen nie ein für alle Mal geregelt sein werde, dass also die Frage, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben wolle, ein ewiges Menschheitsthema sei, auch in Europa, das hatte er mir ja schon früher erklärt. Aber diese Erkenntnis war noch nicht die Lösung des Problems, das wusste natürlich auch Hauser. Konnte es überhaupt eine Lösung geben? Wie dachte Hauser darüber? Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich traute, ihm diese Frage zu stellen: – Wie könnte denn dieser Dritte Weltkrieg beendet werden? – Er wird zu Ende sein, wenn die Staaten sich Regeln für die friedliche Korrektur von Staatsgrenzen gegeben haben. Er schwieg eine Weile, sah etwas verlegen an mir vorbei, als müsse er mir eine schmerzliche Wahrheit eröffnen. Dann sagte er: – Wird der Westen einmal die Größe haben, der arabischen Welt beim Aufbau einer anderen als der westlichen Demokratie zu helfen? In diesem Moment schien es mir, als stellte er sich diese Frage zum ersten Mal. Aber das dürfte, wie ich später herausfand, ein Irrtum gewesen sein. 64 Amerika Dass Hausers Aufzeichnungen eine Fundgrube von Übungen in Weitsicht waren, hatte ich nicht anders erwartet. Erstaunt war ich dann aber doch darüber, wie sich fast alles in einen großen Zusammenhang fügte. Auch das, was er über Amerika schrieb. Innerhalb der westlichen Welt verlief – vom aus islamischen Ländern überschwappenden Terror einmal abgesehen – das erste Jahrhundertviertel eher harmlos, fast wie eine Fortsetzung der geschichtslosen Zeit vor der Jahrtausendwende. Auch dem im letzten Quartalsjahrzehnt anschwellenden Populismus war keine Geschichtlichkeit zu eigen. So begann der Abschnitt, in dem zum ersten Mal von Amerika die Rede war. Und weiter: Man sollte Geschichtlichkeit, wie man sie aus der Vergangenheit kennt, sich und anderen nicht wünschen. Geschichte in diesem Sinne hatte fast immer mit Unterdrückung, Ungerechtigkeit, Diskriminierung und politischer Verblendung und mit dem leidvollen Kampf um deren Überwindung zu tun. So gesehen, könnte man sich doch eher Geschichtslosigkeit wünschen. Die Geschichtslosigkeit westlicher Demokratien in den letzten Jahrzehnten war aber alles andere als eine Wunscherfüllung. Sie war das Ergebnis von Phantasie- und Tatenlosigkeit und von mangelnder Voraussicht. Amerika zum Beispiel. Das Land, das sich in seiner Geschichte immer als Vorbild oder sogar als Heilsbringer verstand, als Vorreiter der Befreiung von Monarchie und Despotie, der Verbreitung von Demokratie und als moralisch überlegene Weltund Supermacht, auch wenn es in dieser Rolle so viel vermeidbares Unheil gebracht hat. Im Innern hatte Amerika sich – selbst nach dem Erscheinen Donald Trumps auf der politischen Bühne – im ersten Jahrhundertviertel kaum gewandelt, natürlich auch dadurch nicht, dass es sich permanent im Krieg befand. Dieselben zwei Parteien und ihre Präsidenten wechselten einander im Regieren ab, und dies in 65 demselben antiquierten Verfahren wie seit jeher. Schon dies ließ Fortschritte im politischen Bewusstsein kaum erwarten. Auch die Anschläge vom 11. September 2001 führten nicht zu einer Neu-, sondern eher zu einer Rückbesinnung. Sie hatten Amerika in seinem nationalen Selbstbewusstsein gekränkt und schufen ein ungekanntes Gefühl von Verletzlichkeit. Wie konnten wir, fragte man sich, wir, die einzige verbliebene Supermacht, mit so einfachen Mitteln so markerschütternd getroffen werden? Die politischen Reflexe waren: nicht in der Opferrolle verharren, die alte Unverletzlichkeitsgewissheit wiederherstellen und auch das alte Gefühl der Überlegenheit, beides möglichst entschlossen, möglichst rasch, beides mit den bekannten und vermeintlich bewährten Mitteln militärischer, technologischer und wirtschaftlicher Übermacht. Hieraus wuchs dann der Glaube, zu moralischer Prinzipientreue weniger denn je verpflichtet zu sein. Amerika sah sich moralisch legitimiert, einen Weltkrieg gegen den Terror zu führen und dabei ein improvisiertes Weltkriegsrecht anzuwenden, das u.a. eine globale Überwachung elektronischer Kommunikation und gezielte Tötungseinsätze auf fremden Staatsgebieten erlaubte. Die Frage aber, die nach der Tragödie vom 11. September am ehesten das politische Bewusstsein hätte voranbringen können, kam in Amerika nur wenigen in den Sinn: Warum ausgerechnet wir? Warum ziehen ausgerechnet wir, die wir eine so hohe politische Moral für uns beanspruchen, in Teilen der Welt solchen Hass auf uns? Und weil diese Frage ungestellt blieb, verhärtete sich nach diesen Anschlägen das politische Bewusstsein nicht nur in Amerika. Veränderungsdruck kam von woanders her. Amerika musste sich, so sehr es auch für den Weltkrieg gegen den Terror aufrüstete, der Rolle als einzige Weltmacht und einziger Weltpolizist nach und nach entwöhnen. Die Welt war zu groß und das globale Machtgefüge war zu vielfältig geworden, um mit den Mitteln der USA noch die weltpolitische Führungsrolle spielen zu können. Dieser Entzug vom Rauschmittel weltpolitischer Allmacht verstörte nicht nur Amerikas Politiker, es verstörte auch seine patriotisch gesinnten Bürger. 66 Ein paar Absätze später nahm er diesen Gedanken so wieder auf: Ich fragte einen unserer Amerikakorrespondenten, ob es der politischen Zivilisierung Amerikas guttäte, wenn ihm die Bürde der Supermachtrolle genommen würde. – Vielleicht, sagte er, aber die Welt würde davon nicht besser. – Warum?, fragte ich. – Weil es noch immer kein Land gibt, das besser auf die Welt aufpassen würde. – Braucht die Welt denn noch einen Aufpasser? – Unbedingt. Ich wusste, dass er Recht hatte, aber dieses schroffe Unbedingt überraschte mich. Ein Ja oder ein Leider hätte ich erwartet, und ich hätte dann fragen mögen, wie lange die Welt noch einen Aufpasser brauchen würde. Aber dieses Unbedingt klang wie ein „Davon habt ihr Archivare doch keine Ahnung“. Kurz danach mailte er mir: Denk auch an Russland. Ich wusste natürlich, was er meinte. Russland als die Supermacht, die erst recht keine mehr war und erst recht darunter litt. Die Weltmachtrolle ist eine Droge zuallererst für die Regierenden, aber sie wird es mit der Zeit auch für das Volk. Das geschwächte Imperium ist wie eine alternde Diva auf Entzug von Glanz und Ruhm. Es greift zu Ersatzdrogen. Wie die Diva gegen das Vergessenwerden notfalls Skandale inszeniert, so inszeniert das geschwächte Imperium Konflikte mit noch besiegbaren Feinden. Amerikas Irak-Krieg gehörte zu diesem Entzugsszenario und auch Russlands Tschetschenien-Kriege. Die beiden scheidenden Supermächte haben den Irak und Tschetschenien auf dem Gewissen, unter anderem. Sie haben den zeitigen Rückzug auf die bescheidenere weltpolitische Rolle, in der sie noch gebraucht wurden, verpasst, und viele Hunderttausende haben dies mit dem Leben bezahlt. Und schlimmer: Die beiden Supermächte haben damit die politische Zivilisierung im 67 eigenen Land, aber auch in den Opferländern weit zurückgeworfen. Dass Konflikte wie die im Irak und in Tschetschenien auch gewaltlos lösbar sein würden, erschien nun unvorstellbarer denn je. In der Rückschau überrascht das natürlich nicht mehr, aber vorher hatte ich es nirgendwo mit dieser Selbstverständlichkeit geschrieben gesehen. Hauser hatte es mir ja schon erklärt: Archivare können sich leichter eine unabhängige Meinung bilden als andere. Sie müssen in ihrer politischen Meinung keine Rücksichten nehmen, nicht auf Leser, Politiker, Informanten, Verleger oder andere. Außerdem wissen sie mehr. Über Amerika im ersten Jahrhundertviertel schreibt Hauser noch vieles, zu dem ich aus eigenem Erleben nichts hinzuzufügen habe, zum Beispiel, wie unter Obama die politische Rhetorik eine Zeitlang etwas zivilisierter wurde, aber die reale Politik sich kaum änderte. Ein Schwarzer als Präsident, das habe das Bewusstsein in der Rassenfrage etwas vorangebracht, aber in nichts anderem. Dann schreibt er, wie unter Donald Trump neue Spielarten rückwärtsgewandten Denkens in die Politik eingezogen seien. Make Amerika Great Again – vor allem mit diesem Slogan habe Trump die Mehrheit der Wähler für sich gewonnen, was natürlich erst recht Politik mit dem Blick in die Vergangenheit erwarten ließ. Die Sehnsucht nach Rückkehr zu alter Größe und Großartigkeit, das hieß auch: weiter die verkrampfte Großmachtattitüde, weiter die Interventionsbereitschaft zur Verteidigung liebgewonnener, aber veralteter Dogmen und weitere Willkür im Umgang mit dem Völkerrecht, aber weder der Wille noch die Kraft, für eine Erneuerung veralteten Völkerrechts zu streiten. Um das zu leisten, schreibt er, müsste Amerika sich neu erfinden. Dass einer wie Trump amerikanischer Präsident wurde, war für Hauser keine Überraschung. Ein Wahlergebnis, schrieb er, das einen Trump zum Präsidenten mache, sei natürlich auch ein Spiegel der Gesellschaft. Wer Trump für den Niedergang an politischer Zivilisierung verantwortlich machten wolle, der 68 verwechsele daher Ursache und Wirkung. Diesen Niedergang, wenn es ihn denn gegeben habe, hätten die in ihren Ritualen und Dogmen erstarrte Parteiendemokratie und deren Akteure der vorangegangenen Ära zu verantworten. Und dann: Mit der Wahl von Trump ist schließlich auch die amerikanische Demokratie in die Protestwähler-Falle geschnappt. Die Protestwähler haben ja im Prinzip Recht: Ihr Land könnte viel besser regiert werden, als die etablierten Parteien und Politiker es tun. Aber sie wissen nicht, wie, deswegen lassen sie sich auf Populisten vom Schlage eines Trump ein. Man beobachtet es ja immer wieder: Die Demokratie sichert zwar einen friedlichen Machtwechsel, aber nicht, dass damit die Macht in bessere Hände gelegt wird. Ganz und gar nicht. Und weiter: Aber wie wäre es einem hypothetischen Anti-Trump im Präsidentenamt ergangen? Einem Präsidenten also, der seinem Wahlvolk im politischen Bewusstsein vorübergehend enteilte? Er hätte keine Chance. Im Wahlvolk tun neben altem weltpolitischem Sendungsbewusstsein noch andere alte ideologische Rauschmittel ihre Wirkung. Und auch beim politischen Rausch gilt: Erst wenn der Leidensdruck unerträglich wird, wächst die Bereitschaft zum Entzug. Auch bei der Weltmacht Amerika. Noch leidet es zu wenig. Und dazu an anderer Stelle noch: Was passiert, wenn Amerika als Weltmacht von Staaten verdrängt wird, die wirtschaftlich, technologisch und militärisch aufschließen, nicht aber in der politischen Zivilisierung? Von China und anderen? Man mag an die Folgen noch nicht denken. Seine Supermachtrolle wird Amerika nicht halten können, aber könnte es nicht auf andere Weise dominant bleiben? Könnte Amerika in der Zeit nach Trump, nach der Entzauberung seiner populistischen Heilsversprechen, eine Weltrolle einnehmen, die mehr auf moralischer Führungskraft gegründet ist als auf militärischer, wirtschaftlicher und technologischer? Auf einem Know-how in gewaltfreier Konfliktlösung beispielsweise? Auf einem Vorsprung in politischer Vermittlungs- und Problemlösungskompetenz ? Dafür müsste es schneller an 69 moralischer Autorität gewinnen, als es an militärischer und wirtschaftlicher Dominanz verliert. Das ist natürlich nur ein Traum. Ich weiß, was viele Leser solcher Texte einwenden würden. Meinungsstark und faktenarm, würden sie sagen, wo bleibt die nüchterne Neutralität eines Archivars? Parteiische Spekulation, die zu Recht im Archiv verstaubt. Aber ich weiß eben: Mehr Faktenwissen als Hauser hatte damals kaum jemand. Fundierter hätte kaum jemand spekulieren können. Und Hauser hat ja nichts übertrieben, im Gegenteil. Ich bin natürlich kein Amerikaexperte, aber ich kann mich in das politische Bewusstsein vieler Amerikaner hineinversetzen. Ich habe als Zwanzigjähriger zwei Semester an der New York University studiert – besser gesagt, verbracht –, und bei Graf habe ich zwei Seminare über Amerika besucht, eines davon über „Amerikas politisches System und seine Nahostkriege“. Ein ziemlich trockenes Seminar, wären da nicht Grafs gelegentliche messerscharfe Kommentare gewesen. Es war Sommersemester. Am letzten Seminartermin, einem heißen Hallenser Julitag, lud Graf uns in ein nahegelegenes Gartencafé ein. Ein Kommilitone referierte kurz über die politischen Entscheidungsprozesse im Jahr 2011 vor den amerikanischen Luftangriffen auf Libyen. Dann übernahm Graf. Die offene Gartencaféatmosphäre beflügelte ihn. Sein Tonfall, seine Mimik, seine Wortwahl, alles war anders als gewohnt, schneidiger, selbstbewusster, aber auch mit einer ungewohnten Härte. Ob wir denn eine Vorstellung davon hätten, fragte er, mit welchem Bildungs- und Kenntnisstand Mitglieder des US-Kongresses Kriegsvollmachten erteilten. Natürlich hatte keiner von uns sich je solche Frage je gestellt, daran hatte auch Trumps Präsidentschaft nichts geändert. – Dann informieren Sie sich mal hier, sagte er. Er notierte auf einer Serviette eine Internetadresse und ein Passwort und ließ sie herumgehen. Es war die Webadresse einer kleinen privaten Stiftung. 70 – Keine präzise empirische Studie, aber methodisch klug aufgebaut. Das Ergebnis ist schlüssig: Der Abstand zwischen dem Bildungsstand von Kongressmitgliedern und dem von Durchschnittsbürgern hat sich in den Jahrzehnten, die die Studie abdeckte, deutlich verringert. Insofern kann der Kongress immer weniger geistige Führung leisten. Keiner von uns reagierte. – Regt Sie das nicht auf? Graf sah sich in der Runde um. Wieder keine Reaktion. Schließlich sagte ich: – Ganz wohl ist einem dabei natürlich nicht. – Na, hoffentlich, sagte er. Es bedeutet doch: Mit Katastrophen wie dem Irak-Krieg oder Unterlassungen in Sachen Klimaschutz ist weiterhin zu rechnen. Er ließ den Satz kurz auf uns einwirken. – Aber sie sollten sich die Studie ganz genau ansehen. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate, meinen Sie, müssten Parlamentarier sich auf Entscheidungen über Krieg und Frieden ober über Maßnahmen zum Klimaschutz vorbereiten? Wieder nur betretene Mienen. Für einen Moment schien Graf in Gedanken versunken. Dann fragte er: – Wie viel Zeit würden Sie denn für solche Entscheidungen brauchen? Wieder keine Antwort. – Mehr als für eine Seminararbeit oder weniger? – Mehr, sagten einige. – Mindestens einige Monate, sagte ich schließlich. – Zeit oder Arbeitszeit?, fragte Graf. – Reine Arbeitszeit natürlich. 71 – Und nun schätzen Sie mal, wie viel Vorbereitungszeit die Kongressabgeordneten sich für die Entscheidung über den Irak-Krieg genommen haben, vom Zeitunglesen und Hörensagen natürlich abgesehen. In der Runde wieder nur Schulterzucken. – Die Studie sagt: Im Durchschnitt nicht einmal sechs Stunden. Die meisten Abgeordneten haben außer Zeitungen und Vorlagen ihrer Fraktion keine weiteren Erkenntnisquellen studiert. Mehr als zwei Dritteln der Kongressmitglieder reichte das für ein Ja zum Krieg. – Und die anderen?, fragte ein Kommilitone. Die Neinsager? – Die haben sich im Durchschnitt eine knappe Stunde mehr genommen. Einen Moment lang kostete Graf unsere stumme Überraschung aus. Dann sagte er: – Wenn man die Terminpläne von Parlamentariern kennt, kann einen das kaum überraschen. Und nach einer wohlbedachten Pause: – Viel mehr Vorwissen sammelt auch der Präsident nicht für solche Entscheidungen. Viel tiefgründiger entscheidet auch der nicht. Wir fühlten uns alle ertappt. Während des ganzen Seminars war keiner von uns auch nur entfernt auf die Idee gekommen, sich solche Fragen zu stellen. – So funktioniert Demokratie, sagte Graf fast genüsslich. Und dann: – Und glauben Sie nicht, dass es in Deutschland viel besser ist. Auch unsere Demokratie ist in Wahrheit eine Dilettantendemokratie. Dann stand er auf und wünschte uns allen entspannte Semesterferien. Fast schon im Weggehen sagte er dann noch: 72 – Und glauben Sie erst recht nicht, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Ich muss gestehen, dass auch diese mahnenden Worte Grafs bei mir kaum Spuren hinterließen. Umso eindrücklicher kamen sie mir zu Beginn des zweiten Jahrhundertquartals in Erinnerung, als auch mir langsam dämmerte, dass die Wahl Trumps ins Präsidentenamt kein Betriebsunfall der Demokratie war. Hauser hatte damals gehofft, die Wahl Trumps werde die Schwäche der Demokratie einer breiteren Öffentlichkeit vor Augen führen, aber das, sagte er mir später, sei natürlich naiv gewesen. Das Niveau der politischen Auseinandersetzung verbesserte sich in der Zeit nach Trump nur wenig, politischer Streit wurde weiter verbittert und unerbittlich ausgetragen. Von Trumps Projekt „Make Amerika Great Again“ war kaum Greifbares geblieben, und mit Amerikas Weltmachtstatus schwand nun auch immer mehr vom vormals einenden patriotischen Überschwang. Der Respekt vor den etablierten Parteien blieb auf historisch niedrigem Niveau. Damit aber waren Tür und Tor offener denn je für populistische Botschaften innerhalb, aber zunehmend auch außerhalb der etablierten Parteien. Natürlich waren es vor allem Populisten, die an der Vorstellung eines wirtschaftlich, militärisch und moralisch dominierenden Amerika weiterhin trotzig festhielten, auch wenn sie die damit verbundenen finanziellen Lasten konsequenter mit verbündeten Staaten teilen wollten. Aber je weniger sie mit dieser Weltmachtattitüde noch überzeugen konnten, desto entschlossener setzten die Populisten auf das andere große Thema, das Donald Trump erfolgreich enttabuisiert hatte: die wachsende kulturelle, ethnische und wirtschaftliche Disparität ihres Landes. Die führenden Persönlichkeiten der beiden etablierten Parteien waren sich seit Trumps Aufstieg darin einig, nicht noch einmal einen wie Trump aus ihrer Mitte in höchste Staatsämter aufsteigen zu lassen. So ehrenwert aber diese Verhinderungsstrategie an sich war, so vorhersehbar ihr Ergebnis: Die Populisten 73 begnügten sich nicht mehr damit, ihren Einfluss in den etablierten Parteien auszubauen. Als Umfragen ihnen in immer mehr Wahlkreisen Chancen auf eigenständige Mehrheiten einräumten, gründeten sich zwei neue Parteien, von denen die eine Wähler vor allem von den Demokraten, die andere vor allem von den Republikanern abwerben wollte. Was blieb danach den beiden etablierten Parteien, als sich im Kampf um Wählerstimmen auf ein ähnliches Niveau einzulassen wie die Populisten? Was anderes als der Versuch, sich ihrerseits Mehrheiten auch durch offene Geringschätzung unbeliebter Minderheiten zu sichern, sich der Angst vor Überfremdung anzunehmen und so auf allen Seiten Ressentiments zu schüren? Noch verhinderte das Mehrheitswahlrecht eine Zersplitterung der Parteienlandschaft, aber ausschließen mochte sie kaum noch jemand. Es bahne sich an, warnten einige der nachdenklichsten Köpfe Amerikas, was im 20. Jahrhundert niemand mehr für möglich gehalten hätte: ein inneramerikanischer Kulturkampf. Welche Gruppen sich dabei in vorderster Front gegenüberstehen würden, ob dies Konservative und Liberale sein würden oder Arme und Reiche, christliche Fundamentalisten und islamische, Weiße, Schwarze, Hispanics und Asiaten, Protestanten, Katholiken, Juden und Muslime, Verteidiger und Gegner des Sozialstaats, der Todesstrafe, des privaten Waffenbesitzes, des Klimaschutzes und der Atomenergie oder ob sich nicht ganz neue kampfbereite Wertegemeinschaften herausbilden würden, das war nicht absehbar. Dass aber alle Amerikaner sich in allen politischen Angelegenheiten auch in Zukunft Mehrheitsentscheidungen fügen würden, wie auch immer sie ausfielen, daran keimten erste Zweifel auf. Es war, wenn ich mich richtig erinnere, Graf, der dazu einmal sinngemäß diesen Kommentar gab: Es gebe viele innerlich zerrissene Staaten auf der Welt, aber bei mindestens ebenso vielen werde sich die innere Zerrissenheit erst noch zeigen. Die Welt werde noch lernen müssen, dass es ein Glück sei, wenn die innere Zerrissenheit eines Staates nichts Schlimmeres als gewöhnlichen Separatismus zur Folge habe, der 74 ja relativ einfach, nämlich durch die Korrektur von Staatsgrenzen zu befrieden sei. In vielen Ländern seien die Probleme noch viel komplizierter. Dem folgte eine Aufzählung von Staaten, die hiervon irgendwann betroffen sein könnten. Amerika war einer von ihnen. Uns Studenten erschien das damals viel zu abstrakt und spekulativ, aber dann schilderte Graf, wie nach der Wahl Trumps kleine kalifornische Bürgerinitiativen für eine Abspaltung Kaliforniens von den Vereinigten Staaten geworben hatten. Das seien zunächst nur Gedankenspiele gewesen, räumte er ein, und ein seriöses politisches Projekt könne hieraus frühestens nach einigen Jahrzehnten wachsen, aber man müsse solche Anfänge sehr ernst nehmen. Würde die Mehrheit der Amerikaner dauerhaft eine Politik im Geiste Donald Trumps wollen, dann könnten irgendwann Teile der Vereinigten Staaten tatsächlich einen anderen, eigenständigen Weg gehen wollen. So viel vorerst zum Amerika des ersten Jahrhundertviertels. Dies hätte hier in der Tat genügen sollen, wäre nicht ein späteres Gespräch mit Hauser gewesen, in dem ich etwas mehr über die von ihm so genannten Schätze des Archivs erfahren wollte. Ich hatte ihn gefragt, ob diese Schätze wirklich verborgen oder ob sie einfach nur leicht zu übersehen seien. - Sehr oft Letzteres, antwortete er. Manche stehen sogar im SPIEGEL, aber kaum einer merkt es. Warte, sagte er dann, ich zeige dir etwas. Dann zog er mich an seinen Bildschirm heran. - Schau hier. Im SPIEGEL Nr. 46, 2016. Ein Zitat aus der chinesischen „Global Times“. Ich beugte mich vor und las: 75 Wenn jemand wie Donald Trump Präsident werden kann, dann stimmt etwas mit der politischen Ordnung nicht. Diesen Satz, sagte Hauser, habe er sich damals Dutzende Male vorgelesen. Es sei der mit Abstand klügste Kommentar zu Trumps Wahl, auf den er damals gestoßen sei. Im Westen habe das natürlich niemand ernst genommen. Aber etwas Richtiges werde ja nicht dadurch falsch, dass es in einer chinesischen Zeitung stehe. Ich war zu überrascht, um zu antworten, brachte nur ein nichtssagendes „interessant“ heraus. – Das, ergänzte Hauser, sollte immer mehr Menschen klar werden: Eine politische Ordnung wie die der Vereinigten Staaten birgt große Gefahren. Israel und das historische Unrecht Warum hatte ich Hauser oft nicht auf Anhieb verstanden, wenn er über das Staatsgrenzenproblem sprach? Vielleicht, weil ich noch nicht ahnte, dass der Umgang mit Staatsgrenzen für ihn nur ein Beispiel für ein allgemeineres Problem war. Hauser glaubte, dass fast alle politischen Prinzipien Notbehelfe sind, dass fast alle ein Verfallsdatum haben, so fundamental sie vorübergehend auch erscheinen mögen. Würden sie dennoch als fundamental anerkannt, dann seien sie schwerlich noch mit friedlichen Mitteln zu erschüttern, egal, als wie unvollkommen, unzeitgemäß und konfliktträchtig sie sich im Lauf der Zeit auch erwiesen hätten. So sei es mit dem Dogma der der territorialen Integrität, das – so Hauser damals wörtlich – sich als dunkler Schatten über unser Jahrhundert gelegt habe, und so könne es sogar mit Grundprinzipien unserer Demokratie sein. Wäre ich Hauser in all dem von Anfang an gefolgt, wäre unsere Verständigung leichter gewesen. Die Welt hat zu lange so getan, als komme der Wille, Staatsgrenzen zu korrigieren, nur von skrupellosen Staatsführungen. Er kommt natürlich auch von den Bürgern. Das Dogma der territorialen Integrität enthält Bürgern Freiheiten vor. Es ist insofern 76 ein Dogma der Unfreiheit, und es ist daher auch ein Dogma, das den Frieden gefährdet und Kriege und Bürgerkriege riskiert. Zumindest auf lange Sicht werden die Bürger über ihre Staatszugehörigkeit möglichst frei entscheiden wollen, das sah Hauser glasklar, und er glaubte, dass der Kampf um diese Freiheit zu einem politischen Leitmotiv dieses Jahrhunderts werden würde. Würde es also bei kommenden politischen Gewaltkonflikten vor allem um diese Freiheit gehen? War das Zeitalter der Eroberungs-, Bestrafungs- und Präventivkriege der vergangenen Jahrhunderte vorbei, und hatte nun eine lange Ära des Kampfes für die freie Wahl der Staatszugehörigkeit begonnen? Das schien unausweichlich, aber noch war dies nirgendwo als Reformziel formuliert worden. Es hat lange gedauert, bis mir klar wurde, dass auch das Problem Israel hiermit zu tun hatte. Ich hatte das Israel- und Palästina-Problem immer für einen Sonderfall gehalten, und das ist es sicher auch. Nie war ich auf irgendein Dokument, einen Kommentar oder ein Ereignis gestoßen, das mir das Gefühl gab: Hier ist das Problem gründlich verstanden. Alle politischen Begriffe, alle Rhetorik, alle Theorie perlten daran ab. Das Problem schien zu kompliziert zu sein, als dass politisches Denken es erfassen, und natürlich erst recht zu kompliziert, als dass gewöhnliche Politik es lösen könnte. Zugleich schien es, dass die Welt und die unmittelbaren Konfliktparteien, also Israel, seine Nachbarstaaten und die Palästinenserorganisationen, sich mit der Unlösbarkeit des Problems im Grunde abgefunden hatten. Regelmäßig aufflackernder Terror, permanente Terrorangst, sich wiederholende begrenzte Kriege, permanent scheiternde, weil als oberflächlich erkannte Vermittlungsversuche anderer Staaten und sogar die Empörung der Konfliktparteien übereinander waren fast zur Routine geworden. Vor diesem Hintergrund verfestigten sich auch die konflikttreibenden Vorurteile. Dazu gehörte, dass die israelische Seite unter Berufung auf ihr überlegenes zivilisatorisches Niveau meinte, ein Terroropfer auf der eigenen Seite sei moralisch gegen Dutzende oder Hunderte Terroropfer auf der Gegenseite aufzuwiegen. So verharrten die Parteien in gegenseitigem sprachlosem Misstrauen, und der 77 Friedenswille trat hinter die Angst zurück, in einem eventuellen Friedensprozess könnte die Gegenseite einen unverdienten Vorteil erringen. Keine der Parteien entwickelte eine realistische Vorstellung davon, wie eine einvernehmliche Dauerlösung aussehen könnte. Und auf beiden Seiten galten Menschen, die auch nur in Gedanken neuartige Friedenskompromisse erkunden wollten, als Verräter. Was diesen Konflikt so einzigartig machte, ist aber noch etwas anderes. Es ist die Rolle des historischen Unrechts. Beide Konfliktparteien, Israelis wie Palästinenser, reklamierten für sich, dass ihre Militanz der Korrektur erlittenen historischen Unrechts dient. Beide Seiten sahen sich vor der Geschichte in der Opferrolle, und beide verlangten von der jeweils anderen, diese ihre Opferrolle anzuerkennen. Die Israelis leiteten hieraus her, dass der gewaltsam erkämpfte Status quo allenfalls ein moralischer Gleichstand sei, die Palästinenser, dass der Staat Israel ewig auf moralischem Unrecht gegründet bleiben werde. Natürlich ist das von beiden Seiten erlittene historische Unrecht unbestreitbar. Welche Rolle konnten die daraus hergeleiteten Ansprüche aber in einer Friedenslösung spielen? Wie waren sie zu bemessen, zu gewichten und möglicherweise gegeneinander aufzurechnen? Auch darüber habe ich mit Hauser einige Male gesprochen. Solange die Parteien noch Sinn darin sähen, hierum zu kämpfen, sagte er, würden sie es tun. Zu einer friedlichen Aufrechnung könne es nur kommen, wenn das Kämpfen für beide Seiten offenkundig aussichtlos sei. Aber Hauser war kein Fatalist, er gab sich auch hierbei nicht ohne hoffnunggebenden Gedanken zufrieden. Ich will ihn noch einmal direkt zu Wort kommen lassen, mit dem Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs, das mir noch immer gut in Erinnerung ist: – Es gibt ein Thema, sagte Hauser, um das ich sehr lange, bis vor wenigen Jahren sogar, in meinen Gedanken einen großen Bogen gemacht habe: historisches Unrecht. Das Thema war mir zu kompliziert. – Zu kompliziert?, fragte ich. Sogar dir? 78 – Zu kompliziert oder zu brisant oder beides. Man kann darüber nicht offen reden oder schreiben, ohne sich Feinde zu machen. Man würde immer von irgendwem beschuldigt, für die falsche Seite Partei zu ergreifen. – Nicht von mir, das weißt du. – Natürlich, sonst säßen wir hier nicht zusammen. Ich fange mal so an: Die Menschheitsgeschichte ist eine Unrechtsgeschichte, also ist die Welt voll von historischem Unrecht. Je weiter ihr historisches Gedächtnis zurückreicht, desto eher fühlen Nationen, Volksgruppen, Ethnien, Glaubens-, Kultur- und Sprachgemeinschaften sich mit historischem Unrecht belastet. Desto eher sehen sie sich im Recht, von ihnen selbst oder ihren Vorfahren erlittenes Unrecht gegen selbst begangenes oder noch zu begehendes Unrecht aufzurechnen. Das hat sich in der zivilisierteren Welt etwas abgemildert, aber ganz frei davon sind auch die Zivilisiertesten noch nicht. – Deutschland hat viel historisches Unrecht begangen. – Das zu seinem Glück nicht mit gleichem Unrecht vergolten wurde. Aber der Fall Deutschland zeigt auch, wie kompliziert das Thema Wiedergutmachung ist. Die Reparationen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt wurden, haben das Land überfordert. Das hat neue Kriegsbereitschaft geweckt. – Man darf mit Wiedergutmachungsforderungen nicht zu weit gehen? – Wer den Gegner vernichtet, bekommt von ihm nichts zurück, wer ihn schwächt, bekommt wenig. Klüger ist es, wenn man es dem Gegner einigermaßen gutgehen lässt. – Der sich dann aber seiner moralischen Verantwortung entziehen könnte. – Ja, aber vollständige Wiedergutmachung kann man eben auch mit Gewalt nicht erzwingen. Die symbolische Wiedergutmachung ist ohnehin wichtiger. – Willy Brandts Kniefall in Warschau? 79 – Ein Lehrstück für die Geschichtsbücher. Es hat viel mehr bewirkt als Milliarden an Wiedergutmachung. – Ein Lehrstück auch für Israel? – Vielleicht. Israel ist aber ein viel schwierigerer Fall. Dort kann es nur Frieden geben, wenn der Staat Israel sich dazu bekennt, dass auch er auf historischem Unrecht gegründet ist. Erst wenn das einmal ausgesprochen ist, vor der Weltöffentlichkeit, glaubhaft unwiderruflich, werden Schritte zu einer Einigung überhaupt vorstellbar. Aber ebenso müsste natürlich die andere Seite das vom jüdischen Volk erlittene historische Unrecht anerkennen. – Der gemeinsame Kniefall eines Palästinenserführers und eines israelischen Präsidenten? – Etwas in der Art. – Ein Kniefall in Gaza für die Opfer israelischer Angriffe? Ein gemeinsamer Besuch in Auschwitz, Hand in Hand? Ein palästinensischer Gandhi neben einem israelischen Willi Brandt? Meinst du das? – Ich weiß, es erscheint utopisch, aber einen anderen Weg zum Frieden gibt es nicht. Wenn die Symbolik geschafft ist, dann wird der Frieden nicht an ein paar Quadratkilometern strittigen Territoriums scheitern und nicht an einigen Milliarden Dollar Wiedergutmachung. Dann wird es auch viel Hilfe Dritter geben. – Warum sollte Israel ohne Zwang Wiedergutmachung zahlen? – Selbst die großzügigste israelische Wiedergutmachung würde nur einen Bruchteil dessen ausmachen, was Israel an Ausgaben für ständige Kriegsbereitschaft auf Dauer erspart bliebe. – Aber dass Israelis und Palästinenser sich über einen Geldbetrag einigen und dann eine halbwegs stabile Freundschaft beginnt… – wie zwischen Deutschland und seinen Nachbarn zum Beispiel, 80 – …das glaubst du doch selbst nicht. – Ja, hier ist eben alles noch viel komplizierter. Wirklich zur Besinnung werden beide Seiten erst kommen, wenn beide wissen, dass sie einander vernichten könnten. – Ein Gleichgewicht des Schreckens? – Wenn du so willst. Dann erst tritt die Frage in den Hintergrund, ob die andere Seite unverdiente Vorteile erlangt. Dann geht es um Lösungen, die allen Beteiligten nützen. Und dann könnte sogar die Suche nach allgemeinen Regeln beginnen, aus denen sich solche Lösungen ergeben. – Regeln für den Umgang mit historischem Unrecht? – Ja. Eine Aufgabe für die Staatengemeinschaft. Wenn die Staatengemeinschaft irgendwann das Dogma der territorialen Integrität aufgibt, dann ist sie so weit, auch Regeln für den Umgang mit historischem Unrecht zu entwickeln. – Berechnungsformeln für Entschädigungen? – Orientierungshilfen dafür, unter anderem. Man wird z.B. feststellen, dass jüngeres historisches Unrecht schwerer wiegt als älteres, an lebenden Generationen begangenes schwerer als an früheren Generationen begangenes. – Keine leichte Aufgabe für die Staatengemeinschaft. – Natürlich nicht. Deswegen wird sie auch nicht so bald gelöst werden. Nicht in deinem Jahrhundert. Mir stockte kurz der Atem. „Nicht in deinem Jahrhundert“, das kam so beiläufig und doch so endgültig und abweisend heraus. Das 21. Jahrhundert kurz abgefertigt als hoffnungsloser Fall, und ich als Teil davon. Ich schaffte es danach nicht, das Gespräch wieder in Gang zu bringen. Wir tauschten noch ein paar holprige Sätze aus, bis er mich an der Tür verabschiedete. – Hat gutgetan, mit dir zu reden, sagte er noch, und dann zuallerletzt: Die kompliziertesten Probleme werden immer als letzte gelöst. Bevor Israelis und 81 Palästinenser sich verständigen, muss erst einmal eine neue Ordnung in die arabische Welt kommen. Womit er natürlich u.a. meinte, dass die arabische Welt vom Dogma der territorialen Integrität befreit sein müsste. Nach diesem Gespräch habe ich den Israel-Konflikt umso aufmerksamer verfolgt. Um zur Besinnung zu kommen, hatte Hauser gesagt, müssten beide Seiten überzeugt sein, dass die jeweils andere Seite sie vernichten könnte. Das hieß: Vor der Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung muss die Fähigkeit zur gegenseitigen Vernichtung kommen. Ich wusste damals nicht, ob ich darauf hoffen oder es fürchten sollte. Zumindest dies wurde mir danach über schlagartig klar: Die jüngsten Bürgerkriege in der arabischen Welt hatten ein kaum entwirrbares Knäuel neuen historischen Unrechts geschaffen und damit neuen Hass geschürt, der auch kommende Generationen prägen würde. Auch dieser Hass würde sich ohne neue Regeln für den Umgang mit historischem Unrecht in immer neuen Gewaltexzessen entladen. China und Indien Natürlich war spätestens im ausgehenden 20. Jahrhundert die kommende Dominanz Chinas in der Welt absehbar, aber vorbereitet hat sich die Welt darauf nicht. Für den Westen war China auch im ersten Viertel unseres Jahrhunderts fast noch ein Kuriosum. Ein kommunistischer Staat, beherrscht von einer kommunistischen Partei, mit einer höchst erfolgreichen kapitalistischen Wirtschaft, das erschien wie ein Widerspruch in sich. Fast alle kommunistischen Staaten dieser Welt waren vor dem Ende des 20. Jahrhunderts wirtschaftlich kollabiert, und übrig blieben ein bitter armes Nordkorea, ein verarmtes Kuba und ein boomendes China, dessen Wirtschaftsleistung schon die der USA überholt hatte. Noch in meinen ersten Jahren als Archivar verfolgte ich das Geschehen in China nur beiläufig in den Medien. Ich malte mir die weitere Entwicklung etwa so aus: Chinas 82 Wirtschaft war vom Joch der staatlichen Lenkung großenteils befreit, der Wohlstand war rasch gewachsen, aber nun leide das Volk immer mehr unter dem Joch der politischen Bevormundung. Also sei nach dem wirtschaftlichen bald auch der politische Systemwechsel fällig, der Wechsel zur Demokratie nach westlichem Muster. Je schneller die Wirtschaft wachse, desto eher. Bis ich auch darüber mit Hauser sprach. Meine Ungeduld verstehe er, erklärte Hauser, aber es sei komplizierter, als ich meinte, und auch langwieriger. Manchmal gehe es aber doch sehr schnell, erwiderte ich, so überraschend schnell wie der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Demokratisierung in Osteuropa. Aber Hauser sah es natürlich ganz anders. Ob unsere Art von Demokratie für dieses China überhaupt ein Segen wäre, sagte er – und dabei sah er mich an wie ein von seinem Schüler enttäuschter Lehrer – daran habe er seine Zweifel. Ich wisse doch, in wie vielen Ländern die Demokratisierung in einer Tragödie geendet habe, zumindest im ersten Versuch: Ägypten, der Irak, Libyen, die Ukraine und so weiter, Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nicht zu vergessen, und in Russland sei ja eine Art von Demokratie entstanden, die dem Einparteiensystem Chinas in vielem ähnlicher sei als westlichen Demokratien. Dann ließ er einen langen Monolog folgen. Auch China sei ein Staat, dessen Grenzen nicht für die Ewigkeit gemacht seien, schon weil sie im Lauf der Geschichte willkürlich und selbstherrlich gezogen wurden. Mehr als 100 Millionen Bürger des heutigen China gehörten Minderheiten an, die sich ihrem Staat nicht spontan verbunden fühlten, Uiguren, Tibeter und andere. Und auch die ethnischen Chinesen sprächen verschiedene Sprachen, auch wenn sie eine gemeinsame Schriftsprache hätten, und keiner wisse, wie loyal diese Sprachgemeinschaften einem chinesischen Zentralstaat gegenüber auf Dauer bleiben würden. Auch für China werde daher das Dogma der territorialen Integrität nicht ewig zu halten sein. Je überstürzter eine Demokratisierung komme, desto wahrscheinlicher sei es, dass das Land an seinen 83 Rändern ungeordnet zerfalle. Auch auf dem Territorium Chinas könnten also irgendwann weitere Episoden des Dritten Weltkriegs ausgetragen werden. Ob China in seinen heutigen Grenzen als demokratischer Staat westlicher Prägung auf Dauer friedlich regiert werden könne, sei mehr als ungewiss. Eine westlich geprägte Demokratie sei für dieses China womöglich eine noch schlechtere Staatsform als die kommunistische Einparteienherrschaft. Ich wandte natürlich sofort ein, dass es für Einparteiensysteme fast nur noch abschreckende Beispiele gebe. Es gebe aber auch abschreckende Beispiele für demokratische Mehrparteiensysteme, erwiderte Hauser, darüber seien wir uns ja einig. Außerdem sei der Unterschied zwischen einem Einparteiensystem und einem Mehrparteiensystem viel geringer als allgemein angenommen. In demokratischen Staaten seien die Unterschiede zwischen den halbwegs seriösen Parteien ja immer geringer geworden, diese Parteien seien daher im Grunde nur Varianten einer Einheitspartei. Ob er nicht doch etwas übertreibe, fragte ich. – Vielleicht, sagte er. Aber was etwas übertrieben ist, ist deswegen ja nicht falsch. – Ist nicht Indien ein Gegenbeispiel?, fuhr ich fort. Müsste nicht, wenn er mit China Recht habe, Indien schon längt auseinandergefallen sein? Die Geschichte Indiens, antwortete er, sei doch alles andere als eine Erfolgsgeschichte der Demokratie. Als Demokratie sei Indien im Grunde nie gut regiert worden, was einer der Gründe dafür sei, dass es wirtschaftlich so weit hinter China zurückbleibe. Außerdem habe Indien seit dem Zweiten Weltkrieg vier Kriege um den Verlauf von Staatsgrenzen geführt, drei Kriege mit Pakistan und einen Krieg mit China, und es habe mehrere separatistische Bewegungen in verschiedenen Teilen des Landes niedergeschlagen. Auch all dies seien Vorläufer des schleichenden Dritten Weltkriegs gewesen, und dieser werde sich auch in Indien noch fortsetzen, auch wenn er dort hoffentlich weniger gewalttätig ausgetragen würde als in anderen Teilen der Welt. 84 Dann gab er mir noch einen kurzen Nachhilfeunterricht zur politischen Situation Indiens. Indiens Bevölkerung sei ethnisch, sprachlich und konfessionell etwa so heterogen wie die des gesamten europäischen Kontinents. Dass dieses Indien zentralistisch regiert werde, sei nicht das Resultat eines spontanen Willens aller Inder. Die Autorität der indischen Zentralregierung werde daher auf Dauer ähnlich fragil sein, wie es bei einer vom Atlantik bis zum Ural zuständigen europäischen Zentralregierung der Fall wäre. Spätestens wenn die Bürger des heutigen Indiens die letzten Reste politischer Untertanenmentalität abgeschüttelt hätten, würden sie sich ernsthaft fragen, wer von ihnen mit wem weiterhin in einem gemeinsamen Staat leben wolle. Dann aber gehe die Geschichte Indiens in seinen heutigen Grenzen ihrem Ende entgegen. Wann das sein werde, fragte ich. In diesem Jahrhundert, im nächsten, im übernächsten? Das, erwiderte er, komme darauf an, wie lange die Bürger dieser Welt sich in ihren Freiheitsansprüchen noch von alten Dogmen einschüchtern lassen. Dazu wage er keine Prognose. Ob er denn über die Zukunft Chinas schon einmal mit Chinesen und über die Zukunft Indiens mit Indern gesprochen habe, fragte ich. – Hast du schon einmal mit Deutschen über die Zukunft Deutschlands gesprochen? Auch das typisch Hauser: Eine Frage mit einer erhellenden Gegenfrage zu beantworten. Wie weit in die politische Zukunft denn Deutsche dächten, hätte er auch fragen können, oder: Wie weit denken Deutsche über die nächste Wahlperiode hinaus? Fragen, auf die die Antwort sich erübrigt. Aber meine Frage muss ihn doch auch nachdenklich gemacht haben. Kurz danach erzählte er mir, dass sich einige Monate vorher eine Chinesin bei ihm als Praktikantin beworben hatte. Vielleicht hätte er sie einstellen sollen, sagte er, vielleicht habe er da einen Fehler gemacht. Dabei sah er weit über meinen Kopf hinweg, als sei ihm gerade eine Erkenntnis 85 gekommen, die mich nichts angehe. Aber dann, seinen Blick nun fest auf mich gerichtet: Pass auf, dass du nicht irgendwann solche Fehler machst. Vielleicht wäre ich mit Tian, meinem späteren chinesischen Kollegen und Freund, nicht zusammengekommen, wenn diese Bemerkung Hausers nicht gewesen wäre. Und Europa? Hauser lebte allein. Manchmal fragte ich mich, ob auch das ein Grund für seine abgründige politische Skepsis sein könnte. War er am Ende nur ein grantelnder politischer Kauz, der sich von der Welt alleingelassen fühlte und die Welt dafür mit Geringschätzung bestrafte? Und mit wem außer mir teilte er überhaupt seine politischen Gedanken? Und könnte es mir später womöglich ähnlich gehen? Mit wem würde ich die Gedanken teilen können, die Hauser mir nahebrachte? Mit Constanze zumindest, darauf hoffte ich schon damals. Hauser ließ die Welt des frühen 21. Jahrhunderts gern wie ein einziges Krisengebiet erschienen. Aber war nicht – neben Amerika – wenigstens Westeuropa eine Ausnahme? Ja, auch hier hatte es Krisen gegeben, zuerst eine ernste Wirtschaftskrise, die in einigen europäischen Ländern noch immer schwelte, dann den bedrohlichen Aufstieg populistischer Parteien und ihrer Anführer, dann – spätestens mit dem Austritt Großbritanniens aus der EU – den Ansehensverlust des Projekts geeintes Europa. Aber war die wirtschaftliche Entwicklung nicht inzwischen auch in Südeuropa auf einem einigermaßen stabilen Pfad eingeschwenkt? Und war die Entzauberung der Populisten mit ihren leeren Versprechungen in den meisten Ländern Europas nicht schon absehbar? Und würde nicht schon deswegen die Europäische Union wieder auf einen stabileren Entwicklungspfad einschwenken, vielleicht einen stabileren denn je? Und wird das Projekt Europa sich nicht umso besser entwickeln, als ihm die Bürde der idealistischen Überhöhung genommen ist? Waren insofern die jüngsten europäischen Krisen nicht Nebensächlichkeiten, untergeordnete Randerscheinungen des Weltgeschehens und in der Geschichtsschreibung Europas allenfalls ein Fußnote wert? Würde nicht zumindest 86 die jüngste Geschichte Westuropas davon überstrahlt bleiben, dass letztlich überall Demokratie und Frieden eingekehrt waren und ein einigermaßen stabiler Wohlstand erreicht war? Und davon, dass die Europäische Union so weit nach Osteuropa hineingewachsen war und weiter wachsen würde? Ja, meinte Hauser, mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei die Gegenwart natürlich nicht zu vergleichen, aber die Frage sei eben, ob dieser Fortschritt ausreiche. Für das Dreivierteljahrhundert nach dem Zeiten Weltkrieg reiche er wohl, auch wenn die Politik in dieser Zeit viel Unheil angerichtet oder tatenlos hingenommen habe. Noch lebten wir in einer Zeit, in der die meisten Bürger Europas sich mit dem, was Politik leiste, letztlich doch zufrieden gäben. Er hoffe aber, dass das nicht so bleiben werde. Ich fragte ihn, ob man solche Unzufriedenheit wirklich erhoffen oder nicht eher befürchten sollte. Viele an meiner Stelle hätten ihm sicher diese Frage gestellt, und von vielen hätte Hauser solche Frage sicher erwartet. Nicht von mir. Er sah mich mit einer Miene an, in der sich Enttäuschung und Streitlust mischten. Dann legte er los, in einem Tonfall, in dem ich ihn nie gehört hatte. Ob mir denn nichts wirklich nahegehe, nicht der fast globale offene und latente Terror, nicht die großen Flüchtlingsdramen dieser Welt, nicht die unzivilisierten Parallel- und die noch unzivilisierteren Gegengesellschaften in halbwegs zivilisierten Staaten, nicht die durch Massenimmigration gesteigerten wirtschaftlichen, politischen und kulturellen Spannungen, nicht der – natürlich auch damit zusammenhängende – Niedergang der politischen Kultur, wie er ihn lange Zeit kaum mehr für möglich gehalten habe. Aber dann, in Sekundenschnelle, war er wieder der souveräne, kontrollierte Hauser. Gefasst und ruhig sprach er davon, dass es ja in Europa Länder gebe, Griechenland und Italien zähle er dazu, die in den letzten hundert Jahren fast nie ordentlich regiert worden seien. Und dass die Bürger sich dies so lange hätten gefallen lassen, weil sich keine serösen Alternativen anboten. Immerhin seien ja aber in vielen europäischen 87 Staaten politische Parteiensysteme zusammengebrochen, auch in Deutschland scheine es ja so weit zu sein. In ihrer Ratlosigkeit hätten die Bürger sich zunehmend getraut, Macht auch populistischen Anlernlingen zu übertragen, die außer rhetorischem Talent kaum etwas zu bieten hätten. Berlusconi sei der erste Gipfel dieses Desasters gewesen, und dann hätten es immer mehr ahnungslose Populisten in hohe Staatsämter geschafft. Das eigentliche politische Wunder unserer Zeit sei für ihn, mit welcher die Gelassenheit auch politisch scheinbar gebildete Bürger diesen Niedergang hinnähmen. Einen Hoffnungsschimmer sehe er allein darin, dass das Nichtwählen noch weiter zunehme, auch in Deutschland, und dass es sich von dem Unterschichtenphänomen, das es lange gewesen war, zum Ausdruck seriöser politischer Geisteshaltung entwickele. Ich brachte kein Wort des Widerspruchs heraus, wie er es wohl erwartet hatte, und er legte noch einmal nach: - Die Populisten werden sich natürlich nach und nach selbst entzaubern. Dieser Spuk wird irgendwann vorbei sein. Aber glaube nicht, dass danach wieder alles werden wird, wie es war. Die Anderen, die Nichtpopulisten, waren ja schon vorher entzaubert. Und sie werden es bleiben. Dabei nickte er mit dem Kopf, als wolle er mir eine Antwort ersparen. Woher, dachte ich wieder einmal, nahm er die Gewissheit, mit der er solche Thesen vertrat? Und aus welcher politischen Grundhaltung leitete er sie her? Dieses eine und einzige Mal wagte ich ihn zu fragen, welcher politischen Richtung er denn früher einmal angehört habe. – Meinst du etwa, rechts oder links? Dabei winkte er mit einer wegwerfenden Geste ab. So etwas, sagte er dann, sei ihm zum Glück erspart geblieben. Sonst wäre er auch als Archivar am falschen Platz. Aber ganz könne man sich nie davor schützen, sagte er dann, irgendeiner politischen Richtung zugerechnet zu werden. Zum Beispiel in der Zuwanderungsfrage. Die denkbar dümmste Antwort, da sei er ganz sicher, auf das demographische Desaster 88 großer Wohlstandsnationen sei es, die Geburtenlücke hauptsächlich durch Zuwanderung schließen zu wollen. Mit dieser Meinung stehe er aber weder rechts noch links, er stehe nur für langfristiges Denken, längerfristiges zumindest, als so genannte Rechte oder Linke es zeigten. Dann erklärte mir im Kontext Europa noch einmal das Problem der Staatsgrenzen, wie er es vorher zu anderen Weltregionen erklärt hatte: dass auch die EU-Staaten sich starre Staatsgrenzen verordnet hätten und dass sogar die EU sich im Grunde als Staatswesen mit unrevidierbaren Grenzen habe verstehen wollen. Die EU habe insofern ihre eigene Entwicklung als Einbahnstraße angelegt, nicht ahnend, dass diese Einbahnstraße eine Sackgasse ist. Dies zeuge, wie schon der Austritt Großbritanniens gezeigt habe, von einem denkbar schwachen Vorstellungsvermögen für den Wandel politischer Bedürfnisse. So etwas sei noch nie und nirgendwo sehr lange gutgegangen und werde auch in Zukunft nirgendwo lange gutgehen. Aber die EU, wandte ich ein, sei doch eine Union demokratischer Staaten und damit ganz und gar auf demokratischen Prinzipien gegründet. Er meine doch sicher nicht, dass es mit der Demokratie nicht lange gutgehen werde. Das wisse er nicht, erwiderte er, aber auch das Beispiel EU zeige doch, wie wenig Orientierung das Demokratieprinzip für sich genommen biete. Die EU könne einmal das historische Projekt werden, das die Augen für die begrenzten Möglichkeiten der Demokratie öffne. Mir schwirrte der Kopf. Hauser sah, dass ich keine Antwort herausbrachte, und fuhr unbeirrt fort: – Du hast ja Recht, über solche Dinge muss sich noch kein Bürger Gedanken machen und auch kein Politiker, der in Zeiträumen von ein paar Amts- oder Mandatsperioden denkt. Übrigens auch kein Journalist, der über das schreiben will, was momentan seine Leser bewegt. Wer interessiert sich heute schon für die Probleme der zweiten Jahrhunderthälfte? Auch darauf brachte ich natürlich keine Antwort heraus. 89 – Und Schottland?, fuhr Hauser fort. Was sagst du eigentlich zu Schottland? – Ja, sagte ich, die Schotten geben keine Ruhe mit ihrer Unabhängigkeit, die Schotten sind ein Problem. Hausers Miene verzog sich. Dann, mit einer für ihn ganz ungewohnten Heftigkeit: – Das Problem sind doch nicht die Schotten. Er schloss kurz die Augen, als hielte er meine Ignoranz nicht aus, dann sah er mich an wie in Erwartung einer Entschuldigung, und dann, wieder gewohnt souverän und gelassen: – Oder meinst du, die Schotten dürften nicht unabhängig sein wollen? Dann hielt er einen kurzen Monolog über die Bedeutung des schottischen Unabhängigkeitsreferendums von 2014. Dieses Referendum sei zwar zu früh gekommen, um erfolgreich zu sein, trotzdem sei es der Beginn einer Zeitenwende gewesen. Aber wie es mit beginnenden Zeitenwenden so sei: kaum jemand bemerke sie, weil nur wenige sie bemerken wollten. Der Groschen falle dann erst Jahre, Jahrzehnte oder sogar Generationen später. Ob er sich damals denn wirklich ein unabhängiges Schottland gewünscht habe, fragte ich. Er sei kein Schotte, sagte er, ihm persönlich sei es egal, aber er habe den Schotten Umstände gewünscht, unter denen sie sich einen mehrheitlichen Wunsch nach Unabhängigkeit ganz ohne Ängste, ohne Missgunst und ohne organisierte Widerstände hätten erfüllen können. Das lag mir damals noch zu fern, um es sofort zu verstehen. Die Welt war anderswo zu sehr aus den Fugen geraten und die Angst vor fundamentalistischem, nationalistischem und separatistischem Terror in diesen Jahren zu gegenwärtig, als dass ich dem friedlichen schottischen Unabhängigkeitsstreben große politische Bedeutung hätte zuerkennen mögen. Erst als ich später Hausers Gedanken zur schottischen Unabhängigkeit noch einmal in seinen Aufzeichnungen nachlas, kam 90 mir dieses Gespräch wieder in den Sinn. Vielleicht ist es gut so. Hauser hätte mir die schottische Frage damals kaum so überzeugend erklären können wie im folgenden Abschnitt seiner Aufzeichnungen, auch wenn dieser nur aus Stichwortnotizen besteht. Wahlbeteiligung Beim Referendum weit über 80 Prozent, so hoch wie lange nicht mehr bei demokratischen Wahlen. Das zeigt: Von der Frage, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben will, fühlen die Bürger sich stärker berührt als von allen anderen Wahlentscheidungen. Ist demnach die Freiheit, in dieser Frage direkt entscheiden zu können, nicht die elementarste aller politischen Freiheiten? Worüber, wenn nicht darüber, sollen Volksentscheide abgehalten werden? Eine wirklich reife Demokratie werden wir also erst haben, wenn Referenden über die politische Unabhängigkeit eine Selbstverständlichkeit sind. Das schottische Referendum war immerhin ein kleiner Schritt dahin. Vorgeschichte Die Schotten brauchten für ihr Referendum die Zustimmung der britischen Zentralregierung. Diese gab die Zustimmung nur mit einer Hinterlist. Die Referendumsfrage durfte nur eine einfache Ja/Nein-Frage sein: Soll Schottland ein unabhängiges Land sein, ja oder nein. Eine unzumutbare Vereinfachung. Danach konnte London einigermaßen sicher sein, dass dieses Referendum scheitern würde. Wahlkampf Natürlich wurde im Wahlkampf getäuscht und getrickst, verharmlost und dramatisiert, aufgebauscht und heruntergespielt, wie man es bei Wahlen gewohnt ist. Die Unabhängigkeitsgegner waren dabei im Vorteil. Sie konnten Ängste vor vermeintlich unkalkulierbaren Risiken schüren, vor einer Aussperrung Schottlands aus der EU und aus dem Währungsgebiet des britischen Pfundes und des Euro, vor einem Exodus internationaler Großunternehmen, vor militärischer Schutzlosigkeit, vor verfallenden Rentenansprüchen an die britische Rentenversicherung und generell vor Verarmung. Solche nebulösen Ängste 91 dürften die Wahl entschieden haben. Dazu kam das Last-minute-Angebot der britischen Regierung, Schottland künftig etwas mehr politische Eigenständigkeit einzuräumen. Das andere Szenario Die Schotten haben der britischen Regierung die Zustimmung zum Referendum mühsam abgerungen. Es hätte auch anders kommen können. Eine selbstsicherere Zentralregierung hätte die Zustimmung vermutlich verweigert. Dann hätten die Schotten womöglich ein illegales Referendum abgehalten, das eine Mehrheit für die Unabhängigkeit ergeben hätte. Aber was wäre geschehen, wenn Schottland sich danach für unabhängig erklärt hätte? Wirtschaftssanktionen? Militärisches Eingreifen? Oder doch die Duldung der illegalen Abspaltung? Alles natürlich – nach herrschendem Politikverständnis – unvorstellbar. Es wäre also, so oder so, etwas zuvor Unvorstellbares passiert. Ein Gewinn für die politische Vorstellungskraft allemal. Schlussfolgerungen Die Frage der schottischen Unabhängigkeit ist natürlich nicht für immer vom Tisch. Das Referendum war insofern eine ermutigende Niederlage. Dass die britische Zentralregierung dieses Referendum zugelassen hat, könnte also weitreichende, sogar unabsehbare politische Folgen haben, nicht nur für Großbritannien. Natürlich werden Staaten und Staatenbündnisse, auch Organisationen wie die UNO und die EU, davon erst einmal nichts wissen wollen. Und natürlich wurden selbst die naheliegendsten Schlussfolgerungen unter den Teppich gekehrt. Zum Beispiel: Warum wollte die ukrainische Regierung den Bewohnern der Krim und des Donbass verweigern, was die britische Regierung den Schotten zugestanden hat? Warum also durfte es kein legales Unabhängigkeitsreferenden auf der Krim und im Donbass geben? Warum hat die ukrainische Regierung stattdessen Krieg im eigenen Land geführt? Warum haben die Staaten des Westens, warum hat auch Großbritannien sie darin noch großsprecherisch bestärkt? Warum haben sie Russland dafür bestrafen wollen, dass es solche Referenden unterstützt hat? Hoffnungslose Verstrickungen in Widersprüche. Wie geht es weiter? Das schottische Referendum war ein politischer Tabubruch. Die Katalanen wollten ihnen darin folgen, auch sie wollten ein legales Referendum über die Unabhängigkeit, aber der 92 spanische Staat hat es ihnen verwehrt. Dies aber hat das katalanische Unabhängigkeitsstreben eher gestärkt als geschwächt. Auch im Scheitern könnte das schottische Referendum also geholfen haben, das Selbstbestimmungsrecht der Bürger über ihre Staatszugehörigkeit zu stärken. Irgendwann sollte das Prinzip gelten: Grenzen sind zu verändern, wenn die Bürger es so wollen. Irgendwann muss dafür aber ein wegweisendes Beispiel gegeben werden. Wo, wenn nicht in Europa, sollte dies passieren? So weit Hausers Kommentare zum schottischen Unabhängigkeitsreferendum. In das gebundene Exemplar seiner Aufzeichnungen hatte er hierzu noch eine Ergänzung eingeheftet: Was kann alles geschehen, wenn Separatismus nicht mehr geächtet ist? Ist dieser Gedanke irgendwo zu Ende gedacht worden? Wenn die Bürger einer Minderheitsregion wie Schottland sich für unabhängig erklären dürfen, dann muss dies natürlich auch für Mehrheitsregionen gelten, beispielsweise für England. Dann könnte z.B. England seinen Austritt aus dem vereinigten Königreich erklären, was nichts anderes als der Hinauswurf von Schottland, Wales und Nordirland wäre. So etwas würde vielleicht nie geschehen, aber dürfte die Staatengemeinschaft es ausschließen? Wenn sie es mit der Freiheit und dem Selbstbestimmungsrecht ganz und gar ernst meinte, dürfte sie es nicht. Mir wurde schummrig bei dem Gedanken, was Europa und der Welt an politischer Bewusstseinsentwicklung noch bevorstand. Und das ausgerechnet in einer Zeit, in der islamistischer und sonstiger Terror das politische Denken so sehr ablenkte – und in der Europa diesen Terror noch immer nicht als Begleiterscheinung des schleichenden Dritten Weltkriegs verstehen wollte. Erstaunlich kurz war dann Hausers spätere Notiz zum britischen Referendum über den Verbleib in der EU im Jahr 2016. Nicht die knappe Mehrheit für den Austritt aus der EU sei dabei das wichtige Ereignis gewesen, sondern dass es das Referendum überhaupt gegeben habe. Auch dafür, meinte er, dürfte nicht zuletzt das schottische Unabhängigkeitsreferendum den Weg bereitet haben. Wenn man dies weiterdenke, 93 dann sehe man die Welt schon auf eine lange Epoche derartiger Referenden zusteuern. Aber hier soll natürlich nicht der Eindruck entstehen, als wäre dies im Europa des ersten Jahrhundertquartals womöglich das wichtigste politische Thema gewesen. Spätestens in der zweiten Hälfte dieses Quartals wurde erst einmal ein anderes Problem für Europa weitaus brisanter, nämlich die Migrationsströme. Auf den ersten Blick mag dies ein völlig andersartiges Problem sein als Unabhängigkeitsbestrebungen und Separatismus, aber dieser Eindruck täuscht. Auch Migrationsströme werfen, wenn sie ein kritisches Maß überschreiten, in den aufnehmenden Ländern die Frage auf, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben will. Auch diese Frage lässt sich dann am ehesten noch mit Referenden friedenswahrend lösen. Aber von solchen Überlegungen war der Umgang europäischer Staaten mit dem Migrationsproblem natürlich weit entfernt. Er war stattdessen gefangen in Dogmen, europäischen Normen, Verfassungsnormen und Moralvorstellungen aus Zeiten, in denen ein politisch so brisanter Migrationsdruck das Vorstellungsvermögen von Bürgern und Politikern noch weit überstieg. Die Migration wurde so zu einem weiteren schwelenden Jahrhundertproblem. Ich will dazu nur noch einen der damals fast beiläufig vorgetragenen Gedanken Hausers nachtragen, der sich mir dennoch sofort einprägte. Ein mögliches politisches Verdienst von Populisten, sagte Hauser, liege darin, dass sie das Eis brächen für die Abkehr von einem überholten politischen Dogma. Ein populistisches Machtintermezzo könne insofern auch positive Nebenwirkungen haben, wenn es denn früh genug beendet würde. Auch daran hätte ich Hausers tiefen Pessimismus ermessen können, was die Erneuerungsfähigkeit westlicher Demokratien angeht. 94 Noch einmal Wirtschaft Herzlich war das Verhältnis zwischen Hauser und Constanze nicht, das merkte ich sofort. Respekt hatten sie voreinander, auch das war klar, aber wenn sie einander im Archiv begegneten, tauschten sie nichtssagende Blicke aus, als hüteten beide sich, wahre Gefühle füreinander preiszugeben. Constanze, Ökonomin, junge ExUnternehmensberaterin mit dem – auch im Archiv kaum zu verbergenden – dominanten weiblichen Naturell, das war auch für einen wie Hauser nicht einfach. Auch er musste sich mühen, von ihr nicht eingeschüchtert zu sein. Hauser kam aus einer Lehrerfamilie und war gelernter Philosoph, seine späte Dissertation hatte er über „Spuren der Geschichte des utopischen Denkens im politischen Diskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ geschrieben. Constanzes Eltern betrieben eine Gaststätte, in der sie bis zum Ende Ihres Studiums immer wieder als Kellnerin gearbeitet hatte. Schon deswegen hätte man meinen können, hier würden zwei einander eher fremde Mentalitäten aufeinanderstoßen. Aber Constanze kehrte fast nie ihr Wirtschaftswissen hervor und Hauser nie seinen philosophischen Hintergrund. Er sei vielleicht der letzte Philosoph, sagte er einmal, der in einem Archiv wie unserem arbeite, und selbst er würde wohl keinen gelernten Philosophen mehr einstellen. Womit er wohl auch meinte, dass eine Ökonomin für das Archiv im Zweifel wertvoller sei. Auch das ein Grund, warum sie jahrelang doch so gut zusammengearbeitet hatten. Warum es nicht immer so blieb, weiß ich bis heute nicht genau, aber ich weiß, dass nicht alle es mit Hauser so leicht hatten wie ich. Hauser war kein Dogmatiker, aber so umgänglich er ansonsten war, so kompromisslos war er in Sachen Berufsethos. Archivare, meinte Hauser, müssten vollständig neutral sein, in der Archivarbeit dürfe man sich von keinen Neigungen und Abneigungen und keinen Schuld- und Verdienstzuschreiben auch nur im Geringsten beeinflussen lassen, sonst würde das Archiv, auch ohne dass die Beteiligten es wollten oder merkten, tendenziös, zumindest in Nuancen, und nicht einmal das sei tolerabel. Archivar sollte eigentlich 95 nur sein, wer noch in keinem Konflikt eine Partei für alleinschuldig befunden und wer noch nie eine politische Partei gewählt habe. Er wusste, wie schwer selbst ihm diese Neutralität manchmal fiel, aber umso strenger war er hierin mit sich selbst und mit anderen. Hauser hatte vielleicht erwartet, dass Constanze als Ökonomin seinem Neutralitätsideal am ehesten entsprechen würde. Constanze kam dem so nahe wie andere Archivare auch, aber nicht viel näher. Für Hauser war das eine Enttäuschung. In vielem dachten Hauser und Constanze trotzdem ähnlich, sie dachten sogar, was ich in meiner Anfangszeit im Archiv noch nicht ahnte, auf ähnlichem Niveau. Hauser glaubte nicht, dass sich in unserem Jahrhundert noch viel ereignen werde, zu dem der Schlüssel nicht in dessen erstem Quartal liege oder noch weiter in der Vergangenheit. Als Ökonomin sah Constanze es ganz ähnlich. Nach der ersten großen Weltwirtschaftskrise, erklärte sie mir, habe fast ein halbes Jahrhundert lang die Überzeugung überwogen, dass die Wirtschaftsentwicklung vom Staat gelenkt werden müsse, danach fast ein halbes Jahrhundert lang der Glaube an die Selbstregulierung der Märkte. Dieser Streit habe irgendwann einmal geklärt werden müssen, und das sei nach der kleinen Weltwirtschaftskrise zu Beginn unseres Jahrhunderts wohl endlich der Fall. Heute weiß ich, dass es ganz so einfach nicht war, aber ich weiß auch, dass Constanze damit in wenigen Worten das Wesentliche getroffen hat. Deswegen versuche ich meinem Laiengedächtnis an dieser Stelle abzuringen, was sie mir zu den Wirtschaftsproblemen des ersten Jahrhundertviertels erläutert hat: Die kleine Weltwirtschaftskrise der ersten Dekade habe als Bankenkrise begonnen, dann seien ihr in Europa Staatsverschuldungskrisen gefolgt und schließlich in großen Teilen Europas langwierige wirtschaftliche Strukturkrisen mit hoher Arbeitslosigkeit. Zehn Jahre später hätten diese Krisen im Großen und Ganzen als ausgestanden gegolten, aber das sei ein Irrtum gewesen. Das sei nur so erschienen, weil Notenbanken und Regierungen alle Register der Symptomverschleierung gezogen hätten. 96 Das Grundproblem sei eigentlich simpel. Die Vermögenden dieser Welt, Personen, Institutionen, Unternehmen und einige Staaten, hatten mehr Geldvermögen gebildet, als gewinnbringend angelegt werden konnte. Dies habe es in der Geschichte schon mehrfach gegeben, und die natürlichste Bereinigung solcher Krise sei ein Crash, in dem Geldvermögen vernichtet wird. Das sei ganz einfach zu erklären. Geldvermögen seien nichts anderes als Forderungen an Schuldner, und wenn Schuldner in einem Crash zahlungsunfähig würden, dann gehe überschüssiges Geldvermögen unter. Die Zahlungsunfähigkeit von Schuldnern sei daher nicht etwa das Problem, dass es in der Krise zu vermeiden gelte, sondern es sei die Lösung. Zumindest sei es ein wichtiger Teil der Lösung. Überschüssiges Geldvermögen könne aber nicht nur in einem Crash vernichtet, es könne auch durch Inflation entwertet werden, die Wirkung sei letztlich die gleiche. Auch Inflation sei daher nicht das, was man in einer solchen Krise fürchten müsse, auch Inflation könne ein wichtiger Teil der Lösung sein. In einer solchen Krise führe daher alles Gerede von Inflationsgefahren in die Irre. Es sollte vielmehr von Inflationshoffnungen die Rede sein. Warum war das aber nicht der Fall? Constanzes dazu: Wie man für das richtige Maß an Inflation sorge, das habe man damals nicht gewusst, was wiederum mit dem Festhalten an alten Dogmen zu erklären sei. Auch Ökonomen seien eben nicht gegen Ideologien und Vorurteile gefeit. Hier lag eine wichtige Gemeinsamkeit mit Hauser. Ähnlich wie Hauser die Politik blind an Dogmen wie der territorialen Integrität festhalten sah, sah Constanze Ökonomen, Finanzpolitiker und Zentralbanken in Dogmen der Crash– und Inflationsvermeidung verstrickt. Nach Hauser kann die Verstrickung in solche überholten Dogmen über Generationen oder Jahrhunderte andauern. Constanze war weniger pessimistisch. Ökonomen, meinte sie, seien eher pragmatisch, die Überwindung alter Dogmen schafften sie in einer Generation. Damals hielt ich das für glaubhaft. 97 Ich will mich hier nicht zu weit in die Ökonomie hineinwagen, aber das Folgende scheint mir an dieser Stelle einfach und verständlich genug zu sein. In neuerer Zeit, meinte Constanze, werde die Forderung nach Staatsentschuldung selbst in wirtschaftlichen Krisenzeiten wieder dogmatisch hochgehalten. Nach diesem Dogma sollten verschuldete Staaten auch in der Krise möglichst rasch ihre Schulden zurückzahlen, auch das sei ein notwendiger Beitrag zur Krisenbewältigung. Aber auch dies, meinte Constanze, sei falsch. Wenn Staaten Schulden zurückzahlten müssten die Empfänger das zurückerhaltene Geld anderswo anlegen, also in der Privatwirtschaft. Aber es herrsche ja gerade deswegen Krise, weil in der Privatwirtschaft nicht mehr genügend Geld rentierlich angelegt werden könne. Wenn ausgerechnet in der Krise zusätzliches Geldvermögen in die Privatwirtschaft dränge, dann werde die Krise dadurch weiter verschärft. Die Rückführung von Staatsschulden könne in solcher Krise also alles noch schlimmer machen. Solche Gedanken, sagte Constanze damals, gälten allerdings noch als Ketzerei. Sie erschienen mir aber logisch schlüssig, erwiderte ich. Das sind sie auch, sagte sie. Zwischenstand Natürlich hatte ich in dieser Zeit noch immer ein anderes Bild von Politik als Hauser und natürlich auch ein ganz anderes als heute. Hätte ich schon als Dreißigjähriger einen Rückblick auf das erste Jahrhundertviertel zu schreiben versucht, wäre wenig Überraschendes dabei herausgekommen. Es gab einfach zu wenig, von dem ich damals überrascht oder gar entgeistert gewesen wäre. Ich war eben noch sehr jung. Wie hätte ich, frage ich mich manchmal, als 18- oder 19-Jähriger auf Gedanken wie die obigen reagiert? Das Meiste wäre mir sicher so fremd erschienen wie den meisten anderen. Insofern hat es in den letzten 50 Jahren doch kleine Bewusstseinsfortschritte gegeben, nicht nur bei mir. Allein in der Entgeisterung, wie Hauser sie mir nach und nach vermittelt hat, liegt schon viel Fortschritt. 98 Auch Hausers Entgeisterung über die Politik westlicher Staaten hat sich wohl erst beim Abfassen seiner Aufzeichnungen ganz entfaltet. Je näher er dem Ende seiner beruflichen Neutralitätspflicht kam, desto freieren Lauf wird er seinen kritischen Gedanken gelassen haben. Er gehört nicht zu denen, die in vormaligen Staatsmännern wie Adenauer, de Gaulle, Kennedy, Brandt oder Schmidt seither unerreichte Vorbilder sahen, und doch verkörperten die Spitzenpolitiker seiner Zeit für ihn einen Niedergang der politischen Kultur. Mit den Bushs, Blairs, Berlusconis und Sarkozys habe es begonnen, schreibt er in seinen Aufzeichnungen, einer Ära notorisch inkompetenter Politikdarsteller, die die geistige und moralische Orientierungslosigkeit von Demokratien verkörperten, und auch wenn es einige westliche Demokratien, darunter Deutschland, mit ihrem Führungspersonal weniger schlimm getroffen habe, habe doch auch dort nur niedriges politisches Mittelmaß geherrscht. Der schillernden Generation Berlusconi & Co. seien im allerbesten Fall biedere politische Handwerker gefolgt, auch in Deutschland. An diesem schleichenden Niedergang, sagte er, werde sich auch nichts ändern, denn bei sinkendem Renommee der Politiker strebten immer weniger herausragende junge Menschen noch politische Karrieren an. Die Qualität des politischen Führungspersonals werde also immer prekärer, und das ausgerechnet in einer Zeit, in der politische Führung immer mehr Kompetenz, Mut und Phantasie erfordere. Und an anderer Stelle weiter: Die Führungsschwäche der Politik bewege immer mehr Bürger dazu, entweder den Wahlen fernzubleiben oder ihre Stimme Parteien zu geben, die statt politischer Problemlösungen nur diffuse Stimmungsmache zu bieten hätten. Weil zudem die Mittelmäßigkeit des politischen Personals den Eindruck vermittele, Politik könne eigentlich jeder, fühlten sich noch die ahnungslosesten Bürger berufen, in solchen Parteien mitzuwirken. Auch das ziehe das Niveau des politischen Denkens und Handelns weiter herunter. Führungsfiguren von historischem Rang bringe eine solche politische Kultur jedenfalls nicht hervor. Für Hauser war das ausgehende erste Jahrhundertquartal in Westeuropa eine Zeit der Stagnation von Politik und politischem Bewusstsein gleichermaßen. Ich kann mich 99 selbst davon nicht ganz ausnehmen. Wir waren umgeben von Krisenherden und einem schleichenden Dritten Weltkrieg, wirtschaftlich ging es schleppend voran, Politikmüdigkeit und Nichtwählen breiteten sich weiter aus, die etablierten Parteien verloren zunehmend Wähler an Rechtspopulisten oder wurden selbst populistischer, die EU steckte spätestens seit dem Austritt Großbritanniens in einer ausweglosen Sackgasse, und die soziale Ungleichheit nahm weiter zu. Trotzdem verharrte das politische Bewusstsein in unserem Teil der Welt in schlafwandlerischer Selbstgerechtigkeit. War das die neue und, wie Hauser sie nannte, unheimliche Normalität, auf die wir uns für lange Zeit einzustellen hatten? Nach Hauser ließe die Demokratie nichts anderes erwarten. Eine der Schwächen der Demokratie sei, dass sie sich mit der Überwindung alter Dogmen systematisch schwertue, nicht nur beim Dogma der territorialen Integrität. Aber Hauser sah auch dies mit der denkbar größten Nüchternheit. Die Schuld an der politischen Stagnation trügen nicht, wie es in politischen Debatten immer wieder suggeriert werde, einzelne Politiker. Als Diener des Systems könnten diese nur in den Mechanismen des Systems denken und handeln, und diese Mechanismen ließen ihnen wenig Spielraum. Mit persönlichem Versagen und persönlicher Schuld sei daher gerade in demokratischer Politik wenig zu erklären. Aber selbst damit hatte Hauser sich vom politischen Bewusstsein seiner Zeit ziemlich weit entfernt. Die Unheimlichkeit der politischen Normalität ging nur Wenigen unter die Haut, selbst nachdem Donald Trump Teil dieser Normalität geworden war. Es gibt einen Politikernamen, der an dieser Stelle unbedingt genannt werden muss: Karl-Theodor zu Guttenberg. Als Studenten verbanden wir mit diesem Namen kaum eigene Erinnerungen, aber in Grafs letzten Vorlesungen spielte er eine wichtige Rolle. Guttenberg, so Graf, war genau der Mann gewesen, der den Anschein hätte wahren können, mit der deutschen Demokratie könne es so weitergehen wie bisher. Der Mann also, der noch einmal die Illusion hätte nähren können, dass Politik eigentlich ganz leicht sei. Der Mann, der selbst unüberwindbar erscheinende Schwierigkeiten mit unnachahmlicher Selbstverständlichkeit weglächelte und damit 100 jeden Zweifel an der Stärke der Demokratie im Keim erstickte. In wirklich schwierigen Zeiten, so Graf, – und die sehe er schon als Folge der Massenimmigration kommen -, werde auch im demokratischen Deutschland irgendwann der Ruf nach einer starken Führungsfigur laut werden, z.B. einer deutschen Le Pen. Dann müsse Deutschland dankbar sein, wenn sich stattdessen ein Guttenberg anbiete. Als ich Hauser einmal davon erzählte, schloss er an Grafs Gedanken ganz spontan an. Im Grunde habe schon Berlusconi in diese Politikerkategorie gehört, als eine Art Guttenberg der kulturellen Unterschicht, aber auch die Renzis, Tsipras, Orbáns & Co. gehörten dazu, zu den Politikern also, die ihren Dilettantismus und ihre Überforderung mit Elan, Rhetorik und einer je eigenen Art von Charisma überspielten, und ebenso die Trumps, Erdogans und Putins dieser Welt, auch sie letzten Endes ja Gewächse der Demokratie. Gerade in schwierigen Zeiten werde die Demokratie immer wieder solche Figuren hervorbringen, und der Zufall würde darüber bestimmen, aus welchem politischen Lager sie erwüchsen. Auch Deutschland, sagte Hauser, werde irgendwann seinen neuen Guttenberg erleben, einen linken oder rechten, und vielleicht werde sich sogar der leibhaftige KarlTheodor in der Politik zurückmelden. Das sei schon deswegen nicht unwahrscheinlich, weil Berufspolitiker, die unfreiwillig oder freiwillig aus der Politik ausschieden, sehr bald merkten, dass sie außer Politik nicht viel anderes könnten und – abhängig geworden vom Gefühl der eigenen Wichtigkeit – nicht viel anderes mehr wollten. Insofern sei es, so Hauser, keineswegs ein Glück für Deutschland gewesen, dass Guttenberg seine politische Karriere wegen der Schummeleien bei seiner Doktorarbeit hatte abbrechen müssen. Das dicke Ende komme noch. Damit, erklärte Hauser später, sei auch deswegen zu rechnen, weil Guttenberg nach seinem unfreiwilligen Rückzug aus der Politik zumindest in der Immigrationsfrage politisch unbelastet geblieben sei. Gegenüber dem Imageschaden, den fast die 101 gesamte aktive politische Klasse in dieser Frage erlitten habe, sei Guttenbergs alte Plagiatsgeschichte geradezu eine Petitesse. So viel zur politischen Bewusstseinslage in Deutschland. Aber welches politische Bewusstsein herrschte anderswo in der Welt? Wie weit waren globale Gemeinsamkeiten in der politischen Zivilisierung gediehen? Natürlich hoffte man im Westen noch immer, dass der Rest der Welt zum westlichen Stand der politischen Zivilisierung weiter aufschließen werde. Selbst damit aber, so beschreibt es Hauser, wäre noch wenig gewonnen. Denn damit würde der Rest der Welt ja genau die Dogmen übernehmen, die für den schleichenden Dritten Weltkrieg und andere politische Katastrophen ursächlich seien. Aber der Stand der politischen Zivilisierung war natürlich von Land zu Land und auch innerhalb von Ländern höchst unterschiedlich. Auch innerstaatlich war das Zivilisierungsgefälle damals wie heute großenteils nach Generationen und teilweise sogar nach Jahrhunderten zu bemessen, was es fast unmöglich macht, mit rationalen Argumenten demokratische Wahlen zu gewinnen. Und wie schwer eine rationale Verständigung zwischen Staaten sehr unterschiedlicher politischer Zivilisierungsniveaus sein kann, das hat sich auch in den gewaltsamen Konflikten des frühen 21. Jahrhunderts gezeigt. Am größten war das Gefälle der politischen Zivilisierung natürlich im Verhältnis zu islamistisch geprägten Staaten. Es spielt kaum eine Rolle, ob man hierbei die politische Gewaltbereitschaft von Islamisten mit derjenigen christlicher Kreuzzügler vergleicht oder derjenigen westlicher Weltkriegstreiber, ob man also den Zivilisierungsrückstand nach Generationen oder Jahrhunderten bemisst. In jedem Fall erfordert der politische Umgang mit solchen Entwicklungsdiskrepanzen einen zeitlichen Denkhorizont, der demokratischen Politikern fremd ist. Auch in Hausers Aufzeichnungen finden sich einige Anmerkungen zum politischen Bewusstsein von Islamisten. So zitiert er z.B. einen algerischen Fußballnationalspieler, der im Sommer 2014 vor der Weltöffentlichkeit bekundete, er 102 und seine Mitspieler hätten bei einem Weltmeisterschaftsspiel „für alle Muslime der Welt“ gekämpft. Es sei natürlich besser, schreibt Hauser, Religionskämpfe würden symbolisch auf dem Fußballfeld ausgetragen als mit Waffengewalt, aber eine solche Äußerung könne doch so verstanden werden, dass sich im Sport ein globaler politischer Religionskampf fortsetze. Man dürfe sich nicht wundern, wenn die Reaktionen hierauf nicht gerade auf hohem zivilisatorischem Niveau lägen. Die Auseinandersetzung mit dem politischen Islam lasse daher auch den Westen in der politischen Zivilisierung zurückfallen. Nicht der Islam an sich, aber doch der politische Islam stehe daher der politischen Zivilisierung der Welt im Weg. Aber würde auch der politische Islam womöglich doch ein kurzlebiges Bewusstseinsphänomen sein? War das nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ausgerufene globale Ende der Geschichte vielleicht doch nur um eine oder zwei Generationen verschoben? Setzte die Welt nicht doch zum Endspurt der politischen Zivilisierung an, in den sich auch die noch rückständigen Teile der Welt bald einfinden würden? Hausers Antwort war natürlich ein klares Nein. Allein die anhaltenden Kriege und Bürgerkriege um Staatszugehörigkeiten und Staatsgrenzen, schrieb er, straften solche Erwartung Lügen. Fortschritte in der politischen Zivilisierung sehe er bestenfalls im Schneckentempo kommen. Seine einleuchtende Begründung: Die politisch leidlich zivilisierten Staaten hätten einen immer geringen Anteil an der Weltbevölkerung. Diese Staaten würden daher auch in der Weltpolitik eine immer geringere Rolle spielen, zivilisatorisch weniger entwickelte Staaten dagegen eine immer größere. Im Weltdurchschnitt gesehen werde es schon deswegen mit der politischen Zivilisierung bergab gehen. Ich fragte ihn einmal, was das für das Selbstbestimmungsrecht von Bürgern über ihre Staatszugehörigkeit und über Staatsgrenzen bedeute. Natürlich nichts Gutes, sagte er. 103 Und dann überraschte er mich mit einem Gedanken, den ich zwar nicht auf Anhieb verstand, der mir später aber als einer der wichtigsten politischen Gedanken meiner Lebenszeit erschien: Die so empfundene Kälte des globalen Kapitalismus werde bei immer mehr Menschen ein Bedürfnis nach stärkeren politischen Gemeinschaftserlebnissen entstehen lassen, wozu auch die Solidarität in erstarkten staatlichen Solidargemeinschaften gehöre. Umso wichtiger werde es dann für die Bürger aber werden, über die Zusammensetzung solcher Gemeinschaften frei entscheiden zu können. Hauser sah, wie ich mich mühte, diesem Gedanken zu folgen. Es möge altmodisch klingen, sagte er dann, für manche sogar reaktionär, aber eine passendere Formulierung falle ihm dafür nicht ein: Gerade im globalen Kapitalismus müsse der Staat den Bürgern eine fühlbare politische Heimat sein. Mit Nationalismus und Patriotismus im alten Sinne, sagte er schließlich noch, habe das aber nichts zu tun. Dazu gab Hauser mir später noch eine Erläuterung, die mich jahrzehntelang immer wieder beschäftigt hat und die mir heute, in meinem neunten Lebensjahrzehnt, aktueller erscheint denn je: In einem Staat, der nicht auch politische Heimat sei, seien die Bürger keine spontane, dauerhaft starke Solidargemeinschaft. In einem solchen Staat mangele es daher an sozialer Gerechtigkeit. Und in einem seiner späteren tief pessimistischen Momente fügte er dem noch hinzu: Diese Voraussetzungen für einen starken Sozialstaat würden im 21. Jahrhundert weiter erodieren, und er fürchte, das sei unumkehrbar. Aber was hülfe es heute, fast vierzig Jahre später, dieses Unumkehrbare noch zu beklagen? 104 2025 – 2049 Hilflose Demokratie, Neues Denken Parteienzuwachs Das Folgende lasse ich hier so stehen, wie es im Vorwort vorweggenommen ist: Der Paukenschlag zum Auftakt des ersten Jahrhundertquartals war der Anschlag auf das World Trade Center gewesen, der Auslöser des Weltkriegs gegen den Terror, der ein Teil des schleichenden Dritten Weltkriegs war. Das zweite Jahrhundertquartal begann weniger aufsehenerregend. Nach der Jahrtausendwende war die Welt aus dem schönen Traum gerissen worden, mit der Vorherrschaft von Demokratie und Marktwirtschaft sei die Zeit ewigen Friedens und Wohlstands angebrochen. Dieser Traum war ausgeträumt, und die Erwartungen waren gedrückt. Statt mit einem Paukenschlag begann das zweite Jahrhundertquartal in einem lang anhaltenden Trommelwirbel, der die Krisen der Zeit wie in einem großen politischen Welttheater aneinanderreihte. Aber man täte diesem zweiten Jahrhundertquartal Unrecht, wenn man nicht auch anerkennte, dass die Demokratie in dieser Zeit ihre beste Phase erlebte. Es gab Ausnahmen, es gab China, es gab noch Nordkorea, es gab muslimische Gottesstaaten und Emirate, es gab gescheiterte Staaten ohne etablierte Staatsordnung, es gab noch einige wenige bekennende Autokratien, aber immer weniger Staaten bekannten sich noch offen dazu, keine Demokratie im üblichen Sinne zu sein. Formal orientierten sich mehr Staaten denn je am Beispiel westlicher Demokratien. Spätere Historiker dürften den Zenit der modernen Demokratie auf das frühe zweite Quartal des 21. Jahrhunderts datieren. Keine der Krisen, die das erste Jahrhundertquartal geprägt hatte, war zu Beginn des zweiten Quartals wirklich gelöst, einige Konflikte waren mit militärischen und diplomatischen Mitteln vorerst eingefroren worden, aber fast alle schrieben sich in den Anfängen des zweiten Quartals neu in die Weltgeschichte ein. Der schleichende Dritte Weltkrieg brachte sich in vielen Krisenherden in Erinnerung. Eine neue Intifada in Palästina, opferreicher als alle bisherigen. Ein wieder aufflammender 105 Bürgerkrieg im Norden Nigerias. Gewaltsame Konflikte zwischen Religionsgruppen in Indien. Terror in Pakistan. Brutale Unterdrückung von Widerstandsbewegungen in Ägypten, Algerien, den Golfstaaten, im Iran und anderswo. Fast die gesamte arabische Welt war weiterhin ein Pulverfass, und das würde, so viel war klar, zumindest eine weitere Generation so lang bleiben. Die Staatsgrenzenfrage blieb unabsehbar weit von einer Friedenslösung entfernt, viele Millionen Vertriebene sannen weiter auf Rückkehr und Rache. Die Flucht des jordanischen Königs aus dem eigenen Land war ein neues Menetekel für die gesamte arabische Welt. Erstmals formierte sich eine staatenübergreifende gesamtkurdische Bewegung in der Türkei, im Iran und auf den früheren Staatsgebieten des Irak und Syriens. Die Türkei spielte sich mehr denn je als die neue führende Ordnungsmacht des Nahen Ostens auf, mit den gleichen zynischen Methoden wie die einstmaligen Supermächte in Zeiten des kalten Krieges, mit militärischer Unterstützung also auch für unzivilisierteste Rebellen und Autokraten. Viele westliche Demokratien, besonders natürlich in Europa, wurden von abermals anschwellenden Flüchtlingsströmen bedrängt, was immer stärkere Bürgerproteste zur Folge hatte. Gescheiterte Staaten Afrikas wie Somalia, Libyen und andere hatten ihre Lage kaum verbessert. Derweil hatte der mittlerweile jahrzehntelange Krieg westlicher Staaten gegen den Terror außer gesteigertem Hass kaum etwas bewirkt, auch in Europa. Die Schwäche vieler Demokratien ließ mafiöse Organisationen stärker werden denn je, in Russland, der Ukraine, Mexico, Italien und vielen anderen Staaten der Welt, und sie ließ weitere staats- und rechtsfreie Regionen innerhalb funktionierender Staaten entstehen. In großen Teilen der Welt waren Geldkapitalbildung und Verschuldung wieder außer Kontrolle und standen die Finanzmärkte wieder am Rand des Kollapses. Vor die Wahl gestellt zwischen Crash und Langzeitkrise, entschieden die Regierungen und großen Zentralbanken der Welt sich abermals für Letzteres. Die strukturschwachen Staaten des Euroraums schlingerten weiter in wirtschaftlicher Stagnation. Die Europäische Zentralbank kämpfte immer noch einen verzweifelten Kampf, um diesen Staaten mit lockerem Geld aus der Krise zu helfen. Die 106 Finanzmärkte wetteten wieder auf ein Auseinanderbrechen der Euro-Zone, aber die EZB setzte dem abermals mit einer bedingungslosen Garantieerklärung für die Krisenstaaten des Euroraums ein vorläufiges Ende. EZB und europäische Regierungen präsentierten der Öffentlichkeit die schwelende Finanzkrise als das immer noch kleinstmögliche Übel und damit als Erfolg. Noch wollte die Mehrheit der Bürger ihnen glauben. All dem zum Trotz stand die westliche Demokratie in ihrem Zenit. In der Demokratie gehe eben alles langsam, sollte Hauser später sagen, sehr langsam sogar, und wenn sie untergehe, werde auch das sehr langsam geschehen, so langsam, dass die Menschen es nicht einmal als Untergang wahrnehmen. Oberflächlich gesehen war in der westlichen Welt die Lage zu Beginn des zweiten Quartals tatsächlich unauffällig, auch in Europa. Sicher, es gab immer wieder Terroranschläge, es gab gewalttätige Unruhen in französischen Migrantenvorstädten, in England und anderswo in Europa, in milderer Form auch in Deutschland, aber daran hatte die Mehrheit der Bürger sich fast schon gewöhnt. Die Franzosen reagierten, wie lange befürchtet, mit der Wahl einer rechtsextremen Präsidentin, die dann gegen die Krise aber kaum mehr als unversöhnliche Rhetorik aufbot. Wenn man genau hinhörte, war aber auch im demokratischen Westeuropa ein politische Trommelwirbel zu spüren, auch wenn er sich aus großenteils leisen Einzeltönen zusammensetzte. Die Parteiensysteme in den meisten Staaten waren weiter zerbröselt, die Bildung von Regierungskoalitionen war immer unberechenbarer geworden und das Wählen für die Bürger damit mehr denn je zum Lotteriespiel. Die Wahlbeteiligung ging fast überall weiter zurück, teilweise sogar dramatisch, in immer mehr Ländern bis weit unter 50 Prozent. Fast überall gründeten rhetorisch begabte Charismatiker neue politische Parteien, darunter auch Kuriositäten wie die Parteien der Lesben und Schwulen, die für ein immer noch anerkennungsbedürftiges Lebensgefühl standen, aber umso weniger für konkrete politische Inhalte. 107 Ein wichtigeres Ereignis war die Gründung der ersten muslimischen Parteien. Muslimisch Soziale Union – MSU, diese Namensgebung der muslimischen Partei in Deutschland war ein geschickter Schachzug. In der Bundestagswahl 2029 verfehlte sie mit 3,9 Prozent noch deutlich den Einzug in den Bundestag, aber ihr langfristiges Stimmenpotential lag nach der starken Zuwanderung muslimischer Migranten in den vorangegangenen 15 Jahren schon deutlich höher. In den Altparteien begann man, die Koalitionsmöglichkeiten nach einem eventuellen Einzug der MSU in den Bundestag auszuloten. Die Schlussfolgerungen waren niederschmetternd. Dass die MSU schon damals bei renommierten Verfassungsrechtlern Gutachten bestellt hatte, die die 5-Prozent-Hürde für muslimische Parteien für verfassungswidrig erklären würden, wusste man in den Altparteien noch nicht. Die AfD, die Alternative für Deutschland, hatte das Schicksal vieler populistischer Parteien ereilt, die Selbstzerstörung durch innere Spaltung. Ihr Gründer, der politische Zauberlehrling Bernd Lucke, hatte sich mit vergleichsweise seriösen Anliegen in das Abenteuer der Parteigründung gestürzt, aber am Ende – nach langwieriger Läuterung – gestand er öffentlich ein, die Mechanismen im demokratischen Parteienwesen gründlich verkannt zu haben. Nachdem die Mehrheit ihrer Parteibasis sich Luckes früh entledigt hatte, schlachtete die AfD die gewachsene Brisanz des Zuwanderungsthemas viele Jahre lang erfolgreich für ihre Zwecke aus. Auf Dauer konnte sie aber ihre personelle und inhaltliche Substanzlosigkeit damit nicht verschleiern. Sie wurde aufgerieben von innerparteilichen Schuldzuweisungen für ausbleibende Wahlerfolge. Mit der Marginalisierung der AfD war die deutsche Parteienlandschaft natürlich keineswegs bereinigt. Als das Scheitern der AfD absehbar wurde, gründeten sich die Deutschen Demokraten. Sie machten fast alles richtig, was die Gründer der AfD falsch gemacht hatten. Sie überstürzten nichts, sie nahmen nur Mitglieder auf, die sich in ihren Zielen und Vorurteilen weitgehend einig waren und ebenso in der Unterstützung ihres Vorsitzenden: Karl-Theodor zu Guttenberg. 108 Die Deutschen Demokraten nahmen die Leitthemen der AfD sinngemäß auf, sie machten sich dabei dank Guttenberg aber weit weniger angreifbar. Schon in den ersten Umfragen nach ihrer Gründung lagen die Deutschen Demokraten bei 5 % der Wählerstimmen. Wieder loteten die Altparteien die theoretischen Koalitionsmöglichkeiten neu aus. Die Lage war verzweifelter denn je. Aber erst einmal zurück zu Hauser, ohne dessen Beistand ich bei diesen Ereignissen die politische Orientierung wohl vollends verloren hätte. Viele von Hausers Erklärungen zum politischen Geschehen waren mir allerdings noch immer nicht auf Anhieb klar, und vieles davon hätte ich nicht einmal wiedergeben können, so geduldig er es mir auch erklärt hatte. Anders wurde es erst in den späten zwanziger Jahren. Bei einem Gespräch mit einem Studienfreund merkte ich plötzlich: Jetzt redest du ja fast wie Hauser. Ich hatte dem Freund von Hausers Gedanken zum Staatsgrenzenproblem erzählt. Er meinte, das sei im Grunde rückwärtsgewandtes Denken. Es gehe doch nicht mehr darum, wie Staatsgrenzen zu korrigieren seien, das Ziel müsse doch sein, Staatsgrenzen überflüssig zu machen. Ja, sagte ich, das könne so sein, aber was tun in den tausend Jahren, bis es so weit ist? So ähnlich hätte Hauser es sagen können. Es war ein gutes Gefühl. Ich spürte: Ich kann schon argumentieren wie Hauser, ich muss mir Argumente wie die Seinigen nicht mühsam abringen. Jetzt kommen sie mir auch spontan. Hauser war immer noch ein Chef, wie man ihn sich nur wünschen kann, vor allem seinetwegen habe ich die Arbeit im Archiv fast immer gemocht. Der Gedanke, „nur“ – wie ich es zu Anfang empfunden hatte – ein Archivar zu sein, war nach zwei Jahren Archivarbeit längst verflogen. Aber soll man deswegen keine neuen Herausforderungen suchen? Will man deswegen, wie Hauser, den allergrößten Teil seines Berufslebens in ein und demselben Archiv verbringen? Das waren noch unfertige Gedanken, aber Hauser erahnte sie. Als wir einmal gemeinsam vor einem Monitor mit den Tücken der Archivsoftware kämpften, sagte er: "Man kann natürlich 109 auch mit anderer Arbeit glücklich werden." Man könne es, sagte er, aber es klang wie ein „Du könntest es“. Ein paar Monate später zeigte ein Freund mir das Stellenangebot der A-E-B-Stiftung, einer neuen parteinahen Stiftung in Berlin. Auch dabei ging es um Archivarbeit, aber nicht nur. Also, dachte ich, würde die Arbeit dort vielseitiger sein und lebensnäher. Ich schickte eine Mail, bekam rasch eine vielversprechende Antwort, kurz danach die Einladung zum Vorstellungsgespräch. Auf der Fahrt nach Berlin Aufbruchsstimmung. Dann das Gespräch, mit Leuten, dachte ich, mit denen sich gut auskommen ließe. Eine Woche später kam die Einladung zu einem zweiten Gespräch. Wir trafen uns wieder in derselben Viererrunde, wieder war die Stimmung gut, und sie machten mir ein konkretes Angebot. Darauf hätte ich natürlich vorbereitet sein sollen, aber ich war es nicht. Ich dankte nur höflich, versprach, mich am nächsten Tag zu melden. Auf der Rückfahrt tauschte ich dann Dutzende SMS mit meiner Freundin. Alle ihre Antworten ermutigten mich. Kurz vor der Ankunft in Hamburg tippte ich ein: Soll ich's so abschicken: Dank für Ihr Angebot, das ich sehr gern annehme? Ihre Antwort: Genehmigt. Am nächsten Morgen bei Hauser dann das kleinlaute Bekenntnis, dass ich gehen wolle. Aber bei Hauser keine Spur von Enttäuschung, auch kein Wort, um mich zum Bleiben zu bewegen. Hatte ich das vielleicht doch erwartet? Vielleicht darauf gehofft? Er hatte mich und meine Arbeit immer geschätzt, und nun kein einziges Wort des Bedauerns, nur dieser klare, offene, bejahende Blick. Ob er mir zu dem Wechsel wirklich rate, fragte ich ihn dann doch, und seine typische Hauser-Antwort war: Du könntest vom Regen in die Traufe kommen, aber auch das wäre eine unschätzbare Erfahrung. Wer war die A-E-B-Stiftung? Hauser, das offenbarte er mir kurz danach, wusste mehr darüber als ich. Um Mitarbeiter warb die A-E-B mit dem Slogan 110 „Überparteilich für Deutschlands Parteien“. Parteinahe Stiftungen hatte es natürlich schon sehr lange gegeben, jede der größeren Parteien hatte ihre eigene, jede von ihnen strikt im Dienst ihrer Partei, und lange war es ihnen blendend gegangen. Aber in den zwanziger Jahren war es für die Parteien und damit für deren Stiftungen finanziell immer enger geworden. Mitte der Zwanziger beauftragten schließlich die beiden größten Stiftungen fast gleichzeitig eine Unternehmensberatung mit einer Kostenanalyse. Beide Stiftungen, ohne es zu wissen, dieselbe Firma. Die Feststellung der Berater: Die parteinahen Stiftungen machten großenteils die gleiche Arbeit, auch wenn sie die Ergebnisse für verschiedenen Zielgruppen aufbereiteten. Ihr Vorschlag: Lagern Sie Archive und Recherche in eine gemeinsame Organisation aus, und beschränken Sie sich dann auf die Auswertung in Ihrem Sinne. Genau so, aus schierer Geldnot, wurde es dann von den Unionsparteien und der SPD beschlossen. Auch die Grünen wurden in das Konzept eingebunden. Hausers bissiger Kommentar dazu: – Die bestehenden Stiftungen schrumpfen zu Einrichtungen der gehobenen Propaganda. Vor zwanzig oder dreißig Jahren hätte es darüber einen Aufschrei gegeben, aber in eurer Generation nimmt man das ja gelassener. Und dann, im Ton respektvoller: – Warum sollte man sich auch über scheinbar Unabwendbares aufregen? Ob er denn wirklich meine, fragte ich dann, dass die Arbeit bei der A-E-B für mich eine unschätzbare Erfahrung sein würde. – Auf jeden Fall, sagte er. Am vorletzten Arbeitstag saß ich mittags allein in der Cafeteria. Jemand legte von hinten die Hand auf meine Schulter. Ich drehte mich um, sah das befreite Lächeln von Constanze. 111 Ob dies wirklich mein vorletzter Tag sei, fragte sie. Und ob ich wirklich zu dieser Stiftung nach Berlin ginge. – Ja, sagte ich. Nur dieses einfallslose Ja, sonst nichts. Constanze, die Cramer, hatte die Hand auf meine Schulter gelegt, mich befreit angelächelt, sich neben mich gesetzt, wollte mit mir reden, und mir fiel nichts anderes ein als ein peinliches Ja. Sie ließ mich endlose Sekunden warten, dann sagte sie; – Warst ein sehr guter Kollege. Das weißt du. Dann folgte ein langer, schnell gesprochener Monolog, als müsse sie sich beeilen, um mir, solange ich noch da bin, sagen zu können, was dringend zu sagen war. Sie habe gehofft, sagte sie, ich würde noch eine Zeit bleiben, aus demselben Grund, aus dem sie selber bisher geblieben war, wegen Hauser. Sie habe von Hauser bei Weitem nicht alles gelernt, was man von ihm lernen könne, aber sie wisse, dass er mir gegenüber offener und mitteilsamer gewesen sei, insofern sei ich ihr ein Stück voraus, vielleicht sei ich deswegen schon jetzt bereit für einen Wechsel. Und ob ich wisse, an wen Hauser sie erinnere, an Graf natürlich, und ob auch ich manchmal noch an die Sache mit der Generation Sichtflug dächte. Darüber habe sie oft nachgedacht in den letzten Jahren, und inzwischen sei sie ziemlich sicher, dass Hauser in dieser Sache ganz ähnlich denke wie Graf. Irgendwann, vielleicht schon in zehn oder zwanzig Jahren, solle über diese unsere Generation einmal ein Buch geschrieben werden, und ob ich mir so etwas zutraute. Wir, sagte sie dann, sie und ich, seien beide nicht gerade typische Exemplare dieser Generation, was wir zum Teil Graf, aber natürlich auch Hauser zu verdanken hätten, und gerade deswegen sei ich möglicherweise der Richtige, um später einmal solch ein Generationenporträt zu schreiben. Wenn ich Hilfe dabei brauchte, könne sie versuchen zu helfen. Ich war verblüfft, geschmeichelt, geängstigt, eingeschüchtert, verlegen, alles zugleich, aber Constanze sah mich nur mit geradem, unaufgeregtem Blick an. 112 Wer weiß, sagte ich nach einer Weile, aber so etwas sei in meiner Lebensplanung nicht vorgesehen. In ihrer auch nicht, sagte sie, aber Generation Sichtflug sei doch schon einmal ein schöner Buchtitel. Ich war überwältigt von diesem Monolog, der mich den immer noch leicht irritierenden Klang ihrer Stimme völlig überhören ließ. Constanze, die Cramer, der ich mich immer unterlegen gefühlt hatte, der ich nie ebenbürtig sein würde, diese Constanze und ich, wir waren jetzt Kollegen auf Augenhöhe. Sie stand auf. – Wir verlieren uns nicht aus den Augen, sagte sie dann, zu mir herabsehend, dann beugte sie sich – das Unterlegenheitsgefühl flutete zurück – zu mir herunter und umarmte mich kurz. – Wir verlieren uns nicht aus den Augen, wiederholte sie. Versprochen? – Ja, sagte ich. Von mir aus versprochen. Als ich mich von Hauser verabschieden wollte, lud er mich – es war das erste Mal – für den Abend zu sich nach Hause ein. Nur auf ein halbes Glas Bier, meine Zeit sei ja jetzt, so kurz vor dem Umzug, sicher knapp, sagte er – wie immer in seiner freundlich nüchternen Art, aber diesmal mit einem beinahe herzlichen Lächeln. Hauser lebte in einer kleinen, bis an die Decken mit Büchern vollgestopften Dachgeschosswohnung eines wuchtigen, die umliegenden Gebäude leicht überragenden Altbaus in Eppendorf. Er habe, sagte er, fast immer allein gelebt. Das Alleinleben sei beileibe nicht leicht, aber als Alleinlebender habe man mehr Zeit zum Nachdenken als andere, und das sei für ihn ein unschätzbarer Vorteil. – Und den hast du genutzt, sagte ich. 113 Ich glaube, das Kompliment tat ihm gut. Er sagte nichts, sah mich nur abwartend an, so ruhig, als habe er unbegrenzt Zeit für mich. Dann führte er mich – es war Spätsommer – auf seine Dachterrasse, von wo wir weit über die Dächer der Stadt in die tiefe Abendsonne sahen. – Der weite Blick, sagte ich. Auch hier, zu Hause. – Ja, hier übe ich ihn manchmal. – Üben musst du ihn nicht mehr. – Doch, das ist eine Lebensaufgabe. Genau das wollte ich dir noch sagen. In Berlin, bei deiner neuen Arbeit, wird es damit schwer werden. Wieder so eine Bemerkung von Hauser, die sprachlos machte, die ich danach lange vergaß, bis sie mir, fast auf den Tag genau zwei Jahre später, wieder in den Sinn kam, als wäre es gestern gewesen. In Berlin kamen unsere Zwillinge zur Welt. Danach war es mit dem weiten Blick sowieso vorbei. Kinder sind ein großes, vielleicht das allergrößte Glück, aber auch Glück, das lernte ich schnell, kann, wenn es zu groß wird, eine Last sein. Hauser ließ seine Gedanken zu Hause ins Weite schweifen, meine Gedanken steckten im Alltag fest. Wenn die Zwillinge stundenlang schrien, waren sie dann ernsthaft krank, oder bekamen sie nur neue Zähne? Würde morgen der Durchfall ausgestanden, der Schnupfen kuriert sein? Würden wir Eltern uns womöglich bei den Kindern anstecken? Würde die Vertretung der Tagesmutter sie wirklich von der Krippe abholen kommen? Würden nächste Woche die Großeltern nach Berlin kommen und für ein paar Tage einspringen? Und wie lange würden wir, würde ich solches Leben schadlos durchhalten, ein Leben ohne Zeit für Gedanken, wie Hauser sie dachte? Wenig Zeit zum Nachdenken zu haben muss aber kein Fluch, es kann auch ein Segen sein. Es kommt auf die Umstände an. In der Zeit in Berlin war es auch ein Segen. In die Arbeit bei der A-E-B-Stiftung fand ich schnell hinein. Alles war fast, wie ich es 114 erwartet hatte, kein Grund zum Grübeln also, freundliche Kollegen und eine Arbeit, deren Sinn leicht zu fassen war. Parteinahe Stiftungen dienen Parteien, also tat die A-E-B es auch, also auch deren Archiv. Ich arbeitete nun also für politische Parteien, und so steckte ich mitten im politischen Leben der Republik. Tatsächlich lebensnäher, so empfand ich es, als bei Hauser im Verlagsarchiv. Ich könnte vom Regen in die Traufe kommen, hatte Hauser gesagt, aber nichts davon spürte ich. Nicht, bevor ich Mesäcker traf. Martin Mesäcker war achtundzwanzig, seit Schülerzeiten Parteimitglied der CDU, hatte Jura studiert und Parteikarriere gemacht, und er hatte schon beste Aussichten auf ein Bundestagsmandat. Rechts-, Innen– und Außenpolitiker sei er, so stellte er sich mir vor, als er seinen kurzen Dienst im Archiv der A-E-B antrat. Es habe gerade so gepasst, sagte er, dass er sechs Wochen bei der A-E-B arbeiten könne, fast ein Muss sei das für einen Politiker, der irgendwann einmal auch in Stiftungsangelegenheiten mitentscheiden werde. Und da er nun einmal hier sei, wolle er auch kurz ins Archiv der A-E-B hineinschnuppern. Ich merkte mir: Mesäcker, der Schnupperer. Aber Mesäcker war auch ein begnadeter Rhetoriker. Einer, der zu fast allen politischen Themen eine Meinung kundtat und dabei alle in Grund und Boden reden konnte. Ein Meister der rhetorischen Improvisation. Ein Sprechblasenartist, so nannte ihn ein Kollege, einer, der gelegentlich originell formuliere, aber nie mit einem originellen Gedanken aufgefallen sei und es auch nie tun werde. In Sachen Mesäcker war dieser Kollege, ein Sympathisant der Grünen, parteiisch, aber er hatte Recht. Behalte den Mesäcker im Auge, sagte er, der wird Karriere machen. Danach war ich dankbar, Mesäcker kennengelernt zu haben. Es half mir, das Geschäft der Politik besser zu verstehen. Der Kontakt zu Hauser war schon zu Beginn meiner Berliner Zeit abgebrochen, aber darüber machte ich mir keine Gedanken. Natürlich gab es – auch in Berlin lag die Kopie seiner Aufzeichnungen zuhause immer griffbereit – kurze Momente, in denen ich an ihn dachte, aber ich vermisste ihn nicht. Ich hatte ja nicht einmal Zeit dafür. 115 Bis ich, nach fast zwei Jahren, an einem Herbstsonntag, wir waren zurück von einem Kurzurlaub an der Ostsee, die Post durchsah. Obenauf eine Ansichtskarte mit Alpenpanorama. Die Rückseite eng und schwer leserlich beschrieben. Hausers Schrift! In diesem Moment lebte alles wieder auf, waren die Gedanken wieder genau da, wo sie bei der letzten Begegnung mit Hauser gewesen waren. Hauser machte Urlaub in einer Almhütte in Tirol. Für den Urlaub, schrieb er, suche er sich Orte, an denen man einen besonders klaren Kopf bewahrt, und dieser sei so einer. Ein paar klare Gedanken seien ihm oben auf der Alm schon gekommen, und vielleicht der wichtigste von allen sei: Ich könnte einmal sein Nachfolger werden. Verlier es nicht aus den Augen, stand darunter. Ich las diese Sätze ein Dutzend Mal. Nichts hätte mich mehr überrascht, nichts mehr erschreckt, nichts hätte mich mehr berührt. Es war typisch Hauser. So kurz und knapp und klar formuliert, aber wenn ich darüber nachdachte, waberte eine Gedankenwolke durch den Kopf. War, was er mir schrieb, eine Prognose? War es eine Warnung? War es ein Auftrag? Und was meinte er eigentlich mit „Nachfolger“? Nachfolger in seiner Art zu denken? Oder womöglich Nachfolger als Archivleiter? Oder beides? Er hätte es mir sagen oder er hätte es mir mailen können, dann wäre es eine Aufforderung zum Dialog gewesen, aber nun kam es als Postkarte, und ich war damit allein. Schließlich schickte ich ihm eine kurze Mail: Habe mich sehr gefreut über deine Postkarte. Wir sollten darüber reden. Die Antwort kam – ganz untypisch für Hauser – erst acht Wochen später. – Du wirst bald eine Einladung vom Verlag bekommen. Überleg dir gut, was du tust. Es geht, wie gesagt, um meine Nachfolge. Und ein paar Stunden später noch dies: – Egal, was und worüber du mit wem sprichst, besser kein Wort über mich. 116 Am nächsten Tag ging ich zur Arbeit wie in Trance. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich fast zwei Jahre lang meinen Dienst bei der A-E-B getan hatte, war dahin. Ich sollte mich um Hausers Nachfolge bewerben? Und wenn ja, wie war es dazu gekommen? Hauser hatte doch noch ein paar Berufsjahre vor sich. War er ernsthaft krank? Hatte er Fehler gemacht? Hatte er am Ende doch echte Feinde? Nichts davon mochte ich mir vorstellen. Nach Monaten erst erfuhr ich dann von einem alten Kollegen die Vorgeschichte. Hauser habe sich Freiheiten herausgenommen, die man von einem Archivleiter nicht erwartet, auch nicht als angehendem Ruheständler. Die Verlagsleitung habe das offenbar als Chance gesehen, sie habe ihm rasches Ausscheiden mit großzügiger Abfindung angeboten. Danach hätten viele natürlich auf Constanze als Nachfolgerin gewettet. "Dass du dann ins Gespräch kamst, war eine taktische Meisterleistung von Hauser." Zwei Wochen nach Hausers letzter Mail kam die Einladung des Verlags. Auf der Fahrt nach Hamburg flimmerten die Gedanken. Warum ich? Wer sonst war im Rennen? Vielleicht doch auch Constanze? Arbeitete sie überhaupt noch im Verlag? Und wenn nicht, wäre sie, eine gute Archivarin, erfahrener als ich, mir weit voraus in IT-Kenntnissen, eine kluge Ökonomin, nicht trotzdem die Bessere? Andererseits: Hatte Hauser mir nicht immer das Gefühl gegeben, ich sei ihm mindestens so wichtig wie sie, die Cramer? Es war eine Achterbahn der Gefühle. Angst, Kleinmut, Hochmut, Nervosität, Stolz, zitternde Knie. Wollte ich die Stelle wirklich? War Hauser überhaupt damit glücklich gewesen? Du bist noch viel zu jung. Nein, du schaffst das schon. Die Chance deines Lebens. Nein, es könnten noch bessere kommen. Wollten wir überhaupt weg von Berlin? Du hast nichts zu verlieren. Sei zuversichtlich. Bleibe gelassen. Dann das Gespräch. Sie empfingen mich zu dritt, Verlagsleiter, Personalchefin, Chefredakteur, in der obersten Etage. Ich brachte nur abgebrochene Sätze heraus. Wollte es mit selbstbewusstem Lächeln gutmachen, auch das misslang. Warum 117 fragten sie so viel? Warum genügte ihnen nicht, was sie über mich, den früheren Mitarbeiter, schon wussten? Warum diese bleiernen Mienen? Warum schaute der Chefredakteur auf die Uhr? Wartete schon der nächste Bewerber? Am Ende dann, alle Zuversicht war längst dahin, die Frage: Sind Sie an der Position interessiert? Ich zuckte zusammen. Eine Routinefrage? Eine Ermutigung? Ich gab die dämlichste aller denkbaren Antworten: „Sie werden bestimmt einen Besseren finden.“ Die Drei sahen einander kurz an, nickten einander zu, Chefredakteur und Verlagsleiter schmunzelten. Dann die Personalchefin: „Das glauben wir nicht.“ Ich rang nach Luft. Dann – das sagte man mir später – sah ich mit einem ansteckend strahlenden Lächeln in die Runde. Die Personalchefin stand auf, dann die beiden anderen, dann auch ich, dann gaben wir einander die Hand. "Herr Schmidt,…", sagte die Personalchefin. "Ja?" "Nächste Woche bekommen Sie einen Vertragsentwurf." Dabei drückte sie meine Hand noch eine Spur fester. Sechs Wochen danach war ich zurück im Archiv. Ich war jetzt der neue Hauser. Was geht wie lange gut? Auf Hausers Aufzeichnungen stieß ich an meinem zweiten Arbeitstag als Archivleiter. Noch heute fühlt es sich an, als sei ich damals mit schlafwandlerischer Sicherheit auf sie zugesteuert. Aber dieses Gefühl trügt. Es war, auch wenn ich lange nicht daran glauben mochte, wirklich purer Zufall. Heute weiß ich, dass ich es Hauser gleich hätte sagen sollen. Damals habe ich lange, am Ende viel zu lange darüber nachgedacht. Hatte Hauser, fragte ich mich, die Aufzeichnungen so unauffällig im Archiv platziert, damit sie späteren Findern vorbehalten blieben? Würde er also irritiert sein, wenn ich offenbarte, wie rasch ich sie gefunden hatte? Würde es ihm womöglich peinlich sein? Oder egal? Ich fand darauf keine Antwort. Irgendwann war dann der Zeitpunkt verpasst, zu dem ich es noch ohne Peinlichkeit hätte offenbaren können. Also verschwieg ich es. Ihm und allen anderen. Vorerst. 118 "Versuch nicht, der neue Hauser zu sein." Das war einer von Hausers ersten Sätzen, als wir uns wiedersahen. Ich hatte ihm Mails geschickt, Nachrichten auf die Mailbox gesprochen, aber erst Wochen nach meiner Rückkehr ins Archiv kam eine Antwort: Gratuliere zu allem, schrieb er, und wenn du irgendwann den Kopf wieder freier hast, sollten wir uns treffen. Als ich dann vor seiner Wohnungstür stand, war mir, als wären seit dem letzten Mal nur Tage vergangen. Natürlich fragte er zuerst, wie es im Archiv gehe, und ich antwortete, ich müsse meine neue Rolle erst noch üben. Dann sagte er, ich würde vieles neu und anders machen müssen als er. Was denn das Neue sei, fragte ich, und er antwortete, das maße er sich nicht an zu wissen, wissen müsse ich es nun selbst. Ich müsse es zumindest immer besser wissen, schränkte er dann ein, und dann kam dieses: Versuch nicht, der neue Hauser zu sein. Wieder so ein Hauser-Satz zum Nachdenken. Eine Mahnung, natürlich, und vielleicht eine Warnung, dass man auch als Archivleiter scheitern könne. Aber es bedeutete auch: Von nun an sei ich nicht mehr der junge Unerfahrene, der sich auf ihn verlasse, ich, Matthias Schmidt, würde nun ebenso eigene Wege gehen wie er früher. Und dann sagte er: "Du wirst viel mehr kämpfen müssen, als ich es musste." Aber ich war noch zu naiv, um wegen solcher Äußerung besorgt zu sein. Am Ende des Gesprächs fragte ich, ob er sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Verlag nicht bedaure. "Nein" sagte er, "es war eine befreiende Niederlage." Wieder so ein Hauser-Satz. Ja, bedeutete es, sein Ausscheiden sei eine Niederlage gewesen, er habe sich tatsächlich unbeliebt gemacht, aber letztlich sei es vor allem eine Befreiung. "Ich bin ein freierer Mensch denn je", sagte er, "und ich kann freier denken denn je." Und nach einer kurzen Pause: "Und ich tue es." Er sah mich an, als erwartete er einen Kommentar, aber was hätte ich antworten sollen? – Wer, fuhr Hauser dann fort, wenn nicht Pensionäre, ist in diesen Zeiten frei im Denken? Und wer, wenn nicht Pensionäre, soll in diesen Zeiten Neues denken? 119 – Politisch, meinst du. – Ja, natürlich. Den Jüngeren ist die Zeit für freies Denken zu knapp geworden. – Also die Rentnerrevolution? Hauser lachte auf, lauter und tatsächlich befreiter, als ich es früher bei ihm erlebt hatte. – Darauf war ich noch nicht gekommen. Schöner Gedanke. Ich ging beschwingt nach Hause. Oder, kam mir unterwegs in den Sinn, zählte er auch mich zu den Jungen, die sich nicht die Zeit für unabhängiges Denken nehmen? Zählte er mich also zu der zukunftsblinden Generation Sichtflug, mit der Graf so verbittert abgerechnet hatte? Und wenn ja, war ich dann nicht wenigstens als Vater noch nicht einmal zweijähriger Zwillinge vorübergehend entschuldigt? Aber egal. Viel wichtiger war, dass Hauser nun – nicht mehr als Chef, sondern als Freund und mit altersweisem Widerspruchsgeist – wieder, das hoffte ich, eine Art Mentor für mich würde sein können Genau so ist es dann tatsächlich gekommen, und so ging es bis weit ins zweite Jahrhundertviertel hinein. Auch meine Gedanken über diese Zeit wurden von langen Gesprächen mit Hauser geprägt und von spontanen Einfällen, die er mir oft in kurzen Mails erläuterte. Ich fange hier an mit einem Gedanken, genauer: einer Frage, die Hauser in diesen Jahren besonders am Herzen lag. Was geht in der politischen Welt wie lange gut? Wie lange können welche politischen Regimes sich noch halten? Wie lange können welche Regeln der Politik noch funktionieren? Wie lange kann die politische Landkarte bleiben, wie sie ist? Wie stabil ist unser Land, wie stabil ist unser Staat? Wie stabil ist die Staatsordnung, die wir die demokratische nennen? Wie stabil sind andere Staatsordnungen? Wie stabil also ist unsere Welt, politisch gesehen? Und wann werden welche Veränderungen in welchen Teilen der Welt unabwendbar? 120 Gelegentlich fragte er mich hierzu nach meiner Meinung. Zum Beispiel: Wie lange, meinst du, kann sich das kommunistische Regime in Nordkorea noch halten, wie lange das Regime in Kuba, wie lange das in China? Natürlich hatte ich darauf keine spontanen Antworten parat, und natürlich hatte Hauser selbst in solchen Fällen zumindest plausible Vermutungen. Wer hätte vor vierzig Jahren gedacht, fragte er, dass heute immer noch kommunistischen Parteien an der Macht sein würden? Und wie viel Zeit bleibt ihnen noch? – Nicht sehr viel, sagte ich. – Noch zwanzig Jahre? Dreißig? – So viel nicht. Hauser zögerte einen Moment, dann kam eine ausgefeilte Antwort. Nordkorea könne man sich wie eine straff organisierte Sekte vorstellen, und man wisse ja, dass Sekten jahrhundertelang überleben können, wie abstrusen Überzeugungen sie auch anhingen und welche Entbehrungen sie ihren Mitgliedern auch zumuteten, und das selbst in Zeiten, in denen Sektenmitgliedern im Internet fast alle Informationen dieser Welt offen stünden. Wenn das Regime in Nordkorea sich geschickt genug anstelle, wie die Führung einer glaubensstarken Sekte eben, dann könne es sich noch jahrzehntelang halten. Vorausgesetzt, sagte er, es finde sich wieder ein charismatischer Sektenführer. Den Fall Kuba sah er anders. Die Kubaner, meinte er, seien nie eine solche politische Sekte gewesen und würden es nicht werden. Trotzdem könne sich auch in Kuba die kommunistische Staatspartei noch lange halten, wenn sie ihre politische Botschaft dem politischen Bewusstsein der Bevölkerung anpasse. Genau das habe die kommunistische Partei Chinas in den vergangenen 30 Jahren ja getan, und zwar mit Erfolg, und wenn es dort vorerst so weitergehe, müsse das für China nicht die schlechteste Lösung sein. Den Fall Kuba sehe er ähnlich. Natürlich war ich bei solchen Szenarien ungeduldiger als Hauser, aber ich war zu unsicher, um Widerspruch zu wagen. 121 Hausers breitete immer mehr solcher politischen Zukunftsszenarien aus, und kaum ein Teil der Welt blieb davon ausgenommen. Und immer wieder staunte ich, wie viel langsamer er kommende politische Entwicklungen einschätzte als ich. Im ersten Jahrhundertviertel sei doch viel geschehen, wandte ich einmal ein, warum solle es nicht so weitergehen. Darauf Hauser: Ja, es sei natürlich viel passiert, aber wenn man genauer hinschaue, dann sei es nicht viel Neues, von neuem Leid einmal abgesehen. Politik im ersten Jahrhundertviertel, gerade die Politik der etablierten demokratischen Staaten, habe fast immer versucht, Verhältnisse einzufrieren, so wie im 20. Jahrhundert beispielsweise der Zypern-Konflikt eingefroren worden sei. Das sei nicht immer, aber doch ganz überwiegend gelungen, und alles spreche dafür, dass es so weitergehen, dass die politischen Verhältnisse im kommenden Jahrhundertquartal sich ähnlich zäh entwickeln würden. Gerade ich, der ich doch in Geschichte einigermaßen bewandert sei, müsse doch wissen, dass große politische Veränderungen immer erst nach langen Phasen von Stagnation möglich würden und, wie 1989, dann meistens unerwartet kämen, es sei denn, eine totale Erschöpfung durch Krieg oder Bürgerkrieg hätte den Weg für einen wirklichen politischen Neuanfang freigemacht. Einen solchen Erschöpfungszustand, in dem es den Menschen wie Schuppen von den Augen falle, was und wie viel sich ändern müsse, sehe er noch nicht kommen. In Sachen Staatsgrenzen und Staatszugehörigkeit seien die Dinge zwar ins Wanken gekommen, aber nicht wirklich voran. Und dann: Was meinst du, wie lange es mit Europa, mit der EU, noch gutgeht? – Hoffentlich noch sehr lange, sagte ich. – Ich hoffe das nicht. Er machte eine Pause, als wolle er meine Verblüffung genießen. Nur Europa, sagte er dann, könnte der Welt ein Beispiel geben, wie gute Politik in komplizierten Verhältnissen gelingen kann. Im Nahen Osten sei alles noch viel komplizierter, aber umso wichtiger sei, dass das Beispiel Europa keine Schwächen 122 zeige. Das Europa, wie es ist, habe aber große Schwächen, auch seine einzelnen Staaten. Als Vorbild für den Nahen Osten tauge es in diesem Zustand nicht. Wo war Hauser mit seinen Gedanken gelandet? Bei einem anderen Europa, das aus anderen Staaten besteht? – Denkst du jetzt in Utopien?, fragte ich. – Kommt darauf an, was du darunter verstehst. – Utopien sind gescheiterte Denkexperimente. – Die alten Utopien waren es. Wir brauchen endlich bessere. Dauerkonflikt um Staatsgrenzen Ich war – da hatte Graf völlig Recht – in einer eher unbesorgten Generation aufgewachsen. Die meisten von uns meinten tatsächlich, dass die Menschheit politisch das Schlimmste hinter sich habe, auch ich, auch noch als Mitt- und Spätzwanziger. Dann kamen die Gespräche mit Hauser. Wenig von dem, worüber ich mit ihm diskutierte, hat mich so berührt wie seine Erklärungen zum Weltkrieg in Etappen, dem, wie er ihn manchmal auch nannte, Jahrhundertweltkrieg, den man auch deswegen einen Weltkrieg nennen muss, weil in ihn nicht nur Staaten mit umstrittenen Grenzen verwickelt sind. Verwickelt sind auch intervenierende Großmächte und all die anderen Staaten, die sich gegen oder auch für separatistische Bewegungen in anderen Ländern engagieren, darunter damals Russland, die USA, europäische NATO-Staaten, mehrere Golfstaaten, die Türkei, der Iran und viele andere, und sogar die UNO. Auch nach meiner Rückkehr aus Berlin haben Hauser und ich darüber oft diskutiert. Am bis dahin schlimmsten Schauplatz dieses Krieges, dem Nahen Osten, hatten sich die Konfliktparteien, keine von ihnen endgültig besiegt, aber alle wirtschaftlich, militärisch und mental erschöpft, in einen informellen Waffenstillstand gefügt. Hausers Prognose war, dass der Dritte Weltkrieg nun eine Pause machen werde. Der 123 Grund sei aber natürlich nicht, dass die Staatsbürger dieser Welt ihren Frieden mit ihrer Staatszugehörigkeit gemacht hätten. Der Grund sei vielmehr, dass die Staaten dieser Welt nun umso entschlossener jegliche Art von Separatismus unterdrückten. Damit würden sie aber allenfalls einen Pyrrhussieg erringen. Früher, als Archivar, erzählte Hauser mir, habe er viel Zeit damit verbracht, sich über die Konflikte um Staatszugehörigkeiten in der Welt auf dem Laufenden zu halten, über offene, schwelende und latente, nun wolle er diese Konflikte nur noch so gut wie möglich verstehen lernen. Umso dankbarerer war er, wenn ich ihm hierzu aus dem Archiv gelegentlich neue Informationen zutrug. In unseren Gesprächen streifte er dann immer wieder die Schauplätze realen und potentiellen Separatismus dieser Welt, Länder also wie China, Indien, Malaysia, Indonesien, Philippinen, Sri Lanka, Afghanistan, Russland, die Türkei, die gesamte Nahost-Region, den Südsudan, Algerien, Nigeria und andere afrikanische Länder, und natürlich auch Schottland, Katalonien, Flandern, Südtirol, Estland und auch einige Balkanstaaten. Selbst dort, so Hauser, seien die Fragen der Staatszugehörigkeit ja nicht endgültig ausgekämpft. Man könne sich doch nicht um so viele Krisenherde gleichzeitig sorgen, gab ich einmal zu bedenken, auch nicht als engagierter Ruheständler, und er gab mir Recht. Es sei ja aber das Wesen dieses Weltkriegs, dass er an immer anderen Orten ausbreche oder aufflackere, und wenn die mächtigen Staaten dieser Welt sich immer nur mit dem gerade akutesten Krisenfall befassten, dann sei ein Ende dieses Krieges umso weniger absehbar. Einem Ende könne er erst näherkommen, wenn die Staatengemeinschaft ihn als ein Ganzes verstanden habe. Wenn ihm als Ruheständler das halbwegs gelinge, dann irgendwann ja vielleicht auch anderen, auch Politikern. Am meisten besorgt blieb Hauser um die Nahostregion, aber mindestens ebenso beschäftigte ihn Indien. Dass manche tatsächlich glauben machen wollten, Indien könne einmal so etwas wie die Schweiz Asiens werden, war für Hauser nicht nur abwegig, er fand es skandalös. Wer etwas von Geschichte, Kultur und Wirtschaft verstünde, müsse doch wissen, dass die Schweiz historisch, kulturell und wirtschaftlich ein sehr besonderer Fall sei, der sich auch bei gutem politischem 124 Willen nicht auf andere Teile der Welt übertragen lasse. Wer dies ignoriere, der werde – das wisse ich doch – bei Konflikten um die Staatszugehörigkeit leicht zum politischen Brandstifter. So polemisch konnte Hauser manchmal sein, aber wenn, dann hatte er allen Grund dazu. Ich selbst hatte mich mit Indien bis dahin nur wenig befasst, ich wusste nicht einmal, dass dort etwa 100 verschieden Sprachen gesprochen werden. Nach Hauser verharrten die vielen Ethnien Indiens politisch noch immer in einer Art postkolonialer Apathie. Irgendwann aber würden einige von ihnen sich zu fragen beginnen, ob sie nicht als – ganz oder weitgehend – unabhängige Staaten besser, freier und selbstbewusster würden leben können. Erst wenn der indische Subkontinent dies durchlebt habe, könne er in seiner Entwicklung ganz allmählich zu Europa aufschließen. Ich muss zugeben, dass ich dies damals für eine ziemlich verwegene Spekulation hielt. Wo Hauser dagegen Prognosen für kürzere Zeiträume anstellte, für eine, zwei oder drei Dekaden, erschienen diese mir meistens plausibel, auch die Prognose, dass der Dritte Weltkriegs für einige Zeit eingefroren sein werde. Auf meine Frage, wie lange Konflikte um Staatsgrenzen sich einfrieren ließen, antwortete er, dass das unter anderem davon abhänge, wie unzivilisiert Staaten ihre Minderheiten zu behandeln wagten. Er sei aber ziemlich sicher, dass das Dogma der Unantastbarkeit von Staatsgrenzen noch ein paar weitere Jahrzehnte das Denken und Handeln der Staatengemeinschaft bestimmen werde. Aus dieser ideologischen Phalanx werde vorerst kein einflussreicher Staat ausscheren. Auf lange Sicht werde aber genau das immer mehr Bürger ihren Staaten und der Staatengemeinschaft entfremden, was eben auch in Gewaltbereitschaft und Terror münden könne. Die Welt werde in Sachen Separatismus daher weiter den Atem anhalten. An dieser Stelle brauchte ich eine Denkpause. Wir vertagten uns auf später. 125 Flüchtlingsströme und territoriale Integrität Die Flüchtlingsströme aus arabischen und afrikanischen Krisenländern hatten sich Anfang des zweiten Jahrhundertquartals noch einmal verstärkt. In meiner Einstellung dazu hatte ich mich nie beirren lassen: Wenn Flüchtlinge ihr Leben aufs Spiel setzten, um dem Elend ihrer Heimtatländer zu entkommen, dann dürfe Europa sie nicht abweisen. Die Länder Europas, die wohlhabendsten zuallererst, müssten großherzig in der Aufnahme von Flüchtlingen sein und ganz generell großzügige Einwanderungsländer, und zwar auf Dauer. Das Ansinnen, legale und illegale Zuwanderung mit möglichst lückenlosen Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen unterbinden zu wollen, entspringe niederen fremdenfeindlichen Instinkten. Ängste vor Überfremdung und vor dem Verlust nationaler Identität, Solidarität und Prosperität seien in diesem Zusammenhang unbegründet. Die Zuwanderer aus Krisenländern trügen, im Gegenteil, zum nationalen Wohlstand bei, und sie bereicherten die aufnehmenden Länder mit kultureller Vielfalt. Die großzügige Aufnahme von Flüchtlingsströmen sei also nicht etwa nur moralisch geboten, sie sei vielmehr in jeder Hinsicht als Chance zu sehen. So oder ähnlich sah es, wer sich nicht der Nähe zu anrüchigen rechten Populisten verdächtig machen wollte. Also auch ich. Natürlich musste, wer es so sah, sich vorhalten lassen, dass Deutschland nicht beliebig viele Flüchtlinge aufnehmen könne, so sehr Einzelschicksale auch zu Herzen gingen, dass die Politik also gar nicht anders könne, als Grenzen der Aufnahmebereitschaft zu setzen, notfalls mit staatlichem Zwang. Noch sahen wir anderen diese Grenzen aber in weiter Ferne. Es war Hauser, der mir auch in dieser Frage Neues zu bedenken gab. Vor der Not der Flüchtlinge, sagte er, dürfe man natürlich nicht die Augen verschließen, aber ebenso wenig vor der Not in den Herkunftsländern. Dort werde die Not noch größer, wenn immer mehr Flüchtlinge ihre Länder verließen. Denn die Mehrheit Flüchtlinge seien für ihre Heimatländer potenzielle Leistungsträger, die ihr Land voranbringen 126 könnten. Migration, die uns voranbringe, werfe also die Herkunftsländer der Migranten zurück. Moralisch geboten sei es daher, Flüchtlinge bzw. Migranten aus weniger entwickelten Ländern allenfalls für möglichst kurze Zeit aufzunehmen und sie in dieser Zeit bestmöglich auf eine spätere konstruktive Rolle in ihrem Herkunftsland vorzubereiten. Diesem Gebot sei die Flüchtlingspolitik bisher nicht gefolgt. Schon dieser Hinweis half mir, etwas über den Tellerrand der immer gleichen Flüchtlingsdiskussion hinauszusehen. Viel wichtiger für mich war aber, wie Hauser mir dann die Augen dafür öffnete, wie die Flüchtlingsdramen mit dem Dogma der territorialen Integrität zusammenhingen. Natürlich kamen die meisten Flüchtlinge aus Krisenländern, und natürlich waren die Krisen dort am schlimmsten, wo Krieg, Bürgerkrieg und Terror herrschte, und natürlich ging es bei Krieg, Bürgerkrieg und Terror meistens auch um Fragen der Staatszugehörigkeit und Staatsgrenzen. Es ging darum, dass Menschen sich ihrem Staat nicht zugehörig fühlten, also einem anderen Staat angehören wollten, sei es einem neuen oder einem schon bestehenden. Es ging auch immer noch um die Überwindung von Staatsgrenzen und Staaten, die vor langer Zeit von Despoten und von Kolonial- und Siegermächten willkürlich geschaffen worden waren. Und es ging darum, dass die Staatengemeinschaft, angeführt von den Staaten des Westens, sich solchen Ansinnen widersetzte, auch mit militärischer Gewalt, und dass sie sich dabei auch auf das Dogma der territorialen Integrität berief. So war es auch in den Herkunftsländern der meisten Flüchtlinge, die in dieser Zeit nach Europa strebten, von den gescheiterten Staaten Nordafrikas bis Afghanistan. Hauser formulierte es so: – Die meisten Flüchtlinge, die nach Europa drängen, fliehen vor Problemen, an denen europäische Staaten Mitschuld tragen. Historische und aktuelle Mitschuld. – Dann, sagte ich, muss Europa diese Schuld auch abtragen. – Ja, sagte er, europäische Staaten und mitschuldige. 127 – Aber wie?, fragte ich. Muss Europa dann nicht noch viel mehr Flüchtlinge aufnehmen? Hauser schüttelte den Kopf. Das, sagte er, sei eben zu kurz gedacht, auch moralisch. Vorrangig sei etwas ganz anderes. Die Staaten des Westens müssten auf die Herkunftsstaaten der Flüchtlinge mit einer neuen Botschaft zugehen. Mit der Botschaft: Wir helfen euch, eure Landkarte nach euren Bedürfnissen neu zu ordnen. Wir helfen euch, in neuen Grenzen funktionsfähige Staaten aufzubauen. Auf der Grundlage eurer eigenen Kultur. Nur so, meinte er, ließen sich die Flüchtlingsströme auf Dauer eindämmen. – Aber wann, fragte ich, werden die Staaten des Westens solche Angebote machen? – Noch lange nicht, sagte Hauser. Sie wollen es nicht, und noch könnten sie es auch nicht. Bis dahin hatte ich Debatten über Flüchtlingsströme aus Krisenstaaten immer aufmerksam verfolgt, aber danach nicht mehr. Ich ertrug sie nicht mehr. Westliche Demokratien wehrten Flüchtlingsströme ab, für die sie selbst Verantwortung trugen, und niemand bekannte sich dazu. Die Debatten hierüber drehten sich im immer gleichen Kreis. Man versäumte nichts, wenn man sie mied. Kurze Begegnung An Constanze dachte ich oft, wenn ich im Archiv an ihrem früheren Arbeitsplatz vorbeiging, und manchmal kamen mir dabei Gedanken, von denen ich meinte, dass Constanze sie besser hätte denken können als ich. Vielleicht hätte ich mich nie dazu aufgerafft, ihr ein neues Lebenszeichen zu senden, aber dann kam eines Tages diese schlichte Mail von ihr. Wir hätten uns ja lange nicht gesehen, schrieb sie, nächste Woche habe sie einen Termin ganz in der Nähe des SPIEGEL-Hauses, ob ich sie auf einen Tee treffen wolle, in ihrem früheren Lieblingsrestaurant am Kaiserkai. Natürlich wollte ich. Vier Jahre war es her, seit wir uns zuletzt gesehen hatten, und 128 sie würde sich verändert haben. Wenn es bei irgendjemanden ganz sicher keinen Stillstand gab, dann bei Constanze. Wir beide waren neugierig aufeinander, und wir beide – auch sie, das tat mir gut – ließen es einander sofort spüren. Als Erstes hätte ich sie fragen mögen, wie es ihr in meiner Berliner Zeit beim SPIEGEL ergangen war, aber bevor ich mich das zu fragen traute, lenkte sie das Gespräch ganz von selbst darauf. Sie erzählte, wie Hauser sich in dieser Zeit immer weniger noch als der nüchterne, neutrale Archivar gegeben habe, fast so, als habe er unter dieser Rolle lange gelitten. – Nein, das hat er nicht, sagte ich. Er habe es aber sichtlich genossen, sagte sie, diese Rolle in absehbarer Zeit nicht mehr spielen zu müssen, und vielleicht habe er sich das irgendwann zu sehr anmerken lassen. Und dann: – Kann es sein, dass du hast ihm gefehlt hast in dieser Zeit? – Nein, sagte ich. Aber er hat mir gefehlt. Jedenfalls sei Hauser ihr gegenüber immer offener geworden, fuhr sie fort, wie er es vorher wohl mir gegenüber gewesen sei, und als sich sein vorzeitiger Abgang abzeichnete, habe er mit ihr sogar offen darüber gesprochen, wie es mit dem Archiv weiterginge. – Über seine Nachfolge? – Ja, auch darüber. – Wolltest du nicht seine Nachfolgerin werden? Das hatten doch viele erwartet. – Hauser fragte mich einmal, ob ich mir das würde zumuten wollen. Ja, zumuten. So hat er es gesagt. Das Archiv werde nicht bleiben, was es ist, sagte er. Ein künftiger Archivleiter werde starke Nerven brauchen, die ich zwar sicherlich hätte, aber ich müsse sie ja nicht unbedingt im Verlagsarchiv verschleißen. – Und dann hat er mich als Nachfolger ins Spiel gebracht? 129 – Weil er dich für den besten hielt. – Den besten, um in einem Archiv mit ungewisser Zukunft verschlissen zu werden? – Über die Zukunft des Archivs wusste auch er nichts Genaues. Vielleicht ahnte er nicht einmal, wie die finanzielle Lage des Verlags sich verschlechtert hatte. Dabei wandte sie den Blick ab, als wolle sie davon ablenken, dass ich von Unternehmensfinanzen keine Ahnung hatte. Sie winkte eine Kellnerin heran und bestellte noch einen Tee. – Reden wir von etwas anderem, sagte sie. Dann erzählte sie hastig, wie sie vor Jahren mit ihrem Freund eine kleine Unternehmensberatung für Datensicherheit gegründet habe, eine Arbeit, die ihr nach den Jahren im Archiv nicht leicht gefallen sei, und dass sie nun in ihrer Firma fast nur noch Organisation und Werbung mache, was ja auch leichter sei wegen der Familie. – Familie?, fragte ich. Kinder? – Zwillinge. – Zwillinge? Mir stockte der Atem. Du auch? Ich.., wir…, stotterte ich, meine Frau und ich... – Ihr auch? – Ja, wir haben auch Zwillinge. – Unsere sind gerade zwei geworden. – Unsere sind schon drei. – Schon drei?, sagte sie. Ja, wir waren etwas spät dran mit Kindern, mein Freund und ich. Dann lehnte sie sich weit zurück, als wolle sie etwas sagen, das keine Nähe verträgt, aber es kam nur ein warmherziges Lächeln. 130 Zwillinge sind zu selten, als dass viele Zwillingseltern andere Zwillingseltern als Freunde haben könnten, mit denen sie über ihr Leben als Zwillingseltern reden können. Nun saßen wir, Constanze und ich, Beinahefreunde von früher, hier als befreundete Zwillingseltern beisammen. Die nächsten Stunden sprachen wir über nichts anderes, und wir genossen es. Eltern kleiner Zwillinge haben nicht sehr viele freie Abende, und dass wir diesen Abend gemeinsam für uns hatten, nahmen wir als großes Glück. Ich hatte mir natürlich vorgenommen, mit Constanze auch über Hausers Aufzeichnungen zu sprechen, aber dafür blieb wenig Zeit. Erst kurz bevor wir auseinandergingen, begann ich davon zu erzählen. Ich wünschte mir natürlich, sagte ich, dass auch sie diese Aufzeichnungen bald lesen werde, und dann fragte ich sie noch, ob sie es für einen Vertrauensbruch hielte, wenn ich ihr ohne Hausers Wissen eine Kopie schickte. – Was immer du tust, sagte sie, du kannst dich auf mich verlassen. Am nächsten Tag schnürte ich das Paket mit den Aufzeichnungen zusammen, und im letzten Moment legte ich noch diese kurze Notiz dazu: Letztes Gespräch mit Hauser: Die Welt wird wegen des Separatismusproblems noch den Atem anhalten. Es bleibt spannend. Dann brachte ich das Paket zur Post. Scheidungsrecht für Staaten Ich hatte Hauser gedrängt, unser Gespräch über das Staatsgrenzenproblem fortzusetzen. Als wir uns wieder in seiner Wohnung trafen, meldete ich Widerspruch an. Die separatistische Gewalt werde weitergehen, habe er gesagt, aber das, sagte ich, gelte doch nicht für Europa. Hier seien die Zeiten separatistischen Terrors doch hoffentlich vorbei. Nordirland, das Baskenland und Südtirol seien längst keine Regionen des Terrors mehr, das Unabhängigkeitsstreben von Schotten und Katalanen sei von Anfang an gewaltfrei gewesen, und der Konflikt um die Ostukraine sei 131 mittlerweile eingefroren. Zumindest in Westeuropa deute nichts auf einen Rückfall in separatistische Gewalt hin. Ja, bestätigte Hauser, wenigstens Westeuropa könnte vom Dritten Weltkrieg verschont bleiben. Aber dann, erwiderte ich selbstbewusst, könne man doch darauf hoffen, dass auch der Rest der Welt bald so weit sein werde. Dann tue die Politik doch genau das Richtige, wenn sie versuche, die Konflikte um die Staatszugehörigkeit erst einmal einzufrieren. Dann brauche man nur abzuwarten, bis sie ihre kriegerische Brisanz von allein verlören. – Aber wie lange wird das dauern?, fragte Hauser. Für wie lange müssten solche Konflikte eingefroren werden? Hundert Jahre, zweihundert, fünfhundert, tausend? Nein, der Weg des Friedens könne nur der offene Umgang mit solchen Konflikten sein, das volle Selbstbestimmungsrecht also über die Staatszugehörigkeit. Beinahe ebenso, erinnerte ich mich jetzt, hatte ich vor ein paar Jahren selbst schon einmal argumentiert, und nun brachte Hauser mich wieder auf diese Gedankenspur. Ein bisschen hätte ich sogar Recht, sagte er dann, solange die bessere Lösung noch nicht auf dem Tisch liege, bleibe der Politik nicht viel anderes, als Zeit zu gewinnen. Aber von allein würden diese Konflikte ihre Brisanz nicht verlieren, auch nicht in Europa. Sie würden, im Gegenteil, immer brisanter werden, wenn das Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit weiter so überheblich verwehrt werde. Den Katalanen zum Beispiel werde noch immer vorgehalten, sie seien noch nie unabhängig gewesen, sie hätten schon deswegen keinen Grund, es je zu werden, und sie könnten es ja ohnehin nicht, weil es gegen die spanische Verfassung verstieße. Mit so dürftigen Argumenten lasse der Freiheitswille von Bürgern sich auf Dauer nicht unterdrücken. – Also könnte es irgendwann doch auch in Europa wieder Unabhängigkeitskriege geben?, fragte ich. 132 Vielleicht keine Kriege, antwortete Hauser, aber ganz sicher heftige Konflikte. Wer sich Freiheitsrechte erkämpfen wolle, der finde dafür letztlich die zu seiner Zeit und in seinem Land passenden Mittel. Das würden in Europa andere Mittel sein als z.B. in der arabischen Welt. – Unabhängigkeitskriege ohne Waffengewalt? – Vielleicht ohne Waffengewalt im herkömmlichen Sinn, sagte er. Europa könnte der Welt zeigen, wie man einigermaßen zivilisiert und doch erfolgreich für die Unabhängigkeit kämpft. Das aber würde solche Kämpfe nicht eindämmen, sondern im Gegenteil dazu ermuntern. Es würde den Dritten Weltkrieg entschärfen, aber zugleich ausweiten. Nur wenig anderes scheint Hauser in seinen späten Jahren so sehr beschäftigt zu haben. In seinem Alter müsse er sich allmählich auf das Wesentliche konzentrieren, sagte er am Ende unseres Gesprächs, und dabei zeigte er auf seine Bücherregale. Bei meinem ersten Besuch hatten die Bücher sich noch vor den Wänden scheinbar ungeordnet bis zur Decke gestapelt, nun war Ordnung eingekehrt. Manche Regale waren halb leer. Eine private Bibliothek sei ja wie ein Archiv, war Hausers Kommentar dazu, fast alles darin sei auf lange Sicht Ballast. Er könne den Ballast aber immer besser vom wirklich Wichtigen unterscheiden, also könne er auch immer mehr Ballast abwerfen. Seine Bücherregale würden sich nach und nach bis auf einen kleinen Restbestand leeren. Bis zu meinem nächsten Besuch bei Hauser verging fast ein ganzes Jahr. Auch dieses Mal war es dann aber wieder fast, als führten wir ein Gespräch von gestern fort. Hauser bat mich herein, und dann zeigte er mir mit stolzer Miene ein halb leeres Bücherregal, das als einziges noch in der Wohnung stand. – Meine Wissensschätze, sagte er mit einem hoch zufriedenen, befreiten Lächeln. Dann bückte er sich zum untersten Regalboden hinunter. 133 – Und ich habe hier auch ein paar selbstgeschriebene Sachen… Ich stand wie vom Donner gerührt, wurde stocksteif, dann spürte ich, wie mein Gesicht rot anlief. Hoffentlich dreht er sich jetzt nicht um, dachte ich, hoffentlich schaut er dich jetzt nicht an. Griff er gerade nach eben jenen Aufzeichnungen, deren Kopie ich ohne sein Wissen schon gelesen hatte? Würde er gleich anfangen wollen, darüber zu erzählen? Ja, schoss es mir durch den Kopf, jetzt passiert es, gleich musst du ihm offenbaren, dass du seine Aufzeichnungen längst kennst, gleich musst du erklären, warum du es ihm bisher verschwiegen hast, gleich musst du beichten, dass du Constanze eine Kopie geschickt hast. Gleich wirst du dich elend fühlen. Aber, dachte ich nach einer Sekunde der Besinnung, könnte es nicht doch glimpflich ausgehen? Könnte ich ihm nicht einfach sagen, wie viel seine Aufzeichnungen mir bedeuteten und dass es gut sei, mit ihm über manches, was ich darin gelesen hätte, inzwischen auch geredet zu haben? Und wenn das gesagt sei, könnte alles Weitere dann nicht doch ganz leicht sein? Hauser griff sich vom untersten Regalboden einen kleinen Karton, öffnete ihn, holte zwei zusammengeheftete Textseiten heraus und überflog sie kurz. Ich warf einen kurzen unauffälligen Blick über seine Schulter. Nein, es waren nicht die Aufzeichnungen, nicht die aus dem Archiv. Die Röte wich aus meinem Gesicht. – Hier, sagte Hauser, und streckte mir die beiden Textseiten entgegen. Das ist mir vor Jahren in Sachen Unabhängigkeitsreferendum eingefallen. Kannst es ja zu Hause mal lesen. Zu Hause angekommen, nahm ich mir die Seiten sofort vor. Leichte Lektüre war es nicht. Hauser knüpfte darin an das schottische Unabhängigkeitsreferendum an, das nun schon fast zwanzig Jahre zurücklag. Ich gestehe, dass ich den Text mehrere Male lesen musste, um ihn halbwegs zu verstehen. Ich gebe ihn hier trotzdem unverändert wieder: Warum scheitern Unabhängigkeitsreferenden wie das in Schottland? Warum stecken andere Unabhängigkeitsbewegungen fest, auch in Europa? Der wichtigste Grund scheint mir dieser 134 zu sein: Die Unabhängigkeitsfrage lässt sich in einem entwickelten Land nicht mehr sinnvoll in einer einzigen Ja/Nein-Frage zusammenfassen. Es geht ja darum, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben will. Dies ist aber eigentlich ein Bündel von Fragen, die den Bürgern eigentlich einzeln gestellt werden müssten. Zum Beispiel so: Mit wem wollt ihr einen gemeinsamen Sozialstaat unterhalten? Mit wem gemeinsame Streitkräfte? Mit wem eine gemeinsame Währung? Mit wem ein gemeinsames Bildungssystem? Mit wem ein gemeinsames Rechtssystem? Mit wem einen gemeinsamen staatlichen Kulturbetrieb? Mit wem gemeinsame Nationalmannschaften? Mit wem ggf. eine gemeinsame repräsentative Monarchie? Mit wem ggf. eine gemeinsame Staatskirche? Mit wem wollt ihr gemeinsam welchen suprastaatlichen Organisationen angehören? Nur selten würde eine Mehrheit der Bürger auf alle diese Einzelfragen die gleiche Antwort geben. Welche dieser Fragen ließen sich dann aber in einem Unabhängigkeitsreferendum sinnvoll zusammenfassen? In den seltensten Fällen alle. Je höher der politische Entwicklungsstand, desto weniger. Wenn aber mehrere dieser Fragen getrennt gestellt werden müssen, sollte man diese dann zur gleichen Zeit stellen oder besser in größeren zeitlichen Abständen? Auch das ist eine wichtige Frage, und auch darauf hängt die Antwort von den Umständen ab. Klar ist nur: In Sachen Staatszugehörigkeit geht es nicht nur um das Wer will mit wem. Es geht auch um das Wer will was mit wem. Die Bürger können sich zum Beispiel in Sachen Währung, Verteidigung und Sozialstaat verschiedene Staatsgrenzen wünschen. Wenn sie sich irgendwann die Freiheit nehmen, hierüber selbst zu entscheiden, wird das die Welt grundlegend verändern. Die Frage der Unabhängigkeit als eine einzige Ja/Nein-Frage zu stellen wie damals in Schottland ist jedenfalls in einer hoch entwickelten politischen Kultur nicht mehr zeitgemäß. Der Separatismus der Zukunft wird daher mit dem des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr viel gemein haben, zumindest in Europa. Er wird übrigens auch geduldiger sein müssen. 135 Staatsgrenzen verschiebt man nicht für eine Legislaturperiode, solche Entscheidungen haben einen viel weiteren Zeithorizont. Umso besser müssen sie vorbereitet sein. Trotzdem müssen die Bürger sich natürlich auch bei solchen Entscheidungen irren dürfen. Solche Entscheidungen müssen daher friedlich und möglichst einvernehmlich korrigierbar sein. Auch hierfür müssen plausible Regeln entwickelt werden. Das wird eine politische Daueraufgabe der Staatengemeinschaft werden. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: In einer immer komplizierteren Welt muss auch Separatismus, muss auch die Teilung und Neuzusammensetzung von Staaten immer professioneller werden. Es müsste hierfür auch spezialisierte Politikberater geben, die bei der Trennung und Neuzusammensetzung von Staaten professionelle Hilfe leisten. Irgendwann wird es hierfür sogar ein eigenständiges Forschungs- und Lehrgebiet geben müssen. Natürlich wird auch eine hierauf spezialisierte Wissenschaft nicht unfehlbar sein und natürlich auch deren Anwendung nicht. Bei der Trennung, Neuabgrenzung und Neuzusammensetzung von Staaten werden Fehler passieren, und daher wird eine solche Wissenschaft auch eine Wissenschaft von der Wiederzusammenführung von Staaten sein müssen. Hauser war sich offenbar völlig darüber im Klaren, auf wie wenig Verständnis solche Prognose zu seiner Zeit stoßen würde. Deswegen hat er noch diese kleine Verständnishilfe hinzugefügt: Dass die Teilung eines Staates nichts Verwerfliches ist, sondern etwas ganz Normales, daran werden viele sich nur langsam gewöhnen. Dies ist nicht nur ein Einschnitt in der politischen Kulturgeschichte, es wird auch ein Umbruch in der Geschichte des Völkerrechts sein. Hier könnte vielleicht ein Vergleich mit der Geschichte des Ehescheidungsrechts helfen. Auch die Teilung eines Staates ist ja eine Scheidung, die Scheidung eines Staatsvolkes. Es ist nicht lange her, dass Ehescheidungen noch nach Gesetz und Moral als verwerflich galten. Einer Scheidung sollte immer auch Schuld vorangegangen sein, und Schuld verdiente Strafe. Bei der Scheidung von Staatsvölkern herrscht noch immer ähnliches Denken. 136 In großen Teilen der Welt hat sich das Bewusstsein in Sachen Ehescheidungen zum Glück gründlich gewandelt. Ehen zwischen unvollkommenen Partnern – also alle Ehen – können zerrüttet sein, ohne dass eine Schuld feststellbar wäre. Also werden Ehen aufgelöst, ohne dass nach Schuld gesucht würde. Sollte für Gemeinschaften von Staatsbürgern nicht das Gleiche gelten? Sollte nicht ein halbes Jahrhundert nach der Modernisierung des Ehescheidungsrechts endlich ein modernes Scheidungsrecht für Staatsvölker auf den Weg gebracht werden? Nichts anderes kann doch richtig sein Aber auch einem zeitgemäßen Scheidungsrecht für Staatsvölker müsste die Scheidungskultur zu einem gewissen Grad vorangehen. Nicht nur aus der Rechts-, sondern auch aus der Kulturgeschichte der Ehescheidung könnte daher die Staatswissenschaft etwas lernen. Auch wenn mir diese Notizen Hausers letztlich plausibel erschienen, habe ich mich damals wenig damit befasst, vielleicht auch deswegen, weil die Konsequenzen erst spätere Generationen betreffen würden. Vielleicht hätte ich mich hartnäckiger darin vertieft, wenn ich schon damals von Hausers späteren noch kühneren Gedanken zu diesem Thema gewusst hätte. Trotzdem habe ich mir in den Jahren danach oft diese hypothetische Frage gestellt: Wie viel Dritter Weltkrieg hätte durch ein solches Scheidungsrecht für Staatsvölker bisher vermieden werden können? Und wie gründlich müsste die Demokratie reformiert werden, damit ein solches Recht überhaupt eine Chance bekommt? Auch das waren damals natürlich unzeitgemäße Fragen. Neues Denken in China Im ersten Jahrhundertquartal hatte es in Deutschland zwei Reformen gegeben, die aus dem Politikalltag herausragten. Zu beiden fiel die politische Entscheidung im Jahr 2011. Die eine dieser Reformen, die so genannte Energiewende, war nicht viel anderes als ein Reflex auf die nukleare Reaktorkatastrophe in Fukushima. Die andere Reform dagegen war eine originäre politische Leistung, die dem damaligen Zeitgeist voraus war: die Abschaffung der Wehrpflicht. Durchgesetzt vom 137 Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Es war die Leistung, die Guttenberg bei vielen in guter Erinnerung gehalten hatte. Guttenbergs politisches Comeback war perfekt inszeniert. Ein kluger PR-Berater hatte ihn lange genug vor einer überstürzten Rückkehr in die Politik gewarnt. Zehn Jahre Auszeit seien zu wenig, war der Rat gewesen, zwanzig Jahre seien besser. Guttenberg hielt fast 18 Jahre durch. Er hatte sich seine frische jugendliche Ausstrahlung bewahrt, seine Rhetorik war gereift, und hinzugekommen war eine Aura von Altersklugheit und Milde. Seine Berater hatten die Hauptzielgruppe für ihn abgesteckt: Frauen ab 30, Männer ab 40, mittlerer bis unterer Bildungstand, untere bis mittlere Einkommensschicht. Sein politisches Programm: er selbst. Sein Persönlichkeitsprofil: ein fehlbarer Star, der sich zu den Fehlern seines Lebens bekennt. In dieser Rolle war er auf der politischen Bühne konkurrenzlos. Der zweite Parteitag der Deutschen Demokraten fand an Guttenbergs sechzigstem Geburtstag statt. Auch das eine perfekte Inszenierung. Die Delegierten lauschten seiner einstündigen Rede mit angehaltenem Atem. Sein Schlusswort: Wir werden dafür sorgen, dass Deutschland gegen die Deutschen Demokraten nicht mehr regiert werden kann. Dann eine Standing Ovation, die längste, hieß es, die es in den vorangegangenen 80 Jahren bei einer Parteiveranstaltung in Deutschland gegeben habe. Die nächsten Umfragen sahen die Deutschen Demokraten als zweitstärkste Partei. Die SPD und die Grünen abgeschlagen, die Linke bei 8-Prozent, die AfD fast von der politischen Bühne verschwunden. Ein Jahr vorher hatte alles ganz anders ausgesehen. Die Deutschen Demokraten, Die Linke und die AfD zwischen 5 und 6 Prozent, die Muslimisch Soziale Union knapp darunter. Alle vier für die Altparteien lästige kleine Konkurrenten, alle vier als Koalitionspartner indiskutabel. Die naheliegende Lösung für die Altparteien war: Das Wahlrecht ändern, aus der 5-Prozent-Hürde eine 7-Prozent-Hürde machen, um die Macht auf ein Drei-Parteien-Kartell zu beschränken. Genau so war es geschehen. In den Medien gab es dafür neben harscher Kritik auch viel Zustimmung. Spätestens nach einem eventuellen Einzug der MSU in den Bundestag, so hieß es, könnte 138 Deutschland auf Verhältnisse wie in der Weimarer Republik zusteuern, das Beste für das Land sei daher ein Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Vorbild. Die Anhebung der 5-Prozent-Schwelle auf 7 Prozent sei immerhin eine zweitbeste Lösung. Die Antwort der Linken: Sie fühle sich nicht betroffen, ihr Wahlziel liege ohnehin weit darüber. Vor der Gesetzesänderung hatten die Altparteien mehrere verfassungsrechtliche Gutachten bestellt, die die Verfassungskonformität einer 7-Prozent-Hürde bestätigten. Die MSU reichte trotzdem Klage beim Verfassungsgericht ein. Die Medien und die anderen Parteien nahmen davon – im Nachhinein fast unerklärlich – kaum Notiz. Das war die Art von Petitessen, die den deutschen Politikbetrieb jener Zeit ausmachten, und in anderen Ländern des demokratischen Westens war es kaum anders. Dies allein war noch kein Grund, der Demokratie ihren damaligen Rang als beste unter den bestehenden Staatsformen abzusprechen. Dass dieser Rang bald einem Staat zukommen könnte, der bis dahin noch als zutiefst undemokratisch galt, daran dachte niemand. Aber mindestens einen Fall lohnte es schon damals genauer anzuschauen: China. Hauser hatte es einmal einen Fehler genannt, eine chinesische Bewerberin nicht als Praktikantin für das Archiv eingestellt zu haben. Zehn Jahre später – Chinas Bedeutung in der Welt war weiter dramatisch gewachsen –, stand Tian in meinem Büro. Auch er Chinese, auch er wollte ein Praktikum machen, auch er war Historiker und obendrein Informatiker, und auch er arbeitete an seiner Dissertation. Wenn es zehn Jahre vorher ein Fehler gewesen war, einen chinesischen Bewerber abgelehnt zu haben, musste es jetzt nicht umso mehr gelten? Es war nicht so, dass der erste Eindruck von Tian mich überzeugt hätte. Außerdem hatten manche Leute im Verlag gegen Chinesen Vorbehalte. Chinesen seien potentielle Spione, so pauschal dachten einige noch immer, auch in der Verlagsleitung. Bei uns im Verlag gebe es Informationen, die wir um keinen Preis in 139 China verbreitet wissen wollten, und es könne ja sein, dass ein Bewerber aus China auf Spionage in Verlagsarchiven angesetzt sei. Sogar mir leuchtete das erst einmal ein. Aber was hätte Hauser dazu gesagt? Am Ende gab ein einziger Satz den Ausschlag. Wie lange er denn bei uns würde bleiben wollen, fragte ich Tian. – Solange Sie wollen, sagte er. In dem Moment wusste ich: Ich wollte ihn. Die Bedenken der Verlagsleitung waren schnell ausgeräumt. Wir dürften vor einem Praktikanten doch keine Angst haben, argumentierte ich, nur weil er Chinese sei. Außerdem sei der Verlag immer mehr auf Verbindungen nach China angewiesen, auf Kontakte zu klugen Köpfen dort, zu politischen Organisationen und auch zu Verlagen, und so etwas baue man am besten ganz von unten auf, auch durch Einstellung von Leuten, die in China für uns später einmal wichtig werden könnten. Ich hatte nie vorher Chinesen näher kennengelernt, also war auch ich nicht frei von Vorurteilen. Chinesen, dachte ich, seien von hölzerner Höflichkeit, eher unnahbar, von, wenn überhaupt, sehr eigenem, für uns unzugänglichem Humor, Ironie sei ihnen fremd, Europäern gegenüber gäben sie sich verschlossen, und man wisse nicht recht, was davon spontan, was anerzogen und was durch Indoktrinierung zu erklären sei. Nicht viel anders gab sich dann Tian. Er arbeitete sich rasch ein, aber Fragen stellte er selten. Manchmal ertappte ich mich dabei, dass mich genau das misstrauisch machte. Oder, dachte ich dann, traute er sich nur nicht zu fragen? Wartete er darauf, dass erst einmal ich Interesse an ihm zeigte? War ich es also, der die Fragen stellen sollte? Als ich endlich verstanden hatte, dass es tatsächlich so war, als ich ihn dann mit eigenen Fragen aus der Reserve lockte, kamen wir uns schließlich näher. Wann immer danach von der Redaktion Anfragen zu China kamen, auch zu politisch sensiblen Themen, zu chinesischen Dissidenten, regimekritischen Demonstrationen, korrupten Parteikadern, Menschenrechtsverletzungen, Gängelung der Presse, 140 Todesstrafe, rebellierenden Minderheiten oder Rüstungsausgaben, suchte ich nun das Gespräch mit Tian. Keiner dieser Fragen wich er aus. Natürlich wollte ich genauer wissen, was für einer dieser Tian war. Ein Dissident, dessen war ich sicher, konnte er nicht sein. Ein chinesischer Regimekritiker im Archiv einer bekannten deutschen Zeitschrift – so etwas wusste das chinesische Regime immer noch zu verhindern. Aber was für einer war er dann? Ein dem Regime blind Ergebener? Dafür war er zu klug. Ein Parteimitglied? Ihn danach zu fragen erschien mir zu indiskret. Ein unpolitischer Geist? Sehr unwahrscheinlich. In dieser Zeit erschien im SPIEGEL ein Kurzbericht unseres China-Korrespondenten mit dem Titel: Wieder Demonstrationen in Hongkong. Viele chinesische Dissidenten unter Hausarrest. Am Morgen des Erscheinungstags platzierte ich diesen Artikel auf meinem Schreibtisch, dann rief ich Tian zu mir. – Hier, sagte ich, als er vor mir saß, und drehte den Artikel zu ihm hin. Neues aus Hongkong. Du hast es sicher verfolgt. Ja, sagte er nur. Sein Blick streifte den Artikel flüchtig, dann sah er für einen Moment verlegen zu Boden, hob den Kopf und sah mich mit festem Blick an, nun ganz ohne Verlegenheit. – Eure Staatspartei greift gegen Dissidenten ziemlich hart durch. – Die Polizei tut es, sagte er, nicht die Partei. Natürlich eine Ausflucht, dachte ich. Wie einstudiert. – Gibt die Partei nicht vor, wie die Polizei mit Dissidenten umgeht? Und wie euer Geheimdienst mit ihnen umgeht? Ich erschrak. Hatte ich ihn damit provoziert? Hatte ich zu viel riskiert? War die Chance auf ein offenes Gespräch über eine heikle Frage schon vertan? Tian deute nur ein Kopfschütteln an. – Darüber weiß ich nicht so gut Bescheid. 141 Seine Stimme klang ganz und gar gelassen, ganz und gar aufrichtig. War also all meine Vorsicht grundlos gewesen? Würde ich mit Tian doch ganz normal reden, vielleicht sogar streiten können, fast wie mit Kollegen aus westlichen Ländern? – Du weißt aber doch Bescheid über die Aufgabe eures Geheimdiensts. Er überwacht im Auftrag der Partei die Gesellschaft. Er will genau wissen, wer wo regimekritisch denkt und redet. Muss nicht jeder in China damit rechnen, dass Geheimdienstler ihm nachspüren? Tian nahm sich mit der Antwort viel Zeit. Dann sagte er ganz ruhig: – Ja, unser Geheimdienst arbeitet noch viel mit alten Methoden. Viele seiner Mitarbeiter können nicht anders. Aber er stellt sich sehr rasch um. – Auf die digitale Überwachung? – Ja. Amerika ist uns dabei allerdings noch immer weit voraus. Bei uns kommunizieren noch nicht alle Bürger elektronisch. Aber das ist natürlich das Ziel. – Damit die ganze Bevölkerung elektronisch überwacht werdenkann? – Amerika ist darin für uns Vorbild. Ich wich seinem Blick aus. Wo hatte er das gelernt? Wo hatte er gelernt, verfängliche Fragen so routiniert zu parieren, wie ein in Talkshows gestählter, von Rhetoriktrainern geschliffener westlicher Politiker? Was für einer war er also? Doch ein Agent? Musste ich andere vor ihm warnen? Nein, sagte ich mir, sei nicht hysterisch, wenn jemand routinierte Antworten gibt, ist er deswegen nicht verdächtig. Aber was hatte er gemeint, als er "wir" und "uns" sagte, von "unserem" Vorbild Amerika sprach. "Wir", war das China oder war es womöglich doch der Geheimdienst? Oder die Partei? Unsere Blicke trafen sich wieder. – Ja, sagte er, vorerst ist es so. 142 Vorerst. Vorerst eifert China in der digitalen Überwachung Amerika nach. Und dann? Wird China Amerika darin überholen? Wird es einen totalen elektronischen Überwachungsstaat schaffen? – Aber die Entwicklung wird natürlich weitergehen, sagte er dann. Ich nickte. Was hätte ich erwidern können? Natürlich wird die Entwicklung weitergehen, gerade in China. Wohin, hätte ich noch fragen können, aber er hätte natürlich – so gut kannte ich ihn inzwischen -, geantwortet, dass auch er das nicht wisse. Am nächsten Morgen bat ich ihn wieder in mein Büro. Dass Chinas Geheimdienst nur dem Vorbild Amerika folge, das wollte ich nicht widerspruchslos hinnehmen. Es könne ja sein, sagte ich, dass chinesische und amerikanische Geheimdienste mit immer ähnlicheren Methoden arbeiten, aber in einem Einparteienregime spiele ein Geheimdienst doch eine ganz andere Rolle. In der Demokratie diene der Geheimdienst der Aufklärung, im Einparteiensystem, also in China, diene er der Unterdrückung. Ich biss mir auf die Zunge. Du provozierst ihn nicht, hatte ich mir vorgenommen, aber nun war es heraus. War er gekränkt? War er enttäuscht, beleidigt, zornig? Die Fassung würde er nicht verlieren, das war mir klar. Aber das Vertrauen? – Vielleicht hast du zum Teil Recht, begann er… Hatte ich mich verhört? Ich hätte Recht damit, dass in China Unterdrückung herrscht? Nein, Dissident ist er nicht, dessen war ich nun sicher. Was aber dann? …aber Unterdrückung würde ich es nicht nennen. – Sondern? – Stabilisierung. China ist noch nicht ganz so stabil wie einige Demokratien im Westen. – Aber hat China solche Methoden der Stabilisierung wirklich nötig? 143 – Stell dir vor, sagte er, was passieren würde, wenn es das, was du Unterdrückung nennst, in China ab sofort nicht mehr gäbe. Bliebe es in China dann friedlich? Gäbe es dann sofort eine Demokratie, wie ihr sie habt? Würden die Chinesen das überhaupt wollen? – Da hoffe ich doch, sagte ich. – Es gibt viele Staaten, die zu früh versucht haben, im westlichen Sinn demokratisch zu werden. Mit furchtbaren Folgen. – Du glaubst also, dass eure so genannte Stabilisierung etwas Gutes ist? Auch all das, was euer Geheimdienst tut? – Im Prinzip ist es so. – Und wie lange soll es noch so weitergehen? – Nicht für immer. Das wissen die meisten inzwischen, auch in der Partei. Nicht für immer, das war mir wieder zu schwammig und zu routiniert. Aber jetzt war mir wenigstens klar, dass ich ihn nicht schonen musste, dass ich ihm auch Widerspruch und Streit zumuten konnte. – Vielleicht vierzig Jahre?, fragte ich. Ist China in vierzig Jahren darüber hinweg? – Kein Land der Welt hat sich in den letzten vierzig Jahren so stark entwickelt und verändert wie China. Das wird auch in nächsten vierzig Jahren so sein. Wieder so eine glatte Antwort. Ich setzte nach: – Ist China in vierzig Jahren eine westliche Demokratie? – Das kommt darauf an, was in vierzig Jahren aus der westlichen Demokratie geworden ist. Dabei reckte er den Hals, neigte den Kopf etwas nach hinten und sah mich leicht von oben herab an. Dann sagte er: – Macht das Beste aus eurer Demokratie. Dann wird man sehen. 144 So ging unser erster ernster Dialog aus. So saß er vor mir, Tian, fast sechs Jahre jünger, und er argumentierte müheloser und schlagfertiger als ich, fast ebenso mühelos wie routinierte westliche Politiker. Aber war es wirklich nur bessere Rhetorik? Oder hatte er womöglich auch die besseren Argumente? Gab es eine chinesische Dialektik, die dem westlichen Denken überlegen war? Tian machte sich über die Schattenseiten des chinesischen Regimes keine Illusionen, er beschönigte nichts, und doch sah er China ganz anders als wir. Natürlich war auch ich überzeugt, dass China endlich westlicher werden müsse, natürlich drängte ich ihm dies immer wieder auf, aber beeindruckt hat es ihn nie. Er gab mir immer das Gefühl, dass ich meiner Sache viel zu sicher sei. Auch an einen anderen kurzen Wortwechsel hierüber erinnere ich mich noch gut. Ich sagte, in China müsse, das sehe er doch sicher auch so, die Zeit bald reif sein für den Übergang zu einem Mehrparteiensystem. – Das ist nicht unsere Lösung, sagte er. – Du meinst, es ist noch nicht eure Lösung? – So weit will ich nicht vorausdenken. So weit voraus kann niemand denken. Wieder so ein argumentativer K.o. Was hätte ich darauf erwidern können? Ich hatte eine ausweichende Antwort erwartet oder eine dogmatische, und dann entwaffnete er mich mit Bescheidenheit. So weit könne er nicht vorausdenken, so weit könne niemand vorausdenken, auch ich nicht, also müsse auch ich bescheidener sein, müsse zugeben, dass auch ich für Chinas langfristige Zukunft nicht die Lösung kenne. So, mit nur einem Satz, hatte er die Rollen zurechtgerückt: Er war der bescheidene, ich der allzu selbstsichere, der westlich-überhebliche Dialogpartner, der sich menschenunmögliches Wissen anmaßte. Wie weitsichtig Tian in politischen Dingen dachte, ging mir trotzdem erst sehr viel später auf. Enge Freunde wurden wir in dieser Zeit, in dem einen Jahr, das er im Archiv verbrachte, noch nicht. Nie wären wir auf die Idee gekommen, wir sollten 145 einmal private Zeit miteinander verbringen. Aber am Ende wussten wir beide, ohne dass es hätte gesagt werden müssen, dass wir einander nicht verlieren wollten. Kurz bevor Tians Zeit im Archiv zu Ende ging, erschien im SPIEGEL ein Essay unseres China-Korrespondenten über Chinas politische Entwicklungsperspektiven. Fast nichts von diesem Essay hätte vor Tians Argumenten Bestand gehabt. Wie aber wäre ein solcher Essay, fragte ich mich damals, von jemandem geschrieben worden, der sich mit Tian ernsthaft auseinandergesetzt hätte? Um mir das zu beantworten, habe ich damals einen solchen anderen Essay selbst entworfen, den ich – Archivarseele, die ich noch immer bin – bis heute aufbewahrt habe. Ich war überrascht, wie wenig ich daran ändern musste, um ihn an dieser Stelle einfügen zu können. Etwas stimmt nicht im westlichen Denken über China. Auf den ersten Blick ist das Interesse an der politischen Entwicklung Chinas groß, und trotzdem sind die Kommentare zu China im Westen erstaunlich gleichförmig. Dafür kann es nur eine Erklärung geben: Es fehlt am Vorstellungsvermögen für Chinas Besonderheiten. Der Westen hat jahrzehntelang Chinas rasante Wirtschaftsentwicklung ungläubig bestaunt. Als dann klar wurde, dass dies kein Strohfeuer war, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, wurde der Westen mit Chinas politischer Entwicklung immer ungeduldiger. Nach dem Kollaps fast aller anderen kommunistischen Regimes sollte das chinesische nun bald folgen. China mit seiner Einparteienherrschaft und mit seiner großenteils immer noch staatlich gelenkten Wirtschaft sei doch, so die im Westen herrschende Meinung, ein offensichtlicher Anachronismus, die Überlebensjahre des Regimes müssten also gezählt sein. Jede noch so kleine Protestkundgebung und jede öffentliche Aktion von Dissidenten schien dies zu untermauern. Anfang des Jahrhunderts, In den zehner Jahren und zu Anfang der zwanziger, schien die Ungeduld mit China sich beinahe erschöpft zu haben, aber sie kehrte zurück. Wie 146 konnte es denn sein, fragte man sich nun wieder, dass die demnächst größte Volkswirtschaft und bald auch größte Militärmacht der Welt noch immer nicht den Verlockungen der westlichen Demokratie nachgab. Wie konnte es sein, dass das bevölkerungsreichste Land der Welt trotz seines enorm gewachsenen Wohlstands noch immer an seiner rückständigen Staatsordnung festhielt – der große weiße Fleck auf der Weltkarte der Demokratie. Natürlich gab es dafür Erklärungsversuche. China hatte mit seinen Reformen ein Wirtschaftswachstum entfacht, das in der Welt Seinesgleichen suchte. Die große Mehrheit der Chinesen war damit erst einmal zufriedengestellt. Nur ganz wenige Chinesen stellten sich überhaupt die Frage, ob es ihnen in einer Demokratie nach westlichem Muster besserginge, und noch viel weniger antworteten darauf mit Ja. Die meisten Chinesen schienen ihr politisches System also der westlichen Demokratie vorzuziehen. Dagegen wünschte sich in demokratisch regierten Ländern niemand ein politisches System wie das chinesische. Wie war dieser Widerspruch zu erklären? Lag es einfach daran, dass die meisten Chinesen über die westliche Demokratie zu wenig wussten? So wollte man es im Westen natürlich gern sehen. Dass es so einfach nicht war, davon zeugte schon Chinas verblüffende Wirtschaftsentwicklung. Einige westliche Ökonomen sind überzeugt, dass Chinas Regime jahrzehntelang eine bessere Wirtschaftspolitik betrieben hatte, als demokratische Regierungen es seiner Stelle vermutlich getan hätten. Was, wenn diese Ökonomen Recht haben? Wäre das für Chinesen nicht schon Grund genug, ihr politisches System für das bessere zu halten? Ihr Einparteiensystem für besser als das westliche Mehrparteiensystem? Es ist wohl Zeit, sich im Westen ernsthaft diese Frage zu stellen: Wie viel schlechter ist ein Einparteiensystem als ein Zwei-, Drei- oder Vielparteiensystem? Die richtige Antwort könnte eine böse Überraschung sein. Der Unterschied zwischen einem Einparteiensystem und einem Mehrparteiensystem ist nämlich geringer, als wir 147 denken, und welches System das bessere ist, das kommt auf die Umstände an. Könnte es sogar sein, dass für das China unserer Zeit das Einparteiensystem tatsächlich das bessere ist? Und womöglich nicht nur für China? Die großen Nachteile von Einparteiensystemen liegen auf der Hand: Mangel an Wahlmöglichkeiten für die Bürger, Mangel an politischem Wettbewerb, Privilegierung von Parteimitgliedern und Diskriminierung von Parteikritikern, allenfalls formale Unabhängigkeit der Justiz. Aber um wie viel besser ist all dies im Mehrparteiensystem? Die Antwort ist ganz einfach: Der Unterschied zwischen Ein– und Mehrparteiensystem ist natürlich umso geringer, je ähnlicher im Mehrparteiensystem die konkurrierenden Parteien sind. Wer aber wollte noch bestreiten, dass in westlichen Demokratien die Parteien – zumindest die seriös wählbaren – einander immer ähnlicher geworden sind, von der politischen Rhetorik einmal abgesehen? Und dass sich daher im Mehrparteiensystem die praktische Politik durch Wahlen nur noch geringfügig ändern lässt? Sicher, auch davon gibt es Ausnahmen, aber im Regelfall ist es so. Was ändert sich im Leben von Amerikanern, wenn die politische Mehrheit von den Demokraten auf die Republikaner übergeht und umgekehrt? Was hängt für Deutsche davon ab, ob Christ- oder Sozialdemokraten oder Grüne die meisten Stimmen bekommen? Was ändert sich für Briten, wenn Tories und Labour einander ablösen? Die allseits bekannte Antwort ist: wenig. Dementsprechend wenig wäre daher für die meisten Chinesen mit dem Übergang auf ein Mehrparteiensystem gewonnen. Das mag so erscheinen, wird man im Westen einwenden, aber verglichen mit der chinesischen Einheitspartei ist das westliche Parteienwesen noch immer ein Hort der Vielfalt und der Wahlfreiheit. Aber wie ist dann zu erklären, dass China sich seit der Mao-Ära so grundlegend gewandelt hat, und zwar auch im politischen Denken? Ich solle, sagte mir Anfang der dreißiger Jahre ein kluger Chinese, ein Parteimitglied 148 wohlgemerkt, doch einmal den politischen Wandel Chinas in dieser Zeit mit dem Wandel der westlichen Demokratien vergleichen. Die westlichen Demokratien hätten sich in dieser Zeit kaum verändert. China dagegen habe sich enorm gewandelt, und bei diesem Entwicklungstempo werde es den Westen bald auch politisch überholen, wirtschaftlich und militärisch ja sowieso. Dann stellte er einen nüchternen Vergleich an: Am Ende des ersten Jahrhundertquartals habe China sich in seiner politischen Zivilisierung noch mit Ländern wie Thailand verglichen, und solchen Ländern habe es sich damals schon überlegen gefühlt. Inzwischen seien die Ziele aber viel höher gesteckt. Mittlerweile sehe man sich in der politischen Kultur mit dem Westen auf Augenhöhe. Es ist höchste Zeit, sich im Westen hiermit ernsthaft auseinanderzusetzen. Zumindest ist es Zeit für die Frage, ob China sich in unserem Jahrhundert mit einem Mehrparteiensystem wirklich besser entwickelt hätte als mit seinem Einparteiensystem. Das Ja auf diese Frage bleibt einem doch im Halse stecken. Und könnte es sogar sein, dass ein Einparteien- gegenüber einem Mehrparteiensystem nicht nur für China Vorteile hat? Einen zumindest hat es, und der wiegt schwer: Das Einparteiensystem ist professioneller. Wo es nur eine Partei gibt, können politische Kader und Amts- und Mandatsträger sich langfristiger, ungestörter und damit wirksamer spezialisieren und professionalisieren. Das politische Personal ist dadurch zumindest tendenziell erfahrener und fachlich kompetenter als in Demokratien. Diesen systemischen Vorteil haben Einparteienregimes früher kaum genutzt, aber das chinesische tut es jetzt. Es reagiert viel konsequenter als andere Regimes darauf, dass erfolgreiche Politik immer mehr Professionalisierung und Spezialisierung erfordert. Konsequenter, als westliche Demokratien es könnten. Könnte also das Einparteiensystem für das heutige China tatsächlich die denkbar beste Staatsform sein? Wäre ein Übergang zum westlichen Demokratiemodell für 149 China womöglich doch ein Rückschritt? Das scheint in China weiter die herrschende Meinung zu bleiben. Je mehr man sich in diese Frage vertieft, desto mehr Verständnis hat man dafür. So weit mein kurzer Text aus den frühen dreißiger Jahren. Damit war natürlich nicht gemeint, die westlichen Demokratien sollten sich irgendwann in Richtung des chinesischen Systems reformieren. Das lag mir damals völlig fern. Aber ob die Überlegenheit der westlichen Demokratie womöglich nur noch hauchdünn war, viel geringer jedenfalls, als man es sich im Westen eingestand, das war schon damals eine sehr berechtigte Frage. Zu diesem Text hatte ich später einen kurzen Nachtrag verfasst, der aus heutiger Sicht fast Selbstverständliches beschreibt: dass wir uns von unserer Demokratie kein treffendes Bild machen konnten, solange wir uns ein falsches Bild von China machten. Die politischen Vordenker Chinas dachten in politischen Systemfragen viel pragmatischer, als man im Westen annahm. Sie stellen sich praktische Fragen wie diese: Welchen Entwicklungsländern ist es mit demokratischen Mehrparteiensystemen besser gegangen als uns? Indien etwa? Pakistan? Ägypten? Hatten nicht, als sie wirtschaftlich auf unserem heutigen Entwicklungsstand waren, Japan und Südkorea de facto auch Einparteiensysteme? Und sind die Japaner heute mit ihrem Mehrparteiensystem wirklich zufrieden? Ginge es uns Chinesen wirklich besser, wenn unsere politischen Kader von Politikern westlicher Art abgelöst würden? Darauf scheinen die klügsten Köpfe Chinas mit Nein geantwortet zu haben. Der Westen denkt natürlich anders. Aus westlicher Sicht bleibt der politische Systemwechsel in China überfällig. Aber man sollte Chinas Einparteienregime nicht auf eine Stufe mit den herkömmlichen Autokratien dieser Welt stellen. Es ist keine Militärdiktatur, es ist kein populistisches Regime, und es ist nicht die Herrschaft einer Gesellschaftsschicht, einer Ethnie, einer Religion, einer Konfession oder einer 150 Ideologie. Chinas Staatspartei hat sich vielmehr zu einer fast unideologischen Staatsmanagementorganisation gewandelt. Trotzdem ist sie immer noch eine Massenorganisation, also in der Bevölkerung verwurzelt. Damit ist das chinesische Einparteiensystem ein historischer Sonderfall. Man könnte es sogar einen Glücksfall nennen. Es muss zu seinem Überleben viel weniger an niedere Instinkte der Bürger appellieren als populistische Autokraten auch weniger als ein Großteil demokratischer Parteien und Politiker. Wäre es ein Glück gewesen, wenn China frühestmöglich den Übergang zu einer herkömmlichen Demokratie versucht hätte? Dagegen spricht schon, dass Teile Chinas dann Schauplätze des schleichenden Dritten Weltkriegs hätten werden können. Natürlich ist auch das chinesische Einparteienregime kein System für die Ewigkeit, so wenig wie die westliche Mehrparteiendemokratie. Irgendwann werden Chinas Bürger sensibler für dessen Schwächen werden. Es strahlt technokratische Kälte aus, und es bietet dabei nicht einmal den bescheidenen Unterhaltungswert demokratischer Wahlen und Mehrheitswechsel. Früher oder später werden die Bürger sich daher fragen, zu was dieses System denn diene außer wirtschaftlichem Wachstum, und sie werden darauf keine Antwort bekommen. Noch lässt sich dies – ich nenne es ein Sinndefizit – aber durch gutes technokratisches Staatsmanagement kompensieren. Noch schafft auch die Aussicht, in einigen Jahren Bürger der weltweit führenden militärischen Supermacht zu sein und zum Wohlstand Japans und Westeuropas aufzuschließen, Regimetreue. Schon um diese Aussicht nicht zu gefährden, würden die allermeisten Chinesen das Risiko eines Systemwechsels scheuen. Dem Westen macht der Aufstieg Chinas natürlich immer noch Angst. Die NATOStaaten fürchten, China werde mit seiner militärischen Übermacht noch weniger zivilisiert umgehen, als sie selbst es bisher getan haben. Aber auch das ist altes 151 Denken. Nicht nur militärisch, auch in der politischen Zivilisierung dürfte vom Vorsprung des Westens gegenüber China nicht mehr viel übrig sein. Dieser Text ist nun fast vierzig Jahre alt, und ich muss mir selbst das Kompliment machen, dass er noch immer nicht verstaubt klingt. Hauser hatte mir einmal gesagt, eine halbwegs wahrhaftige Geschichte unseres Jahrhunderts ließe sich nicht aus SPIEGEL-Artikeln zusammensetzen, eine wahrhaftigere Geschichte würde die Geschichte der Artikel sein, die sich niemand zu schreiben oder zu veröffentlichen getraut habe. Als ich ihm später einmal diesen Text über China zu lesen gab, meinte er, so ähnlich stelle er sich solche Artikel vor. Ich nahm es als ein höfliches Kompliment. Diesen Text habe ich damals – nach langem Zögern – auch Tian gemailt. Als Antwort schickte er eine winzige Computeranimation: ein kopfnickendes Strichmännchen. Partei wider Willen Würden die veröffentlichten SPIEGEL-Artikel für die spätere Geschichtsschreibung wirklich so wenig wert sein, wie Hauser es unterstellte? Überzeugt war ich davon noch nicht. Bei einem unserer immer seltener werdenden Treffen hakte ich nach. Der SPIEGEL mache doch Qualitätsjournalismus, wandte ich ein, und selbst wenn der SPIEGEL für die spätere Jahrhundertgeschichtsschreibung keine unentbehrliche Quelle sei, dann doch sicher der deutsche Qualitätsjournalismus als ganzer. Nein, beharrte Hauser, er sei nicht einmal sicher, ob es in diesen Zeiten überhaupt wirklichen Qualitätsjournalismus gebe. Qualitätsjournalismus gedeihe am besten dort, wo es Qualitätspolitik gebe, und eine solche könne er nicht erkennen. – Wieso das?, fragte ich. Gerade wenn die Politik versage, sei doch Qualitätsjournalismus gefragt, und zu mancher Sternstunde des Journalismus sei es ja gerade in der Auseinandersetzung mit schlechter Politik gekommen. Hauser nickte kurz. 152 – Aber gerade das ist ja das Elend unserer Zeit, sagte er dann, dass dafür die Politik in Deutschland noch nicht schlecht genug erscheint. Sie erzeugt Lethargie, sie erzeugt Gleichgültigkeit, sie erzeugt Langeweile, aber sie erscheint den Leuten immer noch nicht schlecht genug für kreative Empörung. Ich hätte den Gedanken so nicht formuliert, aber ich dachte sofort, dass Hauser wieder einmal Recht hatte. Wenn nicht schon lange vorher, dann traf dieser Gedanke zumindest jetzt den Nerv der Zeit, der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Die Welt war weiter in Unordnung, der gesamte Nahe Osten immer noch ein Pulverfass mit umstrittenen Staatsgrenzen, westliche Staaten weiter von Terroristen meist arabischer Herkunft aufgeschreckt, die Populisten in Europa und Amerika weiter auf dem Vormarsch, ein Land wie Nigeria existierte nur noch auf dem Papier, Somalia, Libyen und andere afrikanische Länder waren noch immer gesetzlose Regionen, in Indien kam es in immer kürzeren Abständen zu gewaltsamem Aufruhr, China unterdrückte wieder aufflammenden Separatismus mit alter Härte, um die Ostukraine wurde so heftig gestritten wie je, Kosovo und Bosnien-Herzegowina waren de facto noch immer Protektorate, in den Pariser Immigrantenvorstädten brach in immer kürzeren Abständen Gewalt aus, der Kulturkampf in Amerika zwischen Liberalen und Ultrakonservativen wurde immer unversöhnlicher, Immigranten wurden in Amerika und anderen westlichen Staaten offener denn je angefeindet, die Europäische Union drohte wieder einmal auseinanderzubrechen, die separatistischen Bewegungen in Schottland, Katalonien und in osteuropäischen Ländern wurden immer stärker, die Beteiligung an demokratischen Wahlen erreichte ein neues Allzeittief, und in fast allen wohlhabenden Ländern hatte sich die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung weiter zugespitzt. Trotzdem fehlte es an, wie Hauser es nannte, kreativer Empörung, gerade in Deutschland. Auch die sich seit Ende zwanziger Jahre in Deutschland und Europa ausbreitende Altersarmut änderte daran vorerst nichts. Nach sechzig Jahren verfehlter Familienund Bevölkerungspolitik war das Renteneintrittsalter auf 69 Jahre angehoben worden, die durchschnittliche gesetzliche Rente lag nur noch knapp über 40 Prozent 153 des vorherigen Nettolohns, und immer mehr Rentner waren auf staatliche Grundsicherung angewiesen. Auch der Anteil der Erwerbstätigen, die von ihrem Arbeitseinkommen nicht leben konnten, war weiter stark gewachsen. Zugleich hatte, so schien es, die Steuer- und Abgabenbelastung der Erwerbstätigen das politisch durchsetzbare Höchstmaß erreicht, ließ Armut sich also durch mehr Umverteilung nicht weiter lindern. Deutschland und Staaten in vergleichbarer Lage waren dadurch ökonomisch erheblich geschwächt, damit ging auch ihr politischer Einfluss weiter zurück, und auch innenpolitisch war ihre Lage instabiler geworden. Politischer Sprengstoff wurde daraus aber noch nicht. Die Gewichte der politischen Parteien hatten sich massiv verschoben, aber ansonsten herrschte bleierne Stabilität. Guttenbergs Deutsche Demokraten erreichten bei Wahlen mittlerweile stabile 20 Prozent, die Christdemokraten regierten abwechselnd mit der SPD und den Grünen als Koalitionspartnern, die Wahlbeteiligung hatte sich bei Werten um 55 Prozent eingependelt. Missfelders politische Karriere steuerte in dieser Zeit unaufhaltsam auf höchste Ämter zu. Ernsthafte Konkurrenten, die ihm seinen Führungsanspruch bei den Christdemokraten hätten streitig machen können, gab es in seiner Generation nicht. Der alte Guttenberg und der junge Mesäcker waren die dominierenden Figuren der deutschen Parteienlandschaft. Ihre politischen Differenzen waren alles andere als unüberbrückbar, aber ihre Wähler, das wussten beide, hätten ihnen einen offenen Schulterschluss nicht verziehen. Guttenberg hatte sich mit seiner Altersrolle als Star der politischen Opposition abgefunden. Dann kam, was in den Medien als eines der wichtigsten Urteile der letzten Jahrzehnte kommentiert wurde, aber damit in seiner politischen Bedeutung nicht annähernd erfasst war: Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Wahlrecht. Die Verfassungsrichter folgten dem Antrag der Muslimisch Sozialen Union auf ganzer Linie. Nicht nur die 7-Prozent-Sperrklausel für Bundes- und Landtagswahlen wurde für verfassungswidrig erklärt. Wie das Verfassungsgericht schon 2014 Klein- 154 und Kleinstparteien den Zugang zum Europaparlament geöffnet hatte, so tat es das Gleiche nun für den Bundestag. In Deutschland, so die Begründung, gebe es mittlerweile auch kleine gesellschaftliche Gruppen mit fundamental eigenständigen Interessen, die aus der parlamentarischen Willensbildung nicht ferngehalten werden dürften, und die deutschen Muslime gehörten dazu. Die jüngere Geschichte habe zudem gezeigt, dass die Funktionsfähigkeit der Demokratie durch eine größere parlamentarische Parteienvielfalt nicht ernsthaft bedroht sei. Die großen politischen Parteien waren vom Urteil natürlich tief getroffen. Die Unionsparteien und die SPD kündigten an, sie würden die Kandidaten für das Verfassungsrichteramt in Zukunft kritischer überprüfen. Offenen Protest gegen das Urteil wagte aber keine Partei. Auch in den Medien wurde das Urteil eher neutral aufgenommen. Allein die Bild-Zeitung polemisierte: Verfassungsgericht legt die Axt an die deutsche Demokratie. Hausers Kommentar dazu: Ja, aber es hat die Axt an einen morsches Konstrukt angelegt. Bei der anschließenden Bundestagswahl 2037 stieg die Wahlbeteiligung auf mittlerweile fast sensationelle 59 Prozent. Die MSU kam auf 6,9 Prozent, größtenteils zulasten der SPD. Danach gab es keine Regierungskoalition, die sich ohne eklatanten Bruch von Wahlversprechen hätte bilden lassen können. Die ganz und gar unscheinbare Nachricht, die kurz nach dem Wahlrechtsurteil des Verfassungsgerichts in einigen deutschen Zeitungen zu lesen war, hätte ich übersehen, wenn Hauser mich nicht bei unserem nächsten Treffen darauf aufmerksam gemacht hätte: Die Gründung der Tagmakraten. Genau genommen waren Die Tagmakraten nicht einmal eine Partei. Genau genommen waren sie ein politischer Verein, dessen Name viele an eine Partei denken ließ. Gewollt war das aber keineswegs. Eine Partei im herkömmlichen Sinn wollten die Tagmakraten gerade nicht sein. Trotzdem konnten nicht verhindern, dass sie - sofern überhaupt als Partei im Aufbau bzw. im Wartestand wahrgenommen wurden. 155 Auch Hauser machte über die Gründung der Tagmakraten nicht viele Worte. Schau hier, sagte er und reichte mir den Vierzeiler der Süddeutschen Zeitung herüber, das könnte interessant werden. Und nach einer kurzen Denkpause: Manchmal verbergen die wichtigsten politischen Ereignisse sich in einem Vierzeiler. Ich wartete, ob noch eine Erklärung folgen würde, aber er faltete das Blatt nur wortlos zusammen. Ich fragte – für mich noch heute unerklärlich – nicht nach. Später sollte Hauser die Gründung der Tagmakraten als eines der wichtigsten politischen Ereignisse der ersten Jahrhunderthälfte bezeichnen. Das digitale Hiroshima Auch wenn Hauser Separatismus für vollständig legitim hielt, fragte er sich doch manchmal, ob in ihm nicht auch das Böse schlummere. Auch ein Hauser konnte sich eben in Widersprüche verwickeln. Dass das Böse sich weniger im Separatismus Bahn bricht als gerade im Kampf gegen denselben, diese Einsicht verdankte ich keinem anderen als Hauser, und es gab nichts, das sie widerlegt hätte. Natürlich ziehen separatistische Bewegungen oft auch gewaltbereite Kräfte an, aber wie die Geschichte des Separatismus immer wieder zeigt, ist die Gewaltbereitschaft auf der Gegenseite keineswegs geringer. Das Böse lauert eben überall, auch in der politischen Normalität, von der der Separatismus ein Teil ist. Vielleicht hatte Hausers Sorge um das Böse im Separatismus aber noch einen ganz anderen Grund. Er wusste, dass Staaten für neue Arten von Gewalt und Zerstörung anfällig geworden waren, auch durch Separatisten. Zuerst wusste ich damit noch wenig anzufangen. Die neue Verwundbarkeit von Staaten hatte für Hauser mit den Anschlägen auf das World Trade Center im September 2001 begonnen. Nie vorher, so sah auch er es, hatten so wenige Menschen mit so geringen Mitteln so viel Angst schüren und Staaten so verunsichern können. Hauser meinte, dass ja auch verzweifelte Separatisten sich der jeweils neuesten Formen von Terror würden bedienen können 156 und dass der Welt daher eine lange Ära immer neuer Terrorängste bevorstehe. Dann erinnerte ich ihn daran, dass die Aufgabe künftiger Politik ja sein müsse, den Separatisten das Motiv für Terror und Erpressung zu nehmen. Dass unsere alten Vorstellungen von der Verwundbarkeit von Staaten zumindest ergänzungsbedürftig waren, war eigentlich schon seit Beginn des Jahrhunderts klar. Schon damals war absehbar, dass man für Anschläge wie den auf das World Trade Center bald kein Flugzeug mehr würde entführen müssen, dass dafür demnächst bewaffnete Drohnen genügen würden und dass bald auch kleine Terrororganisationen sich solche neuen Waffen würden beschaffen können. Geheimdienste – Belege dafür fand ich später auch im Archiv – hatten aber natürlich schon viel weiter gedacht. Mit neuen Verwundbarkeiten hatte ich es bald auch selbst zu tun. Dass auch unser Archiv verwundbar, dass es vor digitaler Ausspähung nicht absolut sicher sein konnte und nicht einmal vor Zerstörung von Daten und Programmen, das wussten wir natürlich längst, aber die Gefahr erschien uns noch immer ziemlich abstrakt. Vielleicht hätte ich es als guter Archivleiter besser wissen müssen, vielleicht hätte ein anderer an meiner Stelle, vielleicht eine wie Constanze, es besser durchschaut. Ich hatte aber nicht die geringste Ahnung, was gegen solche Verwundbarkeit zu tun sei, und unsere IT-Spezialisten glaubten offenbar alles im Griff zu haben. Niemand warnte mich, niemand mahnte mich, also tat ich nichts. Dann kam der große HackerAngriff. Warum ausgerechnet auf unser Archiv? Natürlich archivierten wir politisch Brisantes und Kompromittierendes, vieles also, womit Staaten, Organisationen, Parteien, Unternehmen, Politiker und Prominente verwundbar waren. Also gab es viele, die solche Daten am liebsten aus der Welt hätten, aber eben auch manche, die sie ans Licht der Öffentlichkeit würden bringen wollen. Wer mit welchen Motiven hinter dem Angriff auf unser Archiv stand, wissen wir bis heute nicht. Wir meinen aber zu wissen, dass der Angriff von einer kleinen Zahl hoch begabter Hacker ausgeführt 157 wurde. Sie müssen potente Unterstützer gehabt haben, aber die eigentlichen Täter waren offenbar ganz wenige. Wir hatten Glück. Hätten die Täter nicht einen kleinen vermeidbaren Fehler gemacht, hätten sie die Daten unseres Archivs vor aller Welt ausbreiten können. Es wäre ein Fiasko für den Verlag gewesen, eine Bloßstellung zahlloser Persönlichkeiten und vieler noch angesehener Institutionen. Natürlich wollte der Verlag den Vorfall um jeden Preis geheim halten, aber es war ein Wettlauf mit der Zeit. Wir verloren ihn. Nach einer Woche wusste die ganze Welt: Das SPIEGEL-Archiv ist ausspähbar. Was konnten wir tun? Keiner hatte eine Strategie, wir vom Archiv nicht, die Redaktion nicht, die Verlagsleitung, der ganze Verlag nicht. Sitzungen Tag und Nacht, Vorwürfe, Gegenvorwürfe, Vorschläge, Gegenvorschläge, einer dilettantischer als der andere, dann nur noch Erschöpfung. Würde das Vertrauen in uns dahin sein? Würde niemand uns mehr geben wollen, was unser Blatt so lesenswert machte: vertrauliche Informationen? War das der Untergang? Eine Zeitlang geschah gar nichts. Dann brach eine Lawine von Datenlöschanträgen über das Archiv herein, von überallher, von Regierungen, Parteien, Verbänden, Unternehmen, von Agenten prominenter Personen aller Sparten und Klassen und auch von älteren Politikern natürlich, die sich um ihr Bild in der Geschichte sorgten. Ja, unser Archiv wusste viel, sehr viel sogar, aber hier zeigte sich: Sie überschätzen uns maßlos. Wir fühlten uns immerhin geschmeichelt. Hätten wir uns denn kleiner machen sollen, als die Welt uns sah? Keiner bekam die Antwort: Wir haben nichts über Sie. Jeder bekam die Antwort: Sofern wir etwas über Sie haben, bringen wir es in die neu einzurichtende höchste Sicherheitsstufe. Viele ließen trotzdem nicht locker. Viele stellten Löschantrage in immer neuen Angelegenheiten, viele wollten Daten gelöscht haben, die wir nicht hatten und von deren Existenz wir uns nie hätten träumen lassen. Auch all diese Löschanträge archivierten wir natürlich, und damit bereicherten wir unser Archiv. 158 Nach ein paar Monaten ebbte die Flut der Löschanträge endlich ab. Was blieb, waren die Ängste. Könnte Hackern demnächst gelingen, was diesmal nur fast gelungen war? Vorsorgliche Löschanträge überrollten danach auch andere Zeitungsarchive, Internetportale, soziale Netzwerke, Behörden, Schulen, Universitäten, Unternehmen und sonstige Organisationen. Dann kam der Ruf nach weiterer Strafverschärfung für Hacker. Aber dann war es fast so schnell vorüber, wie es gekommen war. Die Öffentlichkeit ließ sich von Schlimmerem ablenken, von Dingen wie dem neuen Terror im Nahen Osten und in Indien und dem scheinbar ausweglosen Ausgang der Bundestagswahl. In den Medien keine Rede mehr vom drohenden Ende aller Datensicherheit und davon, dass Medien, Regierungen, Wissenschaftler und Unternehmen künftig von den Hackern dieser Welt mit gestohlenen Informationen, unverfälschten und verfälschten, überschüttet würden und Wahres von Falschem immer schwerer zu trennen sei. Wenn aber unser digitales Archiv von einem so kleinen Team fast gekapert worden war, was würden dann größere Teams alles anrichten können? Auch das trat in den Hintergrund. In den Jahren danach ließ der Verlag mich – "auch Archivare müssen ja mal raus" – mehrere Reisen zu Dokumentationsabteilungen anderer Verlage machen. Bei allen großen Verlagen waren Cyberabwehr und Datensicherheit zum Spitzenthema geworden, fast alle hatten ihre digitale Abwehr ähnlich aufgerüstet wie wir, aber sicher fühlten sie sich trotzdem nicht. Erst als ich ein paar hochkarätige Symposien über Hackerangriffe besucht hatte, wurde mir klar, wie weit Regierungen und staatliche Institutionen, Staatskanzleien und Ministerien, Geheimdienste, Parteien und ihre Stiftungen, große Nichtregierungsorganisationen und die meisten Großunternehmen ihre Hackerabwehr schon ausgebaut hatten. Manche bauten dafür große eigenständige Antiterroreinheiten auf. Aber fast alle waren auch schon dabei, ihre digitalen Datenbestände gründlich zu bereinigen. "Was wir nicht haben, kann uns niemand stehlen", war eine der neuen Devisen. 159 Natürlich hatte ich schon seit meiner Studentenzeit die sporadischen Meldungen über Cyberattacken gegen Regierungen, Unternehmen, Fernsehanstalten, Zeitungen, Banken, Zentralbanken und andere nichtstaatliche und staatliche Organisationen beiläufig verfolgt, aber ich hatte darin ein fast normales kriminelles Hintergrundgeschehen gesehen. Nun erst verstand ich, wie weit der globale digitale Rüstungswettlauf schon vorangeschritten war, mit Beteiligung von Staaten und von kommerziellen, kriminellen, politischen und privaten Organisationen. Die Cyberabwehr war noch immer Sache hochprofessioneller Spezialisten, von deren Tätigkeit sich kaum jemand anderer ein Bild machte. Auch ich hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, dass sich daraus eine veritable digitale Rüstungsindustrie entwickeln würde. Aber auf Symposien über Cyberabwehr war offenbar schon seit Langem mit großer Selbstverständlichkeit von datensichernder Landesverteidigung die Rede. Zu diesem Begriff fiel mir wieder einmal eine frühere Bemerkung von Hauser ein: Alle größeren Streitkräfte dieser Welt könnten nicht nur Verteidigung, sondern auch Angriff, also seien fast alle Verteidigungsministerien dieser Welt potentielle Angriffsministerien. Das machte endlich auch mir endgültig klar, was beim digitalen Rüstungswettlauf auf dem Spiel stand. Die Angreifer sind natürlich nicht nur kriminelle Hacker, es sind auch Staaten, und Staaten greifen nicht nur Unternehmen, sie greifen auch Staaten an. Hacker sind digitale Terroristen, Staaten würden digitale Kriege führen. Hacker würden im schlimmsten Fall ein digitales 9/11 anrichten, Staaten ein digitales Hiroshima. Zusammen mit Hauser grübelte ich darüber, welche Staaten zuerst zu solchen Tätern werden würden oder schon geworden waren. Gerade als Archivare hätten wir es aber längst wissen können. Wir hätten wissen können, dass das amerikanische Militär im Irak-Krieg systematische Cyberangriffe auf fremde Kommunikationssysteme ausgeführt hatte. Hauser hätte sich erinnern können, dass die Vereinigten Staaten 2007 iranische Atomanlagen sabotiert und vorübergehend lahmgelegt hatten, und auch daran, dass es 2007 einen breit angelegten Cyberangriff auf Estland gegeben hatte, dessen Drahtzieher in Russland vermutet wurden. Wir hätten auch 160 herausfinden können, dass die Vereinigten Staaten schon Anfang des Jahrhunderts begonnen hatten, eine machtvolle Abteilung für Finanzkriegführung aufzubauen, und dass andere Staaten ihnen gefolgt waren. Es gab also längst Staaten, die die Geldund Finanzwirtschaft anderer Staaten großenteils lahmlegen konnten, und dieses Finanzkriegs-Know-how ließ sich natürlich für Cyberangriffe anderer Art weiterentwickeln. Angriffe auf Verlage und Verlagsarchive waren ein Randgeschehen. Der Verlag vervielfachte in den folgenden Jahren den Aufwand für digitale Abwehr, und danach glaubte ich, das Archiv sei nun so gut wie unangreifbar geworden. Ich hatte daher das Werbeblatt für ein weiteres Seminar über Hackerabwehr schon wegwerfen wollen, als mein flüchtiger Blick auf den Namen des Veranstalters fiel: H. & C. Consulting Henrichs und Cramer. In kleiner Schrift darunter: Rolf Heinrichs, Constanze Cramer. Constanze Cramer? Natürlich, das konnte niemand anders sein als sie, Constanze, die ich schon lange nicht mehr gesehen und schon lange hatte wiedersehen wollen. Noch am selben Tag schickte ich meine Anmeldung für das Seminar ab. Das Seminar fand an einem Aprilwochenende in Berlin statt. Für die Seminarteilnehmer waren Zimmer in einem kleinen Hotel am Alexanderplatz gebucht, und dort verabredete ich mich mit Constanze für den Abend vor dem ersten Seminartag. Als wir uns dann schließlich in der Hotellobby gegenüberstanden, erschrak ich. Wie sie in den sieben Jahren seit unserem letzten Treffen gealtert war! Hätte ich nur flüchtig hingesehen, hätte ich sie nicht wiedererkannt. Einen Moment lang schien es, als musterte auch sie die Altersspuren in meinem Gesicht, aber dann war da nur ein herzliches Willkommenlächeln. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch vor der Hotelbar und sahen einander sekundenlang wortlos an. – Wir zwei von der Generation Sichtflug, sagte sie dann mit einem amüsierten Grinsen. Sind wird das eigentlich noch immer? 161 Ich zögerte. – Ja, was sonst, gab sie dann selbst die Antwort. Wir haben an Lebenserfahrung gewonnen, aber viel klüger geworden sind wir vielleicht nicht. Wie konnte sie wissen, ob und wie viel ich über die Jahre klüger geworden war? Aber hatte sie nicht, dachte ich dann, an sich selbst, an ihre eigene Klugheit, schon früher einen höheren Anspruch gehabt als ich? Meinte sie nur, dass wir beide weniger klug waren, als es eigentlich nottäte? – Ja, sagte ich schließlich, wir sind beide keine Hausers. Hauser hat seine private Zeit mit Denken verbracht, wir mit unseren Zwillingen. Das ist der Unterschied. Sie stutzte. Dann beugte sie sich wortlos zu mir herüber, fast als wollte sie mir für diese Erklärung um den Hals fallen. Beim Frühstück am nächsten Morgen saß eine andere Constanze vor mir. Jetzt war sie die souveräne Seminarleiterin, ein paar Jahre verjüngt, makellos geschminkt, perfekte Frisur, elegant gekleidet, sachlich im Tonfall, kein privates Wort mehr. Stattdessen fing sie selbst vom Hackerangriff auf das Archiv an, und dann kam das Gespräch fast ohne mein Zutun auf das digitale Wettrüsten. In ihrem Consulting- und Seminargeschäft, erklärte sie, würden immer mehr Fragen zum digitalen Wettrüsten gestellt, darauf müsse sie Antworten parat haben. Und dann weiter in fast dozierendem Tonfall: Das digitale Wettrüsten sei ein Wettlauf, bei dem niemand genau wisse, wer gerade in Führung liege. Deswegen könne sich niemand je ganz sicher fühlen, Staaten nicht, internationale Organisationen nicht, Unternehmen nicht, Verlage nicht und natürlich auch nicht deren Archive. Dieses Wettrüsten, fuhr sie fort, werde dem atomaren Wettrüsten immer ähnlicher. Hackerangriffe könnten, das wisse ich natürlich, umso mehr Schaden anrichten, je abhängiger die Opfer von elektronisch gespeicherten Daten seien. Noch könnten an diesen Daten nur ein paar Dutzend Akteure, Staaten und ein paar große Unternehmen, Schäden von kriegerischer Dimension anrichten. Es würden aber 162 immer mehr, und jederzeit könnten neue Schurkenstaaten mit kriegstauglichen Cyberwaffen dazukommen. Dabei werde die digitale Rüstungsindustrie natürlich immer mehr dubiose, käufliche und böswillige Gestalten anlocken, die irgendwann bereit seien, von der digitalen Verteidigung in den digitalen Angriff überzuwechseln, und auch mafiöse Organisationen würden die weltweit hochbegabtesten Hacker mit Stargagen zu ködern versuchen. Die Welt wisse ja längst, was alles durch Cybersabotage sabotiert werden könne, Geldverkehr, Flugverkehr, Telekommunikation, Energieversorgung, Atomkraftwerke, Aktienbörsen, Wasserversorgung, Verkehrslenkung, militärische Steuerungssysteme, Flugzeuge, Operationssäle, elektronisch gesteuerte Prothesen, Fütterungsanlagen und vieles mehr. Hilflose Ingenieure, Kaufleute, Banker, Ärzte, Militärs und viele andere, auch Privatleute natürlich, würden handlungsunfähig vor nichtssagenden Bildschirmen sitzen, im schlimmsten Fall natürlich alle zugleich. In hoch entwickelten Ländern würden Menschen vorübergehend auf Lebensweisen zurückgeworfen, die die Jüngeren dort nie gekannt haben und nicht mehr beherrschten. Aber vergleichsweise, sagte Constanze, seien selbst die bösesten Cyberwaffen doch zivilisierte Waffen, sie ließen ja fast alle ihre Opfer erste einmal leben. Wie man sich denn davor in Zukunft schützen könne, fragte ich. Ihre Antwort: Wir werden immer verwundbarer. Jedes Jahr, jedes Jahrzehnt etwas mehr. – Wer ist wir?, fragte ich. Die Bürger, der Staat, die Wirtschaft? – Friseure und Yogalehrer haben weniger zu befürchten, sagte sie mit einem sarkastischen Lächeln. Und dann: Der hoch entwickelte Staat ist am stärksten gefährdet, aber er ist natürlich auch die größte Gefahr. Was später als das digitale Hiroshima bezeichnet wurde, kam genau fünf Jahre danach. Dass schon seit Längerem nicht nur die USA, China, Russland, Indien und Großbritannien, sondern mindestens ein Dutzend weiterer Staaten andere Staaten mit 163 einem Cyberangriff wirtschaftlich und militärisch lähmen konnten, war längst ein offenes Geheimnis gewesen. Aber würde je ein Staat einen solchen Angriff wagen? Würde überhaupt je ein Staat ein plausibles Motiv dafür haben? Nein, war lange die gängige zuversichtliche Antwort gewesen, aber sie war eben falsch. Die richtige Antwort war: Wie die USA im August 1945 in Hiroshima das atomare Exempel statuiert hatten, würden sie irgendwann in diesem Jahrhundert einen exemplarischen digitalen Blitzkrieg führen. Eines ihrer Motive: sich noch einmal ihrer Weltmachtrolle zu vergewissern. Zuerst traf es Nordkorea, kurz danach das unberechenbar gewordene Katar, das mehr als zwei Jahrzehnte lang islamistische Terrororganisationen und Schurkenstaaten finanziell unterstützt hatte. Nach diesen beiden Attacken hatte endgültig der globale kalte Cyberkrieg begonnen. Wie siebzig Jahre vorher in den atomaren schlitterte die Welt nun in den digitalen Overkill. Und wie der kalte Krieg des 20. Jahrhunderts eine Zeit geistiger und moralischer Erstarrung gewesen war, so auch diesmal. Können wir heute, zu Beginn des letzten Jahrhundertviertels, auf die Geschichte des kalten Cyberkriegs schon so distanziert zurückblicken, wie man Anfang des Jahrhunderts auf die Geschichte des kalten Atomkriegs zurückblickte? Natürlich nicht. Der erste Atomwaffeneinsatz war zumindest ein heilsames Inferno gewesen, das die Menschheit vor sich selbst hat erschrecken lassen. Das digitale Hiroshima war weder ein solches Inferno noch ein heilsamer Schock. Es traf mit Nordkorea einen rückständigen Staat, der die vorübergehende digitale Hilflosigkeit vergleichsweise leicht verkraftete. Noch immer sind im kalten Cyberkrieg die Beteiligten für nichts reif, das wenigstens einem Atomwaffensperrvertrag gleichkäme. Noch ist nicht einmal verwunden, wie wenig der Cyber-Blitzkrieg gegen Nordkorea bewirkt hat. Natürlich hatten die USA sich nicht träumen lassen, dass die Bürger Nordkoreas nach diesem Angriff enger denn je zusammenrücken würden, dass das Regime danach freiere Wahlen denn je veranstalten und dabei einen klaren Sieg erringen würde, dass die Angegriffenen sich danach als stolze Opfer feiern würden und der erfolgreiche Angreifer, die USA, nicht 164 nur in ihren Augen am Ende blamiert sein würde, dass das ebenfalls angegriffene Katar sich mit Hilfe Chinas von dem Angriff rasch erholen und beide sich danach zu umso erbitterteren Gegnern der USA wandeln würden. Nichts davon hatten die USA vorausgeahnt. Sie hatten seit dem Zweiten Weltkrieg viele echte oder vermeintliche Feinde nutzlos bekriegt, aber sie hatten wenig daraus gelernt. Immerhin Eines war nach diesen ersten Akten von Cyberkrieg erreicht: Den USA und anderen digitalen Weltmächten dämmerte langsam: Verwundbar sind alle, aber am verwundbarsten sind wir selbst. Wir sind dem vordigitalen Leben gründlicher als alle anderen entwöhnt, also würden die Zerstörungen eines Cyberkriegs uns hilfloser machen als alle anderen. Also sind wir es, die sich am allermeisten vor einem solchen Krieg fürchten müssen. Als ich am Ende des Seminars mit Constanze darüber sprach, welche Veränderungen des zweiten Jahrhundertquartals wir am wenigsten vorausgeahnt haben, waren wir uns schnell einig. Es war die neue Verwundbarkeit. Und einig waren wir uns auch darüber, dass diese Verwundbarkeit bleiben würde. Sie würde immer wieder verdrängt werden, aber sie würde so wenig verschwinden wie die Atomwaffen und die atomare Bedrohung. Die Menschheit würde sich damit irgendwie arrangieren müssen. Constanze hatte zu dieser Zeit aber auch ganz andere Bedrohungsszenarien vor Augen. Eines der bedrohlichsten Szenarien sei, dass Staaten immer abhängiger von anderen Staaten würden, die über – globale oder lokale – Monopole für weltweit immer knapper werdende Energieträger und Rohstoffe verfügten, z.B. für seltene Erden, aber auch für früher unerschöpflich geglaubte Ressourcen wie Holz, Wasser und Sand. Die Frage werde daher sein, wie die Menschheit mit all diesen neuen Verwundbarkeiten, diesem neuen gegenseitigen Bedrohungs- und Erpressungspotential von Staaten umgehen werde. Sie fürchte, sagte Constanze, die Menschheit schlittere in diese neue Zeit so unvorbereitet hinein wie im 20. Jahrhundert in die Ära der Weltkriege und der Atomwaffen. Auch in ihrer 165 Consultingpraxis sei sie in diesen Fragen nicht auf hoch entwickeltes Bewusstsein gestoßen, allenfalls auf hoch entwickelte Ängste. Dann nannte sie ein Beispiel, das auch mich erschütterte. Cyberwaffen könnten künftig von Staaten genutzt werden, um von anderen Staaten Entschädigungen für vielerlei früher erlittenes Unrecht zu erpressen. Dabei gehe es nicht nur um Reparationen. Vorstellbar sei zum Beispiel, dass den bisherigen Industrie- und Wohlstandsstaaten eines Tages vorgerechnet werde, was sie mit ihren maßlosen klimaschädigenden Immissionen und mit ihrem maßlosen Verbrauch natürlicher Ressourcen anderen Nationen an Wohlstandschancen genommen hätten. Würden diese Nationen ihr Drohpotential im kalten Cyberkrieg ausschöpfen, dann würde die Welt in den schlimmsten bisher denkbaren kalten Krieg schlittern. Und schlimmer noch: Dann könnten auch nichtstaatliche Cyberterroristen sich dafür rüsten, an den alten Industrie-und Wohlstandsstaaten digitale Vergeltung zu üben. Ich hatte keinen Grund zu widersprechen, ich konnte nicht einmal kluge Fragen dazu stellen. Aus reiner Verlegenheit fragte ich dann, was Hauser wohl dazu sagen würde, und auch darauf hatte Constanze eine Antwort. Hauser, sagte sie, würde fragen, ob die Demokratie uns hilft, diese Herausforderungen zu bewältigen. Wo denn die demokratischen Politiker seien, würde er fragen, wo die demokratischen Regierungen, die demokratischen Parteien und die internationalen Organisationen, die solchen neuen Herausforderungen gewachsen sind. – Und er würde sagen, dass er sie nirgendwo sehe? – Ja, und dass Wahlen daran nichts ändern. – Weil demokratische Parteien und demokratische Staaten damit systematisch überfordert sind? Constanze neigte kaum merklich den Kopf und strahlte mich mit einem warmen, zufriedenen Lächeln an. – Matthias, sagte sie, mit wem außer mit dir kann man solche Gedanken so zu Ende denken? 166 Ich war etwas verlegen. War der Gedanke für sie damit zu Ende gedacht? Oder war dies wirklich als Frage gemeint? Sollte ich sagen: Mit dir? Oder: Danke für das Kompliment? Nein, beides nicht, dachte ich dann, und genau dabei fiel mir die einzig richtige Antwort ein: – Mit Tian, sagte ich. Ich staunte in diesem Moment selbst, mit welcher Selbstverständlichkeit ich plötzlich auf Tian gekommen war. Natürlich hatte Constanze mit nichts weniger gerechnet. Ich wartete einige Sekunden, bis die Verblüffung aus ihrer Miene gewichen war. Dann erklärte ich ihr, was man von einem wie Tian über die Leistungsfähigkeit politischer Regimes lernen könne. Zum Beispiel, dass Demokratien mit einem Problem wie dem kalten Cyberkrieg überfordert sein mögen, aber das chinesische Regime eher nicht. – Vielleicht, sagte ich dann, ist es China, das in der Befriedung des kalten Cyberkriegs einmal die führende Rolle spielen wird. – Glaubst du das wirklich?, fragte sie ungläubig. Ich erschrak. Hatte ich diesen Anschein erweckte? Ja, so hatte es wohl geklungen. Ich hatte einen von Tians Gedanken fast so selbstverständlich vorgebracht, als sei er mein eigener. Und ich schämte mich dessen nicht. Ich war sogar ein bisschen stolz darauf. – Dass wir auch in dieser Frage von China werden lernen können, sagte ich noch selbstbewusster, das dürfen wir nicht ausschließen. Flächengewinne der Demokratie Lässt sich der Fortschritt der politischen Zivilisierung auf der politischen Landkarte darstellen? Kann man diesen Fortschritt nicht einfach mit der Ausbreitung der Demokratie gleichsetzen, ihn also an den Veränderungen auf der Weltkarte der Demokratie ablesen? 167 So einfach ist es natürlich nicht. Schon über die Frage, was man als Demokratie gelten lässt und was nicht, welche Staaten also im politischen Geschichtsatlas als Demokratien auszuweisen wären, gehen die Meinungen sehr weit auseinander. Sind Staaten, in denen die demokratischen Verfahren praktiziert werden, in denen aber trotzdem Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit missachtet werden, Demokratien? Gehören Staaten, wo demokratische Wahlen die Macht in unzivilisierte Hände gelegt haben, auf die Weltkarte der Demokratie? Natürlich gehören sie dahin, aber viele wollen dies trotzdem noch immer anders sehen. Viele wollen eine Demokratie nur dann als Demokratie gelten lassen, wenn der demokratische Prozess in zivilisierte Politik mündet. Damit wollen sie den Demokratiebegriff schützen, aber sie erschweren damit zugleich die Auseinandersetzung mit den Schwächen der Demokratie. Zählt man zu den Demokratien aber alle Staaten, die demokratische Verfahren praktizieren, dann zeigt ein Geschichtsatlas der Demokratie dies: Die Demokratie hat sich bis in die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts hinein über den allergrößten Teil der Welt ausgebreitet, den größten Teil Afrikas und einen Teil der arabischen Welt eingeschlossen. Die einzige wirklich große Ausnahme war zur Mitte des Jahrhunderts noch China. Viel demokratischer konnte die Welt insofern zu dieser Zeit nicht mehr werden. Aber selbst China ist, so hatte schon Tian argumentiert, kein eindeutiger Fall. Für Tian war China eine Demokratie besonderer Art. In China herrsche zwar – de facto zumindest – die kommunistische Partei, China sei also ein Einparteienregime, aber die Partei repräsentiere dort das Volk. Er wisse natürlich, dass das früher und noch bis die jüngste Zeit anders gewesen sei, aber mittlerweile werde fast jeder Chinese, der es wolle, in die Staatspartei aufgenommen, und dort könne er politischen Einfluss nehmen. In einigen westlichen Demokratien müsse man sich ja, um wählen zu können, als Wähler registrieren lassen. Der Eintritt in die chinesische Staatspartei sei nicht mehr viel anderes als eine solche Registrierung. 168 Ich wandte ein, in China seien nicht einmal zehn Prozent der erwachsenen Bürger Parteimitglieder, das chinesische System sei insofern die Herrschaft dieser Minderheit. Aber auch das ließ Tian nicht als Argument gelten. Parteimitglieder, sagte er, seien in China diejenigen, die sich gründlicher als andere mit Politik befassten. Auch in westlichen Demokratien befassten sich doch allenfalls zehn Prozent der erwachsenen Bürger gründlich mit politischen Sachfragen, und Politik würde doch eher besser als schlechter, wenn hauptsächlich diese zehn Prozent über sie bestimmten. Dazu fiel mir kein schlüssiges Gegenargument ein. Bei einem späteren Treffen habe ich auch darüber mit Hauser gesprochen. Sein spontaner Kommentar war: – Kluger Kopf, dieser Tian. Hauser war eben immer noch für Überraschungen gut. Natürlich hatte ich von ihm etwas anderes erwartet. Vielleicht ein mitleidiges: Chinesen sind eben immer noch keine Demokraten. Oder ein sachliches: China ist eben noch nicht reif für die Demokratie. Stattdessen sagte er: – Über diesen Tian würde ich gern mehr wissen. Dann erzählte ich ihm, wie Tian das Einparteiensystem mit fast dem gleichen Argument gerechtfertigt hatte, das er, Hauser, mir vor langer Zeit einmal vorgehalten hatte. Wie Tian argumentiert hatte, dass die Politik im Mehrparteiensystem der Politik im Einparteiensystem immer ähnlicher werde, da ja im Mehrparteiensystem die Unterschiede zwischen den Parteien, den halbwegs seriösen zumindest, immer geringer würden; dass daher in vielen demokratisch gewählten Parlamenten die Meinungsvielfalt zumindest substanziell kaum größer sei als in der kommunistischen Partei Chinas; dass sich insofern das westliche System und das chinesische einander weit angenähert hätten, und zwar beiderseits, auch wenn man sich das im Westen nicht eingestehe. Hauser verfiel darauf in ein längeres Schweigen. 169 – So, sagte ich schließlich, scheinen Chinesen noch immer zu denken, auch die klügeren unter ihnen. Wieder keine Antwort. – Tian, sagte ich, findet also das chinesische Einparteiensystem fast so gut wie unsere parlamentarische Demokratie. Gewagte These. – Nein, nein, sagte Hauser. Nein, gewagt ist es ganz und gar nicht. Es nur falsch formuliert. – Wie würdest du es denn formulieren? – Ich würde sagen: Unser Mehrparteiensystem ist fast so schlecht wie das chinesische Einparteiensystem. Ich sah ihn wortlos an. Er schien es zu genießen, erwiderte meinen Blick und wartete. Dann sagte er: – Ja, das hätte auch ich bis vor Kurzem nicht so formuliert, aber man wird ja auch als alter Mann noch klüger. "Unser Mehrparteiensystem ist fast so schlecht wie das chinesische Einparteiensystem" – dieser Satz hallt in meiner Erinnerung bis heute nach. Als wir dann auseinandergingen, sagte Hauser noch: – Lass den Kontakt zu diesem Tian nicht abreißen. Aber zurück zur Ausbreitung der Demokratie. War in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts nicht doch Wirklichkeit geworden, was fünfzig Jahre vorher als Ende der Geschichte bezeichnet worden war? War also die Geschichte der politischen Zivilisierung doch so gut wie beendet? Würden die Staatsbürger dieser Welt sich nicht bald zurücklehnen können im Wissen: Ab jetzt wird das gleiche politische Spiel mit den gleichen Regeln für immer weitergespielt? Ja, es gab noch immer gescheiterte Demokratien, noch immer waren in demokratischen Staaten 170 Staatsgrenzen und Fragen der Staatszugehörigkeit gewaltsam umkämpft, und noch immer gab es demokratische Staatsführungen, die mit Terrororganisationen kooperierten, noch immer stieß legitimer Separatismus auch in Demokratien auf staatliche Repression, noch immer herrschte in den meisten demokratischen Staaten extreme soziale Ungleichheit, noch immer gab es in vielen Demokratien wiederkehrende Perioden von Massenarbeitslosigkeit, noch immer gab es unter demokratischen Regierungen Staatspleiten, noch immer genossen Bürger demokratisch regierter Staaten großenteils nur elementarste Bildung, noch immer gab es in Demokratien Drogenkriege und noch immer waren viele demokratische Staatsapparate von Korruption und von organisierter Kriminalität durchsetzt. Noch immer konnte man sich also eine viel bessere Welt wünschen als die bestehende demokratische. Aber waren nicht zumindest die Spielregeln, nach denen die Welt weiter zu verbessern wäre, zu Ende entwickelt? Konnte man sich, wenn man realistisch war, als Staatsbürger überhaupt Größeres wünschen, als Parlamentsabgeordnete und politische Amtsträger mitwählen zu dürfen? Nein, eigentlich nicht, im Großen und Ganzen wenigstens. So ungefähr, das gestehe ich, dachte auch ich damals noch immer. Natürlich waren die Möglichkeiten direkter Demokratie, von Volksentscheiden über politische Sachfragen also, nicht ausgeschöpft, aber ob etwas mehr direkte Demokratie die Politik wirklich besser machen würde, das wusste niemand genau. Ob es Besseres geben könnte als die bestehende Demokratie, die so genannte repräsentative also, die eine Parteiendemokratie ist, erschien insofern höchst zweifelhaft. Hauser hatte über die Demokratie einmal gesagt, sie sei in die Fläche gewachsen, aber nicht in die Tiefe. Darüber, wie eine vertiefte Demokratie aussehen könnte, hatte er nichts gesagt außer, dass wir uns davon dringend eine Vorstellung machen müssten. Er hatte natürlich Recht. Wie konnten wir uns auch mit der Demokratie, wie sie ist, abfinden, wo in den meisten Demokratien die politische Zivilisierung bedrohlich stagnierte, wo in anderen Demokratien die Bürger wieder Sympathien für die 171 Autokratie entwickelten und immer noch junge Demokratien tragisch scheiterten? Musste der Westen nicht wenigstens diesen Staaten, früheren Kolonien zum Teil, eine für sie geeignetere Staatsform finden helfen? Nichts davon war geschehen, und nichts davon zeichnete sich ab. Die meisten Demokratisierungsversuche in der arabisch-muslimischen Welt hatten in einem zivilisatorischen Fiasko geendet. Innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen hätten hier hundertmal demokratische Wahlen abgehalten werden können, ohne dass damit innerstaatlicher Frieden gestiftet worden wäre. Kein Wunder also, dass so viele Bürger dieser Region immer noch so wenig Hoffnung in die herkömmliche Demokratie setzten. Worauf sonst aber hätten sich dort politische Hoffnungen gründen lassen? Dass irgendein weiser arabischer Staatsgründer die Weltbühne betreten und neue Wegweisungen geben würde, die der Westen nicht zu geben in der Lage war? Diese Illusion hegte niemand. Kein Wunder also auch, dass die über Staatsgrenzen zerstrittene arabische Welt die Neuordnung weiter mit den gleichen Mitteln versuchte wie früher Europa: mit erbittertem Krieg. Nirgendwo war in dieser Zeit klarer zu erkennen, wie wenig Demokratie und die Aussicht darauf Menschen vor Politikversagen schützten. Trotzdem blieb die westliche demokratische Welt darauf fixiert, die Flächengewinne der Demokratie abzusichern und zu vollenden. Konzepte, die auf, wie Hauser es nannte, eine Vertiefung der Demokratie abzielten, waren nicht gefragt, und Menschen, die für eine vertiefte Demokratie eintraten, machten noch kaum von sich reden. Daran änderte auch der desolate innere Zustand vieler etablierter Demokratien nichts und auch nicht die Tatsache, dass Anfang der vierziger Jahre die Wahlbeteiligung in fast allen etablierten Demokratien auf neue historische Tiefstände sank. Einen neuen Tiefststand erreichte auch das Niveau demokratischer Wahlkämpfe. Deutschland hatte immer noch das Glück, dass mit Guttenbergs Deutschen Demokraten eine vergleichsweise zivilisierte Partei das rechtspopulistische Wählerpotential einfing. Wer die Deutschen Demokraten zur Gefahr für die Demokratie aufbauschte, der konnte in der Wählergunst nur verlieren. Im 172 Wahlkampf 2041 nahmen die Altparteien sich daher die Muslimisch Soziale Union als Feindbild vor, und in ihrem hysterischen Kampf um Aufmerksamkeit überboten sie einander dabei in verunglimpfender Rhetorik. Es war das bis dahin unwürdigste Wahlkampfspektakel in der Geschichte der Bundesrepublik. Verblichenes Vorbild Europa Früher hatte ich nie das Gefühl gehabt, als Archivar anders zu sein als andere. Hätte mir – ein Beispiel nur – jemand gesagt, Archivare seien nicht gerade unterhaltsam, hätte ich geantwortet, das Archiv sei manchmal wie eine Kleinkunstbühne, die Archivwissen für die Redaktion aufführt. Aber die Archivarbeit hatte sich natürlich gewandelt, sie war noch nüchterner und sachlicher geworden als immer schon. Niemand, der – wie ich früher – eigentlich Redakteur werden wollte, wäre noch auf die Idee gekommen, sich im Archiv zu bewerben. Aber ich mochte die Menschen, die zu uns kommen wollten. Wer waren denn auch die anderen, die uns Archivare für Langweiler hielten? Für mich waren es Menschen, die ihr Leben zu rastlos, zu gewollt und oft auch gekünstelt zu inszenieren versuchten, als Show, als Abenteuer oder auch als überdrehte Talkshow. Im Archiv brauchten wir solche Leute nicht. Dann doch lieber Langweiler. Nicht das Übliche, dachte ich, und nicht, was wir brauchen, als ich die Bewerbung eines Klaus Mittermaier durchblätterte. Studium der Romanistik abgebrochen, diverse Praktika, kurzfristige Aushilfsjobs, zurzeit ohne Beschäftigung. Auf dem Foto die Haare zu einem kurzen Zopf gebunden, Fünftagebart, zerknittertes Hemd, Wolljacke. Gerade gut genug für eine Bewerbung als Kurierfahrer, dachte ich. Auffällig nur seine Augen. Der Blick etwas gelangweilt, aber hintersinnig. Vielleicht war es das, was mich noch einmal hinschauen und einen zweiten Blick auf den Lebenslauf werfen ließ. Da sah ich: Ein Praktikum bei H. & C. Consulting. In Constanzes Firma. Vor zwei Monaten. Dann das Bewerbungsgespräch. Seine Fettleibigkeit gut unter lockerer Kleidung verborgen, etwas linkisch in seinen Bewegungen, aber keine Spur von Unsicherheit. 173 Und dann die Stimme. Ein melodischer, auch im leisen Tonfall raumfüllender Klang. Der kurze Bart verbarg nicht ein angedeutetes Dauerlächeln, von dem man nicht wissen konnte, ob nicht auch eine Spur Herablassung darin lag. – Ich soll Sie übrigens von Constanze Cramer grüßen. Ist ja eine enge Freundin von Ihnen. Das war einer seiner ersten Sätze. Constanze eine enge Freundin? Studienbekanntschaften, Ex-Kollegen, die einander respektierten und mochten, das waren wir, aber viel mehr doch nicht. Nun stand hier dieser Büroassistentenbewerber, dieser Klaus Mittermaier, und erklärte mir, dass Constanze meine enge Freundin war. Als ich dann weiterfragte, kamen diese scheinbar perfekten, routinierten Antworten, mit einer Selbstverständlichkeit vorgetragen wie nach einem langen Bewerbungstraining, makellos und immer mit diesem verdeckten Mona-LisaLächeln. Wäre sein Aussehen nicht gewesen, hätte ich gedacht: ein gepflegter Bildungsbürger. "Danke für Ihren Besuch. Wir melden uns dann bei Ihnen." So knapp und sachlich beendete ich das Gespräch. Überzeugt hatte er mich nicht. Aber wie Millionen der Neugier auf das Geheimnis der Mona Lisa nachgeben, gab ich der Neugier auf diesen Mann nach. Zuerst schickte ich eine Mail an Constanze: Ob sie sich einen Klaus Mittermeier, den sie wohl kenne, als Archivmitarbeiter vorstellen könne. Zwei Tage lang ließ sie mich bangen, dann kam das erlösende: Wenn du Mut hast, dann nimm ihn. Wenn. Also doch eine Bedingung. Wie mutig war ich? Wie viel konnte und wollte ich als Archivleiter noch riskieren? Nein, großen Mut hatte ich nicht, aber die Neugier war umso stärker. Der Personalchefin erklärte ich es schließlich so: Das Archiv drohe langsam zu überaltern, auch im Archiv sollten wir uns dringend mit jungen Leuten verstärken, nicht unbedingt solchen, die so dächten wie die meisten anderen, aber solchen, die 174 wüssten, wie die meisten Jüngeren dächten, und so einer scheine dieser Klaus Mittermaier zu sein. Mittermaier – ich nenne ihn hier einfach Klaus – war sicher nicht auf Jobsuche gewesen, um irgendwo lange zu bleiben, erst recht nicht in irgendeinem Archiv. Aber er blieb. Vielleicht hätte man ihn nirgendwo sonst lange ertragen, schon wegen seiner kleinen launigen Marotten. Im Archiv trug er meistens – "Empfehlung meines Orthopäden" – Sandalen, aber manchmal tänzelte er auch barfuß summend und fast schwebend über die Büroflure. Ich hielt, solange ich konnte, eine schützende Hand über ihn. Klaus war ein Sonderling, aber seine Lieblingsrolle war die des gespielten NichtSonderlings. Wann immer jemand ein gängiges Vorurteil unkritisch wiedergab, stimmte er eilfertig zu, manchmal beiläufig, manchmal emphatisch, immer in einem Tonfall, der jeden Zweifel zu ersticken schien, aber mit einer abgrundtiefen unterschwelligen Ironie. So konnte er noch die dürftigsten, ja absurdesten Argumente in täuschendem Wohlklang vortragen: – Nein, Parteien überzeugen mich nicht, aber zum Wählen braucht man ja keine Überzeugung. – Ja, die Kriege der NATO-Staaten haben die Welt verbessert. – Ja, für richtige Überzeugungen dürfen auch Glaubenskriege geführt werden. – Ja, ohne Euro auf Dauer kein Wohlstand. Die Schweiz und Norwegen werden sich noch wundern. Selten war er um solche Antworten verlegen, am allerwenigsten zum Thema Europa. Der noch glühende oder auch der schon skeptische Europäer, das waren seine Paraderollen. Er beherrschte alle europapolitischen Denkschablonen und deren entlarvende Übertreibung. "Ja, ohne die EU hätte es auf deutschem Boden doch längst wieder Krieg gegeben – kurze Pause – Kriege gegeben." Solchen Sätzen ließ er, die Verblüffung des anderen genießend, ein dezent überlegenes Lächeln folgen. 175 Von überragender Intelligenz war er nicht, aber er war ein begnadeter Bloßsteller. Ohne jeden Anspruch, es besser zu wissen. Von dem glühenden Europäertum, das die Entwicklung der EU jahrzehntelang getragen hatte, war schon in den frühen zwanziger Jahren kaum etwas übrig geblieben. Der EU-Austritt der Briten nach dem Referendum von 2016 hatte auch im kontinentalen Europa für mehr Nüchternheit in Sachen europäischer Integration gesorgt. Aber die Europapolitik der etablierten Parteien und Politiker – und erst recht natürlich die Politik der EU-Institutionen – berührte dies kaum. Zu groß war die Angst, dass einer Abkehr von europapolitischen Dogmen ein Rückfall in alte Ressentiments folgen könnte. Getrieben auch von der Angst vor Erstarrung und vor der Gleichgültigkeit der Bürger, hatte die EU daher ihr Heil in neuem Erweiterungsaktonismus gesucht. Sie hatte zuerst Montenegro und Mazedonien aufgenommen und dann Serbien, danach Bosnien-Herzegowina und Albanien, und für die Ukraine und Moldawien hatten Aufnahmeverhandlungen begonnen. Die Türkei, Armenien und Georgien sollten in weiteren Schritten folgen. All dies, obwohl sich gezeigt hatte, dass bei Europawahlen die Wahlbeteiligung tendenziell umso geringer wurde, je größer die Zahl der Mitgliedsstaaten geworden war. Sie lag inzwischen nur noch ganz knapp über 30 Prozent. Populistische Parteien, die meisten europaskeptisch, stellten im Europaparlament ein Drittel, Klein- und Kleinstparteien etwa ein Viertel der Abgeordneten. Berechenbare Mehrheitsverhältnisse gab es nicht, die meisten Abstimmungen gerieten zur Lotterie, Ministerrat und Regierungschefs trafen sich in immer kürzeren Abständen zu Krisensitzungen, und Entscheidungen, die der Zustimmung des Europaparlaments bedurften, wurden kaum noch getroffen. Europa verwaltete seinen Status quo. Die Politiker fühlten sich mit dieser EU weiterhin wohl, aber immer weniger Bürger taten es. Umfragen zeigten, dass die Bürger vieler europäischer Regionen nicht mehr EU-Bürger wären, wenn sie die Wahl hätten. Diese Wahl hatten sie aber nicht. 176 Genauer gesagt, die Politiker der etablierten Parteien gaben sie ihnen nicht. Darin war man sich nach dem britischen Referendum über den EU-Verbleib europaweit einig. Oder gab es vielleicht einen Trick, der das scheinbar Aussichtslose doch ermöglichen könnte? Konnte man sich zum Beispiel aus Europa hinauswerfen lassen? Es waren die Schotten gewesen, deren erstes, gescheitertes Unabhängigkeitsreferendum diese Möglichkeit hatte aufscheinen lassen. Gründet ihr euren eigenen Staat, so war den Schotten gedroht worden, dann seid ihr nicht mehr Mitglied der EU, und ihr werdet es vielleicht nie mehr werden können. Die Schotten konnten damals noch nichts Positives darin sehen und ließen sich von dieser Drohung einschüchtern. Aber die Saat separatistischer Neigungen, die auch auf den Ausstieg aus der EU abzielten, reifte weiter heran. Separatistisches Streben nach staatlicher Eigenständigkeit kann auf kühlem Kalkül beruhen. Es kann darauf beruhen, dass Bürger einer wohlhabenden Region ihren Wohlstand nicht mehr mit Bürgern ärmerer Nachbarregionen teilen wollen. Aus solchem ökonomischen Kalkül entstehen aber keine Massenbewegungen, die den mühevollen Weg zur Unabhängigkeit durchstehen könnten. Separatistische Massenbewegungen müssen von Emotionen getragen sein. Ihnen geht es immer auch um Bedürfnisse nach politischer Identifikation. Im Europa der EU entstehen solche Bewegungen dort, wo weder der Nationalstaat noch das politische Europa diese Identifikation mehr hervorbringen. In Katalonien zum Beispiel. Spanier zu sein war für die meisten Katalanen eher Last als Lust, und die Zugehörigkeit zu Europa kompensierte dies nicht. Spanien hatte dem katalanischen Unabhängigkeitsstreben immer neue Steine in den Weg gelegt und tat es weiterhin, und es verschanzte sich dabei hinter der Verfassung. Und weil all dies mit ausdrücklicher Billigung fast aller EU-Partner geschah, wendeten die Katalanen sich mit ihren Aktionen schließlich direkt gegen Europa. Die Konsequenz war irgendwann unvermeidlich: Der Wahlboykott bei den Europawahlen. 177 Ein kluger Schachzug war dies, klüger natürlich und von einer breiteren Mehrheit getragen als alle denkbaren militanten Aktionen. Wir Katalanen wollen nichts anderes als damals die Russen auf der Krim, war eines ihrer Argumente, aber wir wollen es ganz aus eigener Kraft. Wer ins EU-Parlament gewählt würde, war für die Katalanen sowieso unwichtig, so unwichtig wie für die allermeisten Europäer, also würden sie sich mit einem Boykott der Europawahl nicht schaden. Dieser Wahlboykott, das wussten die Katalanen natürlich, würde politisch erst einmal wenig bewirken, aber er würde ein starker symbolischer Akt sein. Er würde die Gegner der katalanischen Unabhängigkeit moralisch weiter in die Defensive drängen. Es gibt wohl wenige Ereignisse, die das Denken über Europa in unserem Jahrhundert stärker verändert haben. Bei der darauf folgenden Europawahl schlossen sich die Schotten und in letzter Minute auch die Flamen dem Boykott an. Das Ergebnis übertraf die Erwartungen. In Schottland, Katalonien und Flandern lag die Wahlbeteiligung bei knapp 15%. Aber das war erst der Anfang. Den Europawahlen 2043 blieben nicht nur Separatisten demonstrativ fern, in ganz Frankreich, in ganz Deutschland und auch in anderen Ländern sank die Wahlbeteiligung auf unter 25 Prozent. Die Medien überschlugen sich in alarmistischen Kommentaren. Kann dieses EU-Parlament noch für die Bürger sprechen? Darf es überhaupt noch Entscheidungen treffen? Ganz Europa sprach darüber, dass ein Ruck durch die Institutionen der EU gehen müsste, aber konkrete Vorstellungen davon gab es nicht. Dann, ein paar Jahre nach der Desasterwahl, kam das, was eine Zeitlang der Zweite Europäische Frühling genannt wurde. Dieser Frühling kam nicht spontan, er war ein politisches Artefakt. Es begann mit der fast zwei Jahre langen Imagekampagne für Europa, finanziert, wie sich später herausstellte, aus zweckentfremdeten Mitteln des EU-Haushalts und aus Spenden großer europäischer Unternehmen und Banken. Die Kampagne wurde konzipiert von den teuersten Werbeagenturen Europas, und sie wurde unterstützt von Prominenten aus dem Showbusiness und dem Sport, von einigen Schriftstellern und Intellektuellen und von Durchschnittsbürgern, die sich in Interviews als begeistere EU-Anhänger 178 präsentierten. Die etablierten Parteien hatten dabei im Hintergrund die Fäden gezogen, und nun spielten sie das Spiel auch in vorderster Front mit. Sie ließen Eigenwerbung im gleichen Stil kreieren wie die Eigenwerbung der EU. Eine solche Werbekampagne hatte es in der Politik noch nicht gegeben. Es war eine neue Mischung der Stile, humorvoll und doch seriös, populistisch und doch anspruchsvoll, konkret und doch nebulös, vulgär und einen Hauch elitär, bescheiden und doch selbstbewusst. Einer der Slogans: Wir trauen Ihnen viel zu. Sie uns auch?, darunter: Ihre EU-Kommission. Dazu perfekt inszenierte Gruppenbilder strahlender Kommissare, einige mit ihren Kindern, vor einer ehrfurchtheischenden Landschaft oder städtischen Silhouette. Jeder Slogan, jedes Plakat, jedes Interview spielte gekonnt auf solch verschiedenen Ebenen. Ein gefundenes Fressen natürlich für Klaus, der auf den Fluren unseres Archivs unvermittelt Kollegen ansprach: Hey. Ich trau' dir viel zu. Dann wartete er, die Sekunde der Verblüffung für eine gnadenlos auffordernde Geste nutzend, bis der Kollege es herausbrachte: Ich dir auch. Die Kampagne wirkte. Bei der nächsten Europawahl stieg in den meisten Ländern die Wahlbeteiligung tatsächlich an. Wieder überschlugen sich die Medien. Europa blüht auf / Abgesang auf die EU abgesagt / Ohrfeige für die Europa-Nörgler und so weiter. Ich selbst kenne viele, die sich von der Kampagne anstecken und zum Wählen mitreißen ließen. Und ich bekenne hier: Ich war einer von ihnen. Und ich nehme es mir heute noch übel. Andererseits: Hätte es irgendetwas verändert, wenn es diesen kurzzeitigen Anstieg der Wahlbeteiligung nicht gegeben hätte? Die Kampagne hatte aber auch eine ungewollte Nebenwirkung: Sie trieb natürlich auch manche Europaskeptiker wieder an die Wahlurnen. Die Folge: Europaskeptische Populisten gewannen erstmals weit mehr als ein Drittel der Stimmen, und das EU-Parlament wurde entscheidungsunfähiger denn je. Der vermeintliche Europäische Frühling war danach fast so schnell vorbei, wie er gekommen war. 179 Auch die dritte große Finanzkrise des Euro-Raums in den frühen vierziger Jahren änderte daran nichts. Fast zwanzig Jahre lang war die Wirtschaft in den EuroLändern einigermaßen stabil geblieben, und die Staatsverschuldung war nicht weiter ausgeufert. Aber nun brach wieder eine Krise aus wie Anfang des Jahrhunderts, eine Bankenkrise also, eine Staatsverschuldungskrise, eine Konjunkturkrise und in Teilen Europas dramatische Krisen einzelner Wirtschaftszweige. Auch diesmal waren die südeuropäischen Staaten, wo sich die Jugend-Massenarbeitslosigkeit der vorherigen Krise gerade erst zurückgebildet hatte, am schlimmsten getroffen. Aber auch diese neue Krise nahmen die allermeisten Bürger noch mit erstaunlichem Gleichmut hin. Eine Erklärung dafür hatte ich lange Zeit nicht, aber dann hatte ich irgendwann das Glück, auch darüber einmal mit Constanze reden zu können. Sie erklärte es mir so: Die Wirtschafts- und Währungskrisen unseres Jahrhunderts seien nicht weniger schlimm als frühere, aber Regierungen und Zentralbanken hätten gelernt, sie zeitlich zu strecken. Gestreckt – und damit quasi verwässert – würde so auch die Empörung der Bürger. Zwischen Wirtschaftskrisen und politischen Krisen sei der Zusammenhang daher viel schwächer, als er es früher vielleicht einmal gewesen war. Es klang zu einfach, als dass es mich auf Anhieb überzeugte, aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr leuchtete es mir ein. Und es erklärte nicht nur die politische Folgenlosigkeit der jüngeren Wirtschaftskrisen. Könnte es nicht, dachte ich, fast ein politisches Prinzip unseres Jahrhunderts sein? Früher hatten Krisen die Bereitschaft geweckt, sich auf Neues einzulassen, in unserem Jahrhundert gibt es nur noch schleichende Krisen, nach denen alles bleibt, wie es war. Wir leben nicht nur im Jahrhundert schleichender Wirtschaftskrisen und eines schleichenden Weltkriegs. Alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen unserer Zeit werden so weit gestreckt, dass sie der politischen Phantasie keine zündenden Impulse mehr geben. Könnte demnach das Drama dieses Jahrhunderts gerade darin bestehen, dass es – zumindest in der westlichen Welt – zu Dramen nicht mehr fähig ist? Ich wurde mir immer sicherer: Kaum etwas hilft besser als diese Formel, unser Jahrhundert zu verstehen. 180 Zu dieser Formel passt natürlich, dass die erste Jahrhunderthälfte zu Ende ging, ohne dass von den etablierten Parteien irgendein altes europapolitisches Dogma ernstlich in Frage gestellt, geschweige denn über Bord geworfen worden wäre, also auch ohne Antwort auf die Frage, wie weit die EU sich tatsächlich noch erweitern sollte oder ob sie es – ohne Autorisierung durch die Bürger – mit der Erweiterung nicht schon viel zu weit getrieben hatte. Auch die weiter wachsende Stärke europaskeptischer Populisten hatte noch nicht das Zeug zum Drama. Man hätte annehmen können, dass Populisten und Separatisten in Europa einen politischen Schulterschluss versuchen würden, aber auch dazu kam es nicht. Dafür waren den Separatisten die politischen Botschaften von Populisten zu diffus, den Populisten die separatistischen Forderungen zu konkret. Stabile politische Mehrheiten jenseits der etablierten Parteien zeichneten sich noch nicht ab. Das politische Europa hatte es sich in seiner Sackgasse bequem gemacht. Aber wie lange konnte das noch gutgehen? Ich gebe zu, dass auch ich lange dem rat- und tatenlosen Zeitgeist verfallen war. Was gab es auch zu erwarten? Was zu befürchten? Wo keimten Veränderungen auf? Wohin hätte man seine Antennen richten, wo hätte man Neuem auf die Spur kommen können? Auch im Archiv hatten wir nicht das Gefühl, eine für Deutschland und den Westen irgendwie spannende Epoche zu dokumentieren. Vielleicht hätte ich diese Zeit anders erlebt, wenn ich wenigstens bis zur Jahrhundertmitte noch so intensive Gespräche mit Hauser hätte führen können wie vorher. Hauser blieb auch als gealterter Pensionär ein wacher Geist, aber er beobachtete nicht mehr mit der früheren Unerbittlichkeit und Schärfe. Er blieb dankbar, wenn ich ihn besuchte, aber Fragen, die es Einem wie Schuppen von den Augen fallen ließ, stellt er nicht mehr. Eine von Hausers späten tiefsinnigen Fragen war diese gewesen: Ob man nicht irgendwann einmal werde fragen müssen, was aus Europa würde, wenn man mit der europäischen Einigung noch einmal ganz von vorn anfangen könnte, unbelastet von alten Dogmen. Auch er wisse natürlich nicht genau, was dann geschehen würde, aber ganz sicher sei, dass dann etwas ganz anderes entstehen würde als das, was ist. 181 Sicher gebe es Errungenschaften, die niemand aufs Spiel setzen wolle, aber zumindest für die Bürger stünden die alt gewordenen europäischen Institutionen ja nicht unter Denkmalschutz. Auch politische Institutionen hätten so etwas wie eine natürliche Lebensdauer und er, Hauser, sei überzeugt, dass das politische Europa, so wie es ist, über seine natürliche Lebenserwartung schon weit hinaus sei. Viel konkreter hat Hauser sich dazu nicht ausgelassen, aber Eines stand für ihn offenbar fest: Irgendwann werde mit dem Aufbau eines politischen Europa noch einmal von vorn begonnen werden. Ich war gerade mit solchen Gedanken zur Zukunft Europas beschäftigt, als eine Mail von Tian auf meinem Handy erschien. Tian? Ich sah ungläubig auf das Display. Wirklich Tian, mit dem ich weit über ein Jahrzehnt lang keinen Kontakt gehabt hatte? Ja, er war es wirklich. Er schickte nur ein paar nüchterne kurze Sätze, kein Wort über damals, kein Wort über die vielen Jahre seit unserem letzten Kontakt, nur dies: Bin gerade auf einem Kongress in Boston. Melde mich wieder. Herzlich. Tian. Auch Hauser hatte sich früher gefragt, was aus diesem Tian wohl einmal werden würde, und er war enttäuscht, dass mein Kontakt zu ihm abgebrochen war. Nun von Tian dieser Zweizeiler. Immerhin: Melde mich wieder. Meine ersten Gedanken: Was würde er mir zu sagen haben? Welches Leben führt er heute, welche Arbeit tut er, wie denkt er, was weiß er über sein Land, das wir nicht wissen? Und wenn, würde er darüber reden können? Würde er es wollen? Fühlt er sich als freier Bürger? Denkt er politisch inzwischen wie wir, wie westliche Demokraten? So ging es mir die halbe Nacht durch den Kopf. Am nächsten Tag war mir klar: Meine Phantasie war mit mir durchgegangen. Tian war immer noch Chinese, China war immer noch China, es war noch immer ein Einparteienstaat, und China war noch immer Tians Heimat. Eine Abrechnung mit dem chinesischen System, das Bekennerschreiben eines Dissidenten im westlichen Geist, so etwas würde von ihm natürlich nicht kommen, und auch nichts darüber, ob, wie und wo sich in China möglicherweise Umbrüche anbahnten. Nichts von all dem, was man sich im Westen schon immer von vertraulichen Kontakten zu Chinesen 182 voreilig erhofft hatte. Andererseits war Tian nicht irgendwer. Etwas würde er zu sagen haben. Mehr als viele Grüße aus Boston. Aber was? Am Tag darauf dann die zweite Mail. Ein langer, sorgfältig formulierter Text. Mailt man in China in diesem Stil?, fragte ich mich. Aber viel anders waren auch die Mails nicht gewesen, die er früher im Archiv verschickt hatte. Altmodisch, dachte ich, aber bewahrenswert. Ich war erleichtert. Lieber Matthias, deine letzte Nachricht habe ich vor fast 15 Jahren bekommen, und ich habe sie nie beantwortet. Nimmst du meine Entschuldigung dafür an? Ich hatte immer gehofft, wir würden bald wieder miteinander reden können, ganz unter uns. Ich durfte jetzt zu einem Sinologenkongress in Boston reisen, und ich halte hier einen kleinen Vortrag über das chinesische Gesundheitswesen. Das ist eigentlich nicht meine Spezialität, aber ich wurde dafür ausgesucht. Erinnerst du dich noch an deine Frage "Was geht wie lange gut"? Wenn es um politische Regimes und Dogmen gehe, sagtest du, dann müsse man sich immer fragen, wie lange es damit noch gutgehe. Ich arbeite jetzt an einem Institut, das sich mit europäischer Politik beschäftigt. Genauer gesagt, mit der Zukunft Europas. Manche sind hier um Europa sehr besorgt. Sie glauben, dass die europäischen Institutionen nicht mehr lange stabil bleiben. Einige Kollegen meinen, dass die europäische Union spätestens in ein paar Jahrzehnten zerfallen wird. Wenn aber nicht einmal mehr das demokratische Europa stabil bleibt, sagen sie, dann hätte das Folgen für die Stabilität der ganzen Welt, vielleicht auch für China. Deswegen beschäftigen wir uns an unserem Institut jetzt sehr intensiv mit Europa. Darüber würde ich gern mit dir reden. Soll unser Institut dich einmal nach China einladen? In drei oder vier Jahren sind wir hoffentlich so weit, dass wir dir die richtigen Fragen stellen könnten. 183 Vielleicht könnten wir uns auch vorher einmal treffen, nur wir zwei. Übernächstes Jahr darf ich vielleicht wieder nach Europa reisen. Herzlich Tian. Überraschende Fragen, dachte ich, und doch auch eine Mail in chinesischem Geist, und das wir nicht negativ gemeint. Die Mail hatte eine sorgfältig formulierte Antwort verdient, das wusste ich, aber ich war gerade in Eile. Ich schrieb: Sehr gern zu zweit. Wann? Wo? Herzlich, Matthias. Ein Fehler natürlich. Ich hätte warten sollen. Ich hätte später antworten sollen, erst wenn ich Zeit haben würde für eine ausführliche Mail, wie er sie sicher erwartete. Ein Gebot der Höflichkeit. Ich hätte mich nicht hinreißen lassen dürfen zu diesem hektischen, lapidaren, auf jede Höflichkeitsfloskel verzichtenden, aus Tians Sicht möglicherweise typisch deutschen oder europäischen Zweizeiler. Von Tian kam keine Antwort. Aber diese eine Mail von ihm war schon aufregend genug. Ein Institut in China stellte also Prognosen zu Europa für die kommenden Jahrzehnte an. Ausgerechnet in China. Wurde irgendwo und von irgendwem in Europa versucht, für Europa so weit vorauszudenken? Womöglich nirgendwo, dachte ich, und von niemandem, von Politikern ohnehin nicht und auch nicht von Wissenschaftlern. Wer in Europa würde schon ein Institut beauftragen, Prognosen zum Zerfall der Europäischen Union anzustellen? Ganz anders also in China? Ausgerechnet in dem Land mit der rückständigen Einparteienherrschaft und dem, wie wir es im Westen noch immer sahen, rückständigen Bewusstsein, ausgerechnet dort machte man sich über Europa viel weiterreichende Gedanken als in Europa selbst? War China gerade dabei, Europa und den gesamten Westen in seiner politischen Voraussicht zu überholen? Oder hatte es das längst getan? Plante es für eine Zukunft, an die der Westen noch kaum zu 184 denken wagte? Wappnete man sich dort für Probleme und Aufgaben, die man im Westen noch immer nicht wirklich ernst nahm? Nichts anderes ließ sich aus Tians Mail doch herauslesen. Ich dachte daran, wie Tian, den ich früher so klug, so vertraut und doch auch etwas rätselhaft erlebt hatte, sich seither entwickelt haben musste. Und je länger ich daran dachte, desto glaubhafter erschien es mir: Ja, dieser Tian könnte einer von denen sein, die, wenn sie es denn dürfen und sollen, weit über ihre Zeit und den Zeitgeist hinausdenken, den Zeitgeist des eigenen Landes und anderer Teile der Welt. Und dieser Tian schickt mir nun eine solche Mail, fast als spreche er damit für ganz China. War dieses China mit seinem rückständigen Einparteienregime, das noch nicht einmal eine offene Gesellschaft im westlichen Sinne geworden war, war dieses China womöglich zukunftsfähiger als der demokratische Westen? Ja, dachte ich, warum eigentlich nicht. Diese eine Mail von Tian hatte mir die Augen für diese Möglichkeit geöffnet. Hatte die politische Kultur des Westens ihre führende Rolle in der Welt schon verspielt? Am Tag danach meinte ich mich an eine frühere Äußerung Tians zu erinnern, die ich damals nicht sehr ernst genommen hatte. Das chinesische Einparteienregime sei noch nicht liberal, hatte er gesagt, es sei vielleicht auch immer noch korrupter als manche westliche Demokratie, aber es sei mittlerweile sehr professionell geworden und auch weitsichtig. Was hatte er damit gemeint? Wahrscheinlich doch dies: Dass der Denkhorizont chinesischer Politik nicht von kurzen Legislaturperioden geprägt sei, dass deswegen viele Politiker in China langfristiger dächten als Politiker in westlichen Demokratien und dass in ihrem Auftrag andere, nämlich Leute wie Tian, noch langfristiger vorausdächten. Als ich seine Mail noch einmal Wort für Wort durchlas, formte sich dieser Gedanke immer klarer in meinem Kopf: Würde es mit dem chinesischen Regime vielleicht doch noch viel länger gutgehen, als man es im Westen annahm? Vielleicht sogar länger als mit der EU? Oder noch kühner gedacht: womöglich länger als mit den westlichen Demokratien? Welches politische System in welchem Teil der Welt wird 185 also am längsten überleben? Noch in der Minute davor hätte ich keine Sekunde gezögert: Jede Wette auf die westliche Demokratie, jede Wette auf Europa. Nun wusste ich: Es ist völlig offen. Das Elend des Parteienstaats Wie konnte ich ernsthaft gedacht haben, das chinesische Einparteienregime könnte länger überleben als die westliche Demokratie? Wie hatte diese eine Mail von Tian, meinem früheren Praktikanten, mich dazu anstiften können? War Tian mir in seinem politischen Denken so weit voraus? Dachte er und dachten Kollegen an seinem Institut mittlerweile vorausschauender, als selbst die nachdenklichsten und kritischsten Geister im Westen es taten? Ich versuchte mich an frühere kurze Gespräche mit Tian zu erinnern, in denen es um die westliche Parteiendemokratie ging. Hatte er womöglich schon damals, in seiner Praktikantenzeit, ähnliche Gedanken gehabt, und hatte ich sie nur nicht beachtet, weil Tian, so hellwach und hoch interessiert er immer wirkte, sich doch mit eigenen Meinungen immer zurückhielt und, wenn er denn Meinungen äußerte, sie oft mit seiner Gestik und Mimik im selben Moment zurückzunehmen schien? Weil er nie Meinungen anderer offen in Frage stellte, sondern allenfalls durch verhaltenes Schweigen? Aber dann erinnerte ich mich, wie Tian zumindest einmal eine sehr direkte und fast indiskrete Frage gestellt hatte: – Sind viele von euren Redakteuren in einer politische Partei? Es klang, als hätte er lange darauf gewartet, diese Frage stellen zu können, so überstürzt kam sie heraus. Ich sah ihn überrascht an. – Manchmal hat man den Eindruck, setzte er nach. Was sollte ich antworten? Dass ein politischer Redakteur gewisse Informationen am ehesten von einem Parteifreund bekommt, und dass der eine oder andere wohl schon 186 deswegen Parteimitlied sei? Aber warum wollte Tian es überhaupt wissen? Warum so dringend, dass er dieses eine Mal so direkt zu fragen wagte? – Darüber wird hier nicht gesprochen, sagte ich. Das ist Privatsache. – Du weißt es nicht? – Nein. Er sah mich ungläubig an. – Die allermeisten sind in keiner Partei, sagte ich schließlich. Er nickte kurz, dann wandte er den Blick ab, als müsse er nachdenken. – In China, sagte er dann, beobachten wir die Parteien genau, auch die deutschen. – Wer ist "wir"?, fragte ich. Er druckste verlegen. – Wen meinst du mit "wir"? Wieder keine Antwort. – Bist du Parteimitglied?, fragte ich dann kurz entschlossen. Die Frage, die ich ihm natürlich schon lange hätte stellen mögen. – Ja, sagte er schließlich. Ich bin in der Partei, aber nicht aktiv. Er sagte es entspannt und ganz und gar glaubwürdig. Ein passives Parteimitglied, einer der dazugehört, der Bescheid wissen will, aber nicht politisch aktiv sein will. Das passte. Von da an gingen Tian und ich vertrauter miteinander um. Tian hatte zum ersten Mal etwas über sich offenbart, und wir hatten ein Thema, zu dem wir beide mehr voneinander wissen wollten. Wir haben danach nie mehr als ein paar Sätze über politische Parteien ausgetauscht, aber wie Tian über Parteien dachte, das kann ich hier trotzdem in einem kurzen fiktiven Dialog zusammenfassen, den wir, dessen bin ich heute ganz sicher, so oder 187 ähnlich hätten führen können, wenn ich die Chance dazu beherzt genug ergriffen hätte. – Was weiß man denn in China über die deutschen Parteien? – Dass sie immer weniger Mitglieder haben. Dass es bei euch keine Volksparteien mehr gibt. Unsere Partei ist darüber sehr besorgt. – Chinas kommunistische Partei macht sich Sorgen über den Mitgliederschwund deutscher Parteien? – Ja. Wir sehen, dass es bei euch die klügsten Köpfe nicht mehr in die Parteien zieht. Für eine Parteiendemokratie ist das schlimm. Ihr werdet von Parteien regiert, denen es an klugen Köpfen fehlt. – Selbst wenn es so wäre: Unsere Parteiendemokratie funktioniert immer noch besser als euer Einparteiensystem. – Wirklich? Bei uns sind die meisten klugen Köpfe noch immer in der Partei. – Noch? Kluge Köpfe wie du sind bei euch noch Parteimitglieder? Was meintest du mit "noch"? – Wenn die klügsten Köpfe nicht mehr in der Partei sind, dann kann ein Einparteiensystem sehr gefährlich werden. Darüber denkt man in China schon ernsthaft nach. Viele kluge Köpfe in der Partei tun es. – Solange solche klugen Köpfe noch in der Partei sind. Und was, wenn sie es irgendwann nicht mehr sind? – Das muss eben verhindert werden. – Und wenn das nicht gelingt? – Ich glaube, dass es gelingt. Aber wenn es nicht gelänge, dann könnte das System nicht so bleiben, wie es ist. – Dann kommt in China die westliche Demokratie? Dann bekommt ihr also doch ein Parteiensystem wie unseres? – Mit Parteien, denen es an klugen Köpfen fehlt? Das hoffentlich nicht. 188 Wenn Tian und ich diesen Dialog in genau diesen Worten geführt hätten, hätte ich dann schon viel früher so kritisch über unsere Demokratie gedacht wie heute? Nicht unbedingt. Etwas hätte sich in mir gesträubt, diesen Gedanken ganz zu Ende zu denken. Den Gedanken, in China seien die klügsten Köpfen noch Parteimitglieder, in den westlichen Demokratien nicht mehr. Bedeutete das nicht, dass China den Westen schließlich auch in der politischen Vernunft überholen würde? Als Einparteienregime? Damals für mich noch undenkbar. Heute weiß ich, dass Tian uns betriebsblind gewordenen Demokraten des Westens damals in seiner Parteienkritik weit voraus war. Wir würden es heute nur anders formulieren. Wenn wir heute sagen, die Klugheit der Köpfe in den Parteien habe mit den wachsenden Anforderungen nicht Schritt gehalten, dann klingt es etwas harmloser. Aber ein vernichtendes Urteil über den demokratischen Parteienstaat ist es trotzdem. Es fällt umso vernichtender aus, als mit dem Aufstieg populistischer Parteien die Durchschnittsklugheit im Parteienwesen noch weiter gesunken ist. Die Klügeren und Nachdenklicheren unter den Bürgern wurden dessen natürlich zuerst gewahr. Die absehbare Folge davon war, dass die Wahlbeteiligung, die bis dahin in bildungsfernen Schichten am niedrigsten gewesen war, allmählich auch unter Bildungsbürgern stark zurückging. Wählen und Nichtwählen tauschten so in der politischen Werteskala nach und nach die Plätze. Hatte es früher geheißen, die Nichtwähler machten es sich zu einfach, wurde eben dies nun immer häufiger den Wählern nachgesagt. Dies hatte bei den Europawahlen begonnen, nun galt es auch bei nationalen Parlamentswahlen. Es war noch nicht die herrschende Meinung, aber es waren längst nicht mehr nur Kabarettisten und Karikaturisten, die das Thema ausweideten. Auch immer mehr Kommentatoren und Moderatoren legten die Scheu davor ab. Bei uns im Archiv war es natürlich kein anderer als Klaus, der mit den Wählern seine Scherze trieb. Nach einer Wahl erschien er im Archiv mit einem bemalten Pappschild, darauf ein Selbstporträt mit zerknirschter, schuldbewusster Miene, darunter in großer nervöser Handschrift: Ich habe gewählt. Dass auch das "Bekennerschreiben" eines Wählers Klaus Meier, das als Leserbrief im SPIEGEL 189 veröffentlicht wurde, von keinem anderen als "unserem" Klaus sein konnte, war bald ein offenes Geheimnis. Natürlich gab es danach auch in der Wahlbeteiligung weiterhin ein Auf und Ab. Neue Populisten konnten immer wieder auch neue Wählerschichten gewinnen und damit die Wahlbeteiligung kurzfristig steigern. 2041 lag sie in Deutschland wieder über 50 Prozent, aber der nachfolgende Absturz war umso tiefer. Nach der Wahl 2049 war dann zum ersten Mal auch in den etablierten Medien ganz unverhohlen von einer Krise der Demokratie die Rede. Es war auch das Jahr, in dem in unserer Redaktion ganz ernsthaft über die moralische Wahlpflicht diskutiert wurde. Dann erschien diese unsägliche Kolumne, die allen Ernstes die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht forderte. Ein gefundenes Fressen natürlich für alle Satiriker: "Der SPIEGEL will Politikverdrossenheit verbieten." Der Niedergang der Parteiendemokratie verlief, wie wir heute wissen, in Deutschland noch vergleichsweise glimpflich. In Italien kollabierte das Parteiensystem in den vierziger Jahren ein weiteres Mal, wieder waren es neue Populisten, blutige politische Laien, die die Wirren dieser Zeit am besten für sich zu nutzen wussten, und wieder wurde das Niveau der Politik und die durchschnittliche Kompetenz von Politikern dadurch weiter gedrückt. Das altbekannte Spiel setzte sich mit neuen Darstellern fort, wie zum Beweis, dass die Lehren der Geschichte im demokratischen Parteienstaat nichts fruchten. Auch in Amerika ergriffen in dieser Zeit neue Populisten die Chance, sich im Parteiensystem festzubeißen, auch dort ließ dies die Wahlbeteiligung erst einmal ansteigen, aber auch dort nur, um einen umso tieferen Absturz folgen zu lassen. Deutschland war in Sachen Populismus bis dahin einen fast moderaten Sonderweg gegangen, und dies setzte sich fort. Die Deutschen Demokraten, noch immer geführt von Guttenberg, der mit altersmildem Charme seiner populistischen Botschaft generationenübergreifende Wirkung verlieh, gehörten unter den demokratischen Populisten dieser Welt zu den vergleichsweise vernünftigen. "Eure Populisten möchten wir haben", so hatte ein italienischer Politologe es in einem Interview einem 190 unserer Redakteure gesagt, und dieses Zitat machte in ganz Europa die Runde, auch als Titelgeschichte des SPIEGEL. Guttenberg hatte bei den Deutschen Demokraten in der Tat Erstaunliches vollbracht. Sein Gespür für politische Stimmungslagen war legendär, und er hatte es mit zunehmendem Alter weiter perfektioniert. Wie er als junger Verteidigungsminister eine fast noch unterschwellige Meinungsströmung genutzt hatte, um in einem politischen Coup die Abschaffung der Wehrpflicht durchzusetzen, verstand er es jetzt, heranreifende Themen frühzeitig für die Deutschen Demokraten zu besetzen. So verknüpfte er die Themen Volksentscheid und Einwanderung listig zu einem programmatischen Angebot. Bürger entscheiden über Einwanderung, das war der Slogan, auf den die anderen Parteien nur mit fast hilflosem Gestammel reagieren konnten. Und es war nicht nur ein Slogan. Guttenberg verlieh ihm mit konkreten Forderungen Substanz. Volksentscheide über Migrantenquoten sollten regelmäßig stattfinden, in Abständen von fünf bis zehn Jahren. Seine Partei empfahl dazu Quotenkorridore für Bürger europäischer und außereuropäischer Länder und für Religionsgemeinschaften. Für Muslime wurde ein Korridor von 6 - 9 Prozent der Bevölkerung genannt – was bei der damals aktuellen Quote von 9,1 Prozent natürlich eine kalkulierte Provokation war. Der Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern, der die Einhaltung der Migrantenquoten regeln sollte, war im Parteiprogramm der Deutschen Demokraten ausformuliert. Dieser Vertragsentwurf war allerdings, wie Guttenberg selbst klarstellte, mit geltendem EU-Recht unvereinbar. Aber auch dies war natürlich eine gekonnte politische List. Damit gewann Guttenberg viele weitere EU-Skeptiker für sich, ohne sich selbst offen als solcher ausgeben zu müssen. Dass Guttenberg trotzdem nicht zu den Populisten gehörte, die ihr politisches Profil an den niederen Instinkten ihrer Anhängerschaft ausrichteten, zeigte sich im Umgang mit der Muslimisch Sozialen Union. Schon die Gründung der MSU hatte er ausdrücklich begrüßt, und später hatte er mehrfach die politische Rolle der MSU in der deutschen Demokratie gewürdigt. Viele, wenn nicht sogar alle demokratischen Parteien, argumentierte er, hätten irgendwann Extremisten in ihren Reihen gehabt 191 und mehr noch unter ihren Wählern, das hätte auch die MSU beim besten Willen nicht verhindern können. Guttenberg äußerte sogar Verständnis dafür, dass viele Muslime sich als Mobbingopfer des Westens oder gar der neueren Weltgeschichte fühlten und daher gegenüber westlichen Gesellschaften zu Aggressionen neigten. Er räumte ein, dass der Islam eine missbrauchsträchtige Religion sein, aber missbraucht worden seien im Lauf der Geschichte doch auch das Christentum und die Demokratie. Damit brach Guttenberg eine deutschlandweite Debatte los, in der er – ein gutes Vierteljahrhundert nach der Debatte über die Putin- und Russlandversteher – von den Altparteien und den Medien als Terroristenversteher verleumdet wurde. Seine politischen Gegner glaubten, dass Guttenberg damit auch in seiner eigenen Anhängerschaft seinen Ruf verspielte, aber sie täuschten sich gründlich. Guttenbergs Anhänger brauchten nur etwas Zeit, um ihm auch in diesen Gedanken zu folgen. Danach war er unangefochtener denn je. Die Zeit der alten, von den Altparteien noch immer gepflegten politischen Eindeutigkeiten war eben endgültig vorbei, und Guttenberg hatte auch dafür das weitaus beste Gespür gehabt. In der Zuwanderungsdebatte verfochten die Altparteien derweil noch immer das Argument, von hohen Migrantenquoten profitiere Deutschland auch ökonomisch, aber auch dies parierte Guttenberg bravourös. Das Einwanderungsproblem sei nicht in ökonomischen Kategorien zu diskutieren, predigte er, sondern ausschließlich in kulturellen. Deutschland solle um solche Migranten werben, die sein kulturelles – das Wort zivilisatorisch mied er – Niveau höben, aber ausschließlich um solche. Die konkrete Forderung: Einwanderer sollten keinen Sprach-, keinen Bildungs- und keinen beruflichen Qualifikationsnachweis erbringen, sondern einen kulturellen. Der hintersinnige Slogan dazu: Wir wollen keine Migranten, die wir integrieren müssen, wir wollen Migranten, von denen wir lernen können. Darauf abgestimmt war auch seine Argumentation in der Familienpolitik: Für eine Geburtenrate, die das Überleben des Landes auch ohne massive Einwanderung sichere, sei fast kein Preis zu hoch. Diesen Preis müssten fortpflanzungsunwillige Nicht-Eltern eben zahlen, wie hoch er auch sei. Guttenberg wusste natürlich, dass er 192 damit keine politischen Mehrheiten erringen, aber eine große Minderheit umso stärker an sich binden konnte. Guttenberg hatte damit immerhin erreicht, dass nun über Einwanderungs-, Bevölkerungs- und Familienpolitik in einer klareren und offeneren Sprache als bisher gesprochen und dass demzufolge natürlich auch anders gedacht wurde. Damit hatte Guttenberg den Deutschen Demokraten einen politischen Status verschafft, der sie einen weiteren politischen Coup riskieren ließ: den Verzicht auf öffentliche Parteinahme zu allen anderen Themen. Aus Inkompetenz, sagten ihre politischen Gegner. Aus Bescheidenheit, sagten sie selbst. Aus realistischer Selbstbeschränkung, so sagten es immer mehr politische Kommentatoren. So wie Hauser sah es damals keiner: als ein Schlüsselereignis in der Geschichte der politischen Parteien. Ich fragte mich schon damals, was geschehen würde, wäre Guttenberg zwanzig Jahre jünger gewesen. Nicht weniger als ein politischer Erdrutsch, dessen bin ich heute fast sicher. Aber auch wenn er jünger wirkte, als er war, waren seine aktiven Tage doch gezählt, und in Einem waren die Deutschen Demokraten eben doch eine populistische Partei wie alle anderen: Sie standen und fielen mit ihrem Anführer. Guttenberg war eine der prägenden politischen Figuren der dreißiger und vierziger Jahre, aber er hatte eben doch nur eine Nebenrolle. Er war vor allem der große Koalitionsverhinderer. Mit den von ihm geführten Deutschen Demokraten wollte – ebenso wie mit der MSU – keine der Altparteien freiwillig koalieren. Aber jede Regierungsbeteiligung, jedes Ministeramt hätte Guttenberg ohnehin nur an Glanz verlieren lassen. Der große Profiteur dieser erstarrten Parteienkonstellation war Martin Mesäcker. Die christlichen Unionsparteien waren fast durchgehend stärkste politische Kraft geblieben, immer wieder fiel ihnen daher die Regierungsbildung zu, und immer wieder war es Mesäcker, meine flüchtige Arbeitsbekanntschaft von der A-E-BStiftung, dem die Kanzlerschaft angetragen wurde. Aufdrängen musste er sich nicht. Er war weit und breit der Einzige, der neben einem Oppositionsführer Guttenberg 193 keine allzu traurige Figur abgab. Intellektuell waren er und Guttenberg etwa auf Augenhöhe. Nie wurden in Mesäckers Zeit die Unionsparteien von mehr als einem Siebtel der Wahlberechtigten gewählt. Trotzdem gelang es ihm, eine Ära zu prägen wie nur wenige Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ära Adenauer, die kurze Ära Brandt, dann die Ära Kohl, die Ära Merkel, und nach einer wechselhaften Übergangszeit nun die Ära Mesäcker. Er war das politische Gesicht mindestens einer Generation, auch, wie Constanze es in einem ihrer fatalistischen Momente sagen sollte, unserer Generation, der unverbesserlichen Generation Sichtflug, von der auch er ein Teil war. Geprägt hat er aber natürlich auch das politische Bewusstsein der Folgegeneration. 17 Jahre Kanzlerschaft Mesäcker, davon 16 Jahre mit wechselnden Mehrheiten, dann ein knappes Jahr in einer von den Deutschen Demokraten tolerierten Minderheitsregierung, die Guttenberg später als den größten Fehler seiner politischen Karriere bezeichnen sollte. Für zwei Schüler- und Studentengenerationen war Mesäcker die Inkarnation des Politischen, routiniert, rhetorisch souverän und nicht unsympathisch, vor allem aber taktisch gewieft. Die Hinterlassenschaft seiner Ära: 17 Jahre Regieren mit minimiertem Risiko. Wie die meisten seiner Vorgänger hatte Mesäcker sich in Erfüllung seines Amtseides ganz darauf konzentriert, unmittelbaren Schaden vom Deutschen Volk abzuwenden. Dass eines Tages der größte politische Schaden darin liegen könnte, sich auf solche Art Schadensbegrenzung konzentriert zu haben, kam einem Mesäcker natürlich nie in den Sinn. Auch Hauser kannte natürlich meine Geringschätzung für Mesäcker, und natürlich war auch er alles andere als Mesäcker-Anhänger. Aber auch in Sachen Mesäcker bewahrte er mich schließlich vor einer zu einfachen Sicht der Dinge. Er verstehe meine Geringschätzung durchaus, erklärte er, aber man müsse sich doch auch fragen, vor welcher anderen Person als Kanzlerin oder Kanzler man mehr Respekt hätte. – Fällt dir spontan jemand ein?, fragte er. 194 Ich zögerte. – Spontan also nicht. – Notfalls Guttenberg?, sagte ich. – Notfalls. Das wären also schon zwei der besten? Er wartete meine Antwort nicht ab. Das sei eben genau das Problem, dass wir nur die Mesäckers und Guttenbergs hätten und deren mindere Pendants aus den anderen Parteien. Und solchen Leuten, fuhr er fort, sollten wir als Wähler die Politik anvertrauen? Nicht eine bestimmte politische Aufgabe, sondern die Politik schlechthin und damit den Staat? Das sei vielleicht die große politische Illusion unserer Zeit, dass es überhaupt Menschen gebe, die einer solchen Aufgabe noch gewachsen seien. Wir müssten im Rückblick doch erkennen, dass wir es immer weniger, vielleicht sogar nie, mit vollwertigen Bundeskanzlern zu tun gehabt hätten, sondern eher mit Kanzlerdarstellern, die der Öffentlichkeit vortäuschten, sie wüssten wirklich über all das Bescheid, worüber sie redeten und entschieden. Auch Mesäcker sei ein solcher Kanzlerdarsteller und als solcher nicht schlechter als alle anderen, egal aus welcher Partei. Ich widersprach nicht, aber meine Einstellung zu Mesäcker änderte sich erst sehr viel später. Erst in seinen letzten Amtsjahren mischte sich in meine Geringschätzung auch etwas Mitgefühl. Ich will das sich anbahnende Drama des demokratischen Parteienwesens im 21. Jahrhundert hier nicht ausbreiten, aber auch nicht unterschlagen, was schon lange vor der Jahrhundertmitte kaum jemandem mehr verborgen war. Die Gründungsmythen der alten Parteien waren ausnahmslos zerronnen. Labour war keine Arbeiterpartei mehr, die christlichen Demokraten keine Christenpartei, die Sozialdemokraten konnten ihre sozialen Grundsätze und die Liberalen ihre Liberalität nicht mehr plausibel in politische Handlungsanweisungen umsetzen, und konservativ waren auf ihre Weise fast alle geworden. Die Namen der Altparteien hatten jegliche Aussagekraft verloren, und deren Politikangebote waren de facto zu 195 Personalangeboten geschrumpft. Etablierte Parteien waren bestenfalls noch biedere Staatsverwaltungsvereine mit aufgesetzter programmatischer Rhetorik. Wesentlich schlechter, dachten daher immer mehr Wähler, würden wir sicher auch nicht von Populisten regiert. Im ersten Jahrhundertviertel hatte es in vielen Ländern immer noch als selbstverständlich gegolten, dass die Parteienlandschaft aus einem stabilen Block etablierter Altparteien und einer schillernden Szene kurzlebiger populistischer Neuparteien bestand, zu denen damals Phänomene wie die Fünf-Sterne-Bewegung in Italien, die Alternative für Deutschland, die Partij voor de Vrijheid, Podemos in Spanien und die europakritische United Kingdom Independence Party gezählt wurden. Der fortwährende Niedergang der Altparteien ließ den Wählern dann spätestens in den vierziger Jahren nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen schillernden jungen populistischen Parteien und ausgemergelten Altparteien. Keine dieser Parteien stand mehr für nachhaltige Kompetenz in der Bewältigung langfristiger Aufgaben, und dies in einer Zeit, in der Politik es immer mehr mit langfristigen Aufgaben zu tun bekam: Umweltpolitik, Energiepolitik, Friedenssicherung, Migrationspolitik, Bevölkerungspolitik, Bildungspolitik, Geldpolitik, Finanzpolitik, Entwicklung des Rechtssystems, Weiterentwicklung internationaler und und suprastaatlicher Institutionen, Anpassung von Staatsgrenzen und anderem. Der große politische Stimmungseinbruch in den späten vierziger Jahren hätte daher niemanden überraschen sollen. Parteien, Regierungen und der Parteienstaat wurden mit immer bissigerer Häme überzogen, von kritischen Medien und vereinzelt sogar im Staatsfernsehen, und politische Inkompetenz wurde gelegentlich schon von johlenden Massen auf den Straßen, mit Massenhupkonzerten organisierter Autocorsi und im Internet in hämischen Massenshitstorms angeprangert. So geschehen nach einem mehrfachen Scheitern des Europaparlaments an der Wahl eines Parlamentspräsidenten und nach dem Auseinanderbrechen frisch gebildeter Regierungskoalitionen in mehreren EU-Staaten. Wer seinen demokratischen 196 Parteienstaat nicht mehr respektieren konnte, wollte sich wenigstens noch über ihn amüsieren. Ich war nie Mitglied einer politischen Partei, aber in meiner Arbeit bei der parteinahen Stiftung in den zwanziger Jahren war ich dem Parteienwesen eine Zeitlang doch sehr nahe gewesen. Damals war ich noch nicht so weit, die Kompetenz demokratischer Parteien so grundsätzlich in Frage zu stellen, wie ich es in den vierziger Jahren zu tun begann. Damals hielt ich es noch für völlig normal, dass Parteien vorgaben, das Ganze der Politik zu beherrschen. Nichts lag mir ferner als die Frage, ob in Parteien hierfür denn genug Kompetenz versammelt sei. Welche maßlose Selbstüberschätzung und welche Blindheit für die Größe der Aufgabe in diesem Anspruch lag, darüber begann ich – von Hauser angestiftet – erst viel später ernsthaft nachzudenken. Natürlich habe ich mich dabei nicht zu einem Anhänger von Einparteiensystemen gewandelt. Tians Argumente hatten mich überzeugt, dass Chinas Einparteienregime für China eine bessere Lösung sein könnte als die westliche Parteiendemokratie, aber es gab natürlich Gegenbeispiele. Kuba war unter der Einparteienherrschaft der Castros und ihrer Nachfolger wirtschaftlich und intellektuell dahingesiecht, und noch weitaus schlimmer war es natürlich Nordkorea ergangen. Ich weiß, was Tian dazu gesagt hätte. Es gebe doch auch Länder, hätte er gesagt, die von demokratischen Mehrparteienregimes ruiniert worden seien und ruiniert würden. Es komme also auf die Umstände an. China habe eben das Glück gehabt, dass seine Führung dynastisches und dogmatisches Denken schneller und gründlicher überwunden habe als andere Einparteienregime. Oder Tian hätte, wie er es später tatsächlich einmal tat, den Vergleich mit der römischen Kurie gezogen: Die Mienen um ihren Generalsekretär versammelter kommunistischer Politbüromitglieder hätten früher oft an die Mienen um den Papst versammelter Kurienkardinäle denken lassen. Das sei Geschichte. Im Vatikan seien diese Bilder noch die gleichen wie früher und sie stünden für das gleiche Denken. In China seien die Bilder inzwischen andere, und sie 197 stünden auch für anderes Denken. Auch darin zeige sich die Wandlungsfähigkeit von Chinas Einparteienregime. Aber was halfen solche Überlegungen im Umgang mit dem schwächelnden westlichen Mehrparteiensystem? Und was halfen auch die Gedankenspiele einiger westlicher Intellektueller, die noch immer darüber sinnierten, dass die direkte Demokratie, wie sie in hellenischen Stadtstaaten vor zweieinhalbtausend Jahren praktiziert worden war, der modernen Demokratie konzeptionell überlegen sei? Diese klassische direkte Demokratie war ein gutes Modell für kleine Stadtstaaten mit den überschaubaren politischen Anforderungen der damaligen Zeit gewesen, mehr aber nicht. Zweieinhalb Jahrtausende später bedrängen uns schleichende politische Langzeitkatastrophen in einem leistungsschwachen demokratischen Parteienstaat mit einem zerbröselnden Parteiensystem. An wen und gegen wen konnten wir uns wenden, um eine bessere Politik zu bekommen? Steckten wir in einer Falle, die wir noch nicht einmal verstanden hatten? Ähnlich hatte Hauser es mir früher nahegelegt, aber meine Gedanken hierzu drehten sich jetzt im Kreis. Die Demokratie als Falle? Der Gedanke war eine Herausforderung, aber wozu führte er? Ich konnte diesen unfertigen Gedanken nicht für mich behalten. Ich machte Klaus vorsichtige Andeutungen dazu, und ich fragte Constanze, was sie mit dem Gedanken anfange könne. Klaus zeichnete – auch das konnte er – eine wunderbar witzige Karikatur von der über gutgelaunten Bürgern zuschnappenden "Demokratiefalle", und von Constanze kam erst einmal nur das Kompliment: interessanter Gedanke. Aber dann tauschten wir nach und nach kurze Mails aus, aus denen sich langsam ein zusammenhängendes Argument bildete. Es war Constanze, die es schließlich so zusammenfasste: Wandeln politische Regimes sich von allein, wenn die Zeit es erfordert? Die Lehre der Geschichte ist natürlich eine andere. Wo hätte ein politisches Regime sich je aus höherer Einsicht selbst abgeschafft und selbst ein zeitgemäßes Nachfolgeregime installiert? Für solche Regimewechsel bedarf es der Rebellion. 198 Über Jahrhunderte hat sich der Gedanke etabliert, dass Rebellionen dazu dienen, autokratische Regimes jeglicher Art, seien es Diktaturen, Monarchien oder kommunistische Regimes, zu überwinden und zur Demokratie überzuleiten. Wozu sonst sollten Rebellionen noch dienen? Was aber, wenn sich irgendwann herausstellt, dass auch das, was wir Demokratie nennen, nicht mehr zeitgemäß ist? Sollten die Bürger dann rebellieren? Und wenn ja, gegen wen? Gegen von ihnen selbst gewählte Regierungen? Das könnten sie natürlich tun, aber was anderes würden sie damit bewirken als Neuwahlen – die dann aller Voraussicht nach wiederum nur überforderte Regierungen hervorbrächten? Genau dies ist die Falle, in der wir als Demokratiebürger stecken. Wir könnten immer nur gegen von uns gewählte Regierungen rebellieren, aber dies würde wieder von uns selbst – bzw. den Wählern unter uns – gewählte Regierungen ähnlicher Art hervorbringen. Statt offen zu rebellieren, warten wir daher geduldig bis zur nächsten regulären Wahl. Damit festigen wir eine Demokratie, die den Aufgaben ihrer Zeit nicht mehr gewachsen scheint. Wir sind gefangen in einem System, das sich selbsttätig reproduziert. Aber so kann und wird es nicht bleiben. Wir Bürger könnten im 21. Jahrhundert ein erstes Zeichen setzen, das darüber hinausweist. Wir könnten uns Wahlen, die immer wieder überforderte Regierungen hervorbringen, systematisch verweigern. Die Botschaft des Nichtwählens wäre dann: Wir werden erst dann wieder wählen, wenn wir mit unserer Stimme Größeres bewirken können, bis hin zu einem Regimewechsel. Je weniger von uns noch zur Wahl gingen, desto eindringlicher wäre diese Botschaft. So hat Constanze es auf den Punkt gebracht. Sie hatte schon früher einige Male Gedanken, an die Hauser oder auch ich uns mühsam herangetastet hatten, kurz und knapp in eigene Worte gefasst, und dann stand solcher Gedanke plötzlich mit unerwarteter Selbstverständlichkeit im Raum. Schon dass sie unsere Demokratie als Regime bezeichnete, war ein erhellender Bruch mit unserem politischen 199 Sprachgebrauch. Natürlich, es war nicht die Zeit für eine Rebellion, aber würde das ewig so bleiben? Noch einige Prozente weniger Wahlbeteiligung und irgendein einschneidendes Ereignis, für das uns noch das Vorstellungsvermögen fehlte, wäre dann nicht die Zeit für große Veränderungen absehbar? Hundertjahrfeiern Eine Zeitung muss mit der Zeit gehen, sie muss sich verändern können, das kann kein vernünftiger Mensch bestreiten. Auch der SPIEGEL hatte in seiner Geschichte kleine Metamorphosen erlebt, z.B. die Aufteilung in Print- und Onlinemagazin. In den frühen vierziger Jahren lagen dann neue große Veränderungen in der Luft, das spürten wir alle. Untrügliche Vorboten waren Streitigkeiten im Management und der Redaktionsleitung. Die angespannte Stimmung war überall zu spüren, auch im Archiv. Zum offenen Konflikt kam es zuerst im Streit um Kiesewetter, einen unserer beiden Chefredakteure. Kiesewetter und sein Co-Chef hatten einige Jahre ziemlich gut zusammengearbeitet, scheinbar unbehelligt von Verlagsleitung und Eigentümern, aber das war nun vorbei. Kiesewetter war ein großer Themenfinder, aber auch streitbar und meinungsstark. Der Konflikt war ihm lieber als der Kompromiss, gerade bei politischen Themen. Am Ende stritt nicht nur Kiesewetter gegen andere im Verlag, man stritt im Verlag über Kiesewetter. Die Verlagsleitung gegen ihn, eine Eigentümerfraktion für ihn, Kiesewetter gegen den anderen Chefredakteur, die meisten Redakteure gegen Kiesewetter, viele für ihn, die Eigentümer- und Redaktionsfraktionen gegeneinander. Nur das Archiv konnte sich aus den Kämpfen noch heraushalten. Es gab noch andere umkämpfte Personalien, aber auch dahinter steckte Streit um die Sache. Beide Chefredakteure, so war es zuerst erschienen, waren Verlegenheitslösungen, Kompromisse, auf die sich Eigentümer und Verlagsleitung nur mühsam hatten einigen können. Beide kamen aus der eigenen Redaktion, beide hatten als Redakteure solide und unspektakulär gearbeitet, aber bei manchen Menschen erwachen eben in Führungspositionen schlummernde Neigungen. Zum 200 Beispiel ein starker Führungswille oder eine persönliche Mission. Bei Kiesewetter war es die Mission. Der SPIEGEL, meinte Kiesewetter, sei ein solides Nachrichtenmagazin, aber nicht mehr als das, über die Auflagenverluste der letzten 30 Jahre dürfe man sich nicht wundern. Was nottue, sei eine Rückbesinnung auf Zeiten, in denen der SPIEGEL ein Leitmedium gewesen sei, ein unverwechselbares sogar, und zur Unverwechselbarkeit gehöre nun einmal Meinungsstärke. Auch Meinungsstärke schütze nicht unbedingt vor weiterem Auflagenverlust, aber sie schaffe eine umso treuere Leserschaft, auf die der Verlag langfristig bauen könne. Nur so könne der SPIEGEL überleben. Für die Verlagsleitung und die Mehrheit der Eigentümer war das Ketzerei. Der SPIEGEL heiße nicht umsonst SPIEGEL, insistierten sie, sein Name sei auch Programm. Der SPIEGEL solle ein Spiegel des Zeitgeschehens sein, alles andere sei Anmaßung. Die Welt mit einer politischen Zeitschrift verändern zu wollen, wie Kiesewetter es sich womöglich vorstelle, das sei veraltetes Denken. Er meine nicht, hielt Kiesewetter dagegen, dass der SPIEGEL die Welt verändern solle, aber dass man in manchem doch auch anders denken könnte als die Mehrheit der Leser oder Bürger, das zu zeigen sollte eine Aufgabe des SPIEGEL sein. Nur wenn der SPIEGEL echte Kontroversen anstoße, werde er in aller Munde sein, nur dann würden die Menschen auf den SPIEGEL wieder wirklich neugierig werden, nur dann könne er zu alter Stärke zurückfinden. Den alten Guttenberg beispielsweise mehr als ein Jahrzehnt lang immer nur als ausländerfeindlichen Terroristenversteher abgetan zu haben, sei zu simpel gewesen, in manchem habe Guttenberg sich am Ende doch zu einem ernst zu nehmenden Querdenker entwickelt. Auch die Auseinandersetzung mit der Muslimisch Sozialen Union, mit der Frage vor allem, ob die MSU eine Bereicherung der deutschen Demokratie sei oder nur eine muslimische Spielart billigen Populismus, sei im SPIEGEL viel zu oberflächlich geblieben. Viel schlimmer noch: In den großen Fragen von Frieden und Freiheit habe der SPIEGEL sich stur an Verfassung und Völkerrecht geklammert, auch da, wo Verfassung und Völkerrecht offensichtlich im 20. Jahrhundert steckengeblieben seien. Und eine so 201 neuartige und originelle Erscheinung auf der politischen Bühne wie die Tagmakraten sei dem SPIEGEL nicht einmal eine Erwähnung wert gewesen. Es war ein klassischer Streit ums redaktionelle Prinzip, wie er schon in vielen großen Redaktionen und Verlagen ausgetragen worden war. Dieser Streit war unausweichlich, aber Mitte der vierziger Jahre kam er höchst ungelegen. Der SPIEGEL war 1947 gegründet worden, für 2047 stand die Hundertjahrfeier an. 100 Jahre SPIEGEL, das waren 100 Jahre deutsche Pressegeschichte, und da der SPIEGEL lange der prominenteste journalistische Begleiter deutscher Politik gewesen war, waren es auch 100 Jahre deutsche Demokratiegeschichte. Die Vorbereitung der Feierlichkeiten begann zweieinhalb Jahre vorher. Kanzler Mesäcker würde kommen, das war klar, die Bundespräsidentin, eine gute Hundertschaft sonstiger höchster deutscher Politprominenz und politische Prominenz natürlich auch aus viele anderen Ländern, dazu führende Literaten und Wissenschaftler, die für den SPIEGEL geschrieben und ihm Interviews gegeben hatten, und Kultur-, Medien- und Sportprominenz, über die der SPIEGEL ausgiebig berichtet hatte. Mit möglichst niemandem sollte die Redaktion es sich daher in dieser Zeit verscherzen. 100 Jahre SPIEGEL, das sollte ein Fest ohne Misstöne sein. Der SPIEGEL sollte sich als Jubilar in der eigenen Geschichte sonnen und das von ihm gespiegelte Deutschland mit ihm. Eigentümerfraktionen, Verlagsleitung, Redaktion und Redaktionsleitung verordneten sich nach zähen Gesprächen einen langen Waffenstillstand. "100 Jahre SPIEGEL" wurde eine große Inszenierung. Eröffnungskonzert in der frisch restaurierten Elbphilharmonie, Festreden im Kongresszentrum und zahllose Empfänge und Begleitveranstaltungen im Verlagsgebäude. Natürlich wurde dabei mit dem Blick in die Vergangenheit gefeiert, und die vergangenen hundert Jahre wurden dabei weichgezeichnet. Man wollte Erfolgsgeschichten hören, und man bekam sie. Es war eine hoch professionelle, spektakuläre und doch harmonische Veranstaltung, und die Stimmung war so gut, dass dieser eine bitterböse Coup fast nur gutgelauntes Schmunzeln auslöste: Mehrere Male tauchte unter den Gästen eine 202 beklemmende menschliche Gestalt in ominöser Verkleidung auf. Ein schwergewichtiger graubärtiger Greis mit schütterem Haar, fahlem Gesicht, schleppendem Gang, gestützt auf einen Rollator, wie todgeweiht. Auf Brust und Rücken ein weißes Pappschild. Die Aufschrift: Ich und der SPIEGEL, geb. 1947. Darunter in kleiner Schrift: Gleich viel hinter uns, gleich viel vor uns. Als ich zum ersten Mal an der Gestalt vorbeiging, ahnte ich nichts, beim zweiten Mal kam ein Verdacht auf, beim dritten Mal wusste ich: Es ist Klaus. Kein perfektes Inkognito, aber kaum jemand schaute genau hin. Er hatte sich Aufsehen gewünscht, er hatte fast Kopf und Kragen riskiert, aber sein Coup verpuffte in der Feststimmung. Der SPIEGEL als ausgemergelter Greis, diese Anspielung kam nicht an. Dass Klaus ein glühender Kiesewetter-Fan war, offenbarte er mir erst später. Für den zweiten Tag der Jubiläumsfeier hatte der SPIEGEL frühere Mitarbeiter aus aller Welt eingeladen. Man wollte sich als Weltunternehmen präsentieren, und dafür brauchte man Gesichter aus aller Welt. Dass auch aus China eine kleine, vierköpfige Delegation kommen würde, hatte ich erst wenige Tage vorher erfahren. Und einen Tag vorher erfuhr ich: Einer von ihnen ist Tian. Ich hätte es ahnen können, ich hätte nachfragen können, nein müssen, aber nun war die Freude umso größer. Endlich würden wir uns wiedersehen. Und es kam so leicht, so unverhofft und wie von selbst. Aber warum hatte Tian sich nicht vorher gemeldet? Die Behörden, so erklärte er es mir später, hatten seine Reise buchstäblich in letzter Minute genehmigt, den Grund dafür kenne auch er nicht. Aber das war jetzt egal, jetzt wollten wir über anderes reden. Jetzt wollten wir Zeit für uns haben, mindestens den einen ganzen Tag nach der Veranstaltung, am Morgen danach schon würde sein Rückflug gehen. Am Abend vorher, in letzter Minute fast, fiel mir dann noch ein, dass ich auch Constanze dazu einladen könnte. So wurde wahr, was viele Jahre ein vager Wunsch von mir gewesen war: ein Treffen mit Constanze und Tian und ein gemeinsamer Besuch von uns Dreien bei Hauser. 203 Auf den ersten Blick erkannte ich Tian kaum wieder. Wir hatten uns zu lange nicht gesehen. Er war fülliger geworden, sein Haar war im Stirnbereich schütter, und er trug eine markante Brille. Aber schon nach wenigen Sätzen sprachen wir miteinander fast wir früher. Wir mussten nicht anfangen, wo wir vor vielen Jahren zu diskutieren aufgehört hatten, wir beide ahnten, wo der andere in seinem Denken inzwischen angekommen sein könnte, er mit seinen sechsundvierzig Jahren, ich mit meinen zweiundfünfzig. Constanze hörte die meiste Zeit nur aufmerksam zu, als wolle sie kein Wort verpassen. Beinahe rührend sei es gewesen zwischen Tian und mir, sagte sie später, rührend und spannend. Tian wollte mit mir auch ausführlich über den SPIEGEL sprechen. Er sei für einige Jahre ans Medieninstitut der Partei delegiert worden, in führender Stellung, wie er mit verlegenem Stolz erklärte, und an diesem Institut würden Konzepte für die Zukunft der chinesischen Presse entwickelt. China, das sei sicher, brauche eine neue Art von Nachrichtenmagazin, und sein Institut habe sich in der Welt nach Vorbildern umgeschaut. Er selbst habe den SPIEGEL ins Gespräch gebracht, der stehe jetzt ganz oben auf der Favoritenliste, und dazu gebe es auch schon ein positives Signal von der Parteiführung. – Etwa ein chinesischer SPIEGEL als Parteiorgan?, fragte ich. Nein, sagte Tian, das natürlich nicht, es solle ein unabhängiges Nachrichtenmagazin sein, ähnlich wie der SPIEGEL eben, und es werde ganz ähnlich berichten dürfen wie der der SPIEGEL und auch ebenso kritisch. China nehme es mit der Pressefreiheit ernst. Das, erwiderte ich, sei aber noch keine Pressefreiheit wie uns. Bei uns könne die Presse, wenn sie wolle, auch viel kritischer berichten als derzeit der SPIEGEL. Vielleicht werde der SPIEGEL das bald auch selbst tun. – In China sind wir erst einmal zufrieden, antwortete Tian, wenn wir einen chinesischen SPIEGEL bekommen wie euren jetzigen. Was aus dem SPIEGEL in Deutschland einmal würde, das werde man in China dann in Ruhe beobachten. 204 Hauser, das wusste ich, führte seit Längerem ein ziemlich zurückgezogenes Leben. Mit dem Besuch von uns Dreien, Constanze, Tian und mir, wollte ich ihm einen Dienst erweisen. Er sei, auch wenn er zurückgezogen lebe, alles andere als ein einsamer alter Mann, hatte er mir einmal gesagt, seine Gedanken seien treue Begleiter, die ihn vor dem Gefühl des Alleinseins bestens schützten. Aber Constanze, dessen war ich sicher, würde er gern wiedersehen, und über Tian hatte ich ihm zu viel erzählt, als dass er sich nicht auch auf seinen Besuch freuen würde. So saßen wir dann am nächsten Vormittag zu viert in Hausers Wohnzimmer. Es begann ein wenig steif. Tian hörte uns drei anderen eine Zeitlang stumm zu, bis Hauser schließlich begann, Tian Fragen über China zu stellen. Fragen, die andere bei einer ersten Begegnung sich nicht zu fragen getraut hätten, aber Hauser stellte sie auf so entwaffnend offene Art, dass Tian sofort Vertrauen fasste. Hauser hörte Tians Antworten mit höflicher Aufmerksamkeit zu. Dann, nach einer kurzen Bemerkung zum deutschen Parteienwesen, brachte er das Gespräch wie beiläufig auf Chinas kommunistische Partei. Irgendwann, sagte er, werde die Partei ihre Rolle in Staat und Gesellschaft sicher noch einmal überdenken müssen. – Ja, das stimmt, wir selbst machen uns Sorgen um die Partei, sagte Tian. Ein Satz, der Hauser so fühlbar die Ohren spitzen ließ, dass Constanze und ich einander erstaunt ansahen. – Unsere Partei, fuhr Tian fort, wird euren Parteien immer ähnlicher. – Wie denn das?, fragte Hauser. – Unsere Partei hat immer weniger Mitglieder, und sie gewinnt zu wenig kluge Köpfe. Hauser senkte kurz den Blick, sichtlich verblüfft, dann sah er mich an, dann Constanze, dann, fast hörbar nachdenkend, schwieg er, dann dieser Satz: – Dann hat China jetzt wohl die Nachteile des Mehrparteien- und des Einparteiensystems vereint. 205 Ich war irritiert. Hausers Tonfall war leicht herausfordernd gewesen, unzumutbar herausfordernd, glaubte ich, für Tian. Aber auch im hohen Alter hatte Hauser in manchem noch immer das sicherere Gespür. Tian sah ihn lange mit hellwacher, verständnisvoller, beinahe herzlicher Miene an. Schließlich sagte er: – Genau das ist unsere Sorge. Das können wir natürlich nicht zulassen. Von dem Moment an war es, als wären die beiden längst vertraute Gesprächspartner. Natürlich, sagte Hauser, wenn die Partei in China ebenso hinter den Anforderungen der Zeit zurückbliebe wie das Parteienwesen bei uns, wäre das fatal. Aber wie man denn in China eine solche Entwicklung aufhalten wolle, die auch die westlichen Demokratien bisher nicht aufhalten konnten. Tian holte mit seiner Antwort weit aus. Chinas kommunistische Partei habe fast zwei Generationen gebraucht, um sich vom Maoismus zu lösen und eine moderne Staatsverwaltungspartei zu werden. In den kommenden zwei Generationen werde China noch einmal einen ähnlich weiten Weg zurücklegen müssen, vielleicht sogar einen noch viel weiteren. Noch gebe es in der Partei genug Menschen, die sich darüber im Klaren seien. Deswegen lasse die Partei nach Anregungen für ihre eigene Veränderung suchen. – Wir beobachten auch, sagte er dann, wo sich bei euch Neues entwickelt. Wir beobachten zum Beispiel eure Tagmakraten. Ich warf Constanze und Hauser erstaunte Blicke zu. Sympathien mit den Tagmakraten in China? Nichts hätte mich mehr überrascht. In Deutschland hatten die Ideen der Tagmakraten bisher nur wenig Aufmerksamkeit geweckt. Ausgerechnet in China befasste man sich – befassten sich zumindest Leute wie Tian - umso intensiver damit? Hauser zeigte keine Spur von Überraschung. Er sah Tian an und lächelte. – Beachtlich, sagte er. Ich wünschte, ich wäre noch jung genug, um zu erleben, was ihr in China daraus macht. 206 Dabei machte Hauser – bis heute bin ich nicht sicher, warum – eine kurze abwehrende Handbewegung, die das Thema beendete. Nach der Hundertjahrfeier lebten die Streitigkeiten im SPIEGEL wieder auf, aber weniger heftig, als alle es erwartet hatten. Zumindest wurde weniger Streit in die Öffentlichkeit getragen. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass bei manchen die Gedanken schon zur nächsten großen Hundertjahrfeier vorauseilten: Hundert Jahre Grundgesetz. Mai 2049. Eigentümer und Verlagsleitung wollten den SPIEGEL 2049 noch einmal auf großer Bühne gefeiert sehen, dieses Mal als das Medium, das die Normen des Grundgesetzes hundert Jahre lang unbeirrt hochgehalten habe. Die Planungen für ein Sonderheft in Millionenauflage begannen schon Ende 2047, die Planungen für Veranstaltungen im Verlagshaus und im Kongresszentrum kurze Zeit später. Das Veranstaltungsprogramm des SPIEGEL, so der Plan, sollte alle anderen Feiern zum Verfassungsjubiläum überragen. Zuerst wagte niemand dagegen offenen Widerspruch. Nur Kiesewetter, das sprach sich langsam herum, war dagegen. Natürlich machte er sich damit noch mehr Feinde. Er habe zu wenig dafür getan, warf die Verlagsleitung ihm später vor, Deutschland mit SPIEGEL-Artikeln auf das Verfassungsjubiläum einzustimmen. Kiesewetter sah die Rolle des SPIEGEL ganz anders, aber vorerst hielt er still. In Gedanken war ich auf seiner Seite. Das Verfassungsjubiläum war natürlich alles andere als ein Jahrhundertereignis, es war eben nur ein Gedenktag. Der Grund, warum hier trotzdem davon die Rede sein muss, ist Klaus. Bei der Hauptveranstaltung im Verlagshaus versuchte er wieder einen großen Auftritt. Wieder inkognito. Wieder in der Verkleidung als Hundertjähriger, wieder als aschfahler Sterbenskranker, wieder mit Rollator, wieder mit einem umgehängten Pappschild. Darauf in großer schwarzer Schrift: Ich und das Grundgesetz. Darunter kleiner und blass geschrieben: Gleich alt, gleich stark. 207 Dieses Mal hielt sein Inkognito nicht. Ein aufmerksamer Redakteur erkannte ihn. Kurz darauf wurde Klaus von Ordnungskräften aus dem Verlagshaus gedrängt. Am nächsten Tag wurde ich von der Verlagsleitung vorgeladen. Was für Mitarbeiter ich denn im Archiv beschäftigte. Welche Personalpolitik ich denn in all den Jahren betrieben hätte und warum ich einen Mann wie Klaus nicht viel früher durchschaut hätte. Was ich zu tun gedächte, um solche personellen Fehlgriffe in Zukunft zu vermeiden. Und schließlich: Klaus sei fristlos entlassen. Dann drückten sie mir das Kündigungsschreiben in die Hand. Ich überflog es kurz und nickte nur. Eine ordentliche Abfindung bei sofortigem Ausscheiden. Ein Angebot, das einer wie Klaus nicht ablehnen würde. Immerhin hatte er einen starken Abgang gehabt. Er war unser Farbtupfer im manchmal etwas grauen Archivalltag gewesen. Einer von denen, die mir die Gewissheit gaben, dass Archivarbeit lebensnah war. Noch wusste ich nicht, wie viel er vor mir verborgen hatte, aber ich vermisste ihn vom nächsten Tag an. Sinnstiftungsversuche 100 Jahre Verfassung, das bedeutete auch hundert Jahre Verfassungsschutz, und wen der Verfassungsschutz damals schon als vermeintliche Feinde von Freiheit und Demokratie ins Visier genommen hatte, das ahnte zu diesem Zeitpunkt selbst beim SPIEGEL noch niemand. Während also der SPIEGEL seelenruhig die Verfassung und sich selbst feierte, dokumentierten wir im Archiv weiter so seelenloses Zeitgeschehen wie die aktuellen Episoden des Dritten Weltkriegs in Afrika und die schwelende Krise des Parteienwesens in Deutschland. Die MSU war mittlerweile zu einer der mitgliederstärksten Parteien des Landes gewachsen, aber auch zu einer der zerstrittensten. Türken und Nichttürken in der Partei bekämpften einander, und nichttürkische Gruppen kämpften ebenso unerbittlich gegeneinander. 2048 dann der große Finanzskandal, aufgedeckt vom Verfassungsschutz. Die Partei finanzierte sich größtenteils mit verdeckten Spenden aus muslimischen Ländern, allen voran der 208 Türkei, Saudi-Arabien und Katar. Dabei hatten die innerparteilichen Fraktionen ihre je eigenen Geldgeber. Viele Sympathisanten und Mitglieder rechneten mit einem baldigen Auseinanderbrechen der Partei. Aber noch geschah nichts. Die Abgeordneten der MSU hatten keinen erkennbaren Einfluss auf Regierung und Gesetzgebung. Insofern nützte die MSU bis dahin niemandem, aber sie schadete auch niemandem. Trotzdem war sie natürlich für viele ein rotes Tuch. Allein der Stil der innerparteilichen Machtkämpfe machte vielen Angst, und der Finanzskandal tat ein Übriges. Parteien und überwiegend auch die Medien rieten trotzdem zur Gelassenheit. Die MSU werde nach ihren unvermeidlichen Flegeljahren früher oder später eine Partei wie jede andere werden. Andere hielten sie bereits für eine fast normale Partei, eine ganz normal zerstrittene, die sich nur noch die Streitroutine der anderen Parteien aneignen müsse. Manche dagegen wollten die MSU noch immer vom Verfassungsgericht verbieten lassen. Einige wenige sahen es noch grundsätzlicher: Die MSU sei offensichtlich nicht regierungsfähig, daher brauche Deutschland endlich ein Parteiengesetz, dass offenkundig nicht regierungsfähige Parteien von Parlamentswahlen ausschließe. Ein Parteiengesetz, das dies versäume, verletze Grundrechte, sei also verfassungswidrig und müsse vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt werden. Für kurze Zeit wurde hierüber auch in den Medien debattiert, und dabei wurde die Frage der Regierungsfähigkeit grundsätzlicher gestellt. Regierungsfähigkeit müsse man nicht nur von Parteien verlangen, argumentierten einige, sondern natürlich auch von Politikern. In einem Land wie Deutschland seien für zahllose, auch vergleichsweise einfache berufliche Tätigkeiten Befähigungsnachweise erforderlich, aber das Land regieren dürfe jeder. Das Grundgesetz verbiete das zwar nicht, aber ob es mit dem Geist des Grundgesetzes vereinbar sei, diese Frage dürfe man doch einmal stellen. Das Ansinnen, die Frage der Regierungsfähigkeit justiziabel zu machen, war natürlich nicht nur formaljuristisch unschlüssig, sondern auch hoffnungslos naiv. Regierungsfähigkeit ist keine Eigenschaft, über die Gerichte objektiv entscheiden 209 könnten. So sah auch ich zuerst diese Initiative. Bis ein Archivmitarbeiter mir den Text der mittlerweile vorliegenden Verfassungsbeschwerde gegen das Parteiengesetz auf den Tisch legte. Lies mal, sagte er, es ist clever gemacht. Ich überflog den Text flüchtig, sah mir dann die Namen der Kläger an. Ein knappes Dutzend, einige bekannte Namen dabei, fast ausnahmslos alte Herren. Drei davon mit Professorentitel. Einer von ihnen: Graf. Unser alter Professor Graf! Wenn Graf unterschrieben hat, dachte ich sofort, dann muss etwas daran sein, dann kann die Klage nicht ganz so naiv sein, wie es schien, und dann ist sie womöglich auch zulässig. Und genau so war es. Die ganze Klageschrift war eine hintersinnige List. Das Kalkül der Kläger: Wenn die Klage zugelassen wird, dann haben wir schon gewonnen. Dann wird die Klage zwar abgewiesen, aber es wird dafür eine Begründung geben. Und auf nichts anderes als diese Begründung hatten die Kläger es angelegt. Graf erlebte den Fortgang des Verfahrens nicht mehr, aber es wurde für mich so etwas wie Grafs Vermächtnis. Die Klage wurde – eine großzügige Rechtsauslegung der Richter – tatsächlich zugelassen, und sie wurde wie erwartet abgewiesen. Aber die Urteilsbegründung wäre für Graf, hätte er sie noch erlebt, ein stiller Triumph gewesen. Regierungsfähigkeit, so das Gericht, sei zwar objektiv schwer zu fassen, aber die Klage sei nicht schon deswegen abzuweisen, weil Regierungsfähigkeit ein unbestimmter Begriff sei. Zur Regierungsfähigkeit hätten die Kläger durchaus Überlegenswertes vorgetragen, und sie hätten sogar glaubhaft gemacht, dass genau genommen keine der im Parlament vertretenen Parteien wirklich regierungsfähig sei. Abzuweisen sei die Klage aber aus anderen Gründen. Parlamente sollten die gesellschaftliche Realität abbilden, daher hätten auch Parteien wie die MSU zu Recht im Bundestag ihren Platz. Dass zu Wahlen nur regierungsfähige Parteien zuzulassen seien, ergebe sich dagegen weder aus dem Buchstaben noch aus dem Geist des Grundgesetzes. 210 Auf genau diese Feststellung hatten Graf und seine Mitstreiter abgezielt: Selbst wenn keine der ins Parlament gewählten Parteien regierungsfähig wäre, widerspräche das nicht dem Geist des Grundgesetzes. Und dass das Verfassungsgericht in einem Nebensatz sogar eingeräumt hatte, vielleicht sei tatsächlich keine der im Parlament vertretenen Parteien regierungsfähig, war zumindest eine weitere Genugtuung. Man konnte, ja man musste die Verfassungsrichter auch so verstehen: Mit dem Grundgesetz und dem Parteiengesetz sind der politischen Inkompetenz in Parlament und Regierung Tür und Tor geöffnet. Genau das war es, was Graf schwarz auf weiß haben wollte. Auch Hauser zeigte sich von dem Urteil natürlich tief beeindruckt. Er nannte es einen Schicksalsschlag für die Parteiendemokratie. Was geht wie lange gut? So hatte Hauser immer wieder die Frage nach der Lebenserwartung von Staaten, von politische Regimes, politischen Ideologien und am Ende sogar von Religionen gestellt. Der Grundgedanke ist fast banal: Wenn Menschen sich an etwas gewöhnt haben, halten sie möglichst lange daran fest, auch an ihren Überzeugungen, an ihrer Macht, ihren Aufgaben, ihrem Wohlstand, ihren Vorbildern, ihren Identifikationsfiguren, ihrem Glauben. Trotzdem kommt bei all dem irgendwann doch die Zeit des schmerzlichen Wandels. Dabei sind wir es oft selbst, die liebgewonnenen Gewohnheiten den Boden entziehen. Wir stellen als Bürger Anforderungen, denen alte Regimes, alte Vorbilder, alte Identifikationsfiguren und alte Dogmen nicht mehr gewachsen sind. Oder wir verlangen nach Produkten, die mit der gewohnten Art von Arbeit nicht mehr produzierbar sind. Oder wir verändern die Welt mit neuen Bedürfnissen, um irgendwann erschrocken festzustellen, dass die so veränderte Welt nicht mehr zu unseren alten religiösen Überzeugungen passt. In all solchen Fällen kann es so, wie es war, nicht mehr lange gutgehen. Seit ich Hausers Nachfolger geworden war, waren inzwischen mehr als zwanzig Jahre vergangen. Am Abend vor seinem 81. Geburtstag hatte er eine kurze Mail 211 verschickt, mit der er " den vielen guten Wünschen meiner lieben Freunde zuvorkommen" wollte. "Für diese guten Wünsche danke ich euch allen schon jetzt ganz herzlich.“ Hauser in seinem neunten Lebensjahrzehnt in Höchstform. Er hatte sich mit allem Floskelhaften, auch mit allen üblichen Glückwunschritualen, immer schwergetan, und nun fand er dafür klarere Worte denn je. Aber war ich nicht einer der wenigen, über deren realen Glückwunsch er sich dennoch freuen würde? Zwei Tage danach, als mir die rituelle Glückwunschpflicht abgelaufen schien, rief ich ihn an. Ich brauchte, sagte ich, ganz dringend den altersweisen Rat eines über Achtzigjährigen, und ich wisse nicht, wer sonst mir solchen Rat geben könnte. Am nächsten Tag trafen wir uns in seiner Wohnung. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass die Jahre auch in seinem Gesicht tiefe Spuren hinterlassen hatten. Die Augen hatten sich weiter in ihre Höhlen zurückgezogen, und von der leichten Aura der Unsterblichkeit, die er früher für mich immer ausgestrahlt hatte, war nichts geblieben. Ich war irritiert, und ich verbarg es nicht. – Du bist auch nicht gerade jünger geworden, sagte er. Ja, dachte ich, natürlich. Ich war eben noch in einem Alter, in dem man viel mehr an das Altern der Älteren denkt als an das eigene. – Es tut ja nicht weh, sagte er, im Gegenteil. Man soll sich beim Altern zusehen und seinen Frieden damit machen. Damit waren wir fast schon beim Thema, über das ich mit ihm hatte reden wollen. Was geht wie lange gut? Was hat wie lange Bestand? Auch Überzeugungen und Institutionen altern und veralten, aber kann man nicht auch damit einfach seinen Frieden machen? Ich glaubte, sagte ich, auch der Verlag sei in den letzten Jahren gealtert, vielleicht schneller denn je. Man könne nicht wissen, wie lange es mit dem Verlag noch gutgehe, auch er wisse es natürlich nicht, aber vielleicht könne er meinen Gedanken darüber doch auf die Sprünge helfen. 212 Hauser sprach langsam und zögernd, aber am Ende war es fast genau wie früher. Ich erzählte ihm schließlich von den kleinen und großen Konflikten im Verlag, von Kiesewetter und seiner schwierigen Lage, von den Gerüchten über Investoren, die den Verlag übernehmen wollten, und natürlich vom Streit über das Archiv. Dass die Verlagsleitung das Budget der SPIEGEL-Dokumentation Jahr für Jahr schmälere und dass so das bisherige Qualitätsniveau nicht zu halten sei. Und dass, viel schlimmer noch, neuerdings die Redaktion sich das Archiv einverleiben wolle. Das Archiv diene der Redaktion, so argumentierte u.a. der zweite Chefredakteur, niemand wisse besser als die Redaktion selbst, wie dies zu geschehen habe, und die Redaktion wisse daher auch am besten, wo und wie das Archiv Kosten sparen könne. Die Ausbildung ausländischer Praktikanten z.B. sei ein Luxus, den ein Verlagsarchiv sich in der heutigen Zeit kaum noch leisten könne, damit könne man anfangen. Dann erzählte ich ihm, dass ich gerade ein halbes Jahr vorher ausländische Praktikanten aus Schweden, England, Norwegen und Marokko eingestellt hatte. – War das womöglich schon ein entscheidender Fehler?, fragte ich. Hauser sah mich an, als hätte ich eine ziemlich dumme Frage gestellt. Nein, sagte er dann, ein Fehler müsse das nicht gewesen sein. Ich könne der Verlagsleitung doch zeigen, dass man von ausländischen Praktikanten auch lernen könne, viel sogar, und dass sie manchmal sogar für die Themenfindung der Redaktion nützlich sein könnten. – Fällt dir ein Beispiel ein?, fragte ich. Hauser überlegte nur kurz, dann kam – immer noch der alte Hauser eben – dies: – Du hast also Praktikanten aus Schweden, Dänemark, Norwegen und Marokko? – Ja, unter anderem. – Alles Monarchien. Wenn das Zufall ist, dann ein glücklicher. Vielleicht lässt sich daraus etwas machen. – Aber was?, fragte ich. 213 Hauser senkte kurz denn Blick, als müsse er nachdenken, zögerte nur kurz, – Nur ein spontaner Gedanke, sagte er, aber vielleicht kannst du ihn ja weiterdenken: Du lässt deine Praktikanten Material über die Monarchien in ihren Heimatländern sammeln. Dann schlägst du der Redaktion eine große Geschichte über Sinn und Unsinn der Monarchie im 21. Jahrhundert vor, Schwerpunkt repräsentative Monarchie in Europa. So zeigst du, dass ein unabhängiges Archiv sein Geld wert ist, und du zeigst, was deine ausländischen Praktikanten wert sind. Gebt euch nicht auf. Natürlich eine grandiose Idee. Die Zukunft der Monarchie, das würde mindestens ein Thema für eine große Titelgeschichte sein, vielleicht sogar für eine große Artikelserie. Mit Titeln wie "Glanz und Elend der Windsors", mit kritischen Porträts der gekrönten Häupter Europas, von Felipe über William, Hakon und Victoria bis zu Frederik. Dazu der Vergleich mit einer Monarchie, in der der Monarch noch Macht über Staat und Volk hat wie in Marokko. Schließlich die Frage: Was wäre, wenn die Monarchie und die Monarchen verschwänden? Nach einer solchen Story würde die Redaktion das Schicksal der Monarchien mit kritischen Artikeln weiter begleiten, ein ergiebiges Thema für Jahrzehnte. – Ja, sagte ich zu Hauser, der Sache werde ich nachgehen. – Und wirst du weiter um die Unabhängigkeit des Archivs kämpfen? – Ja, natürlich, sagte ich. Ein paar Wochen später setzte ich mich mit meinen Praktikanten aus monarchistischen Ländern zusammen und mit einem Briten, einer Dänin und einer Spanierin, drei altgedienten Kollegen vom Archiv. Ich stellte ihnen die Aufgaben so: Was weiß unser Archiv über die Monarchie in eurer Heimat? Was sollte unser Archiv über diese Monarchien noch wissen? Wie findet ihr es heraus? Mit welchen Methoden? Aus welchen Quellen? Wir entwickelten rasch eine Strategie, angefangen mit Methodenfragen. Aber dann fingen wir ganz von selbst an, unsere Meinungen über die Monarchie auszutauschen. Für die Spanierin und den Engländer war sie ein lächerlicher Anachronismus, für den 214 Norweger und die Dänin "etwas, das dem Land Halt gibt“. Aber wir wollten es nicht einfach bei diesem Dissens belassen. Wir beschlossen, ihn zu dokumentieren. Wir wollten eine umfassende Dokumentation über die Monarchie im 21. Jahrhundert erstellen, auch über deren Akzeptanz, und dazu wollten wir auch uns selbst befragen. Aber dafür mussten wir uns natürlich erst über unsere eigene Meinung im Klaren sein. Nach einigen Wochen waren wir dann so weit, dass ich den anderen präzisere Fragen stellen konnte. Ich fing so an: – Wie hoch wäre die Wahlbeteiligung, wenn die Bürger über die Beibehaltung der Monarchie abstimmen könnten? Sehr hoch, meinten alle. – Wie wäre die Wahlbeteiligung, wenn die Bürger den Monarchen selbst wählen könnten? Fast alle sahen mich verblüfft an, als könnte die Frage nicht ernst gemeint sein, aber dann kamen nach und nach doch Antworten. Und alle, zuletzt auch der Engländer und die Spanierin, unsere beiden Monarchieverächter, meinten, die Beteiligung wäre sehr hoch. So fing es an, und ich ahnte schon, dass wir damit etwas Unabsehbares angestoßen hatten. Wir waren uns rasch darüber einig, warum bei Abstimmungen über die Monarchie und über Monarchen so viel mehr Bürger teilnehmen würden als bei normalen Wahlen. Weil hierbei die Bürger genau wüssten, was sie mit ihrer Stimme bewirken. Sie wüssten: Es geht nicht um schwer durchschaubare Politik, es geht um Gefühle, um Zu- und Abneigung, um Orientierung, um Identifikation. Die Monarchin bzw. der Monarch ist eine Identifikationsfigur. Es geht also darum, dass es in einer immer komplizierteren Welt noch etwas Einfaches, Übersichtliches geben soll, das dennoch alle angeht. Politisch mag eine repräsentative Monarchie nur Zierrat sein, aber sinnlos ist sie nicht. Im Gegenteil. 215 Ich fragte, ob das denn nicht ein Widerspruch sei: Die repräsentative Monarchie als Zierrat zu erkennen, aber sie dennoch so ernst zu nehmen. Eine Antwort war: Wenn wir unsere Politiker nicht mehr ernst nehmen können, dann wollen wir wenigstens noch unsere Monarchen ernst nehmen. So tastete ich mich mit meinen Fragen langsam weiter voran. Als Nächstes: – Verstehen eure Monarchen etwas von Politik? Darauf alle außer dem Marokkaner: Nein. – Sehen eure Landsleute das auch so? – Ja. – Trotzdem sind eure Monarchen immer noch Staatsoberhäupter. Macht das noch Sinn? Darüber hatte noch keiner wirklich ernst nachgedacht, und keiner hatte eine Antwort. Bei unserem nächsten Treffen wagte ich schließlich diese Frage: – Wäre es nicht besser, wenn eure Monarchen gar nichts mehr der Politik zu tun hätten, auch nicht formell? Wenn sie nur noch gänzlich unpolitische Aufgaben hätten, z.B. in der Kultur und im Sport und vielleicht als Zeremonienmeister kollektiven Gendenkens? Die meisten in der Runde waren verblüfft. Aber dann nahm der Schwede als erster den Gedanken auf. Ganz verkehrt sei das wohl nicht, sagte er. Die schwedische Königin im Parlament, das sei im Grunde eine Peinlichkeit. Dann die Spanierin: An den Gedanken müsse man sich erst einmal gewöhnen, aber unlogisch erscheine er ihr nicht. Dann die Dänin: Für Dänemark könne sie sich das nicht vorstellen. Der Glanz der Monarchie strahle immer noch auf den gesamten Staat ab, auf Parlament und Regierung und damit auch auf die Parteien, und diesen Abglanz hätten sie auch 216 dringend nötig. Daher brauchten Parteien und Politiker weiterhin einen repräsentativen Monarchen, der auch Staatsoberhaupt sei. Dann der Engländer: Wenn von der Monarchie noch Glanz auf die Politik abstrahle, dann sei das unverdienter Glanz. Eine auch förmliche Trennung von Staat und Monarchie sei ehrlicher, und es sei höchste Zeit dafür. – Aber wann könnte sie Wirklichkeit werden?, fragte ich. Darauf die Dänin und der Norweger: vielleicht in drei oder vier Generationen. Der Engländer und die Spanierin: Darüber sollten wir in zwanzig Jahren nochmal reden. Zumindest nachdenken könnten wir darüber aber schon jetzt, sagte ich bei einem nächsten Treffen. Stellt euch vor, Politik und Monarchie würden endgültig entkoppelt. Die Monarchie wäre nur noch ein Identifikationsangebot an die Bürger, finanziert durch eine kleine Monarchiesteuer. Würde dann der Respekt vor den Monarchen nicht sogar wachsen? Und könnten sich für eine solche auch formell unpolitische Monarchie nicht sogar vormalige Antimonarchisten begeistern? Keiner in der Runde widersprach. Ich war nicht sicher, ob es wirklich stillschweigende Zustimmung war. Ich wartete eine Weile, dann wagte ich die entscheidende Frage: – Und wenn es eine solche Art Monarchie gäbe, würden die Bürger sich dann nicht irgendwann wünschen, ungeliebte Monarchen abwählen zu können? Wieder kein Kommentar, nur einige ratlose Blicke. Dann fing der Engländer an zu nicken. Dann die Spanierin. Dann der Schwede. Schließlich nickten sie alle, ein stummes, klares Ja von allen, außer vom Marokkaner. – Dann wäre die Monarchie, sagte ich, zugleich entpolitisiert und demokratisiert. Der Marokkaner sah mich fassungslos an. Die anderen warteten ab, sahen einander fragend an, dann kam, vom Engländer zuerst, wieder ein zögerndes Nicken. 217 – Wenn wir eine solche Monarchie hätten, sagte dann der Engländer, eine völlig unpolitische Wahlmonarchie, würde man uns darum nicht sogar beneiden? Neid auf die Monarchie? Auf eine repräsentative Wahlmonarchie? Ein kurzes Erstaunen bei allen, dann ein zufriedenes Schweigen. Ihre Monarchien, das wussten sie, wurden in anderen Teilen der Welt schon seit Längerem belächelt, und nun ließ sich der Spieß womöglich umdrehen. Ihre belächelten Monarchien ließen sich womöglich in Gebilde umwandeln, um die man sie in der Welt beneiden würde. In sinnstiftenden demokratischen Zierrat. Ein sehr wohltuender Gedanke. Was hatten wir da angestoßen? Wo waren wir in unserer kleinen Runde gelandet? Ganz und gar nicht, wie ich zu Anfang erwartet hatte, im Konsens, dass die repräsentative Monarchie ein überflüssiger Anachronismus sei. Einig waren wir uns, dass nur noch wenige Erbmonarchen das Identifikationsbedürfnis der Bürger besser erfüllen, als gewählte Amtsträger es an ihrer Stelle täten. Eine Lösung des Problems: die repräsentative Wahlmonarchie. Wir überlegten, welchen Monarchen wohl als ersten die Abwahl drohen würde. Die meisten von uns tippten auf Felipe, William und Viktoria. Das waren nur Gedankenspiele, aber sie machten zumindest Spaß. Und auch darüber waren wir uns schnell einig: Wahlmonarchie sollte Spaß machen. Umso ernster, sagte der Engländer, würden die Bürger dann die eigentliche Politik nehmen. Allein wegen dieser klugen Bemerkung hatte sich die ganze Mühe unserer Runde für mich schon gelohnt. Aber waren all solche Gedanken nicht doch utopisch? War es realistisch, dass eine Demokratie eine solche Wahlmonarchie einrichten würde? Hatte nicht zumindest die Dänin damit Recht, dass Parteien und Politiker das in ihrem Land niemals zulassen würden? Und war damit dann nicht auch in anderen Ländern zu rechnen? Auf absehbare Zeit schon, auch darin waren wir uns einig, aber selbst das brachte uns nicht vom Thema ab. In den folgenden Monaten steuerte jeder ein Stimmungsbild zur Monarchie in seinem Land bei, darunter viele kleine Beiträge u.a. 218 aus Onlineforen, Blogs und kleinen Lokal-, Schüler- und Studentenpublikationen. Ich stellte daraus einen, wie ich meinte, aufsehenerregenden Auszug für die Redaktion zusammen, mit der Frage, ob hier möglicherweise ein großes Thema heranwachse. Einige Wochen danach stand im SPIEGEL eine kurze Notiz mit der Überschrift: Antimonarchisten in Europa im Aufwind? Es war ein Versuchsballon, mehr nicht. Niemand griff das Thema auf, nicht einmal in Leserbriefen. Für die Chefredaktion das Signal: Kein Leserinteresse. Damit war das Thema für viele Jahre erledigt. Erst ein Vierteljahrhundert später erschien dann die große Artikelserie über Sinn und Unsinn der repräsentativen Monarchie. Sie trug fast genau den Titel, den ich damals in unserem kleinen Kreis vorgeschlagen hatte: Gewählte Sinnstifter – Neuerfindung der repräsentativen Monarchie? Kleine Staatsreparaturen Als die erste Jahrhunderthälfte zu Ende ging, hatte ich fast zwanzig Jahre als Archivleiter hinter mir, und natürlich hatte diese Zeit mich geprägt. Andere mögen in dieser Zeit ein aufregenderes Leben gehabt haben, aber meines war ausgefüllt. Ich bin – das Archivardasein macht es einem leicht – ein Familienmensch geworden, und das allein ist ein großes Glück. Vielleicht hatte ich zu Anfang gehofft, dass sich in unserem Archiv Erbaulicheres und Aufregenderes widerspiegeln würde, aber es kam anders. Enttäuscht war ich darüber nicht. Dieses Vierteljahrhundert aus der Perspektive eines Archivars beobachten zu können hat für vieles entschädigt. Im Lauf der Zeit habe auch ich mir angewöhnt, Einfälle und Gedanken zum Zeitgeschehen zu notieren, wenn auch nicht so gründlich und präzise wie Hauser. Auch ich wollte mir ein Bild davon machen, wie sich das Bewusstsein unserer Epoche entwickelt und das Bewusstsein meiner Generation, der Generation Sichtflug. Ich habe den schleichenden Dritten Weltkrieg beobachtet und ihn zu verstehen versucht, und ich habe über die Beschränkungen der Demokratie 219 nachgedacht. Die Demokratie löst nicht die Probleme unseres Jahrhunderts, das war der eine Schlüsselgedanke, zu dem Hauser mich angestiftet hatte. Die Generation Sichtflug fand sich damit ab, das war der zweite. Der dritte: Das politische Bewusstsein der Welt steckte fest in den Dogmen des zwanzigsten und früherer Jahrhunderte. Der vierte schließlich: Die Demokratie hilft nicht, ein fortgeschritteneres Bewusstsein zu formen, sie tut das Gegenteil. Aber schon mit diesen Gedanken, so einfach und klar sie auch erschienen, fühlte ich mich manchmal wie in einem utopischen Nirwana. In der letzten Woche der ersten Jahrhunderthälfte lud Hauser mich in seine Wohnung ein. Er würde wissen wollen, glaubte ich, was ich Neues über den Verlag wisse, über die internen Intrigen und über den drohenden Eigentümerwechsel, über den in den Medien spekuliert worden war. Aber kein Wort darüber. Es ging ihm um frühere Themen. Er wollte sich, so schien es mir, vergewissern, dass ich nichts von dem vergessen hatte, worüber wir früher so ausgiebig diskutiert hatten. – Erinnerst du dich, begann er, wie wir vor zwanzig Jahren darüber sprachen, dass noch zivilisatorische Entgleisungen bevorstünden? Damals wolltest du nichts davon wissen. So pessimistisch wolltest du nicht sein. – Ich war noch ziemlich jung. – Und heute?, fragte er. Glaubst du heute, dass es zivilisatorische Entgleisungen geben wird? Ich sah etwas verlegen zu Boden. Ich wusste, dass es eine rhetorische Frage war, auf die er selbst würde antworten wollen. – Ich fürchte es, sagte ich in unbestimmten Tonfall. Dann breitete Hauser noch einmal das ganze Szenario der Gefährdungen aus, denen die globale Zivilisation weiterhin ausgesetzt war. Dass die Welt immer noch von dreierlei Arten politischer Kultur beherrscht sei, von archaischen, fundamentalistischen und veralteten demokratischen. Dass die Epoche der blutigen ethnischen und konfessionellen Konflikte und auch der Kriege und Bürgerkriege um 220 Staatsgrenzen und Staatszugehörigkeiten auch jetzt, zur Mitte unseres Jahrhunderts, noch längst nicht beendet sei. Dass im zwanzigsten Jahrhundert der Schock der Weltkriege und das Erschrecken über das atomare Zerstörungspotential die politische Zivilisierung vorangebracht hätten, dass diese seither aber stagniere. Dass zugleich immer neue menschengemachte Gefährdungen entstanden seien und weiter entstünden wie Umweltbelastungen und Ressourcenverknappungen, und dass all das eigentlich zivilisiertere Weltmächte denn je erfordere, die aber nirgendwo absehbar seien. Sorgen müsse man sich auch darum, dass die Bevölkerung in den weniger zivilisierten Teilen der Welt immer noch viel schneller wachse als in den zivilisierteren – ein Land wie Nigeria habe inzwischen mehr Einwohner als die USA –, was die Welt als ganze natürlich in der Zivilisierung hinabziehe. Und zu denken gebe doch auch, dass die politisch vergleichsweise zivilisierten Länder vor allem in Europa mehr Migranten, legale und illegale, aus weniger zivilisierten Ländern aufnähmen denn je, wodurch sie sich immer auch rückständiges politisches Denken ins Land holten, auch fundamentalistisches und archaisches. Auch dies schwäche die Fähigkeit der westlichen Welt, Vorbild in der politischen Zivilisierung zu sein, und das bedeute für die Welt als ganze natürlich nichts Gutes. Bis hierhin hatte Hauser mich mit festem Blick angesehen, eindringlich fast, als fürchte er, ich würde seinen Gedanken nicht folgen. Jetzt lehnte er sich entspannt zurück und sprach leiser, fast wie zu sich selbst. Er wüsste gern, sagte er, wie Historiker im 22. Jahrhundert über unsere Epoche schreiben würden. Als Optimist müsse man hoffen, dass in hundert Jahren auf die politische Zivilisierung von heute zurückgeblickt werde, wie wir heute auf die Zivilisation des 17. oder 18. Jahrhunderts zurückblicken. Er würde alles dafür geben, das in Gedanken vorwegnehmen zu können. Natürlich wusste Hauser, dass auch er nicht ein Jahrhundert vorausdenken konnte. Von seinem Realitätssinn hatte er nichts eingebüßt. Noch immer beobachtete er 221 genau, wie sich das politische Bewusstsein veränderte, und er machte sich darüber weniger Illusionen denn je. Eine seiner Feststellungen war: Es werde mindestens eine weitere politikmüde Generation geben, die nur zur Wahl gehen werde, wenn dies gerade besonderen Unterhaltungswert habe. Es könne sogar sein, dass meine Generation im Vergleich zur nachfolgenden als politisch vergleichsweise engagiert gelten werde. Als wir uns dann nach all dem schließlich an der Tür verabschiedeten, sagte er: – Ich hoffe, ich habe dir nicht zu viel zugemutet. – Ich wünschte, du hättest in manchem Unrecht, sagte ich, aber ich wüsste nicht, wo. Am nächsten Tag lud ich mich bei Hauser zu einer Fortsetzung des Gesprächs ein. Auch wenn all das, so begann ich, was er am Vortag gesagt hatte, richtig sei, seien in westlichen Demokratien grundlegende Reformen doch nicht völlig ausgeschlossen. Wo er denn das größte Veränderungspotential sehe. – Natürlich in den angelsächsischen Ländern, sagte er mit einem süßsauren ironischen Lächeln. Natürlich im Versuch, den Staat als Unternehmen zu führen. Damit meinte er die damals so genannte Neue Privatisierung, den ideologischen Favoriten dieser Jahre. Dass der Staat, wie er ist, mit seinen Aufgaben irgendwie überfordert ist, das war schon in vielen westlichen Ländern in aller Munde, und natürlich wurde erst einmal versucht, die Schlussfolgerungen daraus nicht ausufern zu lassen. In den USA und Großbritannien folgerte man: Wo gewählte Politiker überfordert sind, sollen Manager deren Arbeit tun. Immerhin wurde nun auch erstmals systematisch nach Überforderungssymptomen bei Politikern gesucht. Die Ergebnisse waren erschütternd, aber sie wurden der Öffentlichkeit nur häppchenweise vermittelt. Ich muss zugeben, dass auch mir das Konzept der Neuen Privatisierung nicht abwegig erschien. Müllabfuhr, Gefängnisse, Krankenhäuser, Brief- und 222 Paketbeförderung, Telekommunikation und vieles mehr, was einstmals in staatlicher Hand gewesen war, waren in den meisten Ländern längst privatisiert, und kaum jemand wollte dies noch rückgängig machen. Warum nicht konsequent in diese Richtung weitergehen? Warum nicht Staatsmanagementorganisationen – so genannte SMOs – für viel umfassendere staatliche Aufgaben schaffen? Warum nicht kommunale Staatsmanagementorganisationen schaffen, so genannte KSMOs, die ganze Kommunen verwalten? Warum nicht regionale Staatsmanagementorganisationen, die Landkreise, Länder, Provinzen, Departements oder Grafschaften verwalten? Und schließlich: Warum nicht auch nationale Staatsmanagementorganisationen, die den Staat auf der nationalen Ebene verwalten – im Auftrag gewählter Politiker oder auch im direkten Auftrag der Bürger? Und warum sollte es nicht international und global tätige SMOs geben, die in einen internationalen Wettbewerb um Staatsmanagementaufträge treten? Warum sollten z.B. die Sarden, wenn sie sich im italienischen Staat schlecht verwalten fühlen, nicht eine Schweizer Staatsmanagementorganisation mit der Verwaltung Sardiniens betrauen können? Ähnliche Ideen waren in Sardinien schon Anfang des Jahrhunderts einmal aufgekommen. Die Grundidee war gewöhnungsbedürftig, aber unplausibel war sie nicht. Es ist im Zweifel besser, den Staat in die Hände hoch professioneller Staatsmanager zu geben als in die Hände von Laienorganisationen, wie politische Parteien es nun einmal sind. Trotzdem wurde die Idee zu Anfang natürlich – sogar in Teilen der angelsächsischen Welt – als skurril abgetan. Aber in dem Maße, wie auch reale demokratische Politik, die realen Parteien und die realen Politiker den Bürgern immer skurriler erschienen, gewann das Konzept der SMOs an Zustimmung. Zuerst nur unter Wissenschaftlern, aber dann auch zunehmend bei Bürgern. Niemand sah in den SMOs Heilsbringer, aber viele trauten ihnen zu, ihre Sache wenigstens etwas besser zu machen als Parteien und Parteipolitiker. Ich diskutierte diese Idee mit Hauser später noch mehrere Male, und ich war erstaunt, dass er ihr schließlich doch einigen Respekt entgegenbrachte. Sie zeige zumindest, 223 sagte er, dass Veränderungen am politischen System denkbar sind, an die zehn Jahre vorher noch kaum jemand zu denken wagte. – Aber sind das Verzweiflungsakte, fragte ich, oder Wegweiser in die Zukunft der Demokratie? – Es sind Notlösungen, sagte er, aber auch Notlösungen sind Lösungen. Sie bewahren vor Schlimmerem. Zu Hause versuchte ich, den Gedanken ein Stück weiterzuspinnen. Würden Staatsmanagementorganisationen irgendwann als Interimsverwalter die Geschäfte abgewirtschafteter und abgewählter Königshäuser übernehmen können? Kein wirklich wichtiger Gedanke, sagte ich mir, aber auch kein unvernünftiger. Viel wichtiger, dachte ich dann, könnte dieser sein: Würden künftige global tätige Staatsmanagementorganisationen vorübergehend so genannte gescheiterte Staaten oder Teile davon verwalten können? Ein noch sehr unfertiger Gedanke damals, aber einer, so schien mir, der weitergedacht werden könnte. 2050 – 2074 Globale Erschöpfung Der Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte war natürlich so wenig ein historisches Ereignis wie die Jahrtausendwende, aber heute erscheint es mir doch, als sei damals – so schwer es auch in Worte zu fassen ist – eine andere Zeit angebrochen. Eine Bewusstseinswende will ich es nicht nennen, richtiger wäre wohl, von einem schleichenden Bewusstseinswandel zu sprechen oder besser noch von einem schleichenden politischen Themenwandel, der zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte allmählich fassbar wurde. Aber was auch immer es war: Gegen Ende der ersten Jahrhunderthälfte hatte das politische Denken – genauer: das demokratische Denken – offenkundiger denn je die Orientierung verloren. Eines der frühen Symptome dieses Wandels war der Niedergang der politischen Talkshows. Überraschend war dieser Niedergang nicht, aber überrascht hat dann 224 doch, wie rasch und wie heftig er kam. Nicht weniger als ein halbes Jahrhundert lang waren die politischen Talkshows führend darin gewesen, den Bürgern die verbalen Argumente und Gegenargumente politischer Kontrahenten im Land nahezubringen. Vielen erschienen sie lange Zeit sogar unersetzlich für die politische Willensbildung und damit auch unerlässlich für das Funktionieren von Demokratie. Und dann dieser Einbruch der Einschaltquoten. Dass das Interesse an politischen Talkshows zumindest im Gleichschritt mit der Wahlbeteiligung schwinden würde, hätte eigentlich niemanden überraschen dürfen, aber zumindest die Medien gaben sich dann doch überrascht. Es dauerte Jahre, bis dann auch die Programmgestalter reagierten. Sie taten das Naheliegendste: Sie öffneten politische Talkshows zunehmend auch für unpolitische Themen, für Ernährungsfragen, Erziehungsprobleme, für Psychologisches, für Alltagsprobleme z.B. von Mobbingopfern, Kleingärtnern, Vielfliegern und Übergewichtigen und vieles mehr. Dem Renommee politischer Talkshows tat dies nicht gut. Deren Moderatoren hatten sich lange als gelehrte Großmeister ihrer Zunft aufgeführt, aber nun sahen sie sich zu Allerweltsmoderatoren degradiert, zu vermeintlichen Allesverstehern, denen immer weniger politischer Verstand unterstellt wurde. Einige Male versuchten politische Talkshows sogar, ihre eigene schwindende Einschaltquote zum Thema zu machen, aber dies scheiterte kläglich. Ob sich mit dem Niedergang der politischen Talkshows womöglich schon ein schleichender Niedergang der Demokratie ankündigte, darüber wollte kein prominenter Talkshowgast offen diskutieren. Dass ein mediales Format irgendwann einmal seine Blütezeit überschreitet, ist der normale Gang der Dinge, auch für politische Talkshows. Dann wird mit neuen, vermeintlich zeitgemäßeren Formaten experimentiert, mit neuen Moderatorengesichtern, neuem Kleidungsstil, mit neuem Studiodesign in neuen Formen und Farben, mit zwei, drei oder keinem Moderator statt mit einem, mit mehr oder weniger oder keinem Studiopublikum, mit mehr, weniger oder keiner Publikumsbeteiligung und so weiter. Auch all das haben die Fernsehanstalten 225 natürlich auch bei den politischen Talkshows versucht, aber ein ums andere Mal misslang es. Die Einschaltquoten gingen weiter zurück. Nach einem guten Jahrzehnt, Anfang der vierziger Jahre, hatten die Verantwortlichen es schließlich verstanden: Es liegt nicht am medialen Format. Die Zuschauer wollten nicht das Gleiche in neuer Verpackung, nicht das Gleiche in neuem Stil von neuen Moderatoren präsentiert, sie wollten sich einfach diese Art von Politik nicht mehr präsentieren lassen. Sie wollten vor allem nicht mehr zusehen, wie Politik in diesen Shows immer wieder als rhetorisches Parteiengezänk aufgeführt wurde, so durchsichtig wie quälend vorhersehbar. Nichts hat damals so vielen die Augen hierfür geöffnet wie das Ergebnis einer Telefonumfrage bei Menschen, die den politischen Talkshows noch die Treue hielten. Den Angerufenen wurden zwei Fragen gestellt. Die erste: Haben Sie die letzte Sendung bis zum Ende gesehen? Nur jeder Zweite antwortete darauf mit Ja. Die zweite Frage: Hätten Sie etwas versäumt, wenn Sie die Sendung nicht gesehen hätten? Darauf antworteten alle Befragten mit Nein. In den Jahren danach wurden mehr als die Hälfte der politischen Talkshows eingestellt. Mit solchen Talkshows hatte der SPIEGEL sich natürlich nie vergleichen und er hatte nie mit ihnen konkurrieren wollen. Wir verstanden uns nach wie vor als das führende politische Nachrichtmagazin, also eigentlich als unverzichtbar. Wir behandelten Themen, die auch in politischen Talkshows vorkamen, aber wir informierten gründlicher, und wir sahen uns auf höherem Niveau. Dass die Auflage des SPIEGEL nicht annähernd so schnell zurückging wie die Einschaltquoten der politischen Talkshows, nahmen wir als Bestätigung. Wann immer Fernsehanstalten eine politische Talkshow einstellten, wurden sie vom SPIEGEL mit Vorwürfen überschüttet. Damit, so der SPIEGEL, würde der grassierenden Politik- und Parteienverdrossenheit noch Vorschub geleistet, und wenn diese sich zunehmend auch zu einer Demokratieverdrossenheit auswachse, dann seien die Fernsehanstalten dafür mitverantwortlich. 226 Ein Rezept gegen Politik-, Parteien- und potentielle Demokratieverdrossenheit hatte aber auch SPIEGEL nicht. Und auch der SPIEGEL selbst blieb vom wachsenden politischen Desinteresse nicht unberührt. Auch wenn der Leserschwund glimpflicher verlief als der Zuschauerschwund politischer Talkshows, wurde er in der Summe doch langsam bedrohlich. Auch das Politikressort des SPIEGEL experimentierte daher mit allerlei neuen Präsentationsformen, mit verlagerten Themenschwerpunkten, eine Zeitlang auch wieder mit mehr politischen Personalien anstelle von Inhalten, mit mehr Bebilderung und bunteren Grafiken, aber all das half wenig. Am Ende hatte auch der SPIEGEL keine andere Wahl, als politische Themen zurückzudrängen und das Politikressort zu stutzen. Auch beim SPIEGEL gab es hiergegen natürlich erbitterten Widerstand. Es sei doch Verrat an den eigenen Idealen, ereiferten sich Teile der Redaktion, dem politischen Desinteresse der Bürger aus wirtschaftlichen Gründen nachzugeben, statt sich mit allen erdenklichen Mitteln dagegenzustemmen. Wer denn diese Entwicklung noch aufhalten solle, wenn nicht einmal der SPIEGEL es versuche. Im Übrigen sei das politische Desinteresse natürlich nur ein Zeitgeistphänomen. Unvorstellbar sei doch, dass den Bürger die politischen Probleme, große wie auch kleine, auf Dauer so gleichgültig blieben. Soziale Gerechtigkeit, gesellschaftlicher Zusammenhalt, Bildung, Friedenssicherung, Klimaschutz, Umweltschutz, Gesundheitsversorgung, Generationengerechtigkeit, Schonung von Rohstoff- und Energiereserven, Stabilität und Wachstum der Wirtschaft, das und vieles mehr seien doch politische Themen von unerschöpflicher Wichtigkeit. Mit diesen Themen würden bald auch politische Personalien und sogar politischer Parteienstreit wieder aufregend werden, auch im SPIEGEL. Viel anders sah auch ich es damals nicht, auch nicht Freunde und Kollegen. Nur Hauser sah es wieder einmal anders. Er fragte mich, ob das politische Desinteresse der Bürger nicht doch viel länger andauern könnte, als der SPIEGEL es sich eingestehen wolle. Wenn das aber so sei, könne selbst der SPIEGEL sich diesem Desinteresse bald nicht mehr entgegenstemmen. 227 Der SPIEGEL, widersprach ich, müsse sich dann eben neuen, wirklich bewegenden politischen Themen zuwenden und sie auch bewegend präsentieren. Darauf Hauser: Was ihn z.Zt. am meisten bewege, sei, dass der so genannte Westen mehr und mehr an den Rand des Weltgeschehens rücke, dass er weder politisch noch wirtschaftlich mehr der Nabel der Welt sei, und intellektuell sei er es anscheinend auch nicht mehr. Dies im eigenen Land begreiflich zu machen, das sei eine der dringendsten Aufgaben des politischen Journalismus. - Also doch, sagte ich. Also soll der SPIEGEL doch gegen die Politikmüdigkeit anschreiben. - Wenn es nicht so aussichtslos wäre, antwortete er. Für die kommenden Jahrzehnte ist es aussichtslos. Mächtige Senioren Dass die Rentner irgendwann rebellisch würden, war seit Ende der dreißiger Jahre absehbar gewesen. Überraschend war für mich nur, dass es so spät kam. 2052 gründete eine Senioreninitiative in Berlin die neue Partei Interessengemeinschaft Senioren – Partei der reiferen Jahrgänge. Kurzform: IG SENIOREN. Es war natürlich nicht der erste Versuch, eine deutsche Seniorenpartei zu gründen, aber es war der erste, der genau in die Zeit passte. Vor allem aber war es der erste mit konkurrenzfähigen Führungsfiguren, unter ihnen eine Reihe bekannter, in ihren Parteien ausgemusterter Altpolitiker von vergleichsweise gutem Ruf und eine Reihe fast ebenso bekannter älterer Wissenschaftler. Die Bezeichnung „Partei der reiferen Jahrgänge“ war klug gewählt. Die IG SENIOREN wollte nicht eine Partei des Alters sein, sondern der Reife. Und sie wollte eine Partei der Reiferen sein, also derer, die sich etwas reifer fühlten als andere. Und vielleicht sollte auch dies im Parteinamen anklingen: Die IG SENIOREN fühle sich reifer als viele derer, von denen sie regiert wurden. 228 Auch ich als später Mittfünfziger fühlte mich angesprochen. Zu Anfang war ich unsicher. Ich betrachtete mich im Spiegel und fragte mich, ob ich wirklich in das Gesicht eines Mannes der reiferen Jahrgänge schaute. Blitzte da nicht doch noch ein Rest jugendlicher Verwegenheit auf? Und hatten nicht schon zwei gleichaltrige Freunde, Segler der eine, Biker der andere, über die IG SENIOREN herablassende Bemerkungen gemacht? Ja, beides traf zu. Aber ich hatte schon länger darüber gegrübelt, wie lange mein Arbeitsleben wohl noch dauern würde, und ich hatte mein Einkommen im Fall eines unfreiwilligen Ruhestands überschlagen. Das Ergebnis war ernüchternd. Ich würde im Alter deutlich ärmer sein, als ich es mir früher einmal erhofft hatte. Danach war auch mir klar: Die Senioren in Deutschland hatten guten Grund, ihre politischen Interessen zu bündeln. Und die reiferen Jahrgänge machten 40 Prozent der Bevölkerung aus. Warum sollten also die IG SENIOREN nicht 15 bis 25 Prozent der Wähler für sich gewinnen können? Parteigründungen gelingen immer noch am ehesten dann, wenn sie ein Empörungspotential aufgreifen. So war es auch hier. Zwei Ereignisse hatten das Empörungspotential der Älteren wachsen lassen. Das eine war die Ankündigung der Unionsparteien, dass sie das Renteneintrittsalter demnächst für alle auf 72 Jahre anheben wollten. Das andere Ereignis war eine von den Deutschen Arbeitgeberverbänden beauftragte Studie zur Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer. Ein Ergebnis der Studie war, dass Siebzigjährige im Durchschnitt fast 40 Prozent weniger leistungsfähig seien als 50-jährige. Längst nicht in allen Berufen sei das so, aber eben doch im Durchschnitt. Dabei gehe es nicht nur um rein quantitative Leistungsfähigkeit, sondern es gehe auch um Arbeitshinhalte. Viele Ältere, so die Studie, wünschten sich weniger belastende Arbeit und flexiblere. Auch das aber sei als Minderung der Leistungsfähigkeit zu deuten, und es werde durch altersspezifische Stärken wie höhere soziale Kompetenz meist nur teilweise kompensiert. Trotzdem, so die Studie, beanspruchten fast alle Älteren das gleiche Arbeitsentgelt wie jüngere Kollegen. 229 Das Fazit der Arbeitgeber: Die meisten Älteren seien überbezahlt, und es würden immer mehr. Das aber könnten viele Unternehmen sich nicht mehr leisten, es untergrabe ihre Wettbewerbsfähigkeit. In Sachen Beschäftigung älterer Arbeitskräfte dürfe die Politik daher nicht zu viel erwarten, es sei denn, die Alten übten massiven Lohnverzicht. Die Studie empörte natürlich fast alle älteren Arbeitskräfte, und die Empörung zog sich durch fast alle Medien. Von Gefälligkeitsgutachten war die Rede, von der Korrumpierbarkeit wirtschaftswissenschaftlicher Gutachter und von einer Kriegserklärung der Arbeitgeber an ältere Arbeitnehmer. Damit war schon klar: Wenn die IG SENIOREN es einigermaßen geschickt anstellte, würde sie bald fest in der deutschen Politik etabliert sein. Dann aber wäre die deutsche Parteienlandschaft endgültig hoffnungslos zersplittert. Dann wäre endgültig das Ende der relativen politischen Stabilität gekommen, die Deutschland lange vor Schlimmerem bewahrt hatte. Einige Monate nach Gründung der IG SENIOREN fragte ich Constanze, was sie zu der aufgebrachten Stimmung der Senioren zu sagen habe. Sie zögerte mit der Antwort. Verständnis habe sie schon dafür, sagte sie schließlich, aber jetzt helfe keine Empörung mehr, jetzt ereile die gealterte Generation Sichtflug ihr Schicksal. Geholfen hätte es nur, wenn die Senioren von heute sich schon in jungen Jahren politisch engagiert hätten, vor allem natürlich bevölkerungspolitisch. Nun aber sei dies eines der Probleme, die zwei Politikergenerationen verschlafen hätten. Dann fragte ich sie noch, was sie von dem Gutachten der Arbeitgeber halte. Ob die Leistungsfähigkeit im Alter wirklich so zurückgehe. – So bitter es ist, sagte sie, aber es kommt der Wahrheit ziemlich nahe. - Dass die meisten Älteren eigentlich überbezahlt sind? Das soll wahr sein? - Man kann es so sagen. 230 Wie sie das denn wissen könne, fragte ich. Ob sie dafür Belege habe. Das nicht, sagte sie, aber es entspreche ihrer Erfahrung. Etwas in mir sperrte sich gegen diese Gedanken, so sehr ich Constanzes Urteil auch vertraute. Musste ich mich wirklich auch damit noch befassen? Hauser, Tian, nun auch Constanze – hatten sie mich nicht in ein Gedankendickicht verstrickt, das mir langsam den Atem nahm? War nicht alles viel zu kompliziert geworden? Hatte ich mich hoffnungslos verzettelt? Und schließlich kam mir noch in den Sinn: Müssten die meisten Politiker es nicht ganz ähnlich empfinden? Zum Glück war es ein lauwarmer Sommerabend. Ich ging ich auf den Balkon, legte mich auf den Liegestuhl, schloss die Augen und ließ mich von den letzten Strahlen der untergehenden Abendsonne wärmen. Aber auch das half nicht. Nach wenigen Minuten waren meine Gedanken wieder bei dem Gespräch mit Constanze, und ich fing an, in mich hineinzuhorchen. Wie viel von meiner Leistungsfähigkeit hatte ich als später Mittfünfziger schon eingebüßt? Wie viel würde ich noch einbüßen, wenn ich noch mehr als anderthalb Jahrzehnte als Archivleiter weiterarbeitete? Könnte ich die gleiche Arbeit in 16 oder 17 Jahren überhaupt noch tun? Und würde ich es wollen? Und würde der Verlag es wollen? Oder würde der Verlag schon bald einen Jüngeren an meine Stelle setzen wollen, der den Zenit seiner Leistungsfähigkeit noch vor sich hat? Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht. Eine Stunde später, kein Sonnenstrahl erreichte mehr meinen Balkon, weckte mich die beginnende Abendkühle. In meinem Kopf spürte ich Leere. Es tat mir gut. Neue Hoffnungsträger Zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte gab es einige auf den ersten Blick unscheinbare Ereignisse, die bei genauem Hinsehen dennoch große Veränderungen vorausahnen ließen. 231 Dass in der Politik vorausschauender und kühner gehandelt werden müsse denn je, das war kein neuer Gedanke, aber neu war, dass einige Wenige sich ganz diesem Gedanken verschrieben. Eine Handvoll Menschen nur, die noch nicht einmal große Ideen hatten, aber jeder von ihnen ragte auf seine Weise heraus, nicht nur in Voraussicht, sondern auch in Tatkraft oder in Reichtum oder in beidem. Auch dass Reiche oder Superreiche Stiftungen gründen, um sich als politische Wohltäter darzustellen, war nichts Neues. Davon gab es schon in der ersten Jahrhunderthälfte vermutlich mehr als in der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte. Stifter verfolgen dabei aber nicht nur uneigennützige Ziele. Viele versammeln in ihren Stiftungen politische, kulturelle und wissenschaftliche Prominenz, deren Glanz und Renommee auf sie abstrahlen soll. So kommen in solchen Stiftungen oft die üblichen Verdächtigen zusammen, zu einem nicht geringen Teil ehemalige hohe Amtsträger, in ihren Meinungen leicht berechenbare Persönlichkeiten also, denen sich dort für ihre vorhersehbaren Meinungen noch einmal ein dankbares Forum bietet. Bei den Stiftern und anderen Reichen, von denen hier die Rede sein soll, war es ganz anders. Sie hatten anderes im Sinn, als bestehenden Stiftungen eine gleichartige hinzuzufügen. Die große Zeit des Katalanen Xavi Puig waren die dreißiger Jahre gewesen. Puig, ein exzentrischer Modedesigner, geboren Anfang der neunziger Jahre, hatte als junger Mann in Barcelona ein kleines Modeunternehmen gegründet, hatte in den zwanziger Jahren mit seiner Mode wie kaum ein anderer den Nerv der Zeit getroffen und in den Dreißigern eines der größten Online-Modehandelsunternehmen der spanisch- und portugiesischsprachigen Welt aufgebaut. Kurz vor der Jahrhundertmitte verkaufte er sein Unternehmen an die von den Samwer-Brüdern gegründete deutsche Zalando und deren Muttergesellschaft. Nun war er hundertfacher Multimillionär im vorzeitigen Ruhestand. Puig hatte sich bis dahin um Politik wenig gekümmert. Er war Pazifist, ansonsten interessierte ihn nur Eines wirklich: Die Unabhängigkeit Kataloniens. Diesem Ziel vor allem wollte er für den Rest seines Lebens dienen, er wusste nur nicht, wie. Also 232 zweigte er von seinem Reichtum erst einmal ein paar Millionen für eine neue Stiftung ab. Ihr Name: Fundació per a la Independència Política. Das Weitere, hoffte Puig, werde sich dann rasch ergeben. Im Frühjahr 2051 veranstaltete die Stiftung ihr erstes offenes Seminar. Das Thema: Unabhängigkeitsbewegungen in Europa vom 19. Jahrhundert bis heute. Dass bei diesem Seminar auch der junge Kanadier Robert Yang auftauchte, war einer jener Zufälle, über die Historiker später einmal schreiben, dass sie die Welt hätten verändern können. Robert Yang war studierter Anthropologe, Anfang dreißig, finanziell unabhängig. Ein geborener Aktivist. Einer, der nur wenige Sätze brauchte, um Menschen zu überzeugen, dass er Wichtiges zu sagen habe. Einer, der andere mit seiner Begeisterung mitreißen konnte. Ein grandioses Talent auch als Politiker, aber dafür, hieß es, habe er sein Talent nicht verschwenden wollen. In einem seiner ersten veröffentlichten Artikel hatte Yang sich mit der Geschichte des Club of Rome befasst. Dieser habe im vorigen Jahrhundert viel für die öffentliche Bewusstseinsentwicklung getan, das verdiene allerhöchsten Respekt, aber man müsse auch eingestehen, dass er die politische Praxis kaum beeinflusst habe. Die Welt sähe anders und besser aus, wenn die Politik auf den Club of Rome gehört hätte, aber das habe sie nicht getan. Eigentlich habe der Club of Rome sich das von vornherein denken können. In seiner Wirkungslosigkeit sei der Club of Rome nämlich, so Yang, ein Beispiel von vielen, genauer gesagt, ein Beispiel für fast alle anderen. Die letzten hundert Jahre hätten gezeigt, wie erschütternd wenig vergleichbare zivilgesellschaftliche Initiativen für die politische Praxis bewirkt hätten. In solchen Organisationen halte man viele Reden zum Fenster hinaus und schreibe unendlich viele engagierte Texte, aber wer höre dabei eigentlich zu? Wenn politische Entscheider überhaupt auf solche Initiativen hörten, dann täten sie es meistens nur pro forma. Die Welt brauche daher 233 keinen neuen Club of Rome und auch keine neuen Protestinitiativen der bisher bekannten Art. Zivilgesellschaftliches Engagement müsse ganz neu gedacht werden. Seine Schlussfolgerung war bestechend, aber vorerst auch abstrakt. Immer noch und immer wieder würden moralisch zwingende politische Forderungen – an oberster Stelle sah er den Klimaschutz – auch von demokratischen Regierungen, Parlamenten und Parteien zumindest grob vernachlässigt, allen hehren Proklamationen auf internationalen Konferenzen zum Trotz. Das zeige, dass diese Adressaten Jahrhundertaufgaben wie dem Klimaschutz generell nicht gewachsen seien, moralisch oder fachlich oder beides nicht. Daher müsse man sich überlegen, ob man sich an diese Adressaten überhaupt noch wenden solle. Nein, war Yangs Antwort, man müsse viel grundsätzlicher ansetzen. Man müsse erst einmal dafür kämpfen, dass kompetentere politische Adressaten geschaffen werden, und das heiße: für einen Wandel der politischen Ordnung. Dies würde zwar ein langwieriger Kampf sein, aber wenigstens einer, der Wirkung verspricht. Auf dieses Ziel, auf eine grundlegende Reform des Staates also, sollte zivilgesellschaftliches Engagement daher vorrangig gerichtet sein. Mit dieser anspruchsvollen Botschaft begann Yang seine Mission. Er gab ihr einen kühnen Namen: World Upgrade. Musste nicht, wer seiner Mission einen solchen Namen gibt, größenwahnsinnig sein? So dachten zu Anfang viele, aber Yang strahlte alles andere als Größenwahn aus. Fast jeder andere wäre wohl mit einem Projekt wie World Upgrade belächelt worden. Yang nicht. Yang war nicht nur ein begnadeter Aktivist, er war auch ein begnadeter Stratege. Er wusste, dass hinter fast jedem politischen Engagement eine Ideologie lauerte. Wer eine zivilgesellschaftliche Organisation zu schnell aufbaue, war sein Credo, und dabei zu schnell zu viele Mitstreiter anziehe, der versammele um sich einen Flickenteppich politischer Vorurteile. Daher legte er sich strenge Regeln auf. Zwei der wichtigsten: Lass die Organisation langsam wachsen. Und: Rede vorerst nie vor 234 mehr als zehn Personen und nur ausnahmsweise vor Leuten, die älter sind als du selbst. Erstaunlich, wie lange er sich daran hielt. Yang war gelernter Umwelt- und Klimaaktivist, aber nun hatte er eine kompliziertere Botschaft. Unsere alten politischen Adressaten hören uns nicht zu, also brauchen wir neue – diese Botschaft riss die Zuhörer auch aus Yangs Mund nicht gerade von den Stühlen. Zu oft konnte er auch Fragen hierzu nicht überzeugend beantworten, zu oft waren Zuhörer seiner kleinen Seminare enttäuscht. So war es ihm gerade wieder in London ergangen. Was dann geschah, beschrieb Yang viele Jahre später in seiner mit viel Selbstironie geschriebenen unvollendeten Autobiographie "Mal eben die Welt verändern" so: Nach dem Seminar in London, spätabends im Hotel an seinem Laptop, stieß er zufällig auf die Website von Puigs Stiftung. Fundació per a la Independència Política, Stiftung für politische Unabhängigkeit, das klang vielversprechend. Für politische Selbstbestimmung hatte Yang sich schon lange interessiert. Aber verschlossen die politischen Entscheider nicht auch hiervor die Augen? Verweigerten sie sich nicht auch immer wieder dem zivilgesellschaftlichen Engagement für politische Unabhängigkeit? Hatten seine Word Upgrade und die Fundació per a la Independència Política es also letztlich mit dem gleichen Problem zu tun? Würden sie einander daher nicht sinnvoll ergänzen und stärken können? Auf der Website von Puigs Stiftung war für den nächsten Abend das Seminar über europäische Unabhängigkeitsbewegungen angekündigt. Eine Gelegenheit, dachte Yang sofort, die er sich nicht entgehen lassen dürfe. Sein nächstes Reiseziel war Paris, nun buchte er kurz entschlossen um für einen Zwischenstopp in Barcelona. Vom Flughafen El Prat fuhr er direkt zum Seminargebäude der Stiftung. – Ist Xavi Puig hier?, fragte er ohne Umschweife, als er kurz vor Beginn des Seminars eintraf. So machte er es überall. Er war keiner, der sich hintanstellte, keiner, der sich in zweiter Reihe einordnete. Wenn er Kontakte knüpfte, dann immer auf höchstmöglicher Ebene. 235 – Ja, war die Antwort, warten Sie, er wird gleich hier sein. Yang hatte sich in den Stunden davor gründlich auf das Gespräch mit Puig vorbereitet. Gleich nach der Begrüßung lobte er die Zielsetzung von Puigs Stiftung. Er selbst sei vor allem Umwelt- und Klimaschutzaktivist, aber die Website der Stiftung habe ihm die Augen für ein ganz anderes Themenfeld geöffnet. Dann, nach diesem einleitenden Lob, forderte er Puig schon heraus. Er frage sich allerdings, fuhr er fort, ob eine Bewegung, die Unabhängigkeitsbewegungen unterstütze, nicht auch eine Gefahr sei. Eine solche Bewegung trage womöglich dazu bei, Grenzkonflikte zu schüren, und Grenzkonflikte seien im Lauf der Geschichte selten friedlich verlaufen. Das, antworte Puig seelenruhig, wisse er natürlich aber gerade das sei doch ein schlimmes Politikversagen. Seine Stiftung solle helfen, den Gründen für dieses Versagen auf die Spur zu kommen. Wenn das gelinge, dann würden sich Grenzkonflikte in Zukunft leichter friedlich lösen lassen. – Ganz hervorragend!, fiel ihm Yang dann schon ins Wort. Genau das hatte ich mir von Ihnen erhofft. Dabei sah er Puig mit festem Blick in die Augen und reichte ihm die Hand. Ein Händedruck, wie um Freundschaften zu besiegeln. Puig schwieg einen langen Moment mit gesenktem, fast nachdenklichem Blick, dann sah er auf und erwiderte Yangs festen Händedruck. – Ich muss mich hier um Gäste kümmern. Sehen wir uns morgen wieder?, fragte er. Morgen Abend hier zur selben Zeit? Yang nickte mit seinem gewinnenden, ansteckend strahlenden Lächeln. Zurück im Hotel, buchte seinen Flug nach Paris noch einmal um. Am nächsten Abend begann er das Gespräch mit Puig ohne lange Vorrede. Er habe seine Sache am vorigen Abend wohl etwas überstürzt vorgetragen, er müsse das natürlich erst einmal erklären. Im Kern gehe es um dies: Ihrer beider Anliegen, 236 seines und Puigs, Klimaschutz und politische Unabhängigkeit, hätten, das sei auch ihm erst in den letzten Tagen klar geworden, elementare Gemeinsamkeiten. Er glaube sogar, dass die Bewegungen für Klimaschutz und politische Unabhängigkeit global zusammenwachsen könnten. Nicht nur seines, auch Puigs Anliegen pralle ja an den politischen Adressaten, an den Regierungen und Parlamenten dieser Welt, immer wieder folgenlos ab, und es sei nicht abzusehen, dass sich das von allein ändern werde. Die Schlussfolgerung daraus könne nur sein, dass die Adressaten, die solche Anliegen in gute Politik umsetzen, erst noch geschaffen werden müssten. Daher müssten Unabhängigkeits- und Klimaschutzbewegungen, müssten also sie beide, Puig und er, mit dem Engagement viel elementarer anfangen, nämlich bei politischen Systemfragen. Von da an duzte er Puig: – Xavi, aus deiner Stiftung kann etwas ganz Großes werden. Lass uns zusammenarbeiten. Puig sah Yang einen langen Moment wortlos an, als unterdrücke er ein Kopfschütteln, dann machte er eine abwinkende Handbwegung. Nein, sagte er schließlich. Nein, als Systemveränderer fühle er sich bisher nicht, dafür sei er, das könne Yang sich ja denken, auch schon zu alt. Dass ein so großes Ziel erreicht werde, ein politischer Systemwandel, das werde er ohnehin nicht mehr erleben. Darauf Yang: – Kommt es denn darauf an? Wer Großes bewegen will, muss auch über die eigene Lebenszeit hinausdenken. Puig fand noch einige anerkennte Worte, lobte Yang für seine mutige Zielsetzung dankte ihm für sein Kommen und verabschiedete sich höflich. – Wir bleiben in Kontakt, konnte Yang noch sagen, und Puig dabei seine Visitenkarte von World Upgrade zustecken. 237 Yang ließ sich keine Enttäuschung anmerken. Er machte einen langen Spaziergang durch das Barri Gòtic, bis ihn Müdigkeit überkam, dann ließ er sich mit dem Taxi in sein kleines Hotel nahe dem Parc Güell fahren. Als er in die Hotellobby eintrat, klingelte sein Handy. Puigs Stimme. Ob Yang so spät am Abend doch noch etwas Zeit für ihn habe. Eine Viertelstunde später trafen sie sich in der Hotelbar. Dabei strahlte der alte Puig Yang so energiegeladen an, dass alle Müdigkeit sofort verflog. Puig war ein Mann von südländischer Redseligkeit. Ganz anders Yang. Yang war ein guter Redner, aber auch ein begnadeter Zuhörer. Er wusste genau, wann stilles Zuhören am besten half, wann das Reden, wann das Fragenstellen. Gezielt fragen, dann gut zuhören, so machte er es auch jetzt: – Vom Modeunternehmer zum Kämpfer für politische Unabhängigkeit, das ist wirklich eine großartige Lebensgeschichte. Wie kam es dazu? Genau das Thema, dem Puig am wenigsten widerstehen konnte. Eigentlich, begann er, habe er Modedesigner werden wollen, besser gesagt, Modeschöpfer, nicht irgendeiner, sondern ein großer, ein katalanischer, also ein großer katalanischer Modeschöpfer. Er habe den Menschen mit seiner Mode etwas geben wollen, das sie stolz macht, etwas, mit dem sie ihr Lebensgefühl ausdrücken können, ihre Individualität, ihre Zugehörigkeit zu ähnlich gestimmten Menschen, mit dem sie sich aber auch von anderen abgrenzen könnten. Diese Bedürfnisse, sagte er, spielten eine immer größere Rolle, weil die Welt ansonsten immer anonymer und gleichförmiger werde. Wirklich gute Mode helfe, diesen Bedürfnissen auf vergnügliche Art nachzukommen. Als Modedesigner sei er dann aber leider nicht gut genug gewesen. Gut sei er schon gewesen, aber es habe einfach zu viele gegeben, die noch besser waren. Wenn er die beste Mode seiner Zeit nicht kreieren könne, habe er sich dann gesagt, dann wolle er 238 wenigstens mit ihr handeln. Eine zweitbeste Lösung, wenn auch weit ab von seinen früheren Lebensträumen. Seinen großen Lebenstraum habe er sich also nicht erfüllt, aber immerhin ein Riesenvermögen gesammelt, und nun wolle er das tun, was andere reiche Unternehmer auch getan hätten: sich mit seinem Geld einen anderen Traum erfüllen. Yang wundere sich vielleicht, fuhr er fort, wie er, Puig, von der Mode auf die politische Unabhängigkeit gekommen sei, aber je älter er geworden sei, desto wichtiger sei ihm die Frage der Unabhängigkeit geworden. Und irgendwann habe er dann auch verstanden, dass Unabhängigkeitsbewegungen und Mode viel miteinander gemein hätten. Dabei sah er Yang an, wie um sich dessen Verblüffung zu vergewissern. – Das musst du mir erklären, sagte Yang. Mode, fuhr Puig fort, sei, wie gesagt, eben nicht etwas rein Individuelles, mit Mode drückten Menschen auch Zugehörigkeiten und Abgrenzungen aus. Mode verbinde Menschen, aber sie unterscheide sie auch. Und genau darum gehe es auch bei Unabhängigkeitsbewegungen, auch der katalanischen. Es gebe ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Katalanen, wozu auch das Gefühl gehöre, keine Spanier zu sein oder wenn, dann anders als die eigentlichen Spanier. Die Katalanen wünschten sich, dass dies auch in der Politik seinen Ausdruck finde. Dieses Bedürfnis der Katalanen, sagte er dann, – er nannte es ein Bedürfnis nach Identifikation – sei überhaupt nichts Aggressives, es sei im Gegenteil etwas ganz und gar Friedliches, aber dieses Bedürfnis nicht ausleben zu dürfen schüre nun einmal Unmut, und anderswo in der Welt sei ja zu beobachten, wie leicht solcher Unmut aggressiv werden kann. Sein Traum sei, dass Staatsbürger Zusammengehörigkeitsund Abgrenzungsbedürnisse künftig überall auf der Welt so harmlos und friedlich ausleben könnten, wie Menschen es mit der Mode täten. Dann würde der Staat im besten Fall wie ein Verein Gleichgesinnter, in dem niemand gegen seinen Willen Mitglied ist. Dann könnten alle Bürger sagen: Hier ist das Staatsoberhaupt, die 239 politische Identifikationsfigur, die Armee, die Währung, der Sozialstaat, die wir uns ausgesucht haben. Yang schloss kurz die Augen und nahm sich eine Denkpause. Dass Mode und politische Unabhängigkeit sich so zusammendenken ließen, verblüffte sogar ihn, aber unsympathisch war ihm der Gedanke nicht. – Aber, fragte er dann – und dabei sah er Puig mit hellwachem Blick an -, welche Rolle spielt bei all dem das Geld? Puig schmunzelte. – Eine immer größere, sagte er. Für große politische Veränderungen war früher meistens Gewalt nötig. Heute versuchen wir es ohne Gewalt. Stattdessen ist aber immer mehr Geld nötig. Dir wird es nicht anders gehen. Puig legte seine Hände flach auf die Knie und sah Yang schweigend an, als habe er alles gesagt, was er ihm an diesem Abend hatte sagen wollen. Dann stand er auf und reichte Yang beide Hände zu einem herzlichen Abschied. Über Puigs "Dir wird es nicht anders gehen" grübelte Yang noch lange nach, auch auf dem Weiterflug nach Paris. Dass Katalanen, Schotten, Flamen und andere Europäer wohl kaum zu den Waffen greifen würden, um ihre politische Unabhängigkeit zu erkämpfen, das war klar, aber über die Rolle des Geldes in politischen Veränderungsprozessen hatte er noch kaum nachgedacht. Natürlich, auch das wusste er, hatten die Veränderungsverweigerer es im Zweifel leichter. Sie konnten den Staatsapparat für sich einspannen, sie beherrschten die Regierungen und Parlamente, sie beeinflussten die Medien und sogar Verfassungsgerichte. Wer große Veränderungen wollte, der musste dem etwas Wirkungsvolles entgegensetzen. Aber was? Puig schien überzeugt, dass das ohne Einsatz von viel Geld unmöglich war. War also Yangs eigene globale Initiative schon aus Geldmangel aussichtslos? So aussichtslos wie die zahllosen kleinen und großen zivilgesellschaftlichen Initiativen, denen Yang sich bis dahin konzeptionell überlegen fühlte? 240 Mit Zweifeln solcher Art plagte ein Yang sich nicht lange. Noch vor der Landung in Paris kam ihm dann der Gedanke: War Puigs Bemerkung vielleicht ein verstecktes Angebot? Meinte er: Wenn du, Yang, irgendwann merkst, dass du ohne viel Geld mit deiner globalen Initiative nicht vorankommst, dann melde dich? Ausschließen mochte Yang das nicht. Aber wie sollte er es anstellen? Würde er einfach Puig bitten, eine Millionensumme auf das Konto von Global Upgrade zu zahlen? Nein, wusste er, so einfach durfte er es sich nicht machen. Puig, dem Ex-Unternehmer, würde er ein Konzept präsentieren müssen, kein theoretisches, sondern ein Handlungskonzept. Eines, das sich nicht in Protest erschöpft. Yang brauchte danach nur wenige Tage, um einen ersten Aktionsplan zu ersinnenen. Aber Ungeduld zeigen, überlegte er, das würde jetzt der größte Fehler sein. Puig würde nach ihrem Treffen erst einmal seine Gedanken sortieren müssen, und vielleicht würde er noch Fragen haben. Yang entschied sich abzuwarten. Ein paar Wochen später schickte Puig dann diese Mail: Lieber Robert, ich brauchte Zeit, über deine Ideen nachzudenken. Inzwischen frage ich mich, warum ich nicht schon selbst darauf gekommen war. Ja, wir brauchen für unsere Anliegen – auch in der Frage der politischen Unabhängigkeit – neue politische Adressaten. Besseres also als Regierungen, Parlamente und Parteien, wie wir sie bisher haben. Das ist – ich scheue den Begriff noch immer – die Systemfrage. Bin aber sehr gespannt, was aus diesem Gedanken noch wird. Einige Tage später mailte Yang zurück: Der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung würde es sicher helfen, wenn das politische Unabhängigkeitsstreben weltweit mehr Anerkennung fände. Ob es nicht überlegenswert sei, dass auch Puigs Stiftung global tätig werde. Und dass sie sich dafür einen englischen Namen gebe, z.B. Foundation for Political SelfDetermination. Mit Konkreterem, schloss Yang, melde er sich später. 241 Yang traute seinen Augen nicht, als er schon nach wenigen Tagen Puigs Antwort bekam: – Einverstanden mit Foundation for Political Self-Determination. Du musst es aber selbst auf den Weg bringen. Geld steht bereit. Ganz, das war Yang klar, hatte er Puig damit noch nicht für sich gewonnen. Er schickte erst einmal – aus Peking, er sei gerade unter Zeitdruck – nur eine kurze Dankesmail, die das Gefühl der Verbundenheit stärkte. Das Konkretere, zu dem er Puig auf später vertröstet hatte, konnte auch ein Yang nicht über Nacht zu Ende denken, dafür hatte er sich mit den Problemen der politischen Unabhängigkeit noch zu wenig befasst. Er brauchte Monate, bis er schließlich darauf stieß, dass schon für Referenden über politische Unabhängigkeit neue Konzepte gebraucht würden. Unabhängigkeitsbewegungen, das verstand er jetzt, sollten – möglichst auch ohne Mithilfe des Staates – Referenden über die Unabhängigkeit abhalten können, wann immer sie wollten. Und dies würde natürlich am leichtesten mit Online-Referenden möglich sein. Für solche neuartigen Online-Referenden würden, wenn sie mindestens so genau und fälschungssicher sein sollten wie herkömmliche Wahlen, ein neues Verfahren und neuartige Software zu entwickeln sein. Also brauchte Yang einen Partner für eine solche Entwicklung. Er wusste, dass auf diesem Gebiet indische Firmen zu den besten und günstigsten der Welt gehörten, und eine dieser Firmen kannte er sogar. Sie gehörte Prabas, einem Studienfreund aus Standford. Yang nahm sofort mit Prabas Kontakt auf. Ein paar Wochen später, nach vielen langen Telefonaten, wusste er: Eine erste Testversion solcher Software wird mindestens zwei Millionen Dollar kosten. Aber er wusste auch: Es kann gelingen. Wäre Puig, überlegte er, nicht mit dem Vorschlag zu begeistern, Katalonien zur Testregion für eine solche neue Software zu machen? Ja, so schien alles zusammenzupassen. Er schickte Puig dazu eine lange Mail. Und wieder antwortete Puig sehr rasch: Für die Gründung der Foundation for Political Self-Determination 242 stelle er eine Million Dollar, für die Entwicklung der Referendums-Software weitere zwei Millionen bereit. Das sei weniger als ein Hundertstel seines Vermögens, so viel sei ihm der Versuch allemal wert. Zwei plus eine Millionen! Ein paar hunderttausend hatte Yang für sein Global Upgrade Projekt bisher eingesetzt, und nun plötzlich die Aussicht auf so viel Geld. Seine Gedanken überschlugen sich. Was würde jetzt alles machbar sein? Aber er wusste auch: Er musste kühlen Kopf bewahren. Rentnerrevolution? Menschen altern in Schüben. Es gibt diese Momente, wo man in den Spiegel schaut und bemerkt, dass man plötzlich älter geworden ist, dass plötzlich Falten sind, wo nie welche gewesen waren, und graue Haare, wo man sie nie gesehen hatte. Aber es geschieht auch, dass man Freunde gleichen Alters trifft und denkt: Mein Gott, sind die alt geworden, und dass man sich danach selbst im Spiegel anschaut und denkt: Wie viel älter als ich sehen die aus, die Gleichaltrigen, die Freunde von früher. Mein Gott, wie ist sie gealtert, das war auch mein erster Gedanke, als ich Constanze nach einigen Jahren wiedersah. Wenn ich früher Hauser getroffen hatte, war es für mich immer eine Bestätigung meines Jungseins gewesen, aber das Jüngersein fühlte sich in seiner Gegenwart immer auch an wie Unreife. Und Constanze? War sie seit unserer letzten Begegnung wirklich viel schneller gealtert als ich, und wenn, war sie mir dann auch in Reife weiter enteilt? Ich sah noch einmal genauer hin. Mein Gott, wie gereift sie aussah! Aber wie unreif war es von mir gewesen, etwas anderes zu erwarten. Wir waren ja wirklich alt. Sie war dem Rentenalter noch einige Jahre näher als ich, aber auch ich war nicht mehr weit davon entfernt. Plötzlich kam mir die Erinnerung an ein Gespräch mit Hauser, in dem er über die Freiheit des Denkens im Ruhestandsalter gesprochen hatte. Wer, wenn nicht Pensionäre, ist in diesen Zeiten frei im Denken, 243 so ähnlich hatte er es gesagt. Und weiter: Wer, wenn nicht Pensionäre, soll in diesen Zeiten Neues denken? Dann hatte ich gefragt, ob er etwa an eine Rentnerrevolution denke, und er hatte geantwortet, dass das ein schöner, ein konstruktiver Gedanke sei. Und nun waren wir, Constanze und ich, fast in dem Alter, in dem Hauser die Gendankenfreiheit des Alters gepriesen und die Rentnerrevolution einen konstruktiven Gedanken genannt hatte. Ich musterte Constanze erneut. Ja, ihre Ausstrahlung passte dazu. Und ich? War ich auch nur im Entferntesten in eine solche, eine hausersche Rolle hineingewachsen? Nein, dachte ich dann, das bist du nicht, und nein, du kannst es nicht. Aber dann auch: Sollte ich es vielleicht, in aller Bescheidenheit, doch noch versuchen? Würde Hauser das nicht sogar hoffen? Constanze und ich saßen im Restaurant des kleinen Hotels in Charlottenburg, in dessen Nachbarschaft ich in meinen jungen Berliner Jahren gewohnt hatte. Ich ließ sie erzählen. Wie ihr Leben sich in den letzten Jahren verändert hatte, wie für ihre Firma die Konkurrenz immer erdrückender geworden, wie ihre Beratungen immer weniger gefragt gewesen seien und danach auch ihre Seminare, und wie schließlich ihr Mann an Parkinson erkrankt sei. – Nein, keine Panik, auch kein Mitleid, sagte sie dann harsch, als sie meinen bestürzten Gesichtsausdruck sah. Mitleid sei das Letzte, was auch ihr Mann sich wünsche, mit seiner Krankheit gehe er souverän um, ja geradezu bravourös. Ihr Blick sagte mir, dass sie darauf keine Antwort wollte. Dann wechselte sie rasch das Thema. Seit ein paar Jahren, sagte sie, arbeite sie als Coach für Führungskräfte aus Wirtschaft und Wissenschaft, alles andere habe sie aufgegeben. Das sei wie ein neues Leben, ein besseres für sie und für ihren Mann. Wie das denn gehe, fragte ich, wie man so schnell einen solchen Sprung vom Seminargeschäft zum Coaching schaffe. 244 Ihre Antwort: Das sei eine Frage der Willenskraft. Dabei horchte ich auf ihre Stimme. Solange ich sie kannte, war die Stimme ihre große und vielleicht einzige Schwäche gewesen. Nun klang sie anders. Noch immer unverwechselbar, aber nun passte die Stimme zu ihrem gealterten Gesicht. Immer noch markant, auch immer noch etwas aufreizend, aber mit einem Klang, der auch an Altersmilde denken ließ. Sie musterte mich, als läse sie meine Gedanken. – Ja, sagte sie dann, ich habe Stimmentraining gemacht. Leicht war es nicht. Wir sahen einander eine Weile mit vertrautem Schmunzeln an, dann erzählte sie weiter, von ihren Klienten, von deren innerer Einsamkeit, der viele nicht gewachsen seien, vom gegenseitigen Mobbing in Führungsetagen, vom Mobbing durch Untergebene, von der Angreifbarkeit der meisten Führungsentscheidungen und vom Balanceakte ihrer Klienten zwischen Entscheiden- und Sich-absichern-Müssen. – Und die Wissenschaft?, fragte ich. Bei deinen Klienten aus der Wissenschaft ist es sicher anders. Anders schon, sagte sie, aber auch anders, als man es von außen vermute. Dann erzählte sie vom sich ausbreitenden Burnout im vermeintlich beschaulichen Elfenbeinturm der Wissenschaft, von der gegenseitigen Sprachlosigkeit zwischen wissenschaftlichen Glaubensrichtungen und vom üblichen Leidensweg in der wissenschaftlichen Politikberatung, der meistens vom Stolz auf das Gefragtsein über die Einsicht in die eigene Wirkungslosigkeit letztlich zur Resignation führe. Aber irgendwann, sagte ich, komme doch auch für ihre Klienten aus Wirtschaft und Wissenschaft das, was Hauser die Gedankenfreiheit des Alters nannte. Ob das nicht Hoffnung mache. Ob da nicht ein großes Potential an Kreativität und auch ein großes Hoffnungs- und Sinnpotential lägen, auch wenn diese nur selten genutzt würden. Ob nicht gerade von ihren Pflichten befreite Führungskräfte aus Wirtschaft und Wissenschaft offen für das Neue seien und sogar Neuem den Weg bereiten könnten. 245 Das, sagte Constanze, wisse sie nicht, aber noch falle diese Vorstellung ihr schwer. Als wir uns am nächsten Morgen zum Frühstück trafen, brachte ich das Gespräch noch einmal auf die Freiheit des Denkens im Alter, und ich erzählte ich ihr, wie Hauser dreißig Jahre vorher den Gedanken einer Rentnerrevolution gestreift hatte. – Rentnerrevolution? Sie sah mit einem befreiten Lächeln an. Ja, ein schöner Gedanke. Meinte er es ernst? – Es kam sehr spontan, aber ein bisschen ernst war es ihm. Sie sah mich mit ihrem selbstbewussten, einschüchternden Constanze-Cramer-Blick an, fast wie damals. – Dann wären wir jetzt dran, oder?, fragte sie in herausforderndem Tonfall. Müssen wir jetzt das Neue denken? – Ausgerechnet, sagte ich. Constanze schloss für einen Moment die Augen, dann wechselte sie in einen bemüht sachlichen Tonfall. Auf jeden Fall, sagte sie, wachse den Älteren in unserer alternden Gesellschaft immer mehr politische Verantwortung zu, schon weil sie die Mehrheit seien. Wenn diese Mehrheit kaum Neues zu denken wage, dann sei es kein Wunder, wenn die Jungen politisch resignierten. Ob sie denn meine, fragte ich, dass sich an der politischen Gleichgültigkeit der Jüngeren nichts ändern lasse. – Wie denn?, fragte sie. Die Jüngeren sehen das politische Übergewicht der Älteren, sie ahnen die Überforderung der Politiker, und außerdem spüren sie ihre eigene Überforderung als Bürger. Was bleibt ihnen also, als abzuwarten, wie lange alles noch einigermaßen gutgeht? – Ist das wirklich dein Rat an die Jüngeren? Wäre das auch dein Rat an deine Zwillinge? 246 Nein, sagte sie, aber noch wisse sie keinen besseren Rat. Später habe ich mich gefragt, wie anders dieses Gespräch wohl verlaufen wäre, wenn wir damals schon gewusst hätten, dass ein junger tatkräftiger Kanadier in der Welt unterwegs war, um eine globale Bewegung für politische Systemreformen aufzubauen, und dass ein schwerreicher Katalane ein Vermögen für die Weiterentwicklung politischer Unabhängigkeitsbewegungen gestiftet hatte. Gefreut hätte es uns sicher, aber allein deswegen hätten wir die Zukunft noch nicht viel rosiger gesehen. Das Yang-Konzept Robert Yang hatte seiner World Upgrade einen großen Namen gegeben, aber er tat dennoch alles, um sie erst einmal klein zu halten. Als er mit Puig in Kontakt kam, hatte die Bewegung kaum mehr als eine Hundertschaft registrierter Mitglieder in fünf Ländern. Yang wollte keine Mitläufer, er wollte Leute, die begeistert sind und ihre Begeisterung weitertragen. Er war überzeugt: Wenn die Bewegung fokussiert bleiben wolle, dürfe ihre Mitgliederzahl sich jedes Jahr höchstens verdoppeln. Sein Ziel: in sechs bis sieben Jahren etwa zehntausend engagierte Mitglieder sammeln. Danach werde die Bewegung sich ganz von selbst ausbreiten, oder sie werde untergehen. Yang – das unterschied ihn von den meisten politischen Aktivisten – war nicht nur ein großes Organisationstalent, er erwies sich bald auch als Finanzstratege. Puigs Millionen waren ein Anfang, aber brauchte eine Bewegung wie World Upgrade nicht noch viel mehr Geld? Und verdiente sie es nicht? War sie nicht etwas viel Größeres und Wichtigeres als die vielen kleinen Start-up-Unternehmen der Internetbranche, die von superreichen Geldgebern mit Millionen überschüttet worden waren? Natürlich war sie es, daran glaubte Yang, und er würde ihr alles nötige Geld beschaffen. Einer von Yangs Professoren in Stanford hatte über die anthropologischen Grundlagen von Staatsverfassungen gelehrt. Wie wichtig Erkenntnisse über die 247 Natur des Menschen für das Verständnis von Staatsverfassungen sind, damit befasste man sich damals nur in kleinsten akademischen Zirkeln, und in den Seminaren hierüber trafen sich nur wenige Studenten. Hier lernte Yang, der angehende Anthropologe, Claude Halsdorf kennen, einen Jurastudenten aus Luxemburg, der sich auf Völkerrecht spezialisierte. Yang und Halsdorf wurden enge Freunde. Halsdorf arbeitete nach seinem JuraAbschluss zuerst beim Europäischen Gerichtshof, dann für die Europäische Kommission, dann wechselte er zu einer Großkanzlei in London, zu deren Klienten auch große Kapitalanleger gehörten. Nach nur zwei Jahren, kurz nach seinem 34. Geburtstag, machte Halsdorf sich dann selbstständig. Er hatte enge persönliche Kontakte zu vielen Großanlegern geknüpft, genug, um den Schritt zur eigenen Kanzlei zu wagen. Halsdorf war ein Mann von eigensinnigem und doch wohltuend unscheinbarem Auftreten. Hager, blass, mittelgroß, kräftiges langes, glattes Haar, Drei-Tage-Bart, krawattenlos, schwacher Händedruck. Ein gefragter Vortragsredner wäre nie aus ihm geworden, aber umso gefragter war er als Ratgeber in kleiner Runde. Wenn es, wie meistens bei ihm, um sehr große Geldsummen ging, verlangte er Stargagen wie Prominente für Vorträge in großen Sälen. Er sprach mit leiser, angenehm weicher, aber auch dünner Stimme, die zu Millionen- und Milliardenbeträgen nicht zu passen schien, aber auch im Flüsterton verlieh er seinem Rat großes Gewicht. Eingeweihte nannte ihn bald den Milliardärflüsterer. Im Umgang mit den Egomanen, die seine Milliardäre fast allesamt waren, war seine Unscheinbarkeit ein großer Vorteil. Seine Klienten spürten: Da ist einer so willensstark wie wir, aber er stiehlt uns nicht das bisschen Show, zu dem wir selbst fähig sind. Und wir können ihm vertrauen. Er ist clever, aber vor seiner Cleverness müssen wir nicht auf der Hut sein. Er spürt Ideen und Ideengeber auf und legt sie uns zu Füßen. 248 Dass sein früherer Freund Halsdorf sich einen Ruf als Milliardärflüsterer erworben hatte, davon erfuhr bald auch Yang. Puigs Millionen für die Software für Unabhängigkeitsreferenden, das hatte sich inzwischen herausgestellt, würden nicht annähernd reichen. Sie würden reichen für eine Demo-Version für ein Probereferendum, aber das war Yang natürlich zu wenig. Also dachte er über neue Geldquellen nach. Puigs Millionen hatten geholfen, aber eine globale Bewegung, wie er sie im Sinn hatte, könnte irgendwann auch Milliarden brauchen. Was lag also näher, als wieder den Kontakt zu Halsdorf zu suchen? Yang arrangierte ein Treffen mit Halsdorf in London, in einem kleinen Konferenzraum am Flughafen Heathrow. Beide waren auf der Durchreise, ihnen blieben nur wenige gemeinsame Stunden, aber es war ein herzliches Wiedersehen. Yang erzählte über die Entwicklung von World Upgrade und wie Puig ihm schon nach der ersten Begegnung ein paar Millionen Sponsorengeld angeboten hatte. Danach schob er Halsdorf den Vorentwurf einer Weltbroschüre über World Upgrade hin, in der auch die Foundation for Political Self-Determination vorgestellt wurde. – Schau's dir mal an. Für einen Juristen vielleicht etwas zu kühn, aber so ähnlich soll es werden. Halsdorf blätterte die Seiten kurz durch, fing an zu lesen, stellte wenige kurze Fragen, dann legte er die Blätter wieder vor sich auf den Tisch. – Noch kühner, als ich es von dir erwartet hatte. Aber hoch interessant. Ob Halsdorf sich vorstellen könne, fragte Yang, dass ein europäischer Milliardär sich dafür interessieren würde, als Sponsor. Aber im selben Moment hob er die Hände, wie erschrocken über sich selbst, als wolle er die Frage zurücknehmen. Nein, sagte er dann hastig, so direkt meine er das nicht, aber einen zweiten Puig könne das Projekt trotzdem gut gebrauchen. – Ich verstehe, sagte Halsdorf. 249 Dann lehnte er sich für eine Denkpause zurück. Dann, nach langem Überlegen, fragte er Yang, ob es nicht in den USA und Kanada genug Milliardäre gebe, die als Sponsoren in Frage kämen. Einen zweiten Puig vermute er in Amerika nicht, antwortete Yang. Halsdorf lehnte sich wieder weit zurück, dann nahm er den Prospektentwurf wieder auf und las ihn noch mehrmals sorgfältig durch. – Für europäische Milliardäre passt es so nicht. Dann zog er einen Filzstift aus der Jackentasche. – Darf ich?, fragte er. Er setzte sich neben Yang und fing an, mit dem Filzstift Streichungen, Anmerkungen und Korrekturen zu machen. Dann holte auch Yang einen Stift heraus, und auch er beugte sich über den Entwurf, der bald von Anfang bis Ende mit Markierungen, mit Frage- und Ausrufezeichen, mit Kommentaren und Ergänzungen übersät war. In weniger als einer halben Stunde entwarfen sie zusammen eine völlig neue Broschüre. Noch eine halbe Stunde später gab Halsdorf seine Zusage. Ja, er werde mit einigen Superreichen in Europa über Yangs Projekt sprechen. Garantieren könne er natürlich für nichts, sagte er, es kämen ohnehin nicht viele Superreiche dafür in Frage. Die gealterten Milliardäre des frühen Internetzeitalters seien an Innovationen nicht mehr besonders interessiert, schon gar nicht an politischen, aber bei einigen Wenigen sei es vielleicht einen Versuch wert, vielleicht sogar bei den beiden noch lebenden Samwer-Brüdern. Zu dieser Zeit wusste ich von World Upgrade, von Yang und Puig und Halsdorf noch immer nichts. Hätte ich etwas gewusst, hätte ich natürlich sofort mit Hauser darüber reden wollen. Zwischen Yangs und Hausers Gedanken gab es schon auf den ersten Blick Gemeinsamkeiten, und erstaunliche Gemeinsamkeiten gab es, wie ich später herausfand, auch mit den Ideen der Tagmakraten. Verfolgten also diese immer noch 250 winzig kleine deutsche Organisation und Yangs World Upgrade ganz ähnliche Ziele? Und war diesen beiden damals noch unscheinbaren Initiativen womöglich gemein, dass ihre Bedeutung erst viel später erkannt werden würde? Uninformiert wie ich war, konnte ich mir damals noch nicht einmal diese Frage stellen. Noch mehr Ideologiefreiheit Schon wenige Wochen nach unserem Gespräch über die Gedankenfreiheit des Alters mailte Constanze: – Bin nächste Woche wieder kurz in Hamburg. Können wir uns treffen? Constanze, die Vielbeschäftigte, dachte ich, ihre Zeit wird knapp sein. Ich schlug ein Treffen in der Mittagszeit vor, in der Nähe des Verlagsgebäudes. Ihre Antwort: Gern, aber mehr Zeit als für ein Geschäftsessen sollten wir uns schon nehmen. Es war ein warmer Herbsttag, wir saßen am Wasser in den Elbarkaden der Hafen City, und Constanze begann in aller Ruhe zu erzählen. Von der sich langsam verschlimmernden Krankheit ihres Mannes, vom Sterben ihrer gemeinsamen Firma und von der kleineren und vorsichtshalber barrierefreien Wohnung, in die sie umgezogen seien. Und dann auch von der gewonnenen freien Zeit, die sie nun sinnbringend nutzen wolle. Sie habe jahrelang Führungskräfte beraten, nun denke sie darüber nach, wo sonst ihr Rat noch nützlich sein könnte. – Im Verlag, sagte ich spontan, wäre guter Rat dringend nötig. Ich biss mir auf die Zunge. Mit den Problemen des SPIEGEL hatte ich sie nicht belästigen wollen. Aber sie sah mich mit hellwachem Blick an, als hätte sie genau darauf gewartet. – Ich weiß, dass es dem SPIEGEL nicht gutgeht. – So heißt es, sagte ich. Die Bilanzen sollen miserabel sein, aber wer kann das schon genau nachprüfen? 251 – Ich kann es, sagte sie. Ich kann eine Verlagsbilanz lesen. Sie zog ihren Tabletcomputer aus der Tasche und suchte ein paar Minuten im Internet. - Hier, ich hab’s. Den Geschäftsbericht. Dann vertiefte sie sich wortlos in das Zahlenwerk. Ich wartete, bis sie schließlich mit ernster Miene zu mir aufsah. – Dem Verlag geht es wirklich schlecht. Ich fürchte, er muss sich selbst gründlich sanieren. Sonst wird ein anderer es tun. – Irgendein Investor? – Ja. Und dann wird nichts bleiben, wie es war. Auch das Archiv nicht. Wir hätten im Archiv aber schon sehr viel verändert, sagte ich, wir hätten in den letzten zwanzig Jahren ein Drittel des Personals eingespart. Es beeindruckte sie nicht. Jeder Unternehmensberater, sagte sie, würde uns vorrechnen, dass es auch mit noch weniger Personal ginge und auch mit weniger Inhalt. Man dürfe, sagte ich, aber doch nicht nur ans Sparen denken. Die Zeitschrift lebe doch zuallererst von ihrer Qualität. – Investoren gehen immer an die Grenzen des Möglichen, erwiderte sie, auch in Sachen Qualität. Einen Schöngeist wie Hauser als Archivleiter könne sich heute kein Verlag mehr leisten. Was hätte ich antworten sollen? Wir sahen einander eine Weile schweigend an, dann sagte ich: – Aber du bist nicht gekommen, um mit mir über die Zukunft des Verlags zu sprechen. – Wenn ich an den Verlag denke, sagte sie, dann denke ich immer auch an Hauser. Und daran, dass es Leute wie Hauser auch in Zukunft geben muss, nicht in Archiven, aber anderswo. 252 – Es gibt ihn ja noch. – Aber wie lange noch? Und wer soll dann dafür sorgen, dass seine Gedanken nicht untergehen? Und wer könnte versuchen, seine Gedanken weiterzudenken? Jetzt sah sie mich mit fast verlegener Miene an. – Könnten wir es vielleicht versuchen?, fragte sie dann. Zu alt sind wir dafür noch nicht. Ich brachte kein Wort heraus. Constanze und ich in der Rolle des altersweisen pensionierten Hauser? Nein, dachte ich, ich würde es nicht können, natürlich nicht, und daher würde ich es auch nicht wollen. Und selbst wenn, für wen würden wir es tun? Wer würde ernst nehmen, wie wir Hauser ernst genommen hatten? Und sollten wir nur im hauserschen Sinne weiterdenken, oder sollten wir unsere Gedanken aufschreiben? – Wir werden schon Leute finden, sagte Constanze, die sich dafür interessieren. Du hältst deine Kontakte, ich halte meine. Und jeder von uns kümmert sich um das, wovon er genug versteht. Ich erst einmal um Ökonomisches. Ich könnte versuchen, ein paar Gedanken dazu zu Papier bringen. Überzeugt war ich nicht, aber dann hörte ich mich doch sagen: – Einen Versuch wäre es vielleicht wert. Constanzes lächelte zufrieden. – Aber dann machst du den Anfang, sagte ich. – Einverstanden. Ich schicke dir bald einen kleinen Text. Es dauerte dann bis nach dem Jahreswechsel, bis ich Post von ihr bekam mit einem Text zur Wirtschaft in unserem Jahrhundert. Keine leichte Kost für ökonomische Laien wie mich, aber er soll hier trotzdem seinen Platz haben: Wie Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert funktionieren könnte 253 Niemand versteht die Wirtschaft, zumindest nicht die ganze. Eine neue Erkenntnis ist das nicht, aber eine, die noch immer zu wenig beachtet wird. Alle wünschen sich eine innovative, immer produktivere Wirtschaft. Eine solche Wirtschaft braucht Wettbewerb. Wettbewerb zwingt Menschen und Unternehmen, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Er zwingt sie, an die Grenzen des Beherrschbaren zu gehen, aber zwingt sie auch, an diesen Grenzen Halt zu machen. Wer diese Balance nicht findet, geht in der Wirtschaft früher oder später unter. Unternehmen beispielsweise, die zu passiv sind oder zu innovativ. Dieser Balanceakt hört nie auf. Insofern ist eine dynamische Wirtschaft in einer produktiven Dauerkrise. Das hat natürlich auch Folgen für die Wirtschaftspolitik. Je dynamischer und innovativer eine Wirtschaft ist, desto schwerer ist sie auch für Wirtschaftspolitiker zu durchschauen. Desto mehr wird auch die Wirtschaftspolitik zu einem Balanceakt. Desto größer ist für Wirtschaftspolitiker das Risiko, zur Lenkung der Wirtschaft zu wenig tun oder zu viel oder das Falsche. Man könnte meinen, für die Lenkung einer immer komplizierteren Wirtschaft müssten eben immer kompliziertere Regeln geschaffen werden. Aber je komplizierteren Regeln die Wirtschaftspolitik folgt, desto schwerer ist sie beherrschbar und desto fehleranfälliger wird sie. Die Wirtschaftspolitik unserer Zeit muss also versuchen, das zunehmend Unbeherrschbare und Unbegreifliche nach beherrschbaren und begreiflichen Regeln zu lenken. Verantwortungsvolle Geld- und Wirtschaftspolitik kann sich nur auf solche hinreichend einfachen Regeln stützen. Auch wenn solche Regeln sich als zu unvollkommen erweisen, dürfen sie nicht durch kompliziertere neue Regeln ersetzt werden. Dann müssen vielmehr neue einfache Regeln her, die weniger fehleranfällig sind. Wie zum Beispiel hält man die Inflation im Zaum, ohne dabei die Wirtschaft in Krisen zu stürzen? Wie vermeidet man Deflation und Stagnation, ohne Inflation zu 254 schüren? Wie lässt sich die Konjunktur stabilisieren, ohne damit den Keim für die nächste Krise zu legen? Wie stabil lässt sich die Konjunktur auf Dauer überhaupt halten? Nach welchen einfachen Regeln ist bei all dem vorzugehen? Um wie viel komplizierter, wie viel schwerer beherrschbar wird Wirtschaftspolitik zum Beispiel, wenn ein Währungsgebiet erweitert wird? Wann und wo wurden mit der Ausweitung der Euro-Zone die Grenzen der Beherrschbarkeit überschritten? Es scheint immer noch, als würden Regierungen und Zentralbanken sich diese Fragen nicht ernsthaft genug stellen, als würden sie nach neuen Regeln, die zugleich einfach und gut sind, noch immer nicht ernsthaft suchen. Sie wursteln weiter jenseits der Grenzen der Beherrschbarkeit. Die Folgen: u.a. die zwei großen Finanzmarktund Währungskrisen in der ersten Jahrhunderthälfte und jahrzehntelange Massenarbeitslosigkeit in europäischen Krisenstaaten. Aber lassen sich all diese Probleme nicht doch damit erklären, dass Politiker den weisen Rat von Wirtschaftstheoretikern in den Wind schlagen? Hätte nicht z.B. eine bei den renommiertesten Wirtschaftstheoretikern gesammelte Weisheit ausgereicht, um die Wirtschaftspolitik auf einen besseren Weg zu bringen? Offenbar nicht. Müssen wir uns dann mit ähnlichen Krisen auf unabsehbare Zeit abfinden? Sind die menschlichen Möglichkeiten in der Wirtschaftspolitik erschöpft? Nein, auch das nicht. Wäre die Wirtschaftspolitik nur halb so kreativ wie die Wirtschaft selbst, dann ginge es uns allen besser. Viele gute einfache Regeln sind in der Wirtschaftspolitik noch nie erprobt oder, obwohl denkbar, noch nicht einmal gedacht worden. PS: Ich weiß, wie abstrakt das in dieser Kürze klingt, gerade für ökonomische Laien, und wie plakativ für andere. Aber ich hoffe, es macht wenigstens neugierig. Nicht für dich – du weißt es längst –, aber für andere müsste ich trotzdem noch dies hinzufügen: Die Wirtschaft sorgt nicht von selbst für gerechte Verteilung von Wohlstand, im 255 Gegenteil. Auf dem Arbeitsmarkt sind in den letzten hundert Jahren Niedrigstlöhne und Spitzengehälter immer weiter auseinandergedriftet, und damit ist auch das Vermögen immer ungleicher verteilt. Daher fordern viele noch immer eine andere Wirtschaft, eine mit weniger Markt, weniger Wettbewerb, weniger Kapitalismus. Das ist ein großes Missverständnis. Keine Art von Wirtschaft schafft von sich aus Wohlstand und Gerechtigkeit für alle. Die Wirtschaft schafft ungerechten Wohlstand, und für dessen gerechte Verteilung kann nur der Staat sorgen. Er tut es aber nicht. Auch demokratische Staaten tun es nicht, egal, wer regiert. Wir brauchen also keine andere Wirtschaft, was wir brauchen, ist ein anderer Staat. Es wäre schon ein großer Fortschritt, wenn darüber nicht mehr gestritten werden müsste. Wenn Einigkeit darüber herrschte, dass der große Versager unserer Zeit nicht die Wirtschaft ist, also auch nicht der so genannte Kapitalismus. Der große Versager ist der Staat. Also auch die Demokratie. Hätte ich damals schon von Yang gewusst, wäre mir natürlich gleich der Gedanke gekommen: Yang und Constanze wären sich hierüber rasch einig. Und Constanze, so alt sie auch ist, ließe sich ebenso rasch für Yangs Bewegung gewinnen. Wenige Tage, nachdem Constanzes Brief gekommen war, rief Hauser an. Er hielt sich nicht mit Vorreden auf, als hätten wir gerade erst miteinander gesprochen. Es ging um seine alten Aufzeichnungen. Er glaube, sagte er, irgendwo im Archiv stehe davon noch ein Exemplar, und wenn, dann solle ich es vernichten. Dieser Text sei überholt. Er werde demnächst versuchen, seine Aufzeichnungen zu überarbeiten und zu ergänzen. – Versprochen?, fragte er dann. – Ja, sagte ich, wenn ich das Exemplar finde. 256 Wann er die Neufassung schaffe, sagte er dann, und ob, das wisse er nicht, aber er wolle es versuchen, um in seinem letzten Lebensabschnitt mit sich im Reinen zu sein. Wir sollten uns demnächst wieder einmal treffen, sagte er dann noch. Er werde sich melden, wenn die Sonne wieder höher stehe. Im Frühjahr. Die Krise der Archive In den Jahren nach der Jahrhundertmitte herrschte im Archiv eine ungewohnte Ruhe. Es war beileibe keine ereignisarme Zeit, aber es schien, als sei den Redakteuren das ungeduldige Wissenwollen ausgetrieben. Oberflächlich war alles wie vorher, waren Anfragen ans Archiv brandeilig wie immer, gaben sich die Redakteure fordernd wie immer, und doch war es, als breite sich eine immer nüchternere Routine aus. Es waren in der Tat Jahre, in denen auch die Welt in eine unaufgeregte Routine zu verfallen schien und die SPIEGEL-Leser mit ihr. Natürlich versuchte die Redaktion immer wieder, wenigstens kleine politische Aufreger zu produzieren, aber meistens wirkten sie gekünstelt. Als Archivar kann man solche Zeiten anders erleben, wenigstens dann, wenn man sich den Hauserschen Blick ins Weite bewahrt. Für mich war es fast eine aufregende Zeit. Je mehr Routine sich in der Archivarbeit breitmachte, je unaufgeregter das Tagesgeschäft war, desto freier war der Kopf für Gedanken, die über das Tagesgeschäft hinausgingen. Von den großen Problemen der vergangenen Jahrzehnte war keines wirklich gelöst, das Krisengeschehen der Welt legte nur eine kurze Pause ein. Der Dritte Weltkrieg war abgeebbt, aber könnte er sich danach nicht als Jahrhundertkrieg fortsetzen? Im Archiv arbeitete seit Kurzem Tilman, ein Büroassistent, der Klaus in vielem ähnlich war. Schon als er sich vorstellte, dachte ich: So einer täte dem Archiv gut, ein lustiger Krauskopf mit funkelnden Augen und eulenspiegelhafter Mimik, vielleicht wird er einer wie Klaus. Es war tatsächlich Tilman, der dann im Archiv die 257 etwas gedämpfte Stimmung dieser Jahre gelegentlich auffrischte, sei es mit seinen entlarvenden Bemerkungen, mit seiner clownesken Gestik oder mit kleinen gekonnten Selbstinszenierungen. Eines Tages schwebte er mit einem dünnen wallenden Umgang durch das Archiv, dessen Berührung man im Vorbeigehen kaum vermeiden konnte. – Wozu das?“, fragte ich. – Der Mantel der Geschichte, sagte er. Und als ich ihn ratlos ansah: – Die Illusion davon. So viel Zeitgeist, Trübnis und Trost in so wenigen Worten. Genau dafür hatten wir Tilman, dafür brauchten wir ihn. Nach solchen Szenen war es, als trügen wir alle im Archiv ein unsichtbares Lächeln im Gesicht. Je ereignisärmer die Zeit, desto mehr Fragen stellt man sich. Fragen zum Sinn des eigenen Tuns. Zum Sinn und zur Bedeutung des Archivs. Zu seiner Vergangenheit und seiner Zukunft. Wie hatte sich das Archiv in den letzten Jahrzehnten verändert? Welche Veränderungen standen bevor? Welche Bedeutung würde das Archiv in zehn oder zwanzig Jahren noch haben? Würde es, wenn die Redaktion immer kurzatmiger agiert, als ruhender Gegenpol immer wichtiger? Oder würde es immer weniger gefragt sein? Würde die Redaktion sich immer weniger noch bemühen, ihre Beiträge auf archivarisches Wissen zu gründen? Würde auch im SPIEGEL die momentane Leserresonanz immer mehr Gewicht bekommen, auf Kosten der Seriosität, der archivarischen Fundierung? Ich weiß natürlich, dass auch die Geschichte unseres Blattes keine Geschichte lupenreiner Seriosität ist. Wie Hauser es einmal sagte: Ein Archiv sammelt Material nicht nur über Menschen und Organisationen, sondern auch gegen sie. Schon früher wurde vom Archiv nicht nur solide Faktenarbeit erwartet, sondern auch Beihilfe zu Verdächtigungen, Verunglimpfungen, Bloßstellungen und zum politischen Rufmord. Das Archiv musste mit seinen Mitteln helfen, journalistische Aufreger zu 258 konstruieren, Skandale zu unterfüttern, Empörung zu schüren. Archivare könnten sich kaum dagegen wehren, hatte Hauser gesagt, in diesem Sinne als Mittäter eingespannt zu werden, was allerdings in den letzten Jahrzehnten weniger geschehen sei als vor seiner Zeit. Er erzählte von den Haudegen der Redaktion im späten 20. Jahrhundert, die stolz auf sich waren, wenn sie politische Gesinnungsgegner zur Strecke gebracht oder es zumindest versucht hatten, mit welchen Mitteln auch immer. Sehr viel besser, sagte er, sei es aber auch im ersten Jahrhundertviertel nicht gewesen, als gegen so genannte Putinversteher, Separatistenversteher, Islamistenversteher, Terroristenversteher und andere journalistischer Kleinkrieg geführt wurde, wofür auch im Archiv Rückendeckung angefordert wurde. Ich solle mich in Acht nehmen, sagte er dann, auch im Umgang mit Archiven habe es nur kleine zivilisatorische Fortschritte gegeben, auch im Journalismus sei das Eis der Zivilisierung noch immer dünn, und je mehr die Verlage wirtschaftlich unter Druck gerieten, desto brüchiger werde es. Es wäre natürlich naiv oder vermessen, einen Zusammenhang zwischen dem politischen Weltgeschehen und dem Geschehen im Verlag zu vermuten, aber genau dieses Gefühl hatten viele von uns. Es war, als nutzte der Verlag die Atempause der Weltgeschichte, um seine eigene Geschichte aufzumischen. Dass der ältere unserer beiden Chefredakteure bald gehen würde, wussten wir alle. Zwei zehrende Jahrzehnte im Amt hatten ihn erschöpft. Ein jüngerer musste her, die Gerüchteküche quoll über mit Namen von Kandidaten, alle zwischen Anfang vierzig und Anfang fünfzig. Dann der große Coup. Der neue Mann war ein alter. Berenberg. Ausgerechnet Berenberg. Redaktionsmitglied seit fünfundzwanzig Jahren. Der Mann, der sich als Jungredakteur mit Polemik gegen Querdenker aller Art hervorgetan hatte, gegen Separatistenversteher, Demokratieskeptiker und andere. Der dann, als der Gegenwind stärker wurde, als Mitläufer in der Redaktion abgetaucht war, als Spezialist für unauffällige Themen. Nun war er ganz oben. Nicht weil er sich geändert hätte, sondern weil die Zeiten sich geändert hatten. Nun erntete er den Lohn für seine lange Unauffälligkeit. Nun hatte er es den wenigen noch übrigen 259 Querdenkern von damals gezeigt: Eure Zeit ist vorbei, meine Zeit ist gekommen. Alle wussten, dass auch Kiesewetters Zeit nun bald vorbei sein würde. Ein Querdenker wie er in der Chefredaktion, das war schon jetzt gefühlte Vergangenheit. Wer aber hatte diese Entscheidung getroffen? Wer waren Berenbergs Unterstützer? Die Mehrheit der Redakteure? Damals noch unwahrscheinlich. Die Verlagsleitung? Schwer vorstellbar. Was also war Berenbergs Ernennung vorausgegangen? Wovon war sie die Folge? Oder war sie eher ein Vorbote? Wer sprach in diesen Zeiten eigentlich für die Eigentümer? Wir waren ein paar Jahre vorher Aktiengesellschaft geworden, und nun stand bei der Familie des Gründers ein Generationswechsel an. Keiner der Erben war noch auf Einfluss im Verlag aus. Aber nichts würde sich verbessern, das wussten alle, wenn die zerstrittene nächste Generation das Erbe antreten würde. Wurde schon über den Verkauf verhandelt? Gab es Interessenten, die das Blatt nach einem Führungswechsel ganz würden übernehmen wollen? Lauter Gerüchte. Sechs Monate später der nächste Coup. Die Entlassung des Verlagsleiters. Wir hatten uns nicht unbedingt gemocht, der Verlagsleiter und ich, aber wir hatten Respekt voreinander, menschlichen und auch Respekt vor der Arbeit des anderen. Ich wusste: Ein Archiv wie unseres gedeiht nur in einem gut geleiteten Verlag. Er wusste: Journalismus auf unserem Niveau braucht ein gutes Archiv. Wir beide sahen uns als Teile des großen und guten Ganzen. Weitere fünf Monate später der Paukenschlag. Der Verkauf. Der neue Hauptaktionär ein globaler Investor. Eine neu geformte amerikanisch-chinesische Medienholding. Deren Hauptaktionäre: Amazon und eine Tochtergesellschaft von Alibaba. Dass an dieser Tochtergesellschaft von Alibaba der chinesische Staat eine Sperrminorität besaß, erfuhr ich erst viele Jahre später. Die Aktienmehrheit hatte die Medienholding damit noch nicht, aber sie hatte die Macht im Verlag, und ein kleiner Teil der Macht lag damit auch in China. Der SPIEGEL würde nun ein anderes Blatt werden, das war klar, womöglich mit 260 Ablegern in vielen Sprachen, vielleicht eine Art Welt-Zeitschrift. Aber besser würde er nicht werden, wenigstens nicht in meinem und unserem Sinne. Oder waren „wir“ inzwischen eine Generation nostalgischer Träumer, die sich den neuen Sachzwängen des Zeitschriftenwesens störrisch verweigerten? Der neue Verlagsleiter kam einen Tag, nachdem der alte gegangen war. Er gab sich zurückhaltend. Er wolle das Unternehmen erst einmal gründlich kennenlernen, natürlich vor allem die Menschen im Unternehmen, verkündete er bescheiden, und so gewann er Sympathien. Nach drei Monaten bat er mich zum Einzelgespräch. Die neuen Anteilseigner, begann er, wünschten sich natürlich ein weiterhin erfolgreiches Unternehmen. Kurze Pause. Und ein wachsendes, fuhr er mit ruhiger Stimme und bedeutungsschwerer Miene fort. Daher stehe natürlich alles auf dem Prüfstand. Wieder eine Pause. Dann: Wir hoffen dabei auf Ihre Unterstützung. Ich schrumpfte auf meinem Stuhl zusammen. Wenigstens war er ehrlich. Routiniert, bedrohlich, aber ehrlich. – Den SPIEGEL, fuhr er fort, gibt es seit über hundert Jahren. Die Frage ist, ob er immer mit der Zeit gegangen ist. Diese Frage, das wissen Sie, müssen wir uns in allem stellen, was wir tun. Es ist eine Überlebensfrage. Er rückte seine Brille zurecht und sah mich mit entwaffnend offenem Blick an. – Wenn wir uns darüber einig sind, dann werden wir gut zusammenarbeiten. Zwei Wochen später trafen wir uns wieder. Dieses Mal kam er, eine Geste immerhin, zu mir ins Büro. Er habe sich die Zahlen genauer angesehen, begann er. Und dann: – Ich will nicht lange drumherum reden. Ich glaube auch, es überrascht Sie nicht. Das Archiv des SPIEGEL ist zu groß und zu teuer. Es ist personell überbesetzt. Es dauerte eine lange Schrecksekunde, bis ich antworten konnte. – Meinen Sie das wirklich?, stammelte ich. 261 Wie viel zu teuer, sagte er, das wisse er noch nicht genau, aber im Verhältnis zur Redaktion sei das Archiv auf jeden Fall überdimensioniert. Deutlich größer als bei vergleichbaren Zeitschriften, das habe er gründlich recherchiert. Vieles von dem, was das Archiv dokumentiere, sei demnach entbehrlich. Einen endgültigen Plan habe er nicht, aber man müsse mit einer Verkleinerung um mindestens ein Viertel anfangen. Danach sehe man weiter. Dann sagte er: – Den genauen Plan dafür machen Sie, und Sie führen natürlich auch die Gespräche mit den Mitarbeitern. Je früher, desto besser. – Überflüssig ist hier keiner, erwiderte ich hastig. Alle dienen hier der journalistischen Qualität. Er sah mich einen Moment lang prüfend an, als überlegte er, ob ich noch Schonung brauchte. Dann hob er den Kopf. Nein, bedeutete es, schonen wolle er mich nicht. – Die Zeiten haben sich eben geändert. Die Frage nach der Qualität eines Blattes muss man heute nüchterner stellen. Nüchterner, das heißt vor allem: aus der Sicht der Leser. Wir können nicht in eine Qualität investieren, von der die Leser nichts oder fast nichts merken. Vom Beitrag des Archivs zur Qualität des Blattes merken die Leser sehr wenig. – Woher wissen Sie das denn? – Das ist die Meinung in unserer Investorengruppe. Wir wissen auch, dass der Inhalt des Archivs sich zunehmend mit dem von Online-Quellen überschneidet, die jedermann zugänglich sind. Das haben wir anderswo untersucht. – Bei uns bisher nur zu einem kleinen Teil, sagte ich. – Es wird auf jeden Fall immer mehr. – Aber das zu bekommen, sagte ich, was nicht schon bei Wikipedia und sonstwo zu lesen ist, wird immer schwerer. Dafür brauchen wir nicht weniger Leute, sondern eher mehr. 262 – Streiten wir uns nicht über Kleinigkeiten, sagte er. Wir müssen uns über die Richtung einig sein. Denken Sie darüber nach. Er erhob sich. – Die fetten Jahre sind nun einmal vorbei. Dann verließ er den Raum mit selbstbewusster Siegermiene. An der Tür drehte er sich noch einmal um. – Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Hier ein kurzes Memo der neuen Anteilseigner für unsere Führungskräfte. Lesen Sie es in Ruhe durch. Ich blieb erschöpft sitzen. Dann nahm ich mir einen Textmarker, begann zu lesen und markierte dabei diese Stellen: – Wir wollen nicht elitär sein. – Wir maßen uns nicht an, die Leser zu formen, wir formen das Blatt nach den Wünschen der Leser. – Wir wollen noch mehr Leser erreichen. Wenn nötig, mit neuen Inhalten, neuem Stil. – Wir wollen unsere Kosten senken und unsere Kapazitäten besser auslasten. – Wir helfen den Publikationen unserer Unternehmensgruppe in anderen Teilen der Welt, aber wir lernen auch von ihnen. – Wir nutzen die globalen Synergien der Unternehmensgruppe. Ja, es war endgültig klar: Die alten Zeiten, gut oder schlecht, fett oder mager, sie waren vorbei. Ich verließ das Büro mit starr nach vorn gerichtetem Blick. Niemand sollte mir in die Augen sehen, niemand meine Stimmung spüren. In der Eingangshalle sah ich dann von Weitem Kiesewetter, ich schaute kurz zu ihm hin. Auch er mit starrem Blick, auch er wollte niemandem in die Augen sehen, aber dann trafen sich unsere Blicke doch für eine lange Sekunde. Ich glaube, auch ihm tat es gut. 263 Abschied von Hauser Politischer Qualitätsjournalismus setze genau genommen Qualitätspolitik voraus, hatte Hauser einmal gesagt. Ich hatte diese Bemerkung nicht sehr ernst genommen, aber nun begann ich sie besser zu verstehen. Qualitätsjournalismus, das waren für Hauser nicht nur gut geschriebene, gut gemeinte und engagierte Artikel. Es war nicht nur das Anschreiben gegen offenkundige politische Versager und Schurken. Es war auch nicht das aufmerksame skeptische Begleiten mittelmäßiger Politik. Zu wirklich hoher Qualität, meinte Hauser, werde der politische Journalismus erst herausgefordert, wenn die Politik hohe Maßstäbe setze, mindestens aber hohe Ziele verfolge. Eine solche Politik hatte unsere Generation nicht erlebt, und sie war nicht absehbar. Dass der SPIEGEL von globalen Investoren übernommen wurde, deren Qualitätsansprüche sich am globalen Mittelmaß orientierten, war in solchen Zeiten nur folgerichtig. Um das, was nach der Mitte der fünfziger Jahre in der Welt geschah, journalistisch zu begleiten, reichte Mittelmäßigkeit vollkommen aus. Die Weltgeschichte hatte in den frühen fünfziger Jahren eine kurze Verschnaufpause eingelegt, danach lebten die verdrängten politischen Probleme dieser Welt sämtlich wieder auf, manche davon intensiver denn je. Der – nun zumindest in den Medien immer offener als solcher benannte – schleichende Dritte Weltkrieg, dessen Hauptschauplatz in den vierziger Jahren vor allem Nordafrika gewesen war und der dort u.a. zum Zerfall Nigerias geführt hatte, hatte seine Brennpunkte nun in Asien. In Indien verging kein Jahr ohne gewaltsame Konflikte mit ethnischen und religiösen Minderheiten. Auch Iran, Myanmar, Indonesien, die Philippinen, Pakistan, Malaysia, Afghanistan und andere asiatische Staaten waren Schauplätze heftiger innerstaatlicher Konflikte. China hielt seine aufrührerischen Minderheiten mit Beschwichtigungsrhetorik, aber in der Sache so unnachgiebig wie je in Schach. Zugleich unterstützte es militante chinesische Minderheiten in anderen ostasiatischen Staaten. 264 Eine ganz ähnliche Politik betrieb Russland, wenn auch mit martialischerer Rhetorik. Noch immer verstanden russische Politiker nicht, dass ihr Land aus seiner inneren Krise nur herausfinden würde, wenn es sich von erdrückendem Ballast befreite wie den immer noch viel zu hohen Militärausgaben und womöglich auch von aufsässigen Minderheiten. Stattdessen ging Russland mit rücksichtsloser Waffengewalt gegen neue separatistische Bewegungen im Süden des Landes vor, und zugleich schürte es neue separatistische Neigungen bei den zehn Millionen Russen bzw. deren Nachkommen, die bei der Auflösung der Sowjetunion ungewollt zu Bürgern nichtrussischer Staaten geworden waren. Diesen Menschen, so die russische Regierung, sei Unrecht angetan worden, das nun, nach mehr als einem halben Jahrhundert, endlich korrigiert werden müsse. Die westliche Welt reagierte hierauf wieder mit militärischen Drohgebärden. Dass es aber auch in dieser Frage letztlich um verwehrte politische Selbstbestimmung ging, war unter westlichen Politikern immer noch ein Tabu. Auch in der arabischen Welt war keiner der schwelenden Konflikte wirklich gelöst. Die von dort ausgehenden terroristischen Aktivitäten lebten mit unverminderter Brutalität auf, und der so genannte Krieg gegen den Terror, den der Westen schon in den dreißiger Jahren fast gewonnen geglaubt hatte, wurde mit neuer Entschlossenheit weitergeführt. Angespannte innerstaatliche Ruhe konnten in der arabischen Welt weiterhin nur autokratische Regimes sicherstellen, die sich auf eine einschüchternde Militärmacht stützten wie Ägypten, Saudi-Arabien oder Algerien. In Europa führten in dieser Zeit die Spannungen in Migrantengettos zu den bisher schwersten gewalttätigen Auseinandersetzungen. Selbst in seriösen Medien war immer häufiger von Bürgerkriegszuständen die Rede. In den USA war das auffälligste politische Ereignis dieser Zeit das endgültige Auseinanderbrechen der Partei der Republikaner. Der radikalkonservative populistische Flügel hatte sich weiter radikalisiert und innerparteilich eine knappe Mehrheit erlangt. Nach heftigen innerparteilichen Machtkämpfen spalteten sich die Radikalkonservativen schließlich als eigenständige Partei ab, als Neue Republikaner. 265 Neue und alte Republikaner waren aber machtbewusst genug, um gegeneinander nur in den Wahlkreisen Kandidaten aufzustellen, in denen sie auch einzeln chancenlos waren. Der Wahlkampf zu den darauf folgenden Kongresswahlen wurde eine der schmutzigsten Schlammschlachten der amerikanischen Demokratiegeschichte. Trotzdem einigten Neue und alte Republikaner sich nach der Wahl auf eine gemeinsame parlamentarische Mehrheit gegen die Demokraten. Bei den Kongressund Präsidentschaftswahlen 2060 war die Wahlbeteiligung die mit Abstand niedrigste der US-Geschichte. Im Europa der EU war die politische Stimmung nicht besser. In den vier Jahrzehnten nach dem Austritt Großbritanniens hatte die EU sich in den Augen der Bürger immer mehr als Bürokratiemonster ohne politische Mission verschlissen. Bei den Wahlen zum Europaparlament lag die Wahlbeteiligung Ende der fünfziger und Anfang der sechziger Jahre bei 33 Prozent. Danach zeichneten sich auch in Italien und Polen erstmals parlamentarische Mehrheiten für einen EU-Austritt ab. In anderen EULändern, darunter Deutschland, die Niederlande, Österreich und Dänemark, forderten starke Bürgerbewegungen Volksabstimmungen über die EUMitgliedschaft. Sie beriefen sich darauf, dass die EU nie das Recht der Bürger auf Selbstbestimmung über ihre EU-Zugehörigkeit formell anerkannt habe und damit die Bürger in ihren Freiheiten fundamental einschränke. Die politische Zusammenarbeit der EU-Staaten war auf Gebieten wie der Außenpolitik nie viel mehr als ein Ritual gewesen war, nun bestand sie nur noch auf dem Papier. Um europäischen Prinzipien und Interessen mehr politisches Gewicht zu verleihen, hatten daher Deutschland, Frankreich, die Beneluxländer und die skandinavischen Länder schon Anfang der vierziger Jahre Kooperationsverfahren geschaffen, die mit denen der EU offen konkurrierten. Die politische Parteienlandschaft war in Deutschland konturloser geworden denn je. Die Muslimisch Soziale Union hatte sich nach erbitterten internen, auch von ihren ausländischen Geldgebern angetriebenen Machtkämpfen ihrer radikalsten Flügel entledigt, ihre Wahlergebnisse hatten sich danach bei gut 7 Prozent stabilisiert. Die 266 etablierten Altparteien hatten sich Guttenbergs Deutschen Demokraten rhetorisch immer mehr angenähert und damit deren weiteren Aufstieg gebremst. Auf dem Parteitag der Deutschen Demokraten im Frühjahr 2056, wenige Monate vor seinem Tod, hielt Guttenberg seine letzte große innerparteiliche Rede. Darin warb er um Verständnis für Menschen, die in der politischen Zivilisierung noch vergleichsweise rückständig seien. Deren Empfindlichkeiten, deren Minderwertigkeitsgefühl und deren Fremdsein in der westlichen Welt seien Tatsachen, die man annehmen müsse. Man dürfe diesen Menschen nicht belehrend und mit Überlegenheitsgefühl, man müsse ihnen empathisch begegnen und auf deren Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen. Trotzdem bleibe er gegenüber jeglicher Zuwanderung weiterhin skeptisch. Der Grund hierfür liege aber nicht bei den Migranten, er liege bei den Deutschen selbst. Denn je mehr zivilisatorisch rückständige Migranten ins Land kämen, desto mehr Deutsche meinten, auch sie dürften sich in der Anstrengung des Zivilisiertseins gelegentliche Pausen gönnen. Solche Zuwanderung mache daher aus einem potentiellen Vorbildstaat einen mittelmäßigen Staat wie viele andere. Sein Resümee: Deutschland ist nicht reif für weitere Immigration. Damit meinte Guttenberg nicht viel anderes als mit seiner früheren Aussage, Deutschland brauche Immigranten, von denen es lernen könne. Die Formulierung aber, dass Deutschland nicht reif sei, verprellte einen Großteil seiner Parteifreunde und seiner Wähler. Eine Folge hiervon war, dass sich noch mehr Wahlberechtigte vom Politikbetrieb abwandten. Bei der Bundestagswahl 2057 sank die Wahlbeteiligung unter 40 Prozent. Die Unionsparteien kamen als einzige Partei auf mehr als 20 Prozent der abgegebenen Stimmen, Deutsche Demokraten, SPD, Grüne, MSU und die Linke lagen zwischen 19 und 7 Prozent, sonstige Parteien erreichten insgesamt 11 Prozent. Neben den von den Parteien strikt ausgeschlossenen Koalitionsmöglichkeiten waren nur noch Notkoalitionen möglich. Schließlich einigten sich SPD, Grüne und die Muslimisch Soziale Union auf eine von den Linken tolerierte Minderheitskoalition, 267 die nur zwei Jahre lang hielt und mit der Ausschreibung von Neuwahlen endete. Bei diesen Wahlen, im Herbst 2059, sank die Wahlbeteiligung weiter auf nunmehr 37 Prozent. Das Wahlergebnis verschob sich dabei geringfügig zugunsten der Unionsparteien. Die danach gebildete Koalition hätte noch zwei Jahre vorher als undenkbar gegolten: SPD, FDP, die Linke und die Deutschen Demokraten. Zu dieser Zeit gab es in keiner der alten europäischen Demokratien mehr eine Regierungskoalition, die von mehr als einem Fünftel der Wahlberechtigten gewählt worden wäre. Regierungen und Parlamente konnten sich daher nur noch schwer des Verwurfs erwehren, sie seien nicht demokratisch legitimiert. Sie versuchten diesen Vorwurf schließlich damit zu entkräften, dass die Wähler eine kompetente Minderheit seien, die von Politik mehr verstehe als die Nichtwähler. Es liege insofern im Interesse aller, wenn nur diese Minderheit über die Zusammensetzung von Parlamenten bestimme. Dieses Argument war aber von der Realität längst überholt. Das Nichtwählen war inzwischen bei politisch interessierten Bildungsbürgern noch weiter verbreitet als in bildungsfernen Schichten. Vielleicht hätte sich in dieser Zeit politisch etwas mehr verändern können, wenn neue innovative Bewegungen ins Wahlgeschehen eingegriffen hätten. Aber die Tagmakraten wollten sich Auseinandersetzungen auf dem Niveau herkömmlicher Wahlkämpfe weiterhin nicht stellen. Und Yangs Bewegung hatte in Deutschland zu dieser Zeit noch nicht einmal tausend Mitglieder gewonnen. Mitten in diesem trüben politischen Szenario kam die Nachricht von Hausers Tod. Mein erster Gedanke war: Vielleicht die richtige Zeit, diese Welt zu verlassen. Früh genug auch, um den Niedergang des Archivs nicht mitzuerleben, den Hauser vorausgeahnt hatte. Vielleicht hatte er es so entschieden. Er hatte die politische Welt bis zuletzt mit hellwachem Geist beobachtet, und sie würde ihm nicht den Gefallen tun, sich noch zu seinen Lebzeiten in besserer Verfassung zu zeigen. Tiefe Trauer empfand ich über Hausers Tod nicht. Er hatte mich oft mit Gedanken bedrängt und manchmal auch überfordert, die ich als Last empfand, wie sehr er damit 268 auch Recht hatte, und ich hatte mich dabei immer in seinem Schatten gefühlt. Sein Tod hatte daher, dazu bekenne ich mich, für mich auch etwas Befreiendes. Trotzdem hatte er mir in einer Welt, in der es geistige Heimat nirgendwo mehr zu geben schien, doch so etwas wie geistiges Heimatgefühl gegeben. Bei der Todesnachricht kam mir natürlich auch unser letztes gemeinsames Gespräch wieder in den Sinn. Es war – wieder einmal – um die Frage gegangen, ob es mit der menschlichen Zivilisierung weiter bergab gehe und ob er in dieser Hinsicht immer noch Fatalist sei. Eigentlich schon, sagte er, dazu stehe er, aber man dürfe auch die kleinen Hoffnungsschimmer nicht übersehen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer sei für ihn das Gespräch gewesen, das wir, er und ich, mit Tian geführt hatten. Wenn einer wie Tian in China kein absoluter Einzelgänger sei, dann könnte, von China ausgehend, die kommende Talsohle der menschlichen Zivilisierung bald durchschritten sein. Ich fragte, was er unter bald verstehe. Vielleicht noch in diesem Jahrhundert, antwortete er, so optimistisch wolle er mir zum Gefallen diesmal sein. Zwei Tage nach Hausers Tod erschien eine kurze Notiz im SPIEGEL, fünf knappe sachliche Zeilen. Hauser sei ein Meister des Details gewesen, ein Mann mit dem Fleiß einer Biene und dem Gedächtnis eines Elefanten. Das war nicht verkehrt, unterschlug aber natürlich Wichtigeres. Aber es gab in der Redaktion offenbar niemanden, der über dieses Wichtigere schreiben konnte und schreiben sollte. In der Woche darauf war die Trauerfeier. Hauser hatte sie nicht gewollt, aber ein Neffe, der Vertrauteste seiner Verwandten, hatte es schließlich doch anders entschieden. Wir machten diese Feier nicht für Hauser, sagte er, wir machten sie für uns und für andere, die sich von ihm verabschieden wollten. Auch deren Wunsch zähle nun. Die Trauerfeier fand in der Kapelle des stimmungsvollen Friedhofs in Hamburg Nienstedten statt, auf dem Hausers Geschwister begraben waren. Die Kapelle war knapp zur Hälfte besetzt. Ich war verspätet, kam erst hinein, als der Neffe seine kurze Ansprache gerade begonnen hatte. Hausers Asche sei anonym verstreut worden, wie 269 er es sich gewünscht habe, wir kämen hier zusammen, um unsere Trauer um ihn für einen Moment zu teilen und die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Viel mehr sagte er nicht. Ich hörte kaum zu. Was wäre, dachte ich, wenn Hauser hier im Sarg liegend das Reden und Denken der Trauernden verfolgte? Oder wie wäre es, wenn er seinen eigenen Nachruf aus dem Sarg heraus vortrüge? Skurrile Gedanken, aber ich konnte sie nicht unterdrücken. Ich war als letzter in die Kapelle gekommen und wollte als erster gehen. Als ich mich schon dem Ausgang zuwandte, legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter. – Geh nicht weg. Wir haben auf dich gewartet. Constanzes Stimme! Ich drehte mich abrupt um. Wir schauten einander wortlos in die Augen. Wie traurig sie ist, dachte ich, wie alt sie ist, und dann, wie schön sie ist. Keine Tränen, bei ihr nicht und bei mir nicht, und wir wussten voneinander, warum. Mit Hauser war alles gut. Wir umarmten wir uns kurz, dann zog sie mich beiseite. – Bitte, bleib hier stehen. Die Trauergäste zogen an uns vorbei, einige bekannte Gesichter, einige wenige nickten mir zu. Dann kam Klaus. Klaus, der Schelm des Archivs, den ich erst nach Hausers Zeit eingestellt hatte, der also Hauser gar nicht begegnet war. Klaus streckte mir wortlos die Hand entgegen, sah mir in die Augen, als müsse zwischen uns nichts gesagt werden, ging weiter. Dann Tilman. Er zwinkerte mir im Vorbeigehen zu, ich nickte, dann erst sah ich unter seinem halboffenen dunklen Wintermantel ein dünnes Gewand, das mir bekannt vorkam. Es war der "Mantel der Geschichte", mit dem er an einem unserer Archivalltage ein kurzes Glanzlicht gesetzt hatte. Ich wollte zurückzwinkern, aber er war schon vorbei. Dann kam Kiesewetter auf mich zu. Er blieb stehen, drückte meine Hand. – Ich weiß, sagte er, wie schwer es für dich ist. Aber gönnen wir Hauser das Glück, im rechten Moment gegangen zu sein. 270 – Ja, sagte ich. – Ein großes Glück für mich war, den SPIEGEL rechtzeitig verlassen zu müssen. Ich wünsche dir ähnliches Glück. Dann erst ließ er, meinem überraschten Blick ausweichend, meine Hand los und verschwand. Ich war noch wie benommen von Kiesewetters Worten, als ich plötzlich in ein fremdes starres Gesicht sah, ein asiatisches. Dann versuchte das Gesicht ein kurzes Lächeln. Tian! War er aus China gekommen, um mit uns um Hauser zu trauern? Wir sahen einander eine Weile wortlos an. Im selben Moment tat Constanze einen Schritt auf Tian zu, fasste ihn am Arm, drehte sich zu mir und sagte: – Wir sind beide deinetwegen hier. Weil wir wissen, was Hauser dir bedeutet hat. Ich habe keine Erinnerung mehr daran, was ich in diesem Moment fühlte. Natürlich freute ich mich, natürlich war ich auch gerührt, und natürlich war da zugleich auch die Trauer um Hauser. Aber alles zusammen war eine zu komplizierte Empfindung, als dass sie Spuren im Gedächtnis hinterlassen hätte. Umso genauer erinnere ich mich an unsere kurze gemeinsame Zeit danach. Tians Rückflug ging schon am nächsten Morgen, und natürlich nutzten wir den Tag und die halbe Nacht für lange Gespräche zu dritt. Genauer gesagt, zu viert, denn mir war, als sei Hauser leibhaftig dabei, so wie damals, als Tian und ich ihn in seiner Wohnung besuchten. Constanze muss es gespürt haben. Spätestens jetzt, sagte sie mit Blick zu mir, werde uns kein Hauser mehr denken helfen, aber spätestens jetzt sollten wir es auch ohne Hilfe schaffen. Mit diesem Satz war der Rest der bleiernen Friedhofsstimmung erst einmal verflogen, und wir konnten ganz ohne Trauergefühle weiterreden. Ich war gerade mit meinen Gedanken kurz in die Vergangenheit getaucht, in die zwanziger Jahre, meine ersten Jahre mit Hauser. Mitte der Zwanziger hatte Hauser 271 vorausgesagt, dass die drei Jahrzehnte nach dem Zusammenbruch des Sozialismus als eine Zeit der Stagnation in die Geschichte eingehen würden. Hatten wir nicht aber mittlerweile siebzig Jahre Stagnation hinter uns? Ich fragte Constanze, ob sie meine, dass Hauser es zuletzt so gesehen habe. – Ja, sagte sie, wenn nicht schlimmer. – Im Westen, meint ihr, mischte Tian sich hastig ein. Siebzig Jahre Stillstand im Westen. Constanze war für einen Moment verblüfft, aber dann nickte sie stumm. Natürlich war es ein richtiger Einwand. Dass China sich viel rascher verändert hatte als der Westen, das hatte Tian mir und auch Hauser schon früher erklärt. Aber ich hatte kürzlich Fernsehbilder vom chinesischen Volkskongress gesehen und mich dabei gefragt, wie ein Volk eine politische Führung noch ernst nehmen kann, die sich noch immer in solch starrem Ritual präsentiert. Ja, antwortete ich, ich meinte vor allem den Westen, aber wenn ich Bilder des Volkskongresses sähe, dann erscheine China mir zumindest in seinen Ritualen noch viel starrer. Darauf gab Tian wieder einmal eine Antwort, die man sich im Westen noch immer nicht von einem Chinesen erträumte: – Den Volkskongress dürft ihr im Westen nicht mehr so ernst nehmen. Er ist eher eine Formsache. – Und soll das etwa so bleiben?, fragte Constanze. – Nein, sagte Tian, natürlich nicht. Unsere Soziologen sagen, dass unsere Bürger sich in der nächsten oder spätestens übernächsten Generation mit einem Volkskongress, wie er heute ist, nicht mehr abfinden werden. Die Partei hat deswegen ein Institut für Staatsorganisation eingerichtet, das sich mit dem Problem befasst. Dort weiß man, wovon der Volkskongress mit seinen starren Ritualen ablenken soll: Dass er über 272 Dinge abstimmt, die immer nur wenige seiner Mitglieder einigermaßen durchschauen. Das ist in euren Parlamenten ja ganz ähnlich. Das war der Tian, über den ich früher so oft gestaunt hatte. Constanze traute ihren Ohren nicht. Natürlich hatte ich ihr schon viel über Tian erzählt, aber auf so etwas war sie nicht gefasst. Die nächsten Stunden hörte ich nur zu, wie Constanze Tian mit Fragen überschüttete und sich von seinen chinesischen Weisheiten fesseln ließ. Am Flughafen war es dann ein herzlicher Abschied unter drei engsten Freunden. Als wir Tian einen letzten Gruß zugewinkt hatten, sah Constanze ihm mit beglücktem Lächeln nach. – In China, sagte sie dann, gibt es offenbar Menschen, die weiter vorausdenken als bei uns. – Und die Partei gibt den Auftrag für solches Denken! – Vielleicht ist es am Ende wirklich China, sagte sie, das den ersten großen Schritt aus der globalen Starre schafft. Ist doch ein kleiner Hoffnungsschimmer. In den Tagen nach Constanzes Abreise fand ich keine Ruhe. Hausers Tod, die Trauerfeier mit den wenigen kurzen Begegnungen, die Gespräche mit Constanze und Tian und die Abschiede von beiden, all das lies mich nicht los. Ich fand nicht zurück in den Arbeitsalltag, sehnte mich nach einem ruhigen Wochenende. Am Samstagmorgen schlief ich lange. Als ich aufstand, lag schon die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf unserem Küchentisch. Ich blätterte sie flüchtig durch. In den Tagen davor hatte ich in den Todesanzeigen nachgesehen, ob Hauser noch einmal darin vorkam, aber nichts gefunden. Jetzt fiel mein Blick wie zufällig auf eine Anzeige im Kleinstformat. Wir trauern um Jan Hauser, einen Gleichgesinnten und Förderer. Die Tagmakraten 273 Mir stockte der Atem. Hauser ein Gleichgesinnter, ein Förderer der Tagmakraten? War ich überrascht? Nein, es passte ja zu ihm. War ich bestürzt? Ja, er hätte es mir sagen können. Oder nein, er wird wohl seine Gründe gehabt haben. Und nannten die Tagmakraten Hauser wirklich zu Recht ihren Förderer und Gleichgesinnten? Am nächsten Tag war in unserem Briefkasten ein großer Umschlag, darauf eine handschriftliche Notiz von Hausers Neffen: Mein Onkel wollte, dass ich Ihnen dies zusende. In dem Umschlag: Die Satzung der Tagmakraten. Mit handschriftlichen Anmerkungen von Hauser. Von Yang und seiner Bewegung wusste ich zu dieser Zeit noch immer nichts. Ringen um Rohstoffe In der Sendung von Hausers Neffen war wirklich nur die Satzung der Tagmakraten, nichts über deren Ziele und Programm. Aber schon die Satzung war spannend genug. Anders als alles, was ich von Vereinen und politischen Parteien bisher kannte. Die Tagmakraten waren von zehn Personen gegründet worden. Die Satzung schrieb vor, dass die Mitgliederzahl in kleinen Schritten auf höchstens 2000 Personen steigen durfte. Mitglieder politischer Parteien waren von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. Beides, wie es hieß, im Interesse einer Konzentration auf die gesetzten Ziele. Es hieß nicht, Mitglieder anderer politischer Parteien seien ausgeschlossen, sondern schlicht Mitglieder politischer Parteien. Demnach verstanden die Tagmakraten sich nicht als Partei. Dass die Mitgliederzahl der Tagmakraten so kontrolliert wachsen sollte, ließ mich an einen Ausspruch Hausers denken, wonach bisher noch jede neu gegründete Partei von Ideologen, Egomanen und von beleidigten Überläufern aus anderen Parteien geentert worden sei, wie überlegt und seriös ihre Gründer auch ans Werk gegangen seien. Es hätte mich natürlich auch an Yang denken lassen, wenn ich genug über ihn gewusst hätte. Auch Yang hatte seiner Bewegung langsames Wachstum verordnet. Sie solle sich nicht verzetteln, sie solle hoch professionell werden und sie solle es 274 bleiben, so hatte er es vorgegeben. Stattdessen dachte ich an Tian, der mir erklärt hatte, wie schwer der Weg zur Professionalität auch für die kommunistische Partei Chinas noch sein werde. Für Tian, Yang und die Tagmakraten hatte demnach politische Professionalität einen ähnlich hohen Rang. Mit dieser Frage hatte ich mich noch immer viel zu wenig befasst. Aber auch in der Zeit danach lenkte mich zu vieles davon ab, auch die neuen Turbulenzen des Zeitgeschehens. Israels erneuter Angriff auf Gaza und die Grenzgebiete seiner östlichen Nachbarn ließ die Welt den Atem anhalten. Dies wird der letzte nicht-nukleare Nahostkrieg sein, darin war fast die ganze Welt sich einig, danach käme die Apokalypse. Dies konnte man als Beruhigung nehmen, wenn man annahm, dass die politisch Verantwortlichen vor der Apokalypse zurückschrecken würden. Aber zumindest die so genannten Märkte waren alles andere als beruhigt. Das erste Zeichen der Unruhe war das Beben auf den Rohstoffterminmärkten, dann kam die Explosion der Rohstoffpreise, dann der Absturz der Aktienkurse. Dann kam die weltweite Rezession Plötzlich beherrschten Themen die Öffentlichkeit, die bis dahin nicht mehr als ein mahnendes Hintergrundgeräusch des politischen Alltags gewesen waren. Es waren Bedrohungsszenarien, für die Constanze mir schon zwanzig Jahre vorher die Augen hatte öffnen wollen. – Wie lange noch reichen welche Rohstoffe und welche Energieträger? – Wie lange reicht die Kohle? – Wie lange das Gas? – Wie lange das Uran? – Wie lange welche Metallvorkommen? – Welche Teile der Welt würden durch die neuen Knappheiten um wie viel ärmer werden, wer würden die Nutznießer sein? – Wie viele Menschen würden wie lange noch auskömmlich mit nachwachsenden Rohstoffen und Energieträgern versorgt werden können? – Welchen anhaltenden Ausfall von Ölfördermengen könnte die Welt ökonomisch 275 verkraften, welchen Ausfall beim Gas? – Welche Teile der Welt können sich wie lange noch selbst mit Brauchwasser versorgen? – Wie würde eine weltweite Verteilung knapp gewordenen Wassers gelingen, auf welchen Versorgungswegen und mit welchen Transportmitteln, und welche neuen Sicherheitsrisiken ergaben sich daraus? – Und dann die große globale Frage: Würde die Welt mit den neuen Knappheiten friedlich umgehen können, oder würde es gewaltsame Verteilungskonflikte um Energieträger und Rohstoffe geben? Nichts davon war neu. Geschrieben und geredet worden war darüber seit fast 100 Jahren, aber es hatte immer viel zu weit in der Zukunft gelegen, um als politischer Ernstfall zu gelten. Immer wieder hatte es geheißen, wichtige Rohstoffe und Energieträger würden nur noch ein paar Jahrzehnte reichen, aber immer wieder waren neue Vorkommen entdeckt und war damit die Bedrohung weiter in die Zukunft verschoben worden. Auch jetzt war die Bedrohung für die meisten Menschen noch so weit entfernt, dass sie zu Lebzeiten kaum davon betroffen sein würden. Alle seriösen Forscher aber sagten voraus, dass die neuen Knappheiten spätestens das Leben der nächsten Generation deutlich zum Schlechteren verändern würden. Und fast alle seriösen Forscher waren sich auch darin einig, dass eine halbwegs glimpfliche Umsteuerung auf ein Leben mit diesen Knappheiten, grundlegende Veränderungen also der Lebensgewohnheiten, der Infra- und der Siedlungsstrukturen, der Bautechnik und vieler anderer Technikbereiche, mindestens zwei Generationen in Anspruch nehmen würde. Auch der SPIEGEL nahm das Thema wieder auf und widmete ihm zwei große Titelgeschichten. Das erste Titelbild zeigte einen auf eine schützende Höhle zueilenden, die Hände schützend über den Kopf haltenden fellbekleideten Menschen, über dem sich Menschheitsbedrohungen wie Rohstoffknappheit, Unabhängigkeitskriege, Verarmung und Niedergang der Demokratie als Blitze entluden. Im darauf folgenden Artikel wurde der neueste Forschungsstand zur 276 zeitlichen Reichweite wichtiger Rohstoffvorkommen zusammengefasst: maximal 20 Jahre u.a. für Gold, Silber, Diamant, Chrom, Zink, Zinn, Nickel und Kupfer, weniger als 40 Jahre u.a. für Erdgas und Erdöl. In demselben Heft des SPIEGEL erschien ein großer Artikel über die sich immer noch ausbreitende Resistenz von Krankheitserregern gegen Antibiotika, über die dadurch weltweit ansteigende Sterblichkeit vor allem bei Kindern und darüber, wie auch dieses Problem mindestens ein halbes Jahrhundert lang politisch vernachlässigt worden war. All dies ließ mich wieder einmal an Grafs Bemerkung über die Generation Sichtflug denken. Hatte Graf schon damals diese Szenarien vor Augen gehabt? Wenn nicht, war ihm zumindest klar gewesen, dass politisches Denken und Handeln in unserem Jahrhundert viel vorausschauender hätte sein sollen, als wir es uns damals vorstellen konnten. Mit der zunehmenden Knappheit von Rohstoffen und Energieträgern würde natürlich auch die Abhängigkeit von deren Förderstaaten immer größer werden, auch darüber wurde in dieser Zeit viel diskutiert. Macht- und Verteilungskämpfe, wie es sie früher zwischen den OPEC-Staaten und dem Rest der Welt gegeben hatte, würden nicht mehr nur um Öl ausgetragen, sondern um immer mehr knappe Rohstoffe, und sie würden an Häufigkeit und Schärfe zunehmen. Und natürlich bergen solche Konflikte auch Kriegsrisiken. Militärisch überlegene Staaten lassen sich leicht zum Krieg gegen Staaten verleiten, von deren Monopolmacht sie sich bedroht fühlen, das hatte die Welt schon oft erlebt. Nun schien die Gefahr von Kriegen zur Sicherung der Rohstoffversorgung größer zu werden denn je, sei es Wirtschaftskriegen, Cyberkriegen oder konventionellen Kriegen. Ein Thema in den Zukunftsszenarien dieser Jahre waren auch die so genannten seltenen Erden, in vielen Produkten der Hochtechnologie unersetzliche Rohstoffe. Auf diese Stoffe hatte ausgerechnet China, der mittlerweile militärisch und wirtschaftlich mit Abstand mächtigste Staat der Welt, schon seit Jahrzehnten fast ein Weltmonopol. Ich bat Tian dazu um einen Kommentar, und wenigstens von ihm kam bei allem weltweiten Alarmismus ein beruhigender Gedanke. Es sei richtig, erklärte 277 er mir, dass China ein Weltmonopol auf einige seltene Erden habe, aber darüber möge ich mir keine Sorgen machen. China sei zugleich abhängig von Weltmonopolen anderer Staaten, und gegenseitige Abhängigkeit stimme Staaten selten kriegerisch, sie könne sogar befrieden. Ich war erst einmal beruhigt, aber einen vollends unerschütterlichen Friedenswillen unterstellte ich der chinesischen Führung noch weniger als den kleineren Großmächten dieser Welt. Außerdem gab es unter den Weltmonopolisten natürlich nicht nur gegenseitige Abhängigkeiten. Die meisten Abhängigkeiten waren einseitig, und zumindest diese schaffen politisch gefährliche Motive. Insofern trägt jede Eindämmung ökonomischer Abhängigkeiten zur Friedenssicherung bei. Daran schien mir auch Tians Argument nichts zu ändern. Mit diesen Gedanken war ich noch immer beschäftigt, als ich zum ersten Mal von Robert Yang und seiner Global-Upgrade-Bewegung erfuhr. Ich weiß nicht, wie ich sie so lange hatte übersehen können. Dass ich auf solche Neuigkeiten erst durch eine Notiz im SPIEGEL aufmerksam wurde, kam höchst selten vor, aber hier war es so. Natürlich habe ich sofort über Global Upgrade recherchiert, und dabei stieß ich rasch auf Aufregendes. Zum Aufregendsten in der Programmatik von Global Upgrade gehörte dies: Dass in einer globalisierten Welt Bodenschätze nicht mehr den Staaten gehören dürften, deren Territorium sich zufällig über diesen Schätzen befinde. Die Bodenschätze, die von der ganzen Menschheit genutzt werden, müssten der Menschheit als ganzer gehören, auch wenn Staaten sie auf ihrem eigenen Staatsgebiet selbst förderten. Es bedürfe daher einer Welt-Charta, nach der Eigentumsrechte an Bodenschätzen vergeben würden. Eine solche Charta könne nur von einer weltweiten Pro-Kopf-Verteilung der Bodenschätze ausgehen, wobei es allerdings nicht nur um die Köpfe der Lebenden gehen dürfe. Die künftigen Generationen hätten ein gleiches Recht auf die erschöpflichen Ressourcen dieser Welt. Eine Konsequenz daraus sei, dass die Eigentumsrechte an Rohstoffen künftig von einer Welt-Agentur zu verwalten seien. 278 Die Einnahmen dieser Agentur dürften nicht verkonsumiert, sondern sie müssten in Nachhaltigkeitsprojekte investiert werden. Unter anderem so weit hatte Yang, der als Klimaaktivist begonnen hatte, seine politischen Ideen bis dahin vorangetrieben. Wer wirklich Großes bewegen will, hatte er zu Puig gesagt, müsse über die eigene Lebenszeit hinausdenken, und dem war er offensichtlich treu geblieben. Yang nannte dies die Agenda 2100. Ein Name, mit dem ich mich sofort verbunden fühlte. Kurz vorher noch hatte mich wieder das schlechte Gewissen geplagt, eben doch zur Generation Sichtflug zu gehören, die nie weit genug in die Zukunft gedacht hatte. Hier nun lud jemand dazu ein, an einer Agenda 2100 mitzuwirken. Würden Ältere wie ich dabei etwas von dem nachholen können, was sie im bisherigen Leben versäumt hatten? In einem von Global Upgrade verbreiteten Aufsatz wurde es konkreter. Eine Organisation wie die UNO, hieß es dort, könne eine Agenda 2100 nicht umsetzen. Von einer UNO und ähnlichen Organisationen sei nicht zu erwarten, dass sie weitsichtiger und weiser agierten als ihre Mitgliedstaaten. Eine weitsichtigere und klügere Weltorganisation könne es daher erst geben, wenn es weitsichtigere und weisere Staaten gebe. Also müsse die Erneuerung der globalen Ressourcenpolitik ganz unten anfangen, bei einer systemischen Erneuerung von Staaten. Das war ein schlüssiger Gedanke, aber auch einer von ungeahnter politischer Sprengkraft. Der SPIEGEL brachte es trotzdem fertig, in den folgenden zehn Jahren keinen einzigen Beitrag über Robert Yang und Global Upgrade zu veröffentlichen. Aber es war eben schon nicht mehr der SPIEGEL, den ich jahrzehntelang als Archivleiter geliebt und verflucht hatte. 2059 hatte die Amazon-Alibaba-Gruppe die restlichen Anteile am SPIEGEL-Verlag übernommen und war sie damit alleinige Eigentümerin geworden. Der SPIEGEL hatte in den Jahren davor im Printbereich deutlich an Auflage und Umsatz verloren, und nun wurden neue Konzepte gesucht. 279 Ein Jahr nach der Restübernahme durch Amazon-Alibaba kam der Verlagsleiter zu mir. Ich erwartete, dass es um Sparvorgaben für das Archiv gehen würde, die ich nicht eingehalten hatte, aber darüber sprach er kein Wort. Ich könne mir ja denken, begann er, dass sich im SPIEGEL einiges verändern müsse. Nach dem Willen der Anteilseigner solle der SPIEGEL einen Herausgeber bekommen, man denke dabei an einen Politiker im Ruhestand. Die ZEIT habe – darauf dürfe man sich noch einmal besinnen – vor langer Zeit einen Helmut Schmidt zu ihrem Herausgeber gemacht, und so gut wie unter dessen jahrzehntelanger Herausgeberschaft sei es der ZEIT später nie mehr gegangen. Ein genialer Schachzug des Verlegers sei das gewesen, und für den SPIEGEL könne es auch heute noch ein Erfolgsrezept sein. Ich saß da wie vom Donner gerührt. Ein Ex-Politiker, ein Parteimitglied also, als SPIEGEL-Herausgeber? Unfassbar. – Wir wollen auch die Meinung unserer Führungskräfte dazu wissen. Also, Herr Schmidt, was halten Sie davon? – Helmut Schmidt war eine Ausnahmeerscheinung, sagte ich. Ex-Politiker wie ihn gibt es nicht mehr. Er machte eine unwillige Miene. Soweit er es wisse, sagte er, habe auch Helmut Schmidt in die Rolle eines Herausgebers erst hineinwachsen müssen. – An wen denken Sie denn?, fragte ich. – Es kommen nur Persönlichkeiten aus den höchsten Staatsämtern in Frage. Wir denken an einen Ex-Kanzler. – Mesäcker etwa?, entfuhr es mir. Nein, der sicher nicht. – Ja, Mesäcker, sagte der Verlagsleiter kühl. Aber seien sie unbesorgt. Mesäcker hat mittlerweile die Reife, die man sich von einem Herausgeber des SPIEGEL wünscht. Da sind wir ganz sicher. 280 Mesäcker also. Der Mann, der seit unserer ersten Begegnung außer Machtwillen und flüssiger Rede für mich nur angepasste Mittelmäßigkeit verkörperte. Genau die Art von Mittelmäßigkeit, die die Welt in diesem Jahrhundert hatte stagnieren lassen. Ich weiß nicht, ob dieses Gespräch der Grund war, aber in den Tagen danach verlor sich das Gefühl von Souveränität, von Beherrschung und nicht selten auch von Stolz, mit dem ich bis dahin fast immer meine Arbeit im Archiv getan hatte. Ich begann, am SPIEGEL zu zweifeln, aber auch an mir selbst. Erlebten wir beim SPIEGEL unnötige Veränderungen zum Schlechten, oder war ich schon zu alt, um mich an notwendige Veränderungen zu gewöhnen? Würde das SPIEGEL-Archiv bald nicht mehr der passende Ort für mich sein, oder war ich nicht mehr der Richtige für den künftigen SPIEGEL? Je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker wurden die Zweifel. Ich begann, mich in meinem eigenen Büro, das mir jahrzehntelang wie ein zweites Zuhause gewesen war, fremd zu fühlen. Natürlich hatte ich eine Vorahnung von dem, was kam. Drei Monate nach der Einsetzung Mesäckers als SPIEGEL-Herausgeber wurde ich zur Verlagsleitung hinaufgebeten. Als ich eintrat, saß neben dem Verlagsleiter die Personalchefin. Ich hielt kurz inne, dann ging ich gefasst auf die beiden zu. – Sie wollen mir einen Vorschlag machen?, sagte ich mit fester Stimme. Ich sah die Erleichterung in ihren Gesichtern. Sie konnten sich also die peinliche Vorrede sparen. – Ja, Herr Schmidt, sagte die Personalleiterin, wir glauben, wir haben einen guten und fairen Vorschlag für Sie. Mein erster Gedanke war bei Hauser. Ist es Archivleiterschicksal, sein Berufsleben beim SPIEGEL vorzeitig beenden zu müssen? Nein, kein Selbstmitleid, sagte ich mir dann, das hatte auch Hauser damals nicht. Und gab es nicht auch eine Unzahl von Redakteuren, die es nicht bis zur Altersgrenze geschafft hatten? Aber gab es unter denen nicht auch tragische Fälle? Hieß es nicht, dass auch Kiesewetter seine Entlassung noch längst nicht verwunden hat? Und selbst wenn ich eher 281 hinauskomplimentiert als entlassen würde, war das ein großer Unterschied? Andererseits: Hatte Kiesewetter nicht bei Hausers Trauerfeier von dem Glück gesprochen, den SPIEGEL rechtzeitig verlassen zu müssen, und mir Ähnliches gewünscht? Dann fiel mir ein, wie Hauser seine Entlassung eine befreiende Niederlage genannt hatte. Würde nicht auch ich mich bald befreit fühlen können? Ja, sagte ich mir, auch für mich kann es schlimmstenfalls eine befreiende Niederlage werden. Das Gespräch verlief dann beinahe reibungslos. Ich gab mich in aufgeräumter Stimmung, und der Verlagsleiter und die Personalerin zeigten sich zunehmend gut gelaunt. Die angebotene Abfindung war großzügig, ich forderte mehr, wurde kurz hinausgebeten, danach wurde das Angebot noch einmal ordentlich aufgestockt. Ich würde sogar, das beruhigte mich, noch neun Monate lang meinen Dienst tun dürfen, wenn ich es wolle. Das immerhin ein ungewöhnlicher Vertrauensbeweis. Wenigstens hatten sie mir mein bisheriges Leben nicht wie Diebe aus der Hand geschlagen. Als ich wieder in meinem Büro saß, dachte ich an den Nachfolger, der demnächst an meinem Schreibtisch sitzen würde, einen viel Jüngeren natürlich, wahrscheinlich einen, der all das, was mich beim SPIEGEL in letzter Zeit befremdet hatte, für ganz und gar selbstverständlich nehmen würde. Was macht die Jüngeren so fügsam, fragte ich mich, noch fügsamer als meine Generation? Oder ist es deren neue Art von Weisheit? Ölkartell: Die Bösen tun Gutes Dass die Menschheit einen Einbruch in Wohlstand und Lebensstil erleben wird, wenn die Erdöl- und Erdgasvorkommen der Welt zur Neige gehen, daran gab es nie vernünftigen Zweifel. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts deckten die bekannten Ölvorkommen den Bedarf für nur noch 30 Jahre. Dies hätte zumindest bei der Generation der Jungen alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Das Ende des Öl- und Gaszeitalters verschob sich danach aber immer weiter in die Zukunft, weil immer neue Vorkommen entdeckt wurden. Im ersten Quartal unseres Jahrhunderts 282 nahm man an, dass die bekannten Reserven noch für mindestens 50 Jahre reichen würden. Vom zweiten Jahrhundertquartal an wurden dann aber weniger Vorkommen neu entdeckt, als alte verbraucht werden. Das anzunehmende Ende der Öl-Zeit rückte von da an also immer näher und damit der dadurch bedingte Wohlstandseinbruch. Schon zu dieser Zeit konnte nur noch ein energiepolitisches Wunder verhindern, dass die Generation der Jüngsten noch zu Lebzeiten davon betroffen sein würde. Vom politischen Willen, solches Wunder zu bewirken, war und ist aber weltweit nichts zu spüren. Natürlich mahnten verschiedenste Organisationen Politiker, Regierungen und Parlamente dieser Welt, auf eine drastische Verringerung des Öl- und Gasverbrauchs hinzuwirken, und dies tat auch Yang mit seiner Bewegung. Yang war sich aber bewusst, wie vergeblich diese Mahnungen bleiben würden. Die Regierungen dieser Welt hätten kommen sehen müssen, dass sich unter diesen Umständen ein neues Weltöl- und -gaskartell bilden würde, und zwar ein mächtigeres denn je. Denn das Schwinden der Reserven war nicht nur für die Verbraucherländer ein Schreckensszenario, mindestens ebenso stark mussten sich natürlich die Förderländer davon bedroht fühlen. Sie mussten daher alles daransetzen, das Ende des Öl- und Gaszeitalters so weit wie möglich hinauszuschieben. Dies war nur mit drastischer Drosselung der Ölförderung zu erreichen. Yangs Bewegung erstellte hierzu Anfang der sechziger Jahre eine gründliche Studie. Die Studie zeigte, wie weit der Öl- und Gasverbrauch langfristig reduziert werden müsste, um die Interessen der Weltbevölkerung generationenübergreifend ausgewogen zu wahren. Die Entwicklung des Verbrauchs, so Yangs Studie, lasse sich erfolgreich nicht durch weltweite Rationierung steuern, eher gelänge dies über den Öl-, Benzin- und Gaspreis. Dieser müsse innerhalb von zehn Jahren annähernd verdoppelt und innerhalb von 50 Jahren etwa verzehnfacht werden. Hierfür sollten die Verbraucherländer durch stetig steigende Verbrauchsteuern sorgen. 283 Die gleiche Wirkung, führte Yang weiter aus, hätte es natürlich, wenn die Öl- und Gasförderländer ihre Preise entsprechend erhöhten. Und genau das, so Yang, würden sie auch tun, wenn die Verbraucherländer ihnen nicht mit drastischen Erhöhungen ihrer Mineralölsteuern zuvorkämen. Yang führte auch aus, wie massiv dadurch Wohlstand und wirtschaftliche Macht zugunsten der Förderländer umverteilt würden. Dass Yang später von zahllosen Politikern und Regierungen dieser Welt vorgeworfen wurde, diese Studie habe die Förderländer zur Bildung des Weltkartells geradezu angestiftet und damit zu einem rücksichtslosen Wirtschaftskrieg gegen die Verbraucherländer, wunderte ihn selbst am wenigsten. Um von eigenem Versagen abzulenken, erklärte er, sei Politikern auch die abwegigste Diffamierung schon immer recht gewesen. Yang scheute sich auch nicht, in dieser Debatte später noch Öl ins Feuer zu gießen. Er würdigte die von den Förderländern ausgelöste Preisexplosion als die – im generationenübergreifenden Interesse der Menschheit – zweitbeste Lösung. Das Vorgehen der Förderländer sei kein wirtschaftlicher Machtmissbrauch und kein Wirtschaftskrieg, es sei die Bremsung der noch immer öl- und gastrunkenen Weltwirtschaft in höchster Not. Manchmal, so Yang, täten eben auch die vermeintlich Bösen Gutes. Die WOGA, die Welt-Öl- und -Gasagentur, wurde im Herbst 2065 als – weitaus mächtigere – Nachfolgerin der früheren OPEC gegründet. Diese als Weltkartell zu bezeichnen war eine Verharmlosung. Diese Organisation war von Anfang an eine straff geführte Weltmonopolagentur, die alle ihre Mitgliedsländer streng zu disziplinieren wusste. Vielleicht wäre sie erst einige Jahre später entstanden, wenn Russland sich hierfür nicht so energisch engagiert hätte. Russland gehörte mit Venezuela und Nigeria zu den Ländern, die vom erdöl- bzw. erdgasfinanzierten Wohlstand am wenigsten in ihre Zukunftssicherung investiert hatten. Diese drei Staaten mussten sich daher vor einer Zukunft ohne Öl- und Gaseinnahmen noch mehr fürchten als andere Förderländer. So wurde Russland zum Hauptinitiator der WOGA. Die Losung, die die russische Regierung der WOGA vorgab, hieß: 284 Förderung drosseln, Erlöse stabilisieren. Mit immer weniger Öl und Gas sollte also ein immer gleicher Strom von Geldeinnahmen erzielt werden. Als 10-Jahres-Ziel gab Russland vor: Preise verdoppeln, Förderung halbieren. Als 40-Jahres Ziel: Preise verzehnfachen, Förderung auf ein Zehntel verringern. Man konnte in der Tat meinen, diese Zahlen seien von Yang inspiriert gewesen. Die Regierungen der Verbraucherländer, die meisten westlichen Demokratien eingeschlossen, gaben sich zunächst der Illusion hin, das Monopol der WOGA werde rasch an den Interessengegensätzen seiner Mitglieder zerbrechen, und sie rechtfertigten damit ihre Untätigkeit. So verpassten die Verbraucherländer ihre letzte Chance auf einen glimpflichen Ausstieg aus der Ära erschwinglichen Öls und Gases. Dass die WOGA mit ihrer Monopolmacht nicht gerade zimperlich umgehen würde, nicht gegenüber armen Ländern und erst recht nicht gegenüber westlichen Wohlstandsländern, war natürlich absehbar. Trotzdem löste das Ausmaß der wirtschaftlichen Machtverschiebung in den Wohlstandsländern blankes Entsetzen aus. Den weltweiten Absturz der Aktienkurse nach Gründung der WOGA nutzten die WOGA und einzelne Förderstaaten, um sich weltweit in ölverarbeitende Konzerne und andere Schlüsselindustrien einzukaufen. Als dann die ersten Staaten ihre Öl- und Gasrechnungen nicht mehr bar bezahlen konnten, nahmen die Förderstaaten auch Anteile an staatlichen oder halbstaatlichen Unternehmen, an Flughäfen, Häfen, Energieversorgern, Entsorgungsunternehmen, Telekommunikationsunternehmen, Börsen, Eisenbahngesellschaften und Wohnungsgesellschaften und immer mehr auch an staatlichen Ländereien und Immobilien zahlungshalber an. Großbritannien und Norwegen, die sich der WOGA angeschlossen hatten, beteiligten sich hieran, behaupteten aber, mäßigend auf die anderen Mitgliedsländer einzuwirken. Dennoch entwickelten die WOGA und ihre Mitgliedstaaten sich nach und nach zu globalen Großinvestoren, von denen immer mehr Länder abhängig wurden. Auch westlichen Wohlstandsstaaten drohte ohne Kapitalimporte aus WOGA-Ländern ein wirtschaftlicher Absturz. 285 Nicht hiervon betroffen war China. Es hatte als weltweit einziger großer Ölverbraucherstaat genügend Vorsorge getroffen, um den Druck des Weltmonopols auch langfristig nicht fürchten zu müssen. Durch konsequente Energiepolitik hatte es seinen Öl- und Gasverbrauch seit den zwanziger Jahren auf ein Zehntel gesenkt. Der Stolz auf diese konsequente Energiepolitik gab dem politischen Selbstbewusstsein Chinas weiteren Schub. Die Geringschätzung für demokratische Staaten, die zu solcher Konsequenz nach wie vor nicht fähig waren, erreichte in China einen neuen Höhepunkt. Jahrhundertereignis Klimawandel Dass das 21. Jahrhundert auch ein verlorenes Jahrhundert der Bevölkerungspolitik sein könnte, darüber wurde in sechziger Jahren eine Zeitlang heftig diskutiert, nicht nur in Kreisen der Wissenschaft. Aber noch immer wurde das Thema dabei nicht von den lähmenden Tabus befreit, die seit dem 20. Jahrhundert auf ihm lasteten. In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hatte sich in einigen wenigen Ländern wie Finnland die Bevölkerungszahl spontan stabilisiert, ohne entschiedene politische Eingriffe. Ansonsten teilte die Welt sich auf in Regionen, die entweder ihr Bevölkerungswachstum oder ihren Bevölkerungsschwund nicht unter Kontrolle hatten. Dabei überwog das unkontrollierte Bevölkerungswachstum noch immer bei Weitem. Als lange Zeit erstes und einziges unter den bevölkerungsreichsten Ländern hatte China für sein demographisches Problem frühzeitig politische Lösungen gefunden, so drastisch die Mittel teilweise auch waren. China hielt damit seine Bevölkerungszahl im Durchschnitt der ersten Jahrhunderthälfte etwa konstant, ohne nennenswerte Zu- und Abwanderung. Kein großes demokratisch regiertes Land der Welt tat es ihm nach. Robert Yang kommentierte dies in einer Streitschrift so: Die Demografie sei eine weitere politische Schicksalsfrage, in der die Demokratie versagt habe. 286 Im ersten Jahrhundertquartal mehrten sich unter Bevölkerungswissenschaftlern dennoch die entwarnenden Stimmen. Sie sagten voraus, dass das Bevölkerungswachstum bald weltweit ebenso zurückgehen werde, wie es in den meisten wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten schon zurückgegangen war. Das Bevölkerungswachstum hänge hauptsächlich vom Wohlstands- und Bildungsniveau ab, und dies werde weltweit genügend steigen, um das globale Bevölkerungswachstum in der ersten Hälfte des 22. Jahrhunderts zu stoppen. Eine wirkliche Entwarnung konnte dies aber schon deswegen nicht sein, weil mit wachsendem Wohlstand auch der Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch und die Pro-KopfBelastungen für Umwelt und Klima steigen. Zudem wurde bei diesen Prognosen der Einfluss von Tradition und Kultur auf die Geburtenraten für viele Länder unterschätzt. Verharmlost wurden in den damaligen Studien auch die langfristigen Auswirkungen der niedrigen Geburtenraten in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern. Diese Länder verloren allein aufgrund des Bevölkerungsrückgangs an politischem und ökonomischem Gewicht in der Welt und damit auch an Möglichkeiten, zivilisierend auf die Weltpolitik einzuwirken. Verstärkt wurde dies noch durch die Verlängerung der Lebenserwartung und die damit verbundene Überalterung. Mit der Überalterung war in den hoch entwickelten Ländern der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung deutlich gesunken, und dies minderte in diesen Ländern natürlich Wohlstand und Wirtschaftskraft. Da ihre Familienpolitik noch immer nicht für nennenswert höhere Geburtenraten gesorgt hatte, hatten die Wohlstandsstaaten nach Ersatzlösungen suchen müssen. Der Politik war nichts anderes eingefallen, als die Überalterung mit immer mehr Zuwanderung zu entschärfen, mit dem also, was – aus guten Gründen – Überfremdung zu nennen ein politisches Tabu geblieben ist. Aber gerade die Tabuisierung des Überfremdungsthemas hatte in vielen Ländern Rechtspopulisten immer mehr Wählerstimmen zugetrieben, und sie trug weiter zur Vergiftung der 287 politischen Stimmung bei. Eine konsequent auf die Geburtenrate ausgerichtete Politik war dennoch oder gerade deswegen nicht in Sicht. Nicht anders stand es natürlich um die Klimapolitik. Bei anhaltendem Weltbevölkerungswachstum und noch schnellerem Wohlstandswachstum waren auch im 21. Jahrhundert die klimaschädlichen Immissionen weiter gewachsen, allen Mahnungen der Wissenschaft, allen politischen Lippenbekenntnissen und allen hehren Beschlüssen auf suprastaatlicher Ebene zum Trotz. 2068 fand in Neuseeland die 51. Weltklimakonferenz statt. Nachdem einige kleine Länder schon im Vorfeld mit der Forderung gescheitert waren, diese Konferenz auf dem stattfinden zu lassen, was von Kiribati, den Seychellen oder von Vanuatu noch übrig war, hatten sich schließlich Neuseeland und die Niederlande um die Ausrichtung beworben. Die Niederlande wollten der Welt vorführen, dass es innerhalb des Landes erste Anzeichen einer Klimamigration gab. Niederländische Geographen hatten auf aktualisierten Landkarten die Landesteile ausgewiesen, die in den kommenden 100 Jahren wegen wachsender Überflutungsgefahr möglicherweise aufgegeben werden müssten. In diesen Regionen hatte der Staat seine Investitionen in die Infrastruktur schon merklich reduziert, mit der Folge, dass sich schon jetzt kaum noch Neubürger dort ansiedelten. Wissenschaftliche Gutachten prognostizierten, dass bei konsequenter Fortsetzung dieser Politik, bei Reduzierung der staatlichen Infrastrukturausgaben auf das Unvermeidliche, diese Regionen sich innerhalb von drei bis vier Generationen größtenteils spontan entvölkern würden. Zwangsumsiedlungen würden nur in geringem Umfang notwendig sein. Neuseeland war von den Folgen des Klimawandels vor allem indirekt betroffen. Es wollte die Augen der Welt aber darauf richten, dass es schon fast 100 000 Klimaflüchtlinge aufgenommen hatte und dass der Zustrom weiter anschwoll. Zu diesem Thema führte Neuseeland eine geschickte Medienkampagne, und es bekam schließlich als Austragungsort der Weltklimakonferenz den Vorzug. 288 Am Charakter der Weltklimakonferenzen hatte sich in den 80 Jahren seit ihrem Beginn wenig geändert. Sie waren ein Ritual, das mehr der Beruhigung des klimapolitischen Weltgewissens diente, als dass es konkrete politische Wirkung erzielte. Man begnügte sich damit, über das Weltproblem Klima auf Weltebene in ernster Stimmung zu konferieren und dabei klimapolitische Ziele zu formulieren, aber die wenigsten Länder fühlten sich für deren Umsetzung verantwortlich. Diese Schwäche der Weltklimapolitik ersparte den Regierungen dieser Welt schmerzlichere, also unpopulärere Maßnahmen, und viele von ihnen konnten die Erleichterung hierüber kaum verbergen. Wissenschaftler mehrerer Länder hatten in den fünfziger Jahren akribisch nachgewiesen, dass die bisherigen Beschlüsse von Weltklimakonferenzen den Klimawandel nur marginal beeinflusst hatten. Soweit klimaschädliche Immissionen hinter früheren Prognosen zurückgeblieben seien, sei dies fast vollständig mit technischen Innovationen und spontanen Reaktionen der Märkte zu erklären. Im Vorfeld der Klimakonferenz von Auckland waren die Erwartungen dennoch höher als bei fast allen vorangegangenen. Die Weltöffentlichkeit war von einer Studie aufgeschreckt worden, die nachwies, dass die Erde für Menschen gänzlich unbewohnbar würde, wenn alle fossilen Energieträger vollständig oder auch nur größtenteils verbrannt würden. Diese Studie war alles andere als eine Neuigkeit, aber sie war zum ersten Mal so präsentiert worden, dass sie spontane Massenwirkung erzielte. Ähnlich hohes Aufsehen erregte eine weltweit koordinierte Initiative von Entwicklungsländern, die von den großen Klimaschädigernationen dieser Welt, von den großen Wohlstandsnationen also, präzise bezifferten Schadensersatz verlangten. Die Erdatmosphäre, so wurde argumentiert, sei allen Ländern und allen Menschen der Welt gleichermaßen zu eigen. Daher müsse die Aufnahmekapazität der Erdatmosphäre für klimaschädigende Immissionen gleichmäßig auf die Menschen dieser Welt verteilt werden. Die meisten Wohlstandsnationen hätten ihren Anteil hieran aber nicht nur aufgebraucht, sie hätten ihn schon weit überzogen. Dies 289 verwehre es den weniger entwickelten Nationen, jemals mit vergleichbarer Leichtigkeit Wachstum und Wohlstand zu erlangen wie die derzeitigen Wohlstandsnationen. Dabei beriefen einige sich ausdrücklich auf Yangs Forderung, die fossilen Energieträger als kollektives Menschheitserbe zu behandeln. Aus dieser prinzipiell schlüssigen Argumentation wurden Entschädigungsansprüche hergeleitet, deren Erfüllung die Wohlstandsentwicklung der meisten reichen Länder fast um ein Jahrhundert zurückgeworfen hätte. Vor der Auckland-Konferenz wurde in der Weltöffentlichkeit aber schon darüber spekuliert, wie lange die alten Wohlstandsnationen sich diesen Ansprüchen der übrigen Welt noch würden entziehen können. Angefeuert wurden diese Spekulationen durch Gerüchte, dass China sich hierbei auf die Seite der Entwicklungsländer schlagen und für deren Ansprüche streiten werde, notfalls mit Wirtschaftssanktionen oder Schlimmerem. So entstand im Vorfeld der Auckland-Konferenz eine nervöse Atmosphäre, die natürlich von den Medien verstärkt wurde. Viele Fernsehmoderatoren befragten Politiker, warum sie in Klimafragen so lange untätig gewesen waren und wie sie mit der moralischen Schuld in dieser Frage umgingen. Weltweit bekannt wurde ein Vorfall in Italien – wo die Medien mittlerweile so unverblümt wie nirgendwo sonst die Inkompetenz ihrer politischen Klasse ausweideten – mit dem amtierenden Ministerpräsidenten, der seiner Interviewerin auf eben diese Frage die flapsige Antwort gab: – Das müssen Sie mich nicht fragen, ich bin erst seit zwei Jahren im Amt. Der weitere Wortwechsel hielt sich monatelang in den Charts von Youtube: – Sie, Herr Borelli, sind 65 Jahre alt, sie sind seit 45 Jahren Parteimitglied und seit 13 Jahren Parteivorsitzender oder stellvertretender Parteivorsitzender. Sie waren dreimal Minister, das erste Mal vor zehn Jahren, davon eineinhalb Jahre Umweltminister. Sie müssen also alles gewusst haben. Aber Sie haben in der Partei und in der Regierung nie kritische Fragen zum Klimawandel gestellt, nie eine 290 Initiative dazu ergriffen, das haben wir recherchiert. Wie können sie da noch guten Gewissens das Land regieren? Borelli machte eine ausholende Handbewegung, versuchte vergeblich ein herablassendes Lächeln, dann bellte er los: – Und Sie? Sie machen diesen Job auch schon zehn Jahre. Haben Sie denn zum Klimawandel kritische Fragen gestellt? – Das ist nicht meine Aufgabe, antwortete sie mit provozierender Gelassenheit. Politisch verantwortlich sind Sie. – Was, glauben Sie denn, hätte ich tun sollen? Öffentlich Italien zum gewissenlosen Klimasünder erklären? Den Wählern sagen: Ihr müsst euch heute einschränken, damit eure Nachkommen in 50 oder 100 Jahren nicht zurückstecken müssen? Sie und ihre Kollegen hätten mich doch zum Gespött der Nation gemacht. – Trotzdem hätten Sie es tun sollen. Und Sie können es immer noch tun. Jetzt zum Beispiel. – Ausgerechnet Sie wollen mir das vorschreiben? – Wenn Sie sich ihrer moralischen Verantwortung nicht stellen, dann sollten Sie die politische Verantwortung abgeben. Borelli verlor vollends die Fassung. – Sie fordern mich also zum Rücktritt auf?, schrie er. Dann gehen Sie doch erstmal mit gutem Beispiel voran. – Aber gern. Weil ich Fragen, die ich in dieser Sendung hätte stellen sollen, nicht gestellt habe, erkläre ich hiermit meinen Rücktritt. Und dann mit bohrendem Blick: – Nun Sie. Borelli sah sie einen Moment fassungslos an, schnappte nach Luft, dann sagte er hastig: 291 – Über Ihren Rücktritt wird sich ganz Italien freuen. Ich habe die Mehrheit der Wähler hinter mir. Die Interviewerin schwieg, aber sie hüllte ihr Schweigen in ein souveränes herablassendes Lächeln, das die Kameras – im Wechsel mit Borellis hilflosen Gesten der Empörung – minutenlag auskosteten. Dies war natürlich ein journalistischer Coup. Nicht nur, weil hier ein führender Politiker so gekonnt vorgeführt wurde. Es war auch ein Coup der klimapolitischen Bewusstseinsbildung. In den Vereinigten Staaten geschah kurz danach Ähnliches. Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten galt in Klimaschutzfragen als unvoreingenommen, aber in der Öffentlichkeit hatte er sich nie ganz festgelegt. In einem Hintergrundgespräch mit Journalisten ließ er seinen Gedanken dann etwas freieren Lauf: Auch die Ölvorkommen der Vereinigten Staaten gingen rapide zur Neige, auch für Amerikaner werde die Zeit billigen Benzins und billiger Energie bald vorbei sein. Der bisherige amerikanische Lebensstil werde dann unbezahlbar werden. Die Amerikaner müssten räumlich enger zusammenrücken, sagte er dann, sie müssten ein Land der kurzen Wege werden, ihre Siedlungen und Häuser müssten kompakter werden, und das sei längst nicht alles. "Und um all das zu ermöglichen, sagte er, "werden wir unserem Staat viel mehr Geld geben müssen, als wir es bisher tun." Ob es ein Versehen oder eine gezielte Indiskretion war, dass eine Bild- und Tonaufnahme hiervon an die Öffentlichkeit gelangte, wurde nie geklärt, aber schon die Spekulationen hierüber heizten die Erregung weiter an. Die Mehrheit der Bürger war, befeuert von einflussreichen Medien, empört. Der Kandidat zog sich schließlich aus dem Rennen um die Präsidentschaft zurück. Viele engagierte Klimaschützer waren hierüber bestürzt. Robert Yang sah sich nur bestätigt. 292 Die Auckland-Konferenz glich den meisten vorherigen Weltklimakonferenzen in gleichgültiger Routine, und von dieser Routine waren mittlerweile auch die zahllosen zivilgesellschaftlichen Protestinitiativen angesteckt, die diese Konferenzen schon lange begleiteten. Die einzige große Ausnahme hiervon war Yangs Global Upgrade. Sie präsentierte sich bei der Auckland-Konferenz selbstbewusster denn je, und sie stieß auf größere Resonanz denn je. In Auckland verkündete Yang keine neue Botschaft, es war die gleiche wie vorher. Er protestierte nicht gegen die Konferenzteilnehmer und deren Untätigkeit, er protestierte gegen niemanden, er propagierte nur weiter seine besondere Art von Protest. Schon im Vorfeld der Konferenz appellierte er wieder an die zivilgesellschaftlichen Initiativen, von der Klimakonferenz nichts Konkretes zu erwarten und von ihren Teilnehmern nichts Konkretes zu fordern. Wenn er überhaupt eine Botschaft an die Teilnehmerstaaten hatte, dann hieß sie: Ihr hört uns nicht zu, also reden wir nicht mit euch. Ihr alle seid Vertreter von Regierungen, die das Problem nicht verstehen wollen oder können, egal, aus welchen Parteien ihr kommt. Ihre alle seid Vertreter politischer Systeme, die Klimapolitik in die Hände klimapolitischer Dilettanten legen. Wir machen euch deswegen keinen Vorwurf. Ihr arbeitet in Systemen, die dem Problem nicht gewachsen sind, fachlich nicht, moralisch nicht und politisch nicht. Nicht ihr persönlich führt die Welt klimapolitisch an den Abgrund, die politischen Systeme tun es, auch die demokratischen. Und an die zivilgesellschaftlichen Initiativen richtete er wieder die Botschaft: Konzentriert euch auf den politischen Systemwandel. Yang war klar, dass er mit solchen Forderungen die Geduld zivilgesellschaftlich engagierter Bürger strapazierte. Auch denen fiel es verständlicherweise schwer, auf persönliche Feindbilder zu verzichten, und die allerwenigsten waren daher bereit, die Ursache des klimapolitischen Versagens auch im System der Demokratie zu sehen. Aber Yang hatte auch Konkreteres zu bieten. In Auckland propagierte er zum ersten Mal seine Idee einer virtuellen Weltklimaregierung. Dieses Gremium sollte klimapolitische Entscheidungen simulieren, wie sie sich aus wissenschaftlichem 293 Sachverstand und globaler Verantwortungsethik ergäben. Danach, so Yang, müsse dann nach einer optimierten Staats- und Staatenordnung gesucht werden, die solche oder ähnliche Entscheidungen auch in realer Politik hervorbrächte. Am wissenschaftlichen Sachverstand fehle es in der Klimafrage ja nicht und auch nicht an moralischer Einsichtsfähigkeit. Woran es fehle, sei die richtige Staats- und Staatenordnung. Noch nicht hierfür, aber für die Organisationsform einer virtuellen Weltklimaregierung macht Yang schon einige konkrete Vorschläge. Deren Mitglieder sollten möglichst unabhängige Experten sein, die auf ihrem Gebiet nie für politische Auftraggeber gearbeitet hatten und es auch in Zukunft nicht zu tun versprachen, und sie sollten für lange Amtszeiten bestellt werden. Zudem sollten sie – um ihre politische Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit zu gewährleisten – finanziell unabhängig sein. Die Mittel dafür stünden bereit. Aber solche spröde und abstrakt wirkenden Vorschläge machte einer wie Yang natürlich nicht, ohne sie publikumswirksam zu verpacken. Er verband sie mit der These, dass kein Staat und keine Organisation je klimapolitisch so viel Gutes bewirkt habe wie die verhasste Weltmonopolagentur für Öl und Gas, die WOGA. Man müsse sich daher wünschen, erklärte Yang, dass eine virtuelle Weltklimaregierung eng mit der WOGA zusammenarbeite, und dies umso mehr, als die Exporteure von Kohle sich der WOGA inzwischen angeschlossen hatten. Vorerst könne nun einmal nichts und niemand auf der Welt die großen Klimasünderstaaten so wirkungsvoll von ihrem unverantwortlichen Tun abbringen wie die WOGA. Schon die Androhung eines Öl-, Gas- und Kohleembargos würde Großes bewirken. Aber natürlich wollte Yang das Klimaschicksal dieser Welt nicht in die Hände einer eigennützigen Weltmonopolagentur gelegt sehen. Das Projekt der Weltklimaregierung war nicht weniger existenziell, weil es eine WOGA gab. Für Yang war und blieb es – neben dem Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit – das vorrangige politische Projekt seiner Zeit. 294 Yang war sich drüber im Klaren, dass ein solches Projekt nur gelingen könnte, wenn es sehr geduldig vorbereitet würde. Er schätzte die Vorbereitungszeit auf etwa acht Jahre. 2076, schlug er vor, könne eine solche virtuelle Weltklimaregierung vor die Weltöffentlichkeit treten. Deren Vorschläge würde die bisherige Weltklimapolitik dann endlich als das erscheinen lassen, was sie immer gewesen sei: organisierte politische Unverantwortlichkeit. 2076 erschien noch weit hin, aber Yangs Ankündigung weckte zumindest große Neugier. Global Upgrade wurde danach zu der von den Medien weltweit am meisten beachteten zivilgesellschaftlichen Bewegung. Kalter und heißer Cyberkrieg Dass der SPIEGEL Konzernbetrieb geworden war, hat ihm nicht nur geschadet. Dem SPIEGEL war u.a. die Konzernabteilung Cyber Security zu Diensten, und deren Spezialisten erneuerten die Cyberabwehr des SPIEGEL von Grund auf. Zu Schulungszwecken bereiteten sie auch Altfälle auf, vor allem natürlich den damaligen großen Hackerangriff auf unser Archiv. Dabei kam heraus, dass die Hacker damals mit größter Wahrscheinlichkeit Insiderinformationen aus dem Verlag gehabt hatten. Danach wurden alle Führungskräfte, auch ich als Archivleiter, befragt, ob sie einen Verdacht hätten. Alle verneinten. Aber einen leisen Verdacht hatte ich doch. Klaus, den Computernerd, hatte ich einige Male beiläufig über Datensicherheit und Hackerabwehr sprechen hören. Und später, nach seinem Ausscheiden, erfuhr ich, dass er Mitglied im einem neu gegründeten Kaos Komputer Klub war. Die Hacker-Szene kannte er also. Aber war es vorstellbar, dass ausgerechnet unser Klaus, der sympathische Hofnarr des Archivs, uns so hintergangen hat? Dass er als Narr in Wahrheit doch ein Böser war? Ein Kauz war er schon, aber ein Komplize krimineller Hacker? Ich wehrte mich mit aller Kraft dagegen, diesen Gedanken weiterzudenken. Andererseits, überlegte ich dann: Haben die Hacker uns mir ihrer Attacke überhaupt 295 geschadet? Nein, sagte ich mir, das haben sie eigentlich nicht. Sie haben die Augen der Welt für einen Moment auf den SPIEGEL gelenkt, sie haben uns aufgerüttelt, und sie haben uns für unsere eigene Angreifbarkeit sensibilisiert. Der SPIEGEL war danach weltweit noch bekannter, und wir waren am Ende besser geschützt, als wir es ohne den Angriff gewesen wären. Selbst wenn also Klaus in die Sache verwickelt war – konnte man ihm überhaupt einen Vorwurf machen? Mir ging der Vorfall natürlich nie ganz aus dem Sinn, und ich stellte auch immer wieder Vermutungen zu den Tätern an. Am Ende schien mir fast gewiss: Täter, Mittäter oder Auftraggeber war ein Geheimdienst. Niemand sonst hatte ein so klares Motiv, ein so selbstverständliches Interesse an unseren brisanten Archivinformationen. Es konnte der BND gewesen sein, der BND zusammen mit einem ausländischen Dienst wie der NSA oder dem GCHQ, ein russischer Geheimdienst oder ein chinesischer, unter anderen. Aber Klaus als Helfer eines Geheimdienstes? Oder irgendein anderer Kollege? Ich mochte es mir nicht vorstellen. Dass in einer digital bald lückenlos vernetzten Welt den Geheimdiensten eine immer unheimlichere Macht zuwuchs, das war natürlich längst nichts Neues und nichts Besonderes mehr. Das hatte auch ich inzwischen als Teil einer Entwicklung hingenommen, die dennoch niemand würde rückgängig machen wollen. Niemand wäre darauf gekommen, den Bürgern, dem Staat und der Wirtschaft ihre Internetverbindung zu nehmen, nur um der digitalen Angreifbarkeit ein Ende zu machen. Aber unheimlich blieb es doch. Ich fragte mich, ob, wenn nichts getan würde, dieses Problem immer schlimmer und immer schwerer lösbar würde, ähnlich wie beim Klimaproblem. Aber erst nach Jahren wurde mir klar, dass es hier tatsächlich einen engen Zusammenhang mit Yangs Ideen zur Klimaschutzpolitik gab. Yang hatte sich gefragt, ob der Klimaschutz bei den Regierungen dieser Welt in den richtigen Händen liege. Die Erfahrung hatte ihm gezeigt: Nein, das tut er nicht. Dann hatte er überlegt, wem sonst der Klimaschutz überantwortet werden sollte. Eine 296 solche Institution, so sah er es, gab es nicht. Also müssten solche Institutionen erst geschaffen werden. Erst virtuell, dann real. Auf nationaler Ebene und auf globaler. Ist es nicht, dachte ich, bei Cyber-Sicherheit und digitalem Datenschutz ähnlich? Regierung und Staat sollen auf diesem Gebiet alles Notwendige für uns tun, das wir aus eigener Kraft nicht können. Aber sind Staat und Regierung hierin wirklich kompetent? Und verfolgen sie hierin wirklich unsere Interessen? Wenn Regierungen beim Klimaschutz versagen, können wir von ihnen dann bei der Cybersicherheit Besseres erwarten? Könnte nicht beiden Problemen gemein sein, dass unsere jahrhundertealten staatlichen Strukturen – auch und vielleicht besonders die demokratischen – damit überfordert sind? Und machen wir in Sachen Cybersicherheit und Datenschutz nicht sogar den Bock zum Gärtner, wenn wir diese Aufgabe in die Hände unserer Regierungen legen? Hat nicht der Staat, wie er ist, sogar ein naheliegendes Interesse daran, seine Cybermacht zu missbrauchen? Müssen wir nicht hiervor am allermeisten auf der Hut sein? Die viel zu späte Verleihung des Friedensnobelpreises an den schon todkranken Edward Snowden sollte uns das in Erinnerung gerufen haben. Wir wollen immer noch eine Welt, in der alles mit allem vernetzt ist und in der digitale Informationen für uns immer leichter verfügbar sind. So vernetzt zu sein ist für uns fast ein Grundbedürfnis geworden, aber dieses kollidiert mit anderen Grundbedürfnissen wie dem nach Sicherheit, nach Privatheit und nach Intimität und mit dem Schutz geistigen Eigentums. Wenn die Vernetzung weiter zunimmt, nehmen auch die Verletzlichkeiten zu. Worum es hierbei für uns geht, das verstehen auch Laien wie ich, aber viel mehr verstehen wir Laien davon nicht. Uns – oder zumindest Älteren wie mir - fehlen immer noch die Worte und Begriffe, um über Cybersicherheit treffend reden zu können. Wir können unser Vorstellungsvermögen dafür nur mit Vergleichen stärken. Mir hilft es noch immer, über Cybersicherheit in den gleichen Begriffen und Bildern zu denken wie über äußere und innere Sicherheit im alten Sinne, mit Begriffen also 297 wie Polizei und Streitkräfte. Ich stelle mir also vor, dass wir eine Cyberpolizei und Cyberstreitkräfte brauchen. Cyberpolizei zum Schutz vor inländischen Cyberangriffen, Cyberstreitkräfte zum Schutz vor Angriffen aus anderen Ländern. Jüngere mögen ihre eigenen Begriffe dafür finden, aber für mich versuche ich es erst einmal mit diesen. In Yangs Sinne müssten wir uns demnach fragen: Wer sollte für eine Cyberpolizei und Cyberstreitkäfte verantwortlich sein? Wer sollte deren politische Führung haben? Wer sollte die dafür notwendigen Gesetze und Verordnungen schaffen? Dieselben Politiker etwa, dieselbe politische Klasse, dieselben Geschöpfe unserer Parteien, mit denen wir es in der Politik sonst zu tun haben? Lässt sich dauerhafte verlässliche Cybersicherheit wirklich in unseren alten staatlichen Strukturen schaffen, z.B. mit neuen Abteilungen in alten Ministerien? Der Einwand von Yang wäre: Fast überall auf der Welt gibt es für Klimaschutz zuständige Behörden, aber geholfen hat es wenig, und nicht anders wird es bei Problemen wie der Cybersicherheit sein. Der andere, nicht weniger wichtige Einwand wäre: Dann würden uns Institution schützen, vor deren Macht wir möglicherweise selbst immer dringender Schutz brauchen. Die zwingende Schlussfolgerung aus beidem ist: Auch für Cybersicherheit sollte eine eigenständige politische Zuständigkeit neu geschaffen werden. "Vielleicht so unabhängig wie eine Zentralbank?", war Constanzes spontaner Kommentar, als ich ihr diesen Gedanken zum ersten Mal vortrug. So kompliziert hatte ich noch nicht gedacht, aber Constanze hatte natürlich Recht. Aber auch dieser Gedanke wurde umso komplizierter, je länger ich mich damit befasste. Was würden z.B. kleinere Nationen tun, die für eigene Cyberstreitkräfte nicht genug Geld und nicht genug Wissen hätten? Sie müssten natürlich mit anderen Nationen gemeinsame Cyberstreitkräfte einrichten. Dann aber würde sich, so beschrieb Constanze es später, in Sachen Cybersicherheit eine eigene politische Landkarte formen. Dass dies eine Landkarte des gegenseitigen politischen 298 Vertrauens sein würde, diesen Gedanken Constanzes habe ich nicht sofort verstanden, aber heute versteht ihn wohl fast jeder. Eines aber war mir umso klarer: Für verlässlichen Datenschutz ist unsere Demokratie so wenig gemacht wie für verlässlichen Klimaschutz. Das waren natürlich brisante Gedanken, viel brisantere sogar, als ich es damals ahnte. Erst Jahre später erfuhr ich, dass ähnliche Vorschläge seit Längerem zum politischen Programm der Tagmakraten gehörten. Und fast zur gleichen Zeit kam heraus: Keine politische Organisation in Deutschland, die Muslimisch Soziale Union ausgenommen, wurde von deutschen Geheimdiensten so gründlich überwacht wie die Tagmakraten. Einen besseren Beweis für die Brisanz dieser Gedanken hätte es nicht geben können. Mit Milliardären aus der Systemkrise? Die Auckland-Konferenz stand im Schatten noch brisanterer Ereignisse. In Ägypten wurde erneut ein Aufstand von der Militärdiktatur blutig niedergeschlagen, der junge islamische Staat, der sich im Zentrum Nordafrikas gebildet hatte, zerfiel nach jahrlangem blutigem Bürgerkrieg, die Euro-Zone bröckelte an ihren südlichen Rändern weiter ab, und in Amerika zerfiel endgültig das alte Parteiensystem. Nach den Republikanern spalteten sich nun auch die Demokraten in zwei eigenständige, etwa gleich starke Parteien auf. Die Auflösung der Demokraten folgte auf einen Akt politischer Aufklärung. In den sozialen Medien zirkulierte ein Dokumentarfilm über den Bildungs- und Bewusstseinsstand amerikanischer Parlamentarier. Mindestens die Hälfte von ihnen hing mehr oder weniger offen Überzeugungen an, die bei aufgeklärten Bürgern schon im letzten Jahrhundert als rückständig gegolten hatten. Viele waren z.B. noch immer gegen konsequenten Klimaschutz, für die Todesstrafe, gegen Beschränkungen des privaten Waffenbesitzes oder gegen die Evolutionstheorie im Schulunterricht. Mindestens die Hälfte der Kongressmitglieder, so wurde es im Film kommentiert, 299 vertrete also Meinungen, die sie in vielen zivilisierten Ländern für jedes politische Mandat disqualifizieren würden. Vielleicht war es der aggressive Tonfall des Films, vielleicht aber erst die große Resonanz hierauf, die zu einer breiten Solidarisierung mit den angegriffenen Parlamentariern führte. In den Medien, von den Parteien und auch vom Präsidenten wurde der Film als heimtückische Verunglimpfung unbescholtener Politiker verurteilt. In der demokratischen Partei gab es aber auch viel Zustimmung, besonders von Parlamentariern, die sich vor weiterem Ansehensverlust bei aufgeklärteren Bürgern bewahren wollten. Die unvermeidliche Folge waren erbitterte und zunehmend unversöhnliche innerparteiliche Auseinandersetzungen. Schließlich spaltete sich eine große Gruppe demokratischer Parlamentarier ab und gründete eine eigene Partei. Ihr Name: Die Neuen Demokraten. Schon in ersten darauffolgenden Umfragen lagen die Neuen Demokraten mit den alten fast gleichauf. Die Neuen Demokraten gewannen rasch potente Förderer, auch liberal gesinnte Superreiche und viele vermögende Familien mit asiatischem Hintergrund. Es gab nun in Amerika vier annähernd gleich starke Parteien, alte und neue Republikaner und alte und neue Demokraten, von denen jede ihre eigenen regionalen Wählerhochburgen hatte. Amerika driftete damit nicht nur im politischen Bewusstsein weiter auseinander, es begann auch eine neue Entfremdung zwischen Regionen. In Deutschland war in dieser Zeit die Muslimisch Soziale Union in den Schlagzeilen. Sie hatte bei der letzten Wahl viele nichtmuslimische Protestwähler gewonnen und so ihr Wahlergebnis nochmals gesteigert. Bei den etablierten Parteien herrschte darüber noch immer stummes Entsetzen. Trotzdem machten SPD und Grüne noch einmal einen Versuch, mit der MSU Koalitionsverhandlungen zu führen. Für SPD und Grüne begannen die Verhandlungen vielversprechend, aber dann brach in der MSU ein heftiger innerparteilicher Machtkampf aus. Der stellvertretende Vorsitzende, ein begnadeter Demagoge und Fundamentalist, warf die Frage auf, was 300 die Partei eigentlich im Parlament noch wolle. Dort habe sie noch nie etwas bewirkt, rief er den Delegierten des nächsten Parteitages zu, dort habe man ihr nie ernsthaft zugehört und dort werde man ihr auch nie zuhören. Verschwendet eure Energien nicht in Parlamentsarbeit und Wahlkämpfen, rief er, kämpft für euren Glauben in der Mitte der Gesellschaft. Innerhalb weniger Monate scharten sich mehr als ein Drittel der Mitglieder hinter dem stellvertretenden Vorsitzenden. Sie gründeten innerhalb der MSU die außerparlamentarische muslimische Plattform. Dies weckte bei den anderen Parteien, bei den Bürgern und in den Medien natürlich erst recht Ängste. Viele Bürger hatten das Bild einer muslimischen außerparlamentarischen Opposition vor Augen, die ähnliche Schrecken verbreiten würde wie im vorigen Jahrhundert die so genannte Rote Armee Fraktion. Die Mehrheit dachte: So kann es nicht weitergehen. Aber zugleich: Niemand tut etwas dagegen. In dieser unruhigen Weltlage für ein so anspruchsvolles Projekt wie die virtuelle Weltklimaregierung breite Aufmerksamkeit zu gewinnen, das konnte eigentlich nur aussichtslos erscheinen. Umso bemerkenswerter, dass Robert Yang genau dies eine Zeitlang gelang. Yang hatte jetzt 17 Jahre aufreibender politischer Aktionsarbeit mit vielen Enttäuschungen hinter sich. Am Sinn dieser Arbeit hatte er nie gezweifelt, aber zunehmend doch am Erfolg, gerade in den Jahren vor Auckland. Der AucklandAuftritt gab ihm dann neue Zuversicht. Ohne die Erfahrung der letzten 17 Jahre, sagte er noch während der Konferenz, ohne die Erfahrung, wie wenig er in dieser Zeit letztlich erreicht habe, stünde er hier auf verlorenem Posten, aber jetzt sei er sich seiner Sache sicherer denn je. Man werde Wichtiges bewirken, aber das wichtigste Mittel dazu werde nicht lauter Protest sein. Mehr als zehn Jahre war Yang in der Welt herumgereist, um Mitstreiter und Sympathisanten zu gewinnen, Organisationsstrukturen zu schaffen und Kontakte zu Sponsoren aufzubauen. Immer hatte dabei das Organisieren und Koordinieren von 301 Protestaktionen im Mittelpunkt gestanden. Sich aber darin so viele Jahre erschöpft zu haben, erklärte er später einmal, sei sein großer Fehler gewesen. Mit seinen Themenwechseln der voraufgegangenen Jahre hatte Yang viele Sympathisanten, Mitstreiter und Förderer irritiert. Die meisten wollten ihn weiterhin als den großen Umwelt- und Klimaschutzaktivisten sehen und als nichts anderes. Dass für ihn das Thema Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit ebenso wichtig geworden war, wollten die meisten nicht wirklich wissen, und auch nicht, dass er mehr denn je an der herkömmlichen Demokratie zweifelte. Dies schwächte Yangs Bewegung über Jahre. Viele Anhänger von World Upgrade sympathisierten zwar mit der einen oder anderen Unabhängigkeitsbewegung, aber umso entschiedener verurteilten sie alle anderen. Den meisten war noch jeglicher Separatismus suspekt, und vielen auch immer noch jegliche Demokratieskepsis. Nicht anders war es bei den Geldgebern. In seinen Präsentationen für die Reichen und Superreichen war Yang mit kontroversen Themen immer sehr bedächtig umgegangen, und so hatte er zahlreiche potente Spender bei Laune gehalten. Word Upgrade schwamm in Geld und in Geldzusagen. Zu Puigs Millionen waren zuerst die vielen Millionen hinzugekommen, die Halsdorf bei den Samwer-Brüdern und einem halben Dutzend anderen deutschen, schwedischen und niederländischen Superreichen akquirierte. Aber bald war Yang in den USA und Kanada im Fund Raising ebenso erfolgreich. Eine Zeitlang drängten neue Superreiche World Upgrade das Geld geradezu auf. Aber was sollte er mit dem vielen Geld anstellen? Der Aufbau seiner Bewegung stockte, die globalen Protestaktionen zum Klima- und Umweltschutz ließen sich kaum noch sinnvoll steigern, und die Themen Demokratiekritik und politische Selbstbestimmung konnten nur behutsam in Stellung gebracht werden. Irgendwann wurde Yang klar, dass er seine Bewegung vorerst nicht weiter ausweiten durfte. Nun konzentrierte er sich erst einmal auf Grundsatzfragen. Wie passten seine zwei großen Themen eigentlich zusammen? Was hatten sie gemeinsam? Und würden sie je unter dem Dach einer einzigen großen Bewegung zusammenfinden können? 302 Dass mit der Demokratie etwas Grundlegendes falsch sei, dafür war das Versagen im Klimaschutz ihm schon ein sicheres Indiz gewesen. Den endgültigen Beweis lieferte ihm das Versagen der Demokratie in der Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit – und damit die Verstrickung der Demokratie in den schleichenden Dritten Weltkrieg. Aber was verband diese beiden Probleme? Gab es den einen Schalter, der umgelegt werden müsste, um beide lösbar zu machen? Scheinbar nicht. Aber beide Probleme, das immerhin wusste Yang, hatten ihre Ursachen im politischen System, und bei beiden ging es daher um Verfassungsfragen. Das war eine wichtige Gemeinsamkeit, aber es war anscheinend die einzige. Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit bedeutet: Die Bürger können direkt entscheiden, wer mit wem einen gemeinsamen Staat unterhält. Der Fehler im bestehenden System ist hier offensichtlich ein Zuwenig an Bürgerbeteiligung. Ganz anders in der Klimafrage. Hier liegt die Problemlösung nicht in der Bürgerbeteiligung. Hier würde es nicht helfen, die Bürger direkt darüber abstimmen zu lassen, wie schnell, wie weit und womit klimaschädliche Immissionen reduziert werden sollten. Hier liegt der Fehler in mangelnder Kompetenz und Verantwortlichkeit der Entscheidungsorgane. Hier legt die Demokratie die Entscheidungen in die Hände kurzfristig denkender Allround-Politiker statt langfristig denkender, verantwortungsvoller Spezialisten. Die Demokratiekritik, folgerte Yang, würde daher zwei ganz verschiedene Ansätze gleichzeitig verfolgen müssen: Im Einen mehr Entscheidungsfreiheit für Bürger, im Anderen mehr Entscheidungskompetenz für langfristig beauftragte Experten. Vom alten, aber immer noch energischen Puig hatte Yang sich überreden lassen, sich eine Zeitlang hauptsächlich auf das Thema Bürgerentscheidungen zu konzentrieren. Die beiden waren sich einig, dass politische Unabhängigkeitsbewegungen umso erfolgreicher wären, je genauer sie den Bürgerwillen repräsentierten. Dafür aber müssten sie erst einmal den Bürgerwillen möglichst genau ermitteln, und das würde natürlich am zuverlässigsten mit Referenden gelingen. Puigs Schlussfolgerung: 303 Unabhängigkeitsbewegungen dürften es sich nicht mehr gefallen lassen, dass Referenden vom Staat organisiert werden müssen. Wie solche Referenden ohne Zutun des Staates gelingen könnten, wisse auch er noch nicht, aber unmöglich könne es doch nicht sein. Dann kam das Argument, das für Yang das entscheidende war: Wenn Unabhängigkeitsbewegungen jederzeit eigene Referenden durchführen könnten, dann müssten die Staatsbürger dieser Welt ihre Staatszugehörigkeit weniger denn je noch als Schicksal hinnehmen, und dann könnten viele neue Unabhängigkeitsbewegungen entstehen. Es würden Bewegungen mit vielen verschiedenen Zielsetzungen sein, und allesamt würden sie friedlich sein. Dann würde der bis dahin über ein dreiviertel Jahrhundert andauernde schleichende Dritte Weltkrieg endlich zum Ende kommen, und wichtiger noch: Dann würde es solche Kriege nie mehr geben. Nicht, wenn die Staatengemeinschaft die Referenden zur Staatszugehörigkeit anerkennte. Dies war der Impuls, der bei Yang noch mehr Energien in Sachen Unabhängigkeitsreferenden wachsen ließ. Jetzt war ihm klar, dass das Projekt der Online-Referenden, für das Puig schon seine ersten Millionen bereitgestellt hatte, dringend einen neuen Schub brauchte. Yang zog sich monatelang von allen Aktivitäten zurück, um eine neue Vorstudie zu diesem Projekt zu erarbeiten. Dann schickte er sie seinem Studienfreund Prabas in Bangalore. Die Antwort kam postwendend. Natürlich, schrieb Prabas, sei er bei diesem spannenden Projekt weiter dabei. Auch er habe die Schwierigkeiten des Projekts lange unterschätzt, aber unlösbar seien sie nicht. Dass seine erste Kostenschätzung nicht zu halten sei, dass wisse Yang ja schon, aber er werde rasch eine neue erstellen. Überschlägig schätze er die Entwicklungszeit jetzt auf drei bis vier Jahre. Er melde sich bald wieder. Welcher Glücksfall Prabas für dieses Projekt war, das erkannte Yang, als die nächste Mail kam: 304 Lieber Robert, deine neuen Gedanken zur Referendumssoftware gefallen mir immer besser. Das Projekt könnte auch für Indien einmal wichtig werden. Indien hat ja seine eigenen Katalanen, seine Basken, seine Korsen, seine Flamen usw. Ich selbst zähle mich dazu. Wahrscheinlich hast du keine Vorstellung davon, wie viele Inder sich für solche Referenden später einmal interessieren könnten. Nicht viel weniger, als Westeuropa Einwohner hat. Aus solchen Referenden könnte also eines Tages eine neue Landkarte des indischen Subkontinents hervorgehen. Und das – das ist das Faszinierende daran – ganz friedlich. Ich bin also mit großer Begeisterung dabei. Für euch, aber auch für Indien. Darunter als PS: Solche Ideen werden natürlich in westlichen Ländern eher umsetzbar sein als bei uns. Aber das muss nicht so bleiben. Das Referendumskonzept war eines jener bedeutenden Vorhaben, die vielleicht nie gestartet worden wären, wenn ihre Initiatoren Schwierigkeiten, Kosten und Zeitaufwand im Vorhinein auch nur annähernd erahnt hätten. Nach vier Jahren Entwicklungszeit waren zwanzig Millionen Dollar verbraucht, zehn davon Puigs, die anderen zehn, wie Yang später offenbarte, von einem amerikanischen Spender, der nicht einmal genau wusste, worum es ging. Nach fünf Jahren wurde eine Testversion in einem ersten Großversuch eingesetzt. Nicht in Katalonien, sondern in Estland. Bis dahin hatte man fast überall auf der Welt geglaubt, Onlinereferenden könnten nicht viel anderes sein als herkömmliche Meinungsumfragen. Auch ein kleines Team der SPIEGEL-Redaktion hatte sich irgendwann damit befasst und war zum gleichen Ergebnis gekommen. Heute ist klar, dass Online-Referenden mit Prabras' Software Ergebnisse liefern, die den Ergebnissen herkömmlicher Wahlen in Zuverlässigkeit nicht nachstehen. Sie sind damit zur denkbar stärksten Waffe von Unabhängigkeitsbewegungen, aber auch von anderen großen zivilgesellschaftlichen Bewegungen geworden. 305 Der Test der Referendumssoftware in Estland war ein Erfolg. Er sollte wirklich nicht mehr sein als ein gründlicher Funktionstest, aber er machte dort immerhin den Weg frei für neue Überlegungen zum Status der russischen Minderheit. Der alte Puig drängte danach natürlich auf ein Referendum in Katalonien, aber die meisten Katalanen waren in der Unabhängigkeitsfrage mittlerweile zermürbt. Die Hoffnungen, der spanische Staat werde doch noch den Weg für ein legales Referendum öffnen, war nach jahrzehntelangen fruchtlosen Anläufen geschwunden. Ende der fünfziger Jahre spielte das Unabhängigkeitsthema in Katalonien keine herausragende Rolle mehr. Eine neue Idee, wie sich Prabras' Konzept doch auch in Katalonien einsetzen ließe, kam dann einem jungen katalanischen Freund Puigs Anfang der sechziger Jahre. Seine Name war Alex Vidal. Vidal schlug vor, in Sachen Unabhängigkeit an der Monarchiefrage anzusetzen. Im Sommer 2060 hatte eine unbedachte Bemerkung des schon leicht dementen Königs Felipe das Thema Monarchie in Katalonien neu aufleben lassen. Er habe immer der König aller Bürger Spaniens sein wollen, hatte Felipe gesagt, sogar der Katalanen. Für die Katalanen war dieses Sogar natürlich ein Affront. Das Verhältnis zwischen Katalanen und Felipe war schon lange gespannt gewesen. In den vierziger und fünfziger Jahren hatten sich in Katalonien zunehmend antimonarchistische Stimmungen verbreitet. Wenn überhaupt einen König, meinten immer mehr Katalanen, dann nicht diesen, aber warum überhaupt einen? In den sozialen Netzwerken kursierte der Schnappschuss eines mürrisch blickenden, ungepflegt aussehenden, schlecht rasierten Felipe mit der Unterschrift: El nostre Rei no ets. Unser König bist du nicht. Lass uns diese Stimmung nutzen, schlug Puigs Freund Vidal vor, der Weg zur vollen politischen Unabhängigkeit ist weit, versuchen wir es doch erst einmal mit dem Naheliegenden, versuchen wir, uns erst einmal von der spanischen Monarchie zu lösen. Puig war erst einmal skeptisch, aber Yang, der strategische Denker, pflichtete Vidal sofort bei. Es komme in dieser Phase nicht darauf an, Begeisterungsstürme zu 306 entfachen, viel wichtiger sei es, möglichst wenig Widerstände zu wecken. Deswegen sei es in der Tat klug, sich bei einem ersten Online-Referendum auf das Thema Monarchie zu beschränken. Von Yang kam dann der Vorschlag, das Referendum unter das schlichte Motto No pagarem per la seva monarquia – Wir zahlen nicht für eure Monarchie zu stellen. Katalonien könne seinen Kostenanteil am Unterhalt der Monarchie dem spanischen Zentralstaat vorenthalten. Das sei zwar nicht mehr als ein Nadelstich, garantiere dem Thema aber hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Und diese Aufmerksamkeit ließe sich noch steigern, wenn die eingesparte „Monarchiegebühr“ am Jahresende gleichmäßig an alle Katalanen verteilt würde, auch wenn es für jeden nur ein paar Euro seien. Ob Felipe sich danach weiter als König auch der Katalanen ausgeben werde, wisse man nicht, aber es würde ihm damit zumindest verleidet. Die Zeit war, wie sich dann zeigte, reif dafür. Für den greisen Felipe gab es keinen würdigen Nachfolger. Sein kontaktscheuer Sohn hatte die Thronfolge nie gewollt, seine Tochter war eine schüchterne Frau ohne jedes Charisma. Gründe genug für die Abwendung von der spanischen Monarchie. Und wenn ihr später einmal wollt, hielten Puig und Vidal skeptischen Landsleuten dann noch entgegen, könnt ihr euch irgendwann einen eigenen zivilen König wählen. Ein Argument, von dem viele sich angesprochen fühlten. Das Referendum wurde ein spektakulärer Erfolg. Wir zahlen nicht für eure Monarchie erhielt fast 80% Zustimmung. Trotzdem würdigten Felipe und die spanische Regierung das Ergebnis keines Kommentars. Fortan schwiegen die Katalanen ebenso über Felipe, wie Felipe über die Katalanen schieg. Damit aber war de facto die Monarchie für Katalonien schon abgeschafft. Die Weltöffentlichkeit reagierte gespalten. In den Medien wurde die Aktion vielfach als politisches Bravourstück gewürdigt, von Politikern westlicher Länder dagegen wurde sie fast ausnahmslos als illegitim und respektlos verurteilt. In Katalonien aber machte sie den Willen zur politischen Unabhängigkeit stärker denn je. Wir holen uns 307 die Unabhängigkeit stückweise, das war die neue, von Vidal, Puig und Yang propagierte Losung, zu der es in Katalonien fast keinen Widerspruch gab. Dies entsprach – aber das fiel mir erst viel später ein – ziemlich genau der Vorstellung von politischer Selbstbestimmung, die Hauser in den zwanziger Jahren skizziert hatte. Auch in ganz Spanien hatte sich lange vor dem katalanischen Online-Referendum Gleichgültigkeit gegenüber der Monarchie breitgemacht, aber das Vorgehen der Katalanen drehte die Stimmung. Es weckte bei vielen Spaniern neue Loyalität mit ihrem alten König. Vereinzelt kam es sogar zu großen promonarchistischen Demonstrationen. Diesen Stimmungsumschwung wollten spanische Politiker nutzen, um die Stellung der Monarchie neu zu festigen. Woher dann der Vorschlag kam, hierfür ein ebensolches Online-Referendum abzuhalten wie in Katalonien, wurde nie ganz geklärt, aber ich will bis heute nicht von dem Gedanken lassen, dass Puig, Vidal und Yang dahintergesteckt haben könnten. Wenn es so war, dann war es eine geniale List. Das Referendum fiel aus, wie alle es erwartet hatten. Die neu erwachte Loyalität mit dem König führte zu einer klaren promonarchistischen Mehrheit. Danach sahen die meisten Spanier ihre Monarchie auf absehbare Zeit gesichert. Aber dies war mehr als voreilig. Die viel wichtigere Wirkung dieses Referendums war nämlich etwas ganz anderes. Mit diesem Referendum war genau das Tabu gebrochen, das die Existenz der Monarchie so lange gesichert hatte. Nach diesem Referendum war klar: Es muss nicht das letzte seiner Art gewesen sein. In Spanien würde in Zukunft kein Monarch mehr davor sicher sein, durch ein Referendum de facto abgesetzt zu werden. Spanien war damit keine gesicherte Erbmonarchie mehr. De facto war Spanien auf dem Weg zu einer Wahlmonarchie. Was dies für die Ordnung der Staatenwelt langfristig bedeuten könnte, ahnten zunächst nur wenige. Es war nur ein kleiner, fast unscheinbarer Eingriff in die politische Ordnung, aber es war einer, der die Möglichkeit viel größerer Veränderungen zumindest aufscheinen ließ. Yang machte sich sofort daran, mit Aktionen in anderen Monarchien dieser Welt für weitere solche Referenden zu 308 werben. Auch einige Medien widmeten sich eine Zeitlang dem Thema. Im SPIEGEL erschien – 15 Jahre, nachdem ich das Thema der Redaktion nahgelegt hatte – die Artikelserie Die Neuerfindung der repräsentativen Monarchie. Dazu Artikel mit den Themen Wenn Thronfolger sich einem Referendum stellen. Wie aus der Erbmonarchie eine Wahlmonarchie wird / Trennung von Monarchie und Politik. Das Überleben der Monarchie als Identifikationsinstanz / Monarchiesteuer. Wie eine erneuerte Monarchie sich finanzieren kann / Sport, Kultur und kollektives Gedenken. Repräsentative Monarchen als gewählte Sinnstifter. So anspruchsvolle Beiträge hatte ich vom SPIEGEL seit Langem nicht mehr erwartet, aber hier zeigte die Redaktion noch einmal Größe. Umso heftiger war dann der SPIEGELinterne Streit darüber, ob dieses Thema das deutsche Publikum wirklich interessierte. Die Schwesterverlage des Konzerns in Spanien und anderen Ländern lehnten eine Übernahme des Themas ab. Chinesische Visionen Yang hatte seine spendablen Milliardäre überschätzt. Sie alle hatten Großes geleistet, keiner von ihnen hatte seine Milliarden geerbt, keiner von ihnen verdankte sie gewieften Spekulationen, alle waren mehr oder weniger visionäre Unternehmensgründer gewesen. Dass sie sich aber – von Puig abgesehen – auch in der Politik auf Visionäres würden einlassen wollen, darauf hätte Yang dann doch nicht vertrauen sollen. Constanze ist eine, die es besser gewusst hätte. Ihre Masterarbeit hatte sie über Kalkül und Genie großer Unternehmensgründer geschrieben, und sie war dem Thema lange verbunden geblieben. Das Genie der Gründer, hatte sie mir einmal erklärt, sei etwas anderes als das Genie von Erfindern. Gründergenie, das sei vor allem Organisationsgenie, Energie, Konzentration und die Fähigkeit, sich einer bestimmten Aufgabe bedingungslos zu verschreiben. Solches Genie lasse sich nicht von der Wirtschaft auf die Politik übertragen, und es lasse sich auch kaum ins Alter hinüberretten. 309 Mit ihrem Verständnis von Wirtschaft hatte Constanze mir manches Mal auch Politik verständlicher gemacht. Sie hatte mir z.B. erklärt, dass in der Wirtschaft das Neue fast immer Einzelleistungen zu verdanken ist, den Leistungen von Erfindern oder von Gründern, von Berühmtheiten wie Henry Ford, Ferdinand Porsche, Bill Gates, Dietmar Hopp, Steve Jobs, Jeff Bezos, Larry Page, Sergey Brin, Mark Zuckerberg, Larry Ellison, Jack Ma und von zahllosen Unbekannten. Schon immer sei es im Übrigen so gewesen, dass es die Gründer in der Wirtschaft am ehesten dorthin ziehe, wo sich am meisten bewegen lasse, in zukunftsträchtige Branchen. Gründernaturen hätten dafür einen sicheren Instinkt. Und dann sagte sie: – In der Politik gibt es keine Gründer mehr. Schon gar nicht in der Demokratie. Sie sagte es so beiläufig, dass ich kaum darauf achtete. Es dauerte Monate, bis mir die Bedeutung dieses Satzes richtig klar wurde. Gründernaturen zieht es dorthin, wo sich viel bewegen lässt, zu zukunftsträchtigen Aufgaben. Wenn es in demokratischer Politik keine Gründer mehr gibt, dann bedeutete dies, dass sich in demokratischer Politik nicht mehr viel bewegen lässt. Dann gehört demokratischer Politik nicht die Zukunft. Ganz neu war mir der Gedanke natürlich nicht, schon wegen Hauser, aber er warf ein neues Schlaglicht auf Bekanntes. In demokratischer Politik lässt sich viel weniger bewegen, als bewegt werden müsste, daher zieht es diejenigen, die am dringendsten dort gebraucht würden, nicht dorthin. In diesen wenigen Sätzen klang es so klar und einleuchtend, so passend zu allem, was die Demokratien des 21. Jahrhundert bisher geboten hatten, und genau deswegen so erschütternd. Demokratische Politik ist wie Wirtschaft ohne Gründer, wie eine stagnierende Wirtschaft also, und Parteien, Parlamente und Regierungen sind Nachlassverwalter von politischen Erfindern und Gründern vergangener Jahrhunderte. Als ich Constanze vor einigen Jahren an dieses Gespräch erinnerte, machte sie dazu noch eine brisante Bemerkung. Das große Land der Gründer, sagte sie, könnte im 21. Jahrhundert China sein. 310 – Du meinst, in der Wirtschaft, sagte ich. – Vielleicht ja auch in der Politik, antwortete sie. Ich war nie in China gewesen, nicht einmal, als unsere Zwillinge dort ihre langen Praktika machten, und auch nicht in meinen frühen Pensionärsjahren, als Hilke, meine Frau, viele Male auf eine China-Reise drängte. Als ehemaliger Archivar hatte ich zu China meine Informationsquellen, und mehr, dachte ich, müsse ich über China nicht wissen. Mit eigenen Augen müsse ich es nicht gesehen haben. Ich wusste natürlich, dass China nach der Jahrhundertmitte zu den reichen europäischen Staaten im Wohlstand aufgeschlossen hatte, dass das Wachstum danach abgeflacht war und dass Europa, Japan, die Vereinigten Staaten und China sich wirtschaftlich inzwischen etwa gleichauf entwickelten. Politisch war es in China turbulenter zugegangen. China war von seiner so genannten kommunistischen Partei weiter fast wie ein Unternehmen geführt worden, professionell, zunehmend ideologiefrei und unübersehbar erfolgreich. Aber Ende der fünfziger Jahre erlebte das chinesische Einparteienregime die erste ernste Krise dieses Jahrhunderts. Die Konjunktur war eingebrochen, und neue Korruptionsskandale hatten das Vertrauen der Bürger erschüttert. Im Westen wurde wieder einmal über das Ende des politischen Systems in China spekuliert. China, meinten renommierte China-Kenner, befinde sich politisch in einer ähnlichen Phase wie Russland vor der Jahrtausendwende, zu Zeiten Jelzins. Ein sehr wahrscheinliches Szenario sei, dass demnächst ein chinesischer Putin die Weltbühne betreten werde, der dann mit Russland ein antiwestliches Bündnis zu schmieden versuche. Chinas nächster Staatspräsident, der kommende mächtigste Mann der Welt, ein Gesinnungsnachfahre Putins? Dieses Szenario versetzte die westliche Welt in Panik. Die Vereinigten Staaten, Europa und Verbündete rüsteten sich für einen neuen kalten Krieg, die Rüstungsetats westlicher Länder wurden aufgestockt, Japan, Südkorea und Australien in die Nachfolgeallianz der NATO aufgenommen. Mit Indien wurden 311 bilaterale Beistandsverträge geschlossen, und in den bis dahin wirtschaftlich eng mit China verbundenen Ländern Afrikas versuchten westliche Länder mit neuen Initiativen den chinesischen Einfluss einzudämmen. Auch ich entzog mich dieser Stimmung nicht. Auch ich presste China in diese Schablone westlichen Denkens. Trotz Tian. Als ein paar Jahre danach die westliche Angst vor China eine Pause machte, fragte Hilke mich, ob nun nicht doch die Zeit gekommen sei für die immer wieder aufgeschobene China-Reise. – In unserem Alter?, fragte ich. – Warum nicht?, sagte sie. Soweit sie wisse, habe Helmut Schmidt seine letzte China-Reise mit zweiundneunzig gemacht, ich sei erst vierundsiebzig. Also wann, wenn nicht jetzt? Ich brauchte zwei Tage Bedenkzeit. China sehen, das war für mich noch immer nicht das Ziel, aber noch einmal Tian treffen, zum vielleicht letzten Mal? Und erfahren, was Tian, der vielleicht auch schon Rentner war, in diesen Zeiten über sein Land und über den Westen dachte? Natürlich, das würde eine so weite Reise wert sein. Ich schickte eine Mail an Tian, dann machte ich mich daran, die Reise zu planen. Zwei Wochen später landeten wir in Peking. In der Ankunftshalle des Flughafens kam Tian mit einem milden Lächeln auf mich zu. Ein Lächeln, dachte ich zuerst, aus Mitleid mit einem alten Mann auf anstrengender Reise, aber dann merkte ich, wie ich sein mildes Lächeln spontan erwiderte. War es die gemeinsame Erinnerung an viele gemeinsame Gedanken der letzten vierzig Jahre? War es die Erwartung, nach so vielen Jahren politische Altersweisheit miteinander zu teilen? Aber konnte der fast sechs Jahre jüngere Tian sich wirklich schon altersweise fühlen? Schon möglich, dachte ich, schließlich hatte er schon als junger Mann eine Ernsthaftigkeit ausgestrahlt, als hätte er ein halbes Dutzend Jugendjahre übersprungen. Aber war er überhaupt schon im Ruhestand? Hatte er schon den Schub an Altersweisheit erlebt, 312 der meistens Pensionären vorbehalten ist? Oder war er noch immer ein Glied im Getriebe der chinesischen Think-Tank-Industrie? Wir blieben kurz voreinander stehen, beide etwas verlegen, weil uns von dem vielen, das wir einander in diesem Moment hätten sagen mögen, der passende erste Satz nicht einfiel. Dann ein flüchtiger Händedruck, eine angedeutete Umarmung. Dann fragte ich: – Bist du auch schon im Ruhestand? Ein hölzerne Frage natürlich, die mich noch verlegener machte. Tian sah mich mit mildem, nachsichtigem Lächeln an. – Das erkläre ich dir gleich, sage er dann. Die Taxifahrt zum Hotel dauerte im Pekinger Dauerstau eine halbe Ewigkeit. Lange saßen wir schweigend nebeneinander, sehr intensiv schweigend. Neben mir Tian, allein das aufregend genug, und vor meinen Augen zogen die Silhouetten Pekings vorbei, das sich mir noch moderner, kühler, gigantischer und einschüchternder zeigte, als ich es mir ausgemalt hatte. Während ich die vorbeiziehenden Bilder aufsog, rang ich im Geist mit den Zahlen. Eine Stadt, die – längst viel größer als New York – allein in ihrem Kerngebiet mehr Einwohner hat als die meisten Staaten Europas, darunter Schweden, Belgien, Österreich und die Schweiz. Mit Stadtbezirken, die mehr Einwohner haben als Berlin, Hamburg und ein Dutzend kleinerer europäischer Staaten. Was bei euch ein Staatspräsident ist, so könnte ein Chinese es europäischen Besuchern erklären, ist hier ein Bezirksamtsleiter oder Bürgermeister. Ist diese Stadt nicht viel zu groß, zu anonym, zu seelenlos, ging es mir durch den Kopf, als dass es unter ihren Bürgern noch fühlbare Gemeinsamkeiten geben könnte? Oder, dachte ich dann, war das womöglich ein alteuropäischer Gedanke, über den man hier in Peking nur den Kopf schütteln würde? 313 Ich spürte, wie Tian mich immer wieder schweigend aus dem Augenwinkel beobachtete. Nach einer halben Stunde Schweigens sagte er leise, fast in entschuldigendem Tonfall: - Ja, so ist Peking. - Ja, sagte ich, ich gewöhne mich schon daran. Ich versuche es. Wie die Menschen in einer Stadt oder einem Land leben, davon macht man sich schon im Vorbeifahren eine Vorstellung. Aber nicht davon, wie sie denken. Ich wollte mir beides klarmachen. Ein alter Mann aus Europa, so fühlte ich mich, auf seiner ersten und letzten Bildungsreise in China. Ja, wie die Menschen hier leben, davon hatte ich schon nach einer halben Stunde viele Bilder im Kopf. Aber prägt nicht das Leben immer auch das Denken? Ja, antwortete ich mir selbst, oberflächlich tut es das, aber wie die Menschen politisch Denken, das zumindest ist doch eine andere Frage, und auch, ob sie überhaupt politisch denken. Aber was würde ich darüber auf einer so kurzen Reise lernen können, wenn ich nicht einmal Chinesisch konnte? Egal, dachte ich, du sollst dir nicht zu viel vornehmen. Am wichtigsten war mir natürlich, zu wissen, wie Tian dachte, und wenn ich das erführe, würde ich auch etwas darüber wissen, wie andere in China dachten. Tian hatte inzwischen angefangen, Hilke einige höfliche Fragen stellen. Ich hörte kaum zu, weil ich gerade wieder mit meiner ungeschickten Begrüßungsfrage haderte, diesem „Bist du auch schon im Ruhestand?“, das geklungen hatte, als begegneten sich zwei flüchtige alte Bekannte im Vorbeigehen auf einem Stehempfang. Aber dann begann Tian, halb Hilke und halb mir zugewandt, so spontan und so selbstverständlich über das Arbeitsleben und den Ruhestand im Alter zu reden, als wäre ich für nichts anderes nach Peking gekommen. Und schon war es wieder wie früher so oft: Wir redeten über eine ziemlich spröde Materie und fühlten uns dabei eng verbunden. 314 Wir scherzten zu dritt ein paar Minuten über das Lebensgefühl unserer Altersgruppe, dann ging Tian schon zu einer ersten ernsten Frage über: Ob das Rentensystem in Deutschland noch das gleiche sei wie vor dreißig Jahren. Im Großen und Ganzen ja, sagte ich, und darauf antwortete Tian fast mitleidsvoll mit einem „Wirklich?“. Damit waren wir schon – Hilke war mit dem Thema fast besser vertraut als ich – in unserem ersten kleinen politischen Gedankenaustausch. Ich hätte auf dieser Fahrt noch mehr Bilder vom tosenden, abweisenden, quirligen, einladenden, respektgebietenden und immer wieder jedes menschliche Maß übersteigenden Peking aufnehmen mögen, aber Tian zog nun all meine Aufmerksamkeit auf sich. Zuerst erklärte er mir, dass China ein Rentensystem geschaffen habe, im dem jeder ganz frei darüber bestimme, wie viel und wie lange er im Alter arbeite. Er zum Beispiel sei, was man in China jetzt einen Viertelrentner nenne. Das klinge etwas kaltherzig, aber es sei leicht zu verstehen. Chinesische Viertelrentner arbeiteten ein Viertel weniger als vorher, sie seien also Dreiviertelbeschäftigte. Und mit dem Lohn sei es so: Viertelrentner bekämen im Durchschnitt halb so viel Geld wie vorher. – Ohne eine zusätzliche Rente?, fragte ich. Ja, sagte er, bei ihm sei das so. Die zusätzliche Rente könne man sich in China für später aufsparen. Je länger man arbeite und je später man Rente beziehe, desto höher sei sie natürlich. Dreiviertelbeschäftigte zum halben Lohn, fuhr er dann fort, das sei nur eine von vielen Möglichkeiten. Er hätte z.B. auch Halbrentner werden können, Halbrentner bekämen im Durchschnitt ein Drittel ihres früheren Gehalts. Zumindest theoretisch gebe es im chinesischen Rentensystem aber unendlich viele Wahlmöglichkeiten. Ob er sich denn nicht ungerecht behandelt fühle mit seinem halbierten Gehalt, fragte ich dann noch, wo er doch nur ein Viertel weniger arbeite als früher. Nein, sagte Tian, ungerecht finde er das ganz und gar nicht, er sei ja schließlich nicht mehr so schnell und leistungsfähig wie jüngere Kollegen, und er sei froh, sich nun in 315 manchem nicht mehr mit denen messen zu müssen. Er arbeite jetzt in altersgerechtem Tempo. Mir kamen dabei sofort Constanzes Gedanken über die Leistungsfähigkeit im Alter in den Sinn. Ich hätte mir gewünscht, Constanze wäre bei diesem Gespräch dabei gewesen. So mühte ich mich allein, den Schwächen und Widersprüchen auf die Spur zu kommen, die ich in einem so einfachen und scheinbar einleuchtenden System erst einmal vermutete. Aber welche Fragen ich auch stellte, Tian hatte immer überzeugende Antworten. Hatte China, bisher fast unbeachtet von der westlichen Welt, in wenigen Jahrzehnten ein Rentensystem geschaffen, wie Deutschland es in anderthalb Jahrhunderten nicht zustande gebracht hatte? Eines, das den chinesischen Rentnern die denkbar besten Wahlmöglichkeiten bot, die denkbare größte Flexibilität am Ende ihres Arbeitslebens und zugleich eine faire Lastenverteilung zwischen den Generationen? War also das chinesische Rentensystem genau dasjenige, das wir in Deutschland bekämen, wenn wir es von Grund auf neu konzipierten, losgelöst vom Ballast der Geschichte? Noch während der Taxifahrt ging mir durch den Kopf, wie die Systembewahrer der deutschen Politik das chinesische System in den Medien zerreden würden, wenn es für Deutschland ins Gespräch gebracht würde. Von staatlich geförderter Ausnutzung wehrloser alter Arbeitnehmer wäre die Rede, und der Viertelrentner, von dem Tian mit beinahe liebevollem Stolz sprach, wäre hämischem Spott ausgesetzt. Alle Hinweise auf die viel größeren Wahlfreiheiten und die generationenübergreifende Fairness des chinesischen Systems würden dabei untergehen. Ich war mir sogar sicher, dass selbst die IG SENIOREN hierin einstimmen würde. Mir kamen dabei wieder Constanzes Gedanken über politische Gründer in den Sinn. Waren in der chinesischen Rentenpolitik Gründer am Werk gewesen, wie demokratische Politik sie nicht mehr hervorbringen kann? Herrschte ausgerechnet in der nach außen hin so erstarrten chinesischen Einparteienherrschaft mehr politischer Gründergeist als in der westlichen Parteiendemokratie? Wenn es so war, dann war es erschütternd für die Demokratie, aber für die Welt ein kleiner Hoffnungsschimmer. 316 Auf dem Weg in unser Hotelzimmer sagte ich zu meiner Frau: – Hilke, diese Reise hat sich jetzt schon gelohnt. Wir hatten für nur elf Tage gebucht, sechs Tage für Peking, fünf für Shanghai. Es wurden am Ende elf Tage Peking. Am zweiten Tag begann Tian, mir über politische Zukunftsszenarien zu erzählen, die die Partei von führenden Forschungsinstituten des Landes hatte ausarbeiten lassen. Zuerst glaubte ich, es seien vage Szenarien für das 22. Jahrhundert, aber Tians Schilderungen wurden immer konkreter, und schließlich fragte ich ihn, was davon noch in diesem Jahrhundert Wirklichkeit werden könnte. Seine Antwort: alles. Das war der Moment, in dem ich wusste, dass eine Woche Peking nicht reichen würde. Dass China sich in der jüngeren Vergangenheit viel rascher gewandelt hatte als der Westen, darüber hatten wir früher oft gesprochen, aber ich hatte immer gemeint, dass das nur für die Vergangenheit galt, dass es ein Aufholprozess sein würde, der China bestenfalls an den wohlhabenden demokratischen Westen heranführt. Aber wenn China den Westen schon mit seinem Rentensystem überholt hatte, waren ihm dann solche Entwicklungssprünge nicht auch auf anderen Gebieten zuzutrauen? Hundert Jahre vorher hatte die Führung der DDR die Losung ausgegeben, den Westen zu "überholen ohne einzuholen". War China das Land, dem hundert Jahre später genau dies gelingen würde? Hätte ich gewusst, wie offen Tian über alles mit mir reden würde, hätte ich ihn von Anfang an einfach erzählen lassen. Ich hätte ihm dann nicht diese erstbeste politische Frage gestellt, die mir in den Sinn kam, die Frage, die sich in dieser Zeit im Westen alle stellten, wenn sie an China dachten: Was hat China in seiner Rolle als führende Weltmacht vor? Tian machte eine wegwerfende Handbewegung. – Ach, sagte er fast unwirsch, ihr Westler mit eurem Weltmachtthema. 317 Es klang, als wäre das für ihn eine Bagatelle. – Aber China, sagte ich, ist doch die mächtigste Weltmacht, die es je gab. Es ist doch klar, dass das den Rest der Welt beschäftigt. Wieder schwieg er eine Weile. – Ja, sagte er dann, aber ihr beschäftigt euch damit noch immer wie im 20. Jahrhundert. Wie damals, als die Weltmächte noch westlich waren. Lass uns später darüber reden. Dann lud er mich ein, ihn am übernächsten Tag in seinem Institut zu besuchen. Auf meinen Besuch zeigte Tian sich dann so gründlich vorbereitet, wie man es von ihm nicht anders erwarten konnte. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel mit Büchern westlicher Autoren über das Weltmachtthema. Er nahm sie nacheinander in die Hand, zeigte mir die Titelseiten und gab einen kurzen sachlichen, aber respektlosen Kommentar. Dann schob er mir eine Liste von Aufsätzen zu, die in chinesischen Forschungsinstituten zum Thema Weltmacht entstanden waren, einige davon in englischer Sprache. Einige Einträge hatte er unterstrichen. Einer davon: Westliches Weltmachthandeln bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Lehren für China. Seit mehr als vierzig Jahren, erklärte er dann, arbeiteten chinesische Historiker und Politologen an Forschungsaufträgen zum Thema Weltmacht. Die allerersten Ergebnisse seien ziemlich konservativ gewesen, im Grunde Variationen zum westlichen Weltmachtdenken. Im Westen sei es immer mehr oder weniger selbstverständlich gewesen, dass Weltmachtstatus etwas Erstrebenswertes sei. Chinesische Historiker seien aber zu einem anderen Ergebnis gekommen. Die Rolle der Weltmacht verspreche erst einmal viele Vorteile, aber auf sehr lange Sicht gesehen sei sie fast allen Weltmächten irgendwann zu Kopf gestiegen, habe sie also keinem Land wirklich gutgetan. Außerdem sei die Weltmachtrolle unsicherer geworden, als sie es in früheren Zeiten gewesen sei. Nicht einmal China könne wissen, wie lange es diese Rolle würde spielen können. 318 Sicher seien sich die chinesischen Forscher inzwischen auch, fuhr er fort, dass es Menschen auf Dauer nicht glücklicher mache, Bürger einer Weltmacht zu sein. Weltmachtstreben sei immer von Politikern ausgegangen, nicht von den Bürgern. Weltweit am zufriedensten seien die Menschen in erfolgreichen kleineren Staaten, in Europa seien das Staaten wie Norwegen, Dänemark, Österreich, Finnland, die Schweiz oder Luxemburg, das habe ja auch westliche Forschung seit Jahrzenten immer wieder bestätigt. – Aber China, unterbrach ich ihn, kann sich der Weltmachtrolle doch gar nicht entziehen. Es kann sich nicht in einen kleinen Staat verwandeln, um seine Bürger glücklicher zu machen. Das könne China natürlich nicht, antwortete er, aber es habe sich immerhin schon selbst davor bewahrt, die Sowjetunion des 21. Jahrhunderts zu werden, und nun müsse es vermeiden, dass es ihm irgendwann im kommenden Jahrhundert so gehe wie Russland und später Amerika nach dem Verlust ihrer Weltmachrollen. China müsse daher versuchen, Weltmacht zu sein, ohne im herkömmlichen Sinne die Weltmachtrolle zu spielen. Dass imperiales Denken veraltetes Denken sei, das wisse man doch in Deutschland am besten. – Also seht ihr Chinas Größe als eine Last?, fragte ich. Natürlich nicht nur, antwortete er, die Macht des eigenen Landes sei irgendwie schon beruhigend, aber die gegenseitige Verletzlichkeit von Staaten sei inzwischen doch so groß, das wisse ich sicher auch, dass ein Staat sich nur dann vollends in Sicherheit wiegen könne, wenn er keine ernst zu nehmenden Feinde habe. Tian warf mir dabei einige scheue Blicke zu, als fürchte er, mich, einen alten Europäer im achten Lebensjahrzehnt, mit solchen Gedanken zu überfordern. Ganz falsch war das nicht. Ich hatte mich auf lange anregende Gespräche mit ihm gefreut, aber dass ich Tian hier fast atemlos zuhören würde, wie er sich, bescheiden wie früher zwar, aber doch mit der unerschütterlichen Gewissheit, westlichem Denken in 319 manchem weit voraus zu sein, über die Weltmachtfragen der Zukunft dozierte, hatte ich mir nicht träumen lassen. – Aber wer weiß denn, fragte ich ihn dann noch, ob die chinesische Führung nicht doch nach immer mehr Macht strebt und womöglich auch Staatsgebiete hinzugewinnen will? Muss sich die Welt darüber wirklich keine Sorgen machen? – Lass und darüber später reden, sagte er in einem Tonfall, als wolle er mich schonen. Wir verbrachten noch drei lange Abende miteinander, und nach jedem Mal sagte ich Hilke, ich fühlte mich wie nach einer Gehirnwäsche. Am längsten hielt Tian sich mit meiner Frage auf, ob China nicht noch größer und mächtiger werden wolle. Auch dazu, erklärte er, hätten seines und andere Forschungsinstitute die Empfehlungen der Historiker bestätigt. Das Ergebnis sei: Wenn China größer würde, dann würde es schwächer werden. Das denkbar stärkste China wäre wahrscheinlich eines, das kleiner ist als das heutige. Wie das angehen könne, fragte ich. Eigentlich, sagte er, genüge für diese Einsicht der gesunde Menschenverstand, aber nun sei es auch durch historische Forschung belegt. Nichts sei – auf sehr lange Sicht zumindest – für die Stärke eines Landes so wichtig wie sein spontaner innerer Zusammenhalt. Dieser Zusammenhalt stärke die Treue der Bürger zu ihrem Staat, er stärke deren Solidarität und er stärke, was ja noch wichtiger sei, deren Zufriedenheit und Glück, und das Glück der Bürger sei doch das höchste aller politischen Ziele. Dem würde kaum jemand widersprechen, sagte ich, aber was das denn für die praktische Politik bedeute. Auf Dauer, sagte Tian, solle möglichst niemand, der es nicht wolle, ein Teil von China sein, keine Gemeinschaft, keine Region, kein Volk. Wenn Tibeter, Uiguren und andere Minderheiten nicht Bürger von China sein wollten, dann sollten sie es 320 zumindest auf lange Sicht nicht bleiben. Dann wäre eine Trennung für beide Seiten von Vorteil. Das habe man in China früher ganz anders gesehen, aber das sei ein Fehler gewesen. Ich horchte auf. Bedeutete das, dass China sich allen eventuellen separatistischen Ansinnen auf seinem Staatsgebiet würde beugen wollen? Würde China der Welt genau das Beispiel geben wollen, für das Yang und Puig schon so viele Jahre vergeblich geworben und gestritten hatten? Ich starrte ihn ungläubig an. – China wird also das volle Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit einführen? Das würde die Welt auf den Kopf stellen. Oder besser gesagt… – Ja, sagte Tian, besser gesagt: vom Kopf auf die Füße. Dabei lächelte er selbstbewusst, mit unverkennbarem Stolz. Dann erklärte er, dass man in dieser Sache zwar von einem Recht auf Selbstbestimmung sprechen könne, dass es im Grunde aber um eine neue Dimension von Freiheit gehe, die in Recht umgesetzt werden müsse. Diese Freiheit nenne man inzwischen auch in China politische Assoziationsfreiheit. – Kennst du Robert Yang?, unterbrach ich ihn. – Robert Yang, den Kanadier?, sagte er. Natürlich weiß ich von ihm. Wir beobachten ihn in China schon sehr lange. Ein sehr interessanter Mann. Wir halten viel von seinen Ideen. – Wer ist wir?, wollte ich wissen. – Unsere Institute. Unsere Wissenschaftler. – Aber eure Politiker denken natürlich noch ganz anders. – Sagen wir es so: Noch handeln sie anders. Aber immer mehr von ihnen, die meisten sogar, wissen, dass China sich in den nächsten fünfzig Jahren noch einmal 321 von Grund auf wandeln muss. Sie wissen aber noch nicht, wie. Daran forschen unsere Institute. In den nächsten Tagen breitete Tian dann ein Zukunftsszenario aus, wie ich es am allerwenigsten von einem Chinesen erwartet hatte. Langfristig werde China sich wohl gesundschrumpfen, um die Zufriedenheit seiner Bürger zu optimieren, aber dies könne hundert Jahre oder länger dauern. Ein mögliches Übergangsszenario sei, dass sich an Chinas Rändern kleine teilselbstständige Staatsgebilde abspalteten, die nur durch eine gemeinsame Armee und vielleicht eine gemeinsame Währung mit dem Kernland verbunden blieben. So könne ein loser Staatenverbund entstehen, der anpassungsfähiger wäre als ein zentralistisches Großchina und in dem die Mitgliedstaaten voneinander lernen könnten. – Würde China dann nicht ein bisschen wie die Europäische Union werden?, fragte ich vorsichtig. Tian schüttelte heftig den Kopf. – Glaubt ihr in Europa denn noch immer, ihr könntet für China ein Vorbild sein? Vorbild sei Europa für viele gebildete Chinesen eine Zeitlang wohl gewesen, fuhr er fort, auch noch in der Zeit, als er Praktikant im SPIEGEL-Archiv war, aber die Welt sei ja inzwischen eine ganz andere. Inzwischen stünden Europa und Amerika doch fast am Rand des Weltgeschehens. Inzwischen sei China doch das Land, das für Wissenschaftler und Studenten aus aller Welt das attraktivste sei, Europa dagegen halte an einer – ich möge den Begriff verzeihen – beinahe musealen Hochkultur fest, so sehe man es nicht mehr nur in China. Zumindest hätten Chinas beste Universitäten, die zum Teil auch in englischer Sprache lehrten und forschten, denen Europas und der USA den Rang abgelaufen, das wisse ich doch auch. So weit war es noch ein fast normales Gespräch gewesen, aber was dann kam, war eher ein Vortrag, oder auch das nicht, eher war es eine behutsame Heranführung an Gedanken, von denen Tian wohl annahm, dass ich ihnen nur langsam würde folgen können. 322 Wenn er sage, Europa sei etwas museal geworden, dann möge ich nicht denken, dass er nicht auch das Museale an China sehe, aber China werde sich daraus zügiger befreien. Es werde dabei das westliche Modell schon deswegen nicht kopieren, weil es nicht zur chinesischen Kultur passe. Außerdem habe das westliche Modell, so sähen es ja nicht etwa nur er und seine Kollegen, auch in Europa seinen Zenit schon lange hinter sich. In Europa, den USA und anderswo auf der Welt befinde die Demokratie sich doch schon seit den zwanziger Jahren in einem schleichenden Niedergang. Oder wie Forscherkollegen in China es formulierten: in einem Niedergang durch schleichende Überforderung. Seine und die Aufgabe seiner Kollegen sei es, Politik in großen historischen Zusammenhängen zu sehen, so wolle es auch die Partei. Die Partei habe in China zwei historische Phasen hinter sich. Die erste, die maoistische, sei die Zeit des großen, ehrgeizigen Experiments gewesen, das tragisch gescheitert sei. Nun neige sich auch die zweite Phase ihrem Ende zu, in der die Partei dem Volk als guter Manager des Staates immerhin Wohlstand und Stabilität gebracht habe. In der nun folgenden Phase müssten Wohlstand und Stabilität selbstverständlich gewahrt werden, aber das allein werde den Bürgern nicht mehr lange genügen. Als technokratische Organisation, wie sie es in den vergangenen siebzig Jahren gewesen sei, werde die Partei nicht überleben. Chinas politische Zukunft werde mit viel mehr Sinnstiftung, viel mehr Bürgerbeteiligung und viel mehr Selbstbestimmung zu gestalten sein als bisher, und – er hielt kurz inne – viel mehr davon übrigens auch als in den so genannten Demokratien. – Und außerdem mit noch mehr Professionalität. Mit mehr Professionalität jedenfalls als in eurer Parteiendemokratie. Und dann fügte er etwas verlegen hinzu: – In eurer Laiendemokratie. Das alles, fuhr er fort, sei aber mit dem bestehenden politischen System Chinas nicht zu realisieren. Dieses System müsse sich daher, wie gesagt, früher oder später 323 gründlich wandeln. Die große Frage sei, ob die Partei es schaffe, diesen Wandel selbst zu gestalten, oder ob sie ihm irgendwann zum Opfer falle. – Ein grundlegend erneuertes China unter einer Einparteienherrschaft, unterbrach ich ihn, das wäre doch ein Widerspruch in sich. – Wirklich?, fragte er. Wenn die Partei den Wandel selbst gestalte, dann seien die Gefahren für Wohlstand und Stabilität am geringsten. Im Übrigen werde die Partei, dessen sei er ganz sicher, bei der nächsten Erneuerung des Landes kaum Tabus kennen. Ich sah ihn etwas ratlos an. Erst als ich dann aufmunternd mit dem Kopf nickte, fuhr er fort: Erst einmal müsse China für den Systemwandel die richtige Sprache finden. Es solle ja möglichst niemand ausgegrenzt werden, möglichst alle Parteimitglieder sollten mitgenommen werden, auch die in letzter Zeit wieder stärker gewordenen NeoMaoisten. Sein Institut habe daher vorgeschlagen, Maos Begriff der permanenten Revolution aufzugreifen, ihm aber einen gänzlich neuen Sinn zu geben. Welcher Sinn das denn sein sollte, fragte ich ungläubig. – Eine permanente Erneuerung der politischen Ordnung, sagte er. Eine solche permanente Erneuerung zu garantieren, dass könne einmal zur Hauptaufgabe der Partei werden. Und der Volkskongress könne sich irgendwann zu einem Verfassungskongress transformieren, der über die Vorschläge der Partei zur politischen Ordnung entscheidet. – Dann könnte es aber sein, dass die Partei damit ihre eigene Entmachtung einleitet. Vielleicht, antwortete er, würde die Partei Macht verlieren, aber als Garant des permanenten friedlichen Systemwandels bliebe sie vorerst unentbehrlich. Das sähe ich als Europäer vielleicht anders, aber den meisten Chinesen brauche man das nicht zu erklären. 324 Mit diesem etwas verstörenden Satz ließ er das Gespräch für diesen Abend enden. Ich ging mit einem unguten Gefühl zurück ins Hotel. In welcher Gedankenwelt lebte Tian? Woher nahmen er und seine die Kollegen ihre Anregungen? Woher ihre Selbstsicherheit? Tians Gedanken schienen einiges mit der Gedankenwelt Hausers gemeinsam zu haben. Aber gab es wirklich Dinge, die Europäer schwerer verstanden als Chinesen? War ich für Tian ein alter europäischer Archivar im Ruhestand, der neuem chinesischen Denken, wenn überhaupt, allenfalls mit viel Mühe und geduldiger Hilfestellung folgen kann? Schon in den Tagen davor war mir nicht danach zumute gewesen, zusammen mit Hilke die kleinen touristischen Unternehmungen zu machen, die wir uns in Peking vorgenommen hatten. Nun erst recht nicht. Noch immer hatte ich von Peking außer dem Hotel wenig gesehen, und ich ahnte schon, dass es dabei bleiben könnte. Ich hatte mir viele Notizen über die Gespräche mit Tian gemacht und hatte im Internet über die Partei, über die zurückliegenden Volkskongresse und über Chinas sozialwissenschaftliche Institute recherchiert. Ich hatte auch ein paar erste Mails an Constanze geschickt, die Tians Gedanken noch am ehesten, hoffte ich, würde folgen wollen, aber noch hatte ich von ihr keine Antwort. Am nächsten Tag breitete Tian sein Zukunftsszenario für Chinas Staatspartei weiter aus. Wenn die Partei ihre führende Stellung behalten wolle, erklärte er, müsse sie, wie schon gesagt, unter anderem immer professioneller werden. Das werde ihr nur gelingen, wenn sie den Anspruch aufgebe, die Politik als ganze zu beherrschen. Sie werde sich daher vermutlich in einen losen Verbund spezialisierter Politorganisationen aufspalten müssen. Es werde z.B. eine Organisation geben, die sich auf regionale Verwaltung spezialisiert. Andere Organisationen würden sich auf einzelne Felder zentralstaatlicher Politik konzentrieren, z.B. Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Geldpolitik, Verteidigungspolitik und Verfassungspolitik. Eine Partei, sagte er, und eine Parteiführung, die sich die Zuständigkeit für die Politik als ganze anmaßten, werde es im 22. Jahrhundert in China nicht mehr geben. 325 Das war aufregend genug, aber in den Tagen danach wurde es noch aufregender. Wenn die Partei sich auf diese Weise reformiert habe, erklärte Tian, dann solle der Staat nach dem demselben Prinzip reformiert werden. Auch eine Staatsführung, die für die Politik als ganze zuständig sei, solle es dann irgendwann nicht mehr geben. Das werde die langsame permanente Revolution mit sich bringen, deren Garant die Partei später einmal werden solle. Schon da hatte ich ein Gefühl, als verweigerte sich mein politisches Vorstellungsvermögen. Aber am nächsten Tag legte Tian noch einmal nach. Aufspaltung von Partei und Staat und Einrichtung eines dauerhaften Verfassungskongresses, das seien natürlich auch für die Partei höchst gewöhnungsbedürftige Ideen. Selbst wenn sie auf Verständnis stießen, würden sie doch als ein Experiment wahrgenommen, und die Bereitschaft zu gesellschaftlichen Experimenten sei nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch in China noch immer begrenzt. Die Frage, ob man ein solches Experiment mit einem Volk von fast 1,3 Milliarden Menschen anstellen solle, sei daher allzu berechtigt. Daher überlege man in China, ein solches Experiment zuerst in einem kleineren Staat durchführen zu lassen. – Aha, sagte ich. Also doch imperiales Denken. China soll ein kleines Land unter seine Kontrolle bringen, um es für gesellschaftliche Experimente zu missbrauchen. Ich erschrak selbst über meinen aggressiven Tonfall, aber bevor ich mich dafür entschuldigen konnte, nickte Tian schon verständnisvoll mit dem Kopf. Er verstehe meine Reaktion ja, sagte er, aber imperial sei der Gedanke ganz und gar nicht. China wolle auf gar keinen Fall ein anderes Land zu politischen Experimenten zwingen, wie vielversprechend diese auch seien. China könnte aber irgendwann mit anderen Ländern darüber verhandeln, unter welchen Bedingungen sie zu solchen beispielhaften Experimenten bereit seien. Es könnte z.B. den Einwohnern eines kleinen Staates über viele Jahre eine hohe dafür Prämie zahlen, dass sie an einem 326 solchen Experiment teilnehmen. Das genüge sicher, um eine Mehrheit für solche Reformen zu gewinnen. Wahrscheinlich, sagte er zum Schluss, werde die Entwicklung diesen Weg gehen müssen. Seine Größe mache China eben doch unbeweglich. Wir, sagte er, wir oder unsere Nachkommen, werden irgendwann ein anderes Staatsvolk dafür bezahlen, im Kleinen für uns auszuprobieren, was wir uns im Großen nicht trauen. Noch in der Nacht schickte ich Constanze eine lange aufgeregte und etwas konfuse Mail, in der ich sie auf den letzten Stand brachte. Schon am nächsten Morgen hatte ich die Antwort. Sie hatte fast alles, so konfus es geschrieben war, auf Anhieb verstanden, und sie war nicht schockiert, sie war nicht befremdet, sie war nicht überrascht, wie ich es am ehesten erwartet hatte. Sie war begeistert. Ihre Antwort zeigt einmal mehr den sarkastischen Humor, den sie sich im hohen Alter zugelegt hatte: – Wenn das in Deutschland bekannt würde! Stell dir die Kommentare vor, die Überschriften im SPIEGEL und anderswo: China auf Abwegen. China demontiert sich selbst. China sucht fremdes Volk als Versuchstier. Staatspartei verweigert echte Demokratisierung. Und so weiter. Du solltest mal über politisches Asyl in China nachdenken! Bei unserem letzten Treffen fragte ich Tian, ob er wirklich meine, dass seine Gedanken sich in der Partei irgendwann durchsetzen würden. – Was wäre die Alternative?, fragte er. Dann gab er sich selbst die Antwort: Eine Demokratie nach westlichem Muster ganz sicher nicht. Die Alternative wäre ein Rückfall in Verhältnisse wie zu Anfang des Jahrhunderts. Ob das ganz auszuschließen sei, fragte ich. Er zögerte einen Moment. – Das hoffe ich doch. 327 Am Morgen vor dem Abflug war ich in Hochstimmung. Wenn ich diese Reise nicht gemacht hätte, sagte ich zu Hilke, dann hätte ich etwas sehr Wichtiges verpasst. Aber schon beim Abflug begann die Hochstimmung zu schwinden, und in Stunden darauf erschienen mir all die Gedanken, die Tian ausgebreitet hatte, immer unwirklicher. Zurück in Deutschland, fühlte es sich wieder ganz anders an. Nun erschien mir alles, was hier politisch gedacht und diskutiert wurde, mindestens ebenso unwirklich, und es kam mir sinnlos vor, Tians Gedanken in Deutschland diskutieren zu wollen. Ich hatte erlebt, wie in China neue politische Ideen brodelten, und nun fühlte ich mich zurückversetzt in eine Welt politischer Ideen- und Ereignisarmut. All der immer gleiche vorgeschobene Parteienstreit, die immer gleiche Rhetorik der Kommentatoren und Talkshows und sogar die Einwürfe kritischer Parteien wie der MSU, der IG SENIOREN und gelegentlich der Deutschen Demokraten waren mir gleichgültiger denn je. Was und wo war hier das Neue? Politik war hier das gewohnte vorhersehbare Spektakel, das gelegentlich neue Gesichter, aber keine wirklich neuen Gedanken hervorbrachte. Und nicht einmal die jungen neuen Gesichter waren wirklich neu, in Deutschland so wenig wie in anderen westlichen Demokratien. Die dem Anschein nach Jungen waren Wiedergänger von Mesäcker und Seinesgleichen, und es gab auch neue Gesichter mit alten Namen, dritte Generation Guttenberg, vierte Generation Bush, vierte Generation Le Pen und so weiter, die als neue Hoffnungsträger gehandelt wurden. Das politische Kalkül dahinter: Da neue Gesichter keine neuen Ideen bringen, sollen sie wenigstens an Vertrautes erinnern. Verständlich ist das. In dieser Zeit nahm der schleichende Dritte Weltkrieg wieder einmal einen neuen Anlauf, als zweiter Kurdenkrieg im Nahen Osten und mit neuen Sezessionskriegen in Asien, ohne dass dies die politische Öffentlichkeit im Westen noch erregte. Und China schien, obwohl unangefochtene Weltmacht, doch sehr weit weg, und Leute wie Tian erst recht. Wäre ich nicht schon seit Jahrzehnten Nichtwähler gewesen, wäre ich es allerspätestens in dieser Zeit geworden. 328 Einige Wochen nach meiner Rückkehr fragte ich unsere Zwillinge, ob sie denn glaubten, dass die Menschen in China für so radikale Reformen, wie Tian sie skizziert hatte, bereit sein können. Damals, zu seiner Praktikantenzeit in China, ganz sicher nicht, meinte der eine. Der andere: Wenn die Partei es vorgebe, dann vielleicht. Auch das machte mich natürlich nicht klüger. Dann fragte ich sie, wie weit die Chinesen damals, Mitte der fünfziger Jahre, im politischen Bewusstsein hinter dem Westen zurück gewesen sein. Die Chinesen dächten anders, sagten beide, aber einen Rückstand würden sie das nicht nennen. Schließlich fragte ich, ob sie meinten, dass die Chinesen überhaupt etwas vom Westen zu lernen hätten, von westlichem Bewusstsein. – Westlichen Humor, sagte der eine. – Und Ironie, sagte der andere. Immerhin, dachte ich. Wenigstens das. In den folgenden Wochen und Monaten hätte ich mir nichts so dringend gewünscht wie Nachrichten, die auf politische Erneuerungen in der westlichen Welt hoffen ließen. Dann las ich, dass Robert Yangs katalanischer Förderer und Freund Xavi Puig im Alter von 79 Jahren gestorben war. Nicht nur ich war um eine Hoffnung ärmer. Noch einmal Euphorie Tian hatte mir bei meiner Abreise einen Umschlag mit – teilweise schon leicht vergilbten - dünnen englischsprachigen Broschüren mitgegeben, die ich auf dem Rückflug nur oberflächlich angeschaut und zu Hause dann in einem hohen Stapel unerledigter Lektüre abgelegt hatte. Beim ersten Durchblättern waren diese Broschüren mir wie trockene, in Bürokratenenglisch verfasste Staatspropaganda erschienen. Das sollten sie wohl auch sein, aber mindestens eine von ihnen erwies sich dann doch als brisante Lektüre. Nichts daran war wirklich neu und nichts besonders originell, und die präsentierten Fakten waren nicht wirklich überraschend, 329 aber sie waren so klar und schlüssig zusammengestellt, dass mir sofort der Gedanke kam: Dies hätte schon vor Jahrzenten Pflichtlektüre in westlichen Schulen sein sollen. Das Wesentliche war in einer einfachen Grafik zusammengefasst, einem Diagramm mit zwei übereinandergelegten Kurven. Die eine zeigte die klimaschädlichen ProKopf-Immissionen der USA und europäischer Wohlstandsstaaten im Verlauf des Wohlstandswachstums. Die andere Kurve zeigte die entsprechende Kurve für China. In China hatten sich, wie das Diagramm zeigt, die Pro-Kopf-Immissionen mit wachsendem Wohlstand zunächst in ähnlicher Größenordnung entwickelt wie in westlichen Staaten. Von einem mittleren Wohlstandsniveau an aber – in China dem der zwanziger und frühen dreißiger Jahre – flachte die Kurve im Vergleich zu der des Westens stark ab. Weitere Grafiken zeigten, was geschehen wäre, wenn Chinas Wohlstandswachstum von einem etwa gleichen Anstieg der Immissionen begleitet gewesen wäre wie in den USA. Wie viel weiter also z.B. die Wüstengebiete vor allem Nordafrikas sich schon ausgebreitet hätten. Und wie viel mehr tiefliegendes Küstenland schon überflutet oder von Überflutung akut bedroht wäre. Teile Shanghais gehörten dazu. Ja, dass China klimapolitisch viel weniger gesündigt hatte als westliche Wohlstandsstaaten, lag letztlich auch in seinem eigenen Interesse. Trotzdem stand China vor der Welt mit reinerem Gewissen da, viel reinerem als die Wohlstandsstaaten des Westens. Einer wie Yang, dachte ich, wird das schon lange gewusst haben. Aber warum war sich darüber nicht längst alle Welt im Klaren? Wessen Versäumnis war das? Hätte nicht auch einer wie Yang mehr dafür tun können, solches Wissen in der westlichen Welt zu verbreiten? Hätte dies seiner Bewegung genützt? Oder hätte es – auch das ist denkbar - ihre Krise vorübergehend noch verschärft? Viele von Yangs Mitstreitern warfen ihm Ende der sechziger Jahre vor, schuld an der Krise der Bewegung zu sein. Zu viele, auch Yang, hatten sich daran gewöhnt, dass 330 amerikanische und europäische Superreiche die Kassen von World Upgrade füllten und Geld daher keine Rolle zu spielen schien. Die Krise zwang Yang dann zur Konzentration auf das Wesentliche. Im Nachhinein war die Krise insofern ein Glück. Sonst wäre vielleicht auch mir noch immer nicht ganz klar, was dieses Wesentliche ist. Je mehr ich über Yang wusste, desto mehr Gemeinsamkeiten entdeckte ich zwischen ihm und Hauser. Ähnlich wie Hauser war Yang überzeugt, dass in der Politik ein globaler Neuanfang vonnöten war. Und wie Hauser fragte er sich: Wie würde man die Welt politisch gestalten, wenn man noch einmal ganz von vorn anfangen könnte, aber mit allem inzwischen gesammelten Wissen und Können? Wie wäre es, wenn wir uns von allen Vorurteilen, allen Ideologien und allen erstarrten Denkmustern befreien könnten, die wir als Altlasten mit uns herumtragen? Und was wäre, wenn wir dabei auch von allen persönlichen Interessen absähen? Wenn wir also u.a. über Staatsgrenzen, Staatszugehörigkeiten, Klimapolitik, Ressourcenpolitik, Bevölkerungspolitik, EU, Monarchie, NATO, Wirtschaftsordnung, Sozialstaat und das politische System ganz und gar neutral und unbelastet nachdächten? Würden wir es dann wieder so einrichten, wie es ist? Yangs Antwort darauf war ein kategorisches und umfassendes Nein. Die Welt, wie sie ist, so formulierte er es, sei politisch kaum noch manövrierfähig. Umso unabweisbarer wurde aber der Gedanke, dass irgendwann tatsächlich ganz von vorn angefangen werden müsste. Aber so unabweisbar dieser Gedanke war, so realitätsfern erschien er natürlich. Wie sollte man eine Nation oder gar die Welt dazu bringen, in der Politik alles Gewachsene in Frage zu stellen? Aber Geld macht Mut, Geld verleiht der Phantasie Flügel, Geld kann große Ideen Wirklichkeit werden lassen, und auch bei Yang war eine große Idee gereift. Das katalanische Monarchiereferendum war ein ermutigendes Beispiel gewesen, und nun, meinte er, müsse ein größerer Wurf folgen. Seine Idee war fast die gleiche, wie Tian sie mir in Peking erläutert hatte. Ganz von vorn anfangen, dafür sei kein größerer Staat manövrierfähig genug, keine Staaten also wie Deutschland. Nur ein kleiner 331 Staat könne der Welt daher mit großen Reformen ein Beispiel geben. Zum Beispiel ein hoch zivilisierter kleiner Staat, in dem eine akute Krise den Reformwillen der Bürger gestärkt habe. Aber wo waren die kleinen Krisenstaaten, die sich mit einer beispielhaften Systemreform aus der Krise würden befreien wollen? Yang fand sie nicht. Er hatte auf kleine europäische Staaten gehofft, aber genau diese Staaten gehörten zu den politisch stabilsten. Welche Hoffnung blieb also? Für Yang war es die Hoffnung auf neu zu gründende Staaten, auf Staaten also, die ihre Unabhängigkeit separatistisch erkämpften hätten, die sich von verkrusteten Staaten abgespalten hätten und nun für sich selbst eine bessere Ordnung finden wollten. Yang überlegte sogar – auch das eine Parallele zu Tians Gedanken -, die Bürger solcher neu zu gründenden Staaten finanziell dafür zu belohnen, dass sie der Welt in Sachen Staatsordnung ein Beispiel geben. Seine Milliardäre würden, überschlug er, genug Geld bereitstellen, um einen Staat mit einigen Millionen Staatsbürgern für ein solches Reformprojekt zu gewinnen. Es war Yang immer leichtgefallen, Menschen für sich zu gewinnen, und auch, sie sich gewogen zu halten. Aber mit seiner Idee eines Modellstaats, der so viel scheinbar Bewährtes aufgäbe, war er für viele seiner Förderer zu weit gegangen, auch für die gealterten Milliardäre, die ihn seit den fünfziger Jahren unterstützt hatten. Ob er denn wirklich, musste Yang sich fragen lassen, ausgerechnet separatistische Revolutionäre als Vorreiter von Reformen im Sinn habe. Und ob es wirklich eine gute Idee sei, Reformbereitschaft mit Geldgeschenken zu wecken, das könne ja als politisches Bestechungsgeld aufgefasst werden. Auch Yang hatte darauf noch keine schlüssige Antwort. Der Facebook-Gründer Zuckerberg war in dieser Zeit 89 Jahre alt geworden. Bei Zuckerberg, das wusste Yang, war in den zurückliegenden Jahren die Altersschwäche weit fortgeschritten. Dreißig Jahre lang hatte er sich neben seiner Stiftung ganz und gar seiner privaten Forschungsuniversität gewidmet, aber nun wollte er sich auch daraus zurückziehen, verbittert auch darüber, dass Facebook den 332 Anschluss an die Kommunikationsformen der jungen Generation verpasst hatte. Als Yang Zuckerbergs Stimme am Telefon hörte, ahnte er, dass das nichts Gutes bedeutete. Er habe bisher nie gezweifelt, so begann Zuckerberg, dass Yangs Projekte die hundert Millionen Dollar, die er ihm überlassen habe, verdienten. Die Welt leide unter schlechter Politik, so sehe er es noch immer, und im Kampf dagegen seien selbst Milliarden gut investiert. Aber für Ziele, wie Yang sie in letzter Zeit verfolge, wolle er sein Geld nicht hergeben. Früher einmal hätten Yang und er doch sicher beide das Konzept privater Staatsmanagementorganisationen für das beste der Welt gehalten, und das gelte für ihn, Zuckerberg, noch immer. Zuckerberg beendete das Gespräch mit einem Monolog darüber, dass er als amerikanischer Patriot immer noch glühender Anhänger der amerikanischen Verfassung sei und sich immer noch den Gründungsvätern der amerikanischen Nation verpflichtet fühle. Was nun offenbar in Yangs Kopf vorgehe, sei damit nicht vereinbar. Unvorhersehbar war dies nicht gewesen. Nicht wenige von Yangs superreichen Spendern hatten große Sympathien für das Konzept der Staatsmanagementorganisationen gezeigt, und Yang wusste auch, warum. Als Betreiber von Staatsmanagementorganisationen kämen nur ausnahmsweise Staaten oder Unternehmen in Frage. Naheliegender war, dass Stiftungen superreicher Milliardäre solche Organisationen gründen würden. Was wäre für einen ruhelosen Multimilliardär im Ruhestand auch verlockender, als nach einer großen Unternehmerkarriere an etwas noch Größerem beteiligt zu sein? Als Mitgründer und Mitbetreiber einer weltweit agierenden Staatsmanagementorganisation womöglich sogar in die Geschichte einzugehen? Auch Yang glaubte daran, dass Staatsmanagementorganisationen das Elend gescheiterter Staaten würden lindern können, aber mehr als eine kurzfristige Übergangslösung sah er in ihnen natürlich nicht. Nach dem Anruf von Zuckerberg ging alles ganz schnell. So alt und so gebrechlich Zuckerberg war, so intakt war noch immer das Netzwerk, über das er auf die 333 Stimmungen anderer Milliardäre einwirken konnte. Der einstige Hoffnungsträger Yang versteige sich nun in vollends utopische Reformideen, so machte es in Milliardärkreisen schnell die Runde. Bald darauf brach über Yang eine Welle von Rückrufen gezahlter Fördergelder herein. Aus einer politischen Bewegung, bei der an Geldmangel nichts scheitern konnte, wäre damit in kurzer Zeit fast eine Bewegung wie viele andere geworden. Noch einmal ganz von vorn anzufangen, danach war Yang nach so vielen Jahren aufreibenden globalen Aktionismus nicht zumute. Yang, China und die Tagmakraten Seit meinem Ausscheiden aus dem Archiv hatte ich mich immer wieder gefragt, ob die Zivilisierung des politischen Bewusstseins wirklich vorankommt. Ich schwankte zwischen Hoffen und Bangen, aber das Bangen überwog bei Weitem. Schleichender Dritter Weltkrieg, Bevölkerungsentwicklung, soziale Ungleichheit, Fremdbestimmung über die Staatszugehörigkeit, schwindender gesellschaftlicher Zusammenhalt, Klimawandel, Verknappung natürlicher Ressourcen, Flüchtlingsströme – bei keinem solcher Probleme kam die Lösung näher. Politiker dieser Welt rangen um Zukunftsfragen in veralteten Institutionen nach veralteten Regeln, und nicht einmal diese Regeln hielten sie halbwegs verlässlich ein. Ihre Regeltreue hing ab von parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen und nationalen Interessenlagen. Aber dann gab es diese fast untrüglichen Zeichen der Hoffnung. Dass es einen Robert Yang gab, dass seine Bewegung weltweit hunderttausende Mitglieder und Millionen Sympathisanten hatte und dass es noch immer ein paar Superreiche gab, die sie unterstützen wollten, war das nicht schon Beweis genug, dass die Welt politisch im Aufbruch war? Dass sie den Problemen unseres Jahrhunderts nicht mehr lange mit den Methoden früherer Jahrhunderte zu Leibe rücken würde? War also die politische Gleichgültigkeit der Mehrheit nur die Ruhe vor einem Sturm der 334 Erneuerung? Standen wir genau jetzt, wo selbst in China so neues politisches Denken aufkeimte, am Beginn einer neuen Ära der Aufklärung? Ja, diese Hoffnung gab es. Und dann waren da noch diese Tagmakraten. Warum ich sie so viele Jahre lang nicht beachtet hatte, ist mir noch immer nicht ganz klar, aber sie hatten um Beachtung auch nicht wirklich gekämpft. Sie hatten keine politische Partei sein wollen, sie hatten fast nie aktiv für sich geworben, sie hatten keine charismatische Führungsfigur, in den Medien spielten sie nie eine Rolle, und sie hatten sich nie einer Wahl gestellt. Auch als ich von Hausers Kontakt zu den Tagmakraten erfuhr, machte mich selbst das noch nicht viel neugieriger. Ich stellte sie mir als blasse Theoretiker vor. Keine Partei sein zu sollen, das scheint bei den Tagmakraten lange ein Dogma gewesen zu sein. Aber 2069 traten sie dann doch zur Bundestagswahl an, auf ihre besondere Weise. Nur in einem einzigen Wahlkreis stellten sie einen Kandidaten auf. Sein Wahlslogan: Die Anderen können alles, ich kann nur Eines. Max Kruse für Klima- und Umweltpolitik. Das war natürlich kein Slogan für jedermann, die Wenigsten verstanden ihn, aber die Tagmakraten wollten damit eines der Grundübel der Demokratie aufdecken: dass Parlamentarier über alles und jedes mitentscheiden dürfen, auch wenn sie nichts davon verstehen. Sie wollten daher das Stimmrecht von Abgeordneten auf das beschränkt sehen, worin sie wirklich kompetent sind. Ein Gedanke, dem man sich vernünftigerweise eigentlich nicht verschließen kann. Max Kruse sollte hierfür ein Beispiel geben. Im Fall seiner Wahl sollte er nur an Abstimmungen teilnehmen, bei denen es um sein Spezialgebiet geht. Kruse gewann in seinem Wahlkreis immerhin 6 Prozent der Wählerstimmen. Nicht viel, und doch viel mehr, als die Tagmakraten erwartet hatten. Nach langen internen Auseinandersetzungen beschlossen sie danach, sich auf die nächste Bundestagswahl bundesweit vorzubereiten. In dieser Zeit studierte ich zum ersten Mal ihre politischen Zukunftsszenarien. 335 Yang hatte eine virtuelle Weltklimaregierung erdacht, der später einmal eine reale folgen sollte. Ihm war aber schon lange vorher klar gewesen, dass die Staaten dieser Welt eine reale Weltklimaregierung nicht schaffen würden, solange ihre politischen Systeme sich nicht änderten. Die logische Konsequenz: Damit das Weltklimaproblem lösbar wird, müssten erst einmal die nationalen Staatsordnungen erneuert werden. Wie aber könnte es dazu kommen? Die Staaten selbst würden dies nicht wollen und aus eigener Kraft nicht können. Jemand müsste es ihnen erst einmal vorführen, zumindest in der Theorie. Anfang 2069 gründete Yang daher ein neues virtuelles Gremium, von dem er sich genau dies erhoffte: Politische Prozesse zu simulieren, die in die Schaffung einer Weltklimaregierung münden könnten. Im Nachhinein fragt man sich, warum Yang und die Tagmakraten nicht schon in den fünfziger Jahren zusammengefunden hatten. Die Tagmakraten hatten sich immer schon für eine radikal erneuerte Demokratie eingesetzt, in der auch die Umwelt- und die Klimaschutzpolitik kompetenter würden. Sie hatten dabei das Konzept eines "ewigen" Verfassungsrats entwickelt, der für die ständige Weiterentwicklung der Staatsordnung zuständig sein sollte. Sie hatten auch einen virtuellen Verfassungsrat eingerichtet, der die Arbeit eines späteren realen Verfassungsrats simulieren sollte. Das waren Reformideen, wie Yang sie auch für die globale Staatengemeinschaft im Sinn hatte. Und unübersehbar war auch: Der Verfassungsrat der Tagmakraten würde eine ganz ähnliche Rolle haben, wie Tian sie für einen künftigen chinesischen Volkskongress skizziert hatte. Der virtuelle Verfassungsrat der Tagmakraten war schon weit vorangekommen und hatte einen ersten Verfassungsentwurf für eine erneuerte Demokratie erarbeitet. Damit hatte er etwas erreicht, wofür Yang noch einen jahrzehntelangen Entwicklungsprozess veranschlagt hatte. 336 Die Tagmakraten hatten sich auch des zweiten großen Themas angenommen, für das Yang und seine Bewegung sich engagierten: des Selbstbestimmungsrechts über die Staatszugehörigkeit. Dabei hatten sie auch einen Gedanken entwickelt, mit dem sich schon Hauser in seinen frühen Aufzeichnungen befasst hatte: dass die Staatszugehörigkeit nicht für alle Politikbereiche dieselbe sein muss. Als Staatsbürger ist man Mitglied u.a. einer staatlichen Solidargemeinschaft, Verteidigungsgemeinschaft, Währungsgemeinschaft und Kulturgemeinschaft, und die Mitglieder dieser Gemeinschaften müssen nicht dieselben sein. Wie Hauser es sich damals schon ausgemalt hatte: Die Schotten sollten sich in freier Entscheidung von Großbritannien loslösen können, ohne z.B. eigene Streitkräfte und eine eigene Währung einrichten zu müssen. Die Bürger Europas sollten dementsprechend ihre politische Landkarte in freier Entscheidung gestalten können, und sie sollten es für Währungsgemeinschaften, Verteidigungsgemeinschaften, Solidargemeinschaften und andere mit je eigenem Ergebnis tun können. Zu dieser großen neuen politischen Freiheit war das separatistische Recht auf Unabhängigkeit, für das Puig und Yang ursprünglich gestritten hatten, nur ein erster Schritt. Was hier nur noch fehlte, war die Verbindung mit Yangs und Prabas‘ Konzept der Online-Referenden über die Staatszugehörigkeit. Hieraus würde sich eine sehr konkrete neuartige Freiheits- und Friedensbotschaft ergeben. Zuallererst wäre es eine konkrete Friedensbotschaft an alle Separatisten der Welt und alle ihre Gegner und damit auch an fast alle Konfliktparteien des schleichenden Dritten Weltkriegs. Die Botschaft wäre: Nach unseren Regeln und mit unserem Verfahren könntet ihr eure Konflikte gewaltfrei und zivilisiert lösen, und ihr könntet euch und euren Mitbürgern, Mitstreitern und Gegnern großes Leid ersparen. Und wenn ihr es noch nicht sofort könnt, habt ihr zumindest die Aussicht, es in absehbarer Zukunft zu können. Also geduldet euch. Wartet friedlich ab, bis andere es euch vormachen, und schärft inzwischen euer Vorstellungsvermögen für diese Möglichkeiten. All das klang einfach, es klang plausibel, aber auch ich brauchte geraume Zeit, bis ich mir diese Gedanken wirklich zu eigen gemacht hatte. 337 Nicht nur zwischen den Tagmakraten und Robert Yang gab es fundamentale Übereinstimmungen, noch erstaunlicher waren die Übereinstimmungen mit Tians Gedanken über die Zukunft Chinas. Wie viel also wussten Yang, die Tagmakraten und die Tians Chinas voneinander? Gab es zwischen ihnen womöglich schon einen Gedankenaustausch, sei es offen oder vertraulich? Oder hatte es ihn von Anfang an gegeben? Am einfachsten war es natürlich, Tian zu fragen. Ich schickte ihm eine kurze Mail, und er schrieb postwendend zurück. Ja, antwortete er – schon dieses Ja ließ mein Herz höher schlagen –, natürlich wüssten er und seine chinesischen Fachkollegen von Robert Yang und auch von den deutschen Tagmakraten. Ob wir das nicht auch bei meinem Besuch angesprochen hätten. Tian wusste also Bescheid. Aber wenn man sich sogar in China schon mit den Tagmakraten befasst hatte, dachte ich, musste dann nicht auch Yang von ihnen gehört haben? Ja, zwischen Yang und den Tagmakraten hatte es, das fand ich bald heraus, tatsächlich eine Verbindung gegeben. Claude Halsdorf war es, der Milliardärflüsterer, der Yang als Erster einen Hinweis auf die Tagmakraten gegeben hatte. Wie Constanze es sah Die Ereignisse dieser Zeit beobachtete ich, so jung ich mich trotz allem noch fühlte, doch als alter Mann. Manchmal erschrak ich über mich selbst. Worauf hatte ich mich eingelassen? War Yang nicht doch ein unverbesserlicher Utopist? Weltklimaregierung, real oder virtuell – klang nicht allein das schon verdächtig nach Weltrevolution und damit nach schlimmstem zwanzigstem Jahrhundert? Und waren Yangs Mitstreiter und Sympathisanten, auch wenn es ein paar Millionen waren, doch größtenteils Außenseiter, die unter sich bleiben würden? 338 Und dann die Tagmakraten. Wer waren sie? Welche Generationen waren dort vertreten? Nicht wenige, das hatte ich herausgefunden, gehörten zu meiner Generation, die meisten waren in ihren Zwanzigern, aber die Fluktuation unter den jüngeren Mitglieder war groß. Die tagmakratischen Reformideen waren vielen eben noch sehr fremd. Und wie war es in China? Auch Tian war inzwischen ein ziemlich alter Mann. Interessierten sich kluge junge Chinesen ernsthaft für große Reformideen? Auch das erschien mir höchst ungewiss. Könnte es dann nicht sein, dass Yang, die Tagmakraten und die Tians in China in Wahrheit allesamt doch nur utopische Gedankenspiele spielten? Weckten Begriffe wie Weltklimaregierung, ewiger Verfassungsrat und Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit nur unerfüllbare Erwartungen? Waren Leute wie Tian nur Feigenblätter des chinesischen Systems, die systemkritische Geister vorsorglich ruhigstellen sollten? Nichts von dem erschien mir vollends abwegig. Constanze hatte das neunte Lebensjahrzehnt erreicht, und wir beiden Alten hielten in diesen Jahren engeren Kontakt denn je. Je älter wir geworden waren, desto klarer wurde uns, wie sehr gemeinsame Erinnerungen uns verbanden. Wir hatten zahllose Mails über Yang, Tian und die Tagmakraten ausgetauscht und über Ähnlichkeiten ihrer Ideen mit früheren Gedanken Hausers, als Constanze vorschlug, wir sollten uns bald noch einmal sehen. Ich hatte schon lange darauf gehofft. In manchem erschien mir Constanze noch immer als die Souveränere, die ein sicheres Urteil hatte, wo ich lange ergebnislos grübelte. Ob Yang und die Tagmakraten Aufklärer oder doch eher Revolutionsromantiker waren, auch darauf würde Constanze die besseren Antworten haben. Wir trafen uns, nostalgisch wie wir in solchen Dingen inzwischen doch geworden waren, wieder in dem früher vertrauten kleinen Restaurant in der Nähe des Verlagsgebäudes, aus dem der SPIEGEL nach der drastischen Verkleinerung von Redaktion und Archiv demnächst ausziehen würde. Ich kam wenige Minuten zu spät. Constanze saß schon an einem Zweiertisch mit Blick aufs Wasser. Sie wollte sich 339 erheben, aber ich merkte, wie schwer es ihr fiel, und unterbrach sie mit einer bedächtigen Handbewegung. Sie streckte mir sitzend die Hand entgegen und sah mich mit ihrem wachen, herausfordernden Blick an, wie sie es immer getan hatte. – Ich freue mich, sagte ich nur. Freu mich, dich zu sehen. – Ja, sagte sie, es wurde Zeit. Zeit, dass wir wieder miteinander reden. Constanze hatte sich natürlich gründlich vorbereitet. Über Yang und seine Bewegung wusste sie mindestens so gut Bescheid wie ich, und über die Tagmakraten viel besser. Auf fast alle meine Fragen hatte sie schlüssige Antworten. Auf die Frage, ob Yang und die Tagmakraten nicht Utopisten oder Revolutionsromantiker seien, antwortete sie, vielleicht seien es ja gerade vermeintliche Utopisten oder Revolutionsromantiker, die in diesen Zeiten am dringendsten gebraucht würden. Natürlich, sagte sie dann, schreckten Begriffe wie Utopie und Revolution ab, weil diese früher in große Desaster geführt hätten. Und natürlich werde, wer vor langfristigen Fehlentwicklung warne, noch immer gern als Apokalyptiker abgetan. Aber in der Politik, das wisse ich ja, müsse zunehmend langfristiger gedacht und geplant werden, und daher werde man sich früher oder später doch auf das besinnen müssen, was Böswillige als utopisch und revolutionär abtäten. Dann fragte sie mich, wie genau ich über die vermeintliche Utopie der Tagmakraten Bescheid wisse. – Wahrscheinlich nicht gut genug, sagte ich. Dann könne Sie es ja, sagte sie, kurz für mich zusammenfassen. Mit den kurzfristigen Problemen, die das Denken und Handeln von Politikern beherrschten, befassten die Tagmakraten sich so gut wie gar nicht. Politiker dächten bekanntlich kaum über die nächste Legislaturperiode hinaus, auf der Agenda der Tagmakraten seien dagegen fast nur langfristige Aufgaben. Als Beispiele nannte sie eine aktive Bevölkerungspolitik für eine stabile demographische Entwicklung, eine weltweit beispielgebende Rolle beim Klimaschutz und ein Rentensystem ohne staatlich festgesetzte Altersgrenzen. Vieles davon erscheine den meisten noch immer 340 wirklichkeitsfremd, sagte sie, aber in Wahrheit komme all das, wenn es denn komme, mindestens hundert Jahre zu spät. Viel wichtiger, fuhr sie fort, als die Formulierung solcher Ziele sei etwas ganz anderes. Viel wichtiger sei die Einsicht, dass diese Ziele in bestehenden politischen Systemen nicht erreichbar seien, auch nicht in der Demokratie. – So sieht es Robert Yang, sagte ich. – Aber auch die Tagmakraten, sagte sie. Deswegen sei, das wisse ich ja, deren wichtigstes Ziel der schrittweise Übergang von der Demokratie zu reiferen Staatsformen. Wohlgemerkt ein schrittweiser. Ob ich denn die Demokratieskepsis der Tagmakraten wirklich teilte, fragte sie dann. – Im Prinzip ja, sagte ich. Das hoffe sie doch sehr, sagte sie. Was sie zuerst für die Tagmakraten eingenommen habe, sei deren Überzeugung, dass niemand, kein Bürger, kein Parteimitglied, kein Abgeordneter, kein Regierungs- und kein Staatschef und auch keine Partei heute mehr die Politik als ganze verstehen könne. Das habe ihr sofort eingeleuchtet. Die Politik als ganze politischen Parteien anzuvertrauen, wie es die Demokratie von den Bürgern verlange, sei eine überholte Vorstellung. Deswegen sei auch die Forderung, Wähler sollten ihre Skepsis gegenüber der Parteiendemokratie als Wähler förmlich bekunden können, sehr plausibel. Und ebenso plausibel sei es, diese Skepsis vorerst durch aktives Nichtwählen kundzutun. Das verstünde ich wohl, sagte ich, Nichtwähler sei ich schon lange, aber um viele Bürger zu überzeugen, sollte dies doch erst einmal auf einfachere Formeln reduziert werden. – Die Demokratie, sagte sie, war die Antwort auf die Intoleranz der Monarchie. Jetzt brauchen wir die Antwort auf die Inkompetenz der Demokratie. Klingt das einfach genug? 341 – Vielleicht, sagte ich. Aber nimmt es den Menschen die Angst vor grundlegenden Reformen? – Ich weiß es nicht, sagte Constanze. Die Illusion, man müsse sich nur für die richtige Partei entscheiden, damit in der Politik alles gut werde, bleibt natürlich verführerisch. Der Abschied von dieser Illusion ist schmerzlich. Aber er ist der Preis dafür, in höher entwickelten Gesellschaft leben zu dürfen. – Aber wann wird eine Mehrheit diesen Preis zahlen wollen? – Erst dann, sagte Constanze in fast barschem Ton, wenn es zu spät ist. Ich wusste keine Antwort. Constanze erlöste mich nicht aus einem langen verlegenen Schweigen. Danach fragte ich sie nur noch, welche politische Großtat sie sich denn für dieses Jahrhundert am meisten wünschte. – Das Ende des schleichenden Dritten Weltkriegs, sagte sie, ohne eine Sekunde zu zögern. Und, was damit ja zusammenhänge, das Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit. Das allein sei ein Jahrhundertprojekt. Am nächsten Tag verbrachten wir Stunden damit, uns gemeinsam das aktuelle Weltszenario der politischen Zivilisierung vor Augen zu führen: ein erstarrtes, sozial gespaltenes Europa; ein ebenso erstarrtes und sozial noch tiefer gespaltenes Amerika; Staaten, die wieder einmal die Kontrolle über Teile ihres Staatsgebietes verloren hatten; anhaltendes Elend verarmter Mehrheiten in vielen Staaten Afrikas und Asiens; immer wieder aufflammende gewaltsame ethnische und konfessionelle Konflikte; schwelende Bürgerkriege und Kriege um Staatsgrenzen im Nahen Osten und in Asien; weiterer dramatischer Bevölkerungszuwachs in Afrika und anderen Weltregionen; dramatische Schrumpfung der Bevölkerung in Teilen Europas; wieder eskalierende Konflikte um Einwanderung; wachsende Energieknappheit und explodierende Preise für knappe Rohstoffe und fossile Energieträger; Ausschluss großer Teile der Weltbevölkerung von bezahlbarer Energie; und schließlich: die globale politische Inkompetenz, die all das zulasse. 342 Aber es gebe doch kleine Lichtblicke, wandte ich ein. Länder wie Kanada, die skandinavischen Länder, die Schweiz, Österreich oder Luxemburg und mit Einschränkungen auch Deutschland und sogar die USA hätten doch nicht nur ihren Wohlstand weiter gesteigert, sie seien auch in ihrer politischen Zivilisierung einigermaßen stabil geblieben. – Stabilität, sagte Constanze, ist doch nicht das, was die Welt braucht. Stabilität bedeutet Stagnation. Ganz so düster wollte ich die kostbare Zeit mit Constanze nicht ausklingen lassen. Ich erzählte ihr dann doch noch von meinen langen Gesprächen mit Tian in Peking. Wenn Tian und Gleichgesinnte sich dort durchsetzten, erklärte ich, könnte China auch mit politischen Reformen die führende Rolle in der Welt übernehmen, es könnte sogar Vorreiter in der politischen Zivilisierung werden. Die Tians in China, die Tagmakraten und Robert Yang im Westen, sagte ich, solche Dinge gäben doch Hoffnung für den Rest unseres Jahrhunderts. – Wer weiß, sagte sie versöhnlich. Große Veränderungen fangen immer irgendwo im Kleinen an. Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob sie es wirklich so meinte oder ob sie mich nur nicht entmutigen wollte. 2075 -… Ist das Jahrhundert noch zu retten? Europas letzter Versuch Eigentlich wollte ich dieses Buch mit dem dritten Jahrhundertquartal enden lassen, auch weil ich fürchtete, danach würde ich – in meinem neunten Lebensjahrzehnt - für eine Fortsetzung allmählich zu alt. Aber schon nach den allerersten Ereignissen des letzten Jahrhundertquartals war mir klar, dass dies doch ein allzu willkürlicher 343 Abschluss gewesen wäre. Also bündelte ich noch einmal die Kräfte, um diese letzten Kapitel hinzuzufügen. In den Jahren davor hatte ich gemeint, auf das Thema Europa nicht noch einmal eingehen zu sollen, aber nun kann ich die neue Krise der EU, die im Frühjahr 2075 ihren Anfang nahm, nicht übergehen. Die EU hatte sich schon in den sechziger Jahren Großes aufgebürdet. Das Projekt gemeinsamer Streitkräfte aller EU-Staaten, das schon im ersten Jahrhundertquartal jahrelang diskutiert wurde und sich dann im Sande verlief, lebte Ende der fünfziger Jahre wieder auf. 2065 fiel die Entscheidung, die gemeinsame Armee schrittweise zu realisieren. Bis 2080 sollten die Armeen der Mitgliedsstaaten in der gemeinsamen europäischen Armee aufgegangen sein. Nachdem seit den vierziger Jahren nach und nach Montenegro, Mazedonien, Serbien, Bosnien und Albanien in die EU aufgenommen worden waren, waren 2066 auch die Ukraine und Moldawien dazugekommen. Auch diese Länder sollten also an der kommenden europäischen Armee beteiligt werden. Weitere Beitrittskandidaten mit mittlerweile sehr guten Aussichten auf eine Aufnahme in die EU und deren Armee waren Armenien und Georgien und auch wieder die Türkei. Eine kleine Gruppe von Mitgliedsländern setzte sich zudem trotzig für die Aufnahme Israels ein. Die Entscheidungen über die Osterweiterungen der EU und viel mehr noch die Entscheidung über die europäische Armee waren unter den Mitgliedstaaten lange umstritten gewesen. Der gemeinsamen Armee stimmten u.a. Finnland, Dänemark, Schweden, Portugal und Irland erst unter massivem Druck der anderen Mitgliedstaaten zu. Diese Länder wollten aber sichergehen, nicht noch einmal solchem Druck ausgesetzt zu sein. Daher knüpften sie ihre Zustimmung an eine Reform der Entscheidungsverfahren. Sie setzten durch, dass bei künftigen herausragenden Entscheidungen der EU, insbesondere bei Aufnahmen neuer Mitglieder und bei Einsätzen der europäischen Armee, fünf auszulosende Mitglieder ein Vetorecht 344 erhielten. Russland ausgenommen, hatte die Europäische Union nun zwar fast ganz Europa als kommende militärische Weltmacht geeint, aber sie hatte sich, wie sich bald zeigte, zugleich politisch vollends handlungsunfähig gemacht. Entscheidungsfähig war die EU von nun an nur noch in Routinefragen. Was am Ende den Ausschlag dafür gab, dass die seit fast siebzig Jahren schwelende Europaskepsis in den siebziger Jahren ihrem bisherigen Höhepunkt zutrieb, ist schwer zu ergründen. Eine Rolle spielte bei vielen sicher die Furcht, die EU verliere mit ihren Erweiterungen weiter an politischer Reife, und eine wichtige Rolle spielte natürlich auch die Entscheidungsschwäche der EU. Bei vielen schürte das Nahen der gemeinsamen europäischen Armee – den Vetorechten zum Trotz – darüber hinaus offenbar die Angst, ihr Land könne gegen ihren Willen in riskante militärische Abenteuer verwickelt werden. Wahrscheinlich musste all dies aber zusammenkommen, um den Unmut über die EU so eskalieren zu lassen. Hätte auch nur eine Regierung eines EU-Landes dies vorausgesehen, wäre wohl weder das Projekt der gesamteuropäischen Armee je beschlossen worden noch das Vetorecht für ausgeloste Mitglieder. So aber konnten europaskeptische Parteien genau diese Schwachstelle der EU erfolgreich für sich nutzen. Sie forderten das Vetorecht für alle EU-Staaten. Eure Stimme für das Veto – FPÖ, mit solchen Slogans warben immer mehr europakritische Parteien, nicht nur bei den Europawahlen. Der Graben zwischen europakritischen Populisten und traditionsreichen Altparteien wurde dabei immer tiefer, und die Europakritischen wurden stärker denn je. In immer mehr EU-Staaten bildeten sich Notkoalitionen zwischen Parteien, die außer dem Festhalten an den alten Strukturen der EU kaum politische Gemeinsamkeiten hatten. So verloren mit der EU auch immer mehr Mitgliedstaaten an politischer Handlungsfähigkeit. Fast alle politischen Beobachter waren bis dahin überzeugt, dass die europapolitische Stimmungslage in den späten sechziger Jahren ihren Tiefstpunkt erreicht hatte. Die frühen Siebziger belehrten sie eines Besseren. Seit den zehner Jahren war in jeder Dekade mindestens ein Land der EU in eine ernste wirtschaftliche Krise geraten. 345 Jedes dieser Länder, darunter dreimal Griechenland, zweimal Italien, Portugal, Polen, Bulgarien, Rumänien, nacheinander alle anderen Staaten Südosteuropas und, wenn auch weniger dramatisch, Frankreich, mussten von der Europäischen Zentralbank vor dem Bankrott bewahrt werden, und die Zentralbank wurde mehrfach mit Steuergeldern der Mitgliedstaaten, vor allem natürlich der großen und wohlhabenden, rekapitalisiert. Jedes dieser Ereignisse trieb natürlich den europakritischen Parteien neue Wählermassen zu. 2071 machten dann der Front National und die niederländische Partij voor de Vrijheid mit einem Plan Furore, von dem erst später bekannt wurde, dass er mit europakritischen Parteien anderer Länder abgestimmt war: Aufkündigung des Projekts einer EU-Armee und Gründung einer gemeinsamen Armee zunächst Frankreichs, der Niederlande, Belgiens, Deutschlands und Dänemarks. Bei den folgenden Wahlen errangen die Partij voor de Vrijheid und der Front National erstmals absolute Mehrheiten. In den Jahren danach herrschte in Sachen Zukunft Europas eine fast gespenstische Stille. Natürlich wussten auch die Europaskeptiker nicht, wie es mit Europa weitergehen sollte, vom Konzept der "kleinen" Europa-Armee einmal abgesehen. Aber auch sonst wagte kaum jemand, die Entwicklung der EU in aller Offenheit weiterzudenken. Zu groß war die Angst, mit solchen Gedanken ins politische Abseits zu geraten. Die meisten politisch interessierten Europäer wandten sich erst einmal tröstlicheren Wendungen der Weltpolitik zu. Einen Hauch von Zuversicht verbreitete in dieser Zeit die Erschöpfung der arabischen Welt, die der Erschöpfung Europas nach seinen zwei Weltkriegen zu ähneln schien. In der Tat war die Gewaltbereitschaft im arabischen Raum schon seit Ende der vierziger Jahre langsam zurückgegangen. Die meisten westlichen Beobachter waren sich wieder einmal einig, dass dieser Teil der Welt nun keine andere Wahl hatte, als sich endlich nach europäischem Vorbild friedlich zu demokratisieren. Weiter war die Vorstellungskraft noch immer nicht gediehen. 346 Altfall Griechenland Dass 2075 vier Länder der Euro-Zone gleichzeitig in eine Finanz– und Wirtschaftskrise gerieten, hat natürlich Constanze viel mehr erregt als mich. Die ganze Geschichte des Euro, schrieb sie mir in einer Mail, sei ein historisches Lehrbeispiel für politische Unbelehrbarkeit. Ob nicht auch dafür in meinem Manuskript noch Platz sei. Sie wisse natürlich, dass ich alles andere als ein Lehrbuch schreiben wolle, aber ein Lehrbeispiel für Unbelehrbarkeit sei keineswegs nur eine Sache für Lehrbücher. Diesen Wunsch konnte ich ihr nicht abschlagen. Ich will es aber kurz machen und hierzu von Constanzes Gedanken nur den einen wiedergeben, den ich am leichtesten verstand. Schon bei der ersten Griechenland-Krise, meint Constanze, sei die Politik der EU von Anfang an eine schleichende Konkursverschleppung gewesen. Dabei habe die EU sich ganz darauf konzentriert, die Kosten dieser Politik vor den Bürgern zu verbergen. Diese Kosten seien immens gewesen, aber trotzdem seien sie nicht als das gewürdigt worden, was sie eigentlich doch hatten sein sollen: solidarische Hilfe. Die Kritiker, erklärte Constanze, hätten immer wieder angeprangert, mit den Finanzhilfen der EU würden vor allem griechische und europäische Banken und nebenbei der griechische Staat gestützt, die Bürger Griechenlands dagegen profitierten von diesen Hilfsgeldern kaum. Das sei zwar sehr vereinfacht, meint Constanze, aber im Grunde doch richtig. Eine wirklich solidarische Politik, die auch moralisch gewürdigt würde, hätte ganz anders ansetzen müssen. So hätten die reichen EU-Staaten in den Krisenjahren jedem Griechen eine laufende Einkommenshilfe zukommen lassen können, pro Kopf z.B. monatlich bis zu 250,- Euro. Im Gegenzug hätte die EU den Griechen dann die bittere Wahrheit beibringen müssen, dass ein Crash, eine Staats- und Bankenpleite also, nicht zu verhindern sei, auch wenn es ein Crash auf Raten wäre. Die Botschaft hätte also sein müssen: Wir können euren Staat nicht retten und nicht alle eure Banken, wir können euch auch nicht in der Euro-Zone halten, eure Einkommen 347 werden eine Zeitlang erheblich sinken, aber mit der Übergangshilfe für jeden von euch, vom Baby bis zum Greis, wird es für euch glimpflich ausgehen. Also konzentriert euch schon jetzt auf die Zeit nach dem Crash. Findet euch damit ab, dass ein Teil eurer Ersparnisse verloren ist und dass viele von euch nach dem Crash andere Arbeit an einem anderen Ort zu geringerem Lohn werden tun müssen. Je rascher ihr das annehmt, desto eher wird der Crash überwunden sein. So könnte ihr eure Wirtschaft und euren Staat aus eigener Kraft neu aufbauen, und ihr werdet stolz darauf sein. – Welcher Grieche hätte dazu Nein gesagt?, fragte Constanze, und sie gab sich selbst die Antwort: Nur die, die sehr viel zu verlieren hatten. Die Wohlhabendsten. – Aber warum, fragte ich, hat dann niemand in Europa diese Lösung gewollt? – Alte Dogmen, sagte sie nur. Ob die EU sich denn wenigstens bei den absehbaren neuen Krisen auf solche Konzepte einlassen werde, fragte ich noch. – Nein, sagte sie. Deutsche Zustände Das Ereignis in Deutschland, das sich mir für einen Nachtrag an dieser Stelle zuerst aufdrängte, war auf den ersten Blick unscheinbar. Im Sommer 2075 begannen die noch halbwegs etablierten Altparteien mit ihren Planungen für die Bundestagswahl 2077. Sie entwickelten die üblichen Szenarien denkbarer Wahlausgänge und stellten fest, dass die politische Lage instabiler werden könnte denn je. Scheinbar ausweglose Szenarien ergaben sich schon bei einem Stimmenanteil der Tagmakraten von 4 Prozent. Das aber war nach letzten Umfragen nicht mehr auszuschließen. Und noch etwas ließ die Lage für die Altparteien zunehmend aussichtlos erscheinen: Die Deutschen Demokraten hatten mit ihrer zunehmend moderaten und experimentierfreudigen Programmatik einen Teil ihrer nationalkonservativen 348 Altwähler verprellt. Die Folge war, dass die Alternative für Deutschland, die längst zu einer Karteileiche des deutschen Parteiensystems verblichen schien, mit finanzieller Unterstützung des reichsten deutschen Einzelhandelsunternehmers einen furiosen Neustart inszenierte. Bald gab es Prognosen, die den Deutschen Demokraten und der neuen Alternative für Deutschland zusammen 45 % der Stimmen zurechneten. Das konnten die Altparteien nicht tatenlos hinnehmen. Sie einigten sich schließlich mit den Deutschen Demokraten darauf, das Wahlgesetz zu ändern und die Hürde für den Einzug in den Bundestag wieder anzuheben, jetzt auf 8 Prozent der Stimmen, was neben den Tagmakraten vorerst auch die neue AfD ausschließen würde. Dass dies verfassungskonform sei, ließen sie sich durch das Gutachten eines renommierten Verfassungsrechtlers bestätigen. Die Begründung lautete: Die prekäre Lage in Deutschland und Europa erfordere größtmögliche politische Stabilität und Berechenbarkeit, und diese seien mit dem Wahlrecht in seiner aktuellen Fassung nicht mehr gewährleistet. Das frühere Urteil des Verfassungsgerichts, das Sperrklauseln bei Bundestagswahlen für unzulässig erklärt hatte, sei unter den damaligen Umständen zwar richtig gewesen, aber die Umstände seien nun andere. Das Verfassungsgericht bestätigte diese Rechtsauffassung im Dezember 2075 in einer Eilentscheidung, und es fügte hinzu: Die Demokratie müsse sich in instabilen Zeiten gegen Systemveränderer zur Wehr setzen können, und das Wahlrecht sei dafür ein legitimes Mittel. Erfahrene Beobachter schlossen daraus, dass das Gericht die Tagmakraten zu den Systemveränderern zählte. Ich fragte mich, ob das Land mit dieser Entscheidung in seiner Reformfähigkeit nicht weit zurückgeworfen sei. Wieder einmal war es Constanze, die mich in meiner Vermutung bestätigte. Die Stabilität, meinte sie, der diese Wahlrechtsänderung dienen solle, das wisse ich doch, sei nichts anderes als Erstarrung. Es war mir fast peinlich, dass ich mir das von Constanze sagen lassen musste. Natürlich geht fast jeder großen Erneuerung ein gewisses Maß an Instabilität und Unordnung voraus. 349 Wer Instabilität ausschließt, der schließt daher auch Erneuerung aus. Genau das, meinte Constanze, sei doch das Drama der Demokratie in unserem Jahrhundert. Alles sprach tatsächlich dafür, dass die etablierten Parteien sich jetzt erst einmal ein paar Jahrzehnte lang würden zurücklehnen können. Die Muslimisch-Sozialen hatten sich selbst geschwächt, die Tagmakraten waren auf absehbare Zeit aus dem Parlament ausgesperrt, und neue Parteien, die die 8-Prozent-Hürde überspringen könnten, waren nicht in Sicht. Was hätte auch deren Botschaft sein sollen? Ein einziges Ereignis in Deutschland ließ in dieser Zeit wirklich aufhorchen, ein Vorstoß der Deutschen Demokraten. Sie forderten Bürgerentscheide über die europäische Armee. Aber sie forderten dazu nicht etwa nur ein simples Ja oder Nein, ihre Forderung war viel klüger. Die Bürger sollten darüber entscheiden, welche Länder an einer solchen Armee beteiligt sein sollten und welche nicht. Immerhin eine viel klügere Forderung zu diesem Thema, als die niederländische Partij voor de Vrijheid sie in ihrem Programm hatte. Diese Forderung mochte auf den ersten Blick unverfänglich erscheinen, aber bei näherem Hinsehen war sie alles andere als das. Um zu urteilen, mit welchen Ländern sie eine gemeinsame Armee betreiben wollten und mit welchen nicht, müssten die Bürger sich erst einmal über die friedenspolitische Kultur dieser Länder im Klaren sein. Das war schwierig genug. Noch schwieriger war: Der Kreis der Länder, die an einer gemeinsamen Armee zu beteiligen sind, würde sich kaum in einem einmaligen Bürgerentscheid bestimmen lassen. Hierfür sei ein langer, mehrstufiger Entscheidungsprozess nötig. Als die Deutschen Demokraten dies verstanden hatten, machten sie sich auf die Suche nach brauchbaren Lösungsvorschlägen. Dabei stießen sie schließlich auf Robert Yang. In seinem Konzept für Online-Referenden zur politischen Unabhängigkeit vermuteten sie einen aussichtsreichen Ansatz. Fast gleichzeitig stießen sie darauf, dass auch die Tagmakraten sich sehr genau mit dieser Frage befasst hatten. Für sie war das Selbstbestimmungsrecht darüber, wer mit 350 wem gemeinsame Streitkräfte unterhält, sogar den Grundrechten zuzurechnen. Zur Wahrnehmung dieses Grundrecht hatten sie schon Jahrzehnte vorher Verfahrensvorschläge entwickelt. Die Deutschen Demokraten mussten dagegen erkennen, wie wenig sie die Konsequenzen ihres Vorschlags durchdacht hatten. Dass die Deutschen Demokraten sich mit ihren jüngsten Vorschlägen ausgerechnet den Tagmakraten und Yangs World Upgrade inhaltlich angenähert hatten, war eine heikle Angelegenheit. Für die meisten ihrer Anhänger galten die Tagmakraten und auch World Upgrade als politische Gegner, und Gleiches galt umgekehrt. Dass sich hier unverhofft inhaltliche Gemeinsamkeiten aufgetan hatten, dazu wollte sich daher niemand bekennen. Eines aber hat der Vorstoß der Deutschen Demokraten dennoch bewirkt. Er führte dazu, dass Yang und die Tagmakraten enger zusammenfanden. So begann deren gemeinsames Konzept zu reifen: Landesverteidigung, Cyberabwehr eingeschlossen, wird zur eigenständigen Staatssparte, und über deren territoriale Grenzen entscheiden die Bürger – mit Online-Referenden, wie Yang sie konzipiert hatte. Die politische Landkarte der Landesverteidigung würde so direkt von den Bürgern gestaltet. Das war schon fast ein Stück Utopie, und die Deutschen Demokraten waren unversehens in deren Nähe gerückt. Nach der Wahl 2077 bildeten die Sozialdemokraten mit der IG Senioren und den Grünen eine Minderheitsregierung. Diese stützte sich auf einen Wählerauftrag von 13% der Wahlberechtigten. Denkwürdige Zusammenkunft Interessierte es mich als 79-jährigen – in einem Alter, in dem wohl die Wenigsten politische Ereignisse noch mit großer Anteilnahme verfolgen – wirklich noch, ob und wie Yang und die Tagmakraten miteinander kooperieren wollten? Wenn das die Welt spürbar verändern würde, dann erst lange nach meinem Tod. Ich hatte jahrzehntelang im Zwiespalt zwischen politischer Weitsicht im Hauserschen Sinn und der kürzeren 351 Sicht der Generation Sichtflug gelebt. Was lag näher, als sich in meinem hohen Alter mit der kürzeren Sicht zu begnügen? Demnächst würde ich achtzig werden. Der Gedanke irritierte mich. Nicht etwa, weil ich mir selbst zu alt war. Das Älterwerden hatte mich nie irritiert, auch nicht das Altsein, aber irritiert war ich von dem Gedanken, meinen achtzigsten Geburtstag feiern zu sollen. Würde es so sein wie meistens bei späten runden Geburtstagen, bei denen nostalgisch in die Vergangenheit hineingefeiert wird? Keine Rede also mehr von Herausforderungen, von Wagnissen, von Zukunft überhaupt, meistens nur ein trotziges: auf weitere soundso viele Jahre? Nein, so würde ich es nicht wollen, das wussten auch die anderen. Wenn es zu meinem Achtzigsten etwas anderes zu feiern gäbe als mich, irgendetwas Zukunftsträchtiges, ja, dann würde ich mitfeiern wollen, ein rauschendes Fest sogar, soweit ich es noch kann, ein Fest in die Zukunft hinein, und dann würde ich, wenn es so sein soll, nebenbei auch mich mitfeiern lassen. Nur dann. Constanzes Mann war 2074 gestorben, nach zwei für sie beide schweren Jahren in einer betreuten Wohnanlage. Aber auch in dieser Zeit staunte ich, wenn ich ihre Mails las, noch oft über die Jugendfrische ihrer Gedanken. Ich habe sie im geistigen Altern überholt, dachte ich einige Male, ich bin im Denken bequemer geworden. Nach dem Tod ihres Mannes kam von ihr dann fast ein Jahr lang kein Lebenszeichen. Aber dann, ganz unvermittelt, als sei der letzte Kontakt erst gestern gewesen, schrieb sie: Du denkst doch sicher schon an deinen Achtzigsten. – Nein, tue ich nicht, antwortete ich. Und feiern will ich sowieso nicht. – Ein Grund zum Feiern findet sich schon, schrieb sie Wochen später. Eine Floskel, dachte ich. Danach tauschten wir wieder Mails über die üblichen Themen aus, meist über kleine politische Beobachtungen und darüber, ob sie eher zu Hoffnung oder zu Hoffnungslosigkeit Anlass gaben. Bei mir war mehr Hoffnungslosigkeit, bei ihr etwas mehr Hoffnung. 352 Ein Grund zum Feiern finde sich schon – ich hätte wissen sollen, dass das mehr als eine Floskel war. Wenn es jemanden gab, der Floskeln scheute, dann Constanze. Was also konnte sie gemeint haben? Zum Beispiel: Wenn mir mein Achtzigster kein Grund zum Feiern war, dann würde sie einen anderen Grund schaffen. Mit etwas mehr Phantasie hätte ich es mir denken können. Aber so viel Phantasie hatte ich nicht. Ich hatte nie so viel Phantasie gehabt wie Constanze. Ich weiß nicht, ob ich je mit ihr darüber gesprochen hatte, aber in den Jahren davor hatte ich manches Mal darüber nachgedacht, wen ich zu Lebzeiten unbedingt noch einmal würde treffen und wen ich noch würde kennenlernen wollen. Es waren flüchtige Gedanken. Ich dachte dabei natürlich auch an Tian, dann an Klaus, den Hofnarr des Archivs, an Tilman, seinen Nachfolger, an Kiesewetter, den geschassten Chefredakteur, und sogar an den alten Mesäcker. Einmal meinte ich sogar, ich würde Robert Yang gern noch kennenlernen, was mir dann aber vermessen erschien. Warum sollte der große Weltaktivist Yang einen pensionierten SPIEGEL-Archivar treffen wollen? Dann doch eher Halsdorf, den Milliardärflüsterer, überlegte ich, aber auch den Gedanken verwarf ich. Drei Monate vor meinem Achtzigsten schickte Constanze mir eine lange Mail. Die Tagmakraten würden demnächst ein Seminar in Hamburg veranstalten, für das sich auch Nichtmitglieder anmelden könnten. Der Seminartermin war der Tag vor meinem Geburtstag. Wenn ich hinginge, schrieb sie, dann würde sie auch kommen. Natürlich sagte ich dann zu. Wir vereinbarten, uns am Seminartag in der Eingangshalle des Tagungshauses zu treffen. Als ich eintraf, waren dort schon viele Menschen versammelt. Ich sah mich von der Eingangstür aus um, von Constanze keine Spur. Dann sah ich im hinteren Winkel eine kleine Personengruppe, jemand winkte mir zu. Ich musste lange hinschauen. War das Klaus? Ja, die Art, wie er sich bewegte, das konnte nur er sein. Neben ihm ein älterer Mann, etwa in meinem Alter, schien es mir, mit einem Profil, 353 das mir bekannt vorkam. Auch ihn schaute ich lange an, bis er Arme und Lippen bewegte. Kiesewetter! Klaus und Kiesewetter, zwei vertraute SPIEGEL-Leute von damals. Ein warmes Gefühl kam auf, gegen das ich mich nur kurz wehrte. Ja, ich freute mich. Aber wer waren die anderen? Wo war Constanze? Ich ging auf die Gruppe zu, dann sah ich einen jüngeren Mann, Mitte bis Ende vierzig, selbstbewusste Miene, elegante schwarze Brille. Seine Hände lagen auf den Handgriffen eines Rollstuhls. Im Rollstuhl eine Frau mit schlohweißem Haar. Erst als ich ganz nah war, sah ich ihr Gesicht. Constanze. Constanze im Rollstuhl, schlohweiß. Ich erschrak, fasste mich, ging auf sie zu, drückte ihr die Hand, umarmte sie. Sie gab dem Mann hinter ihr ein unauffälliges Signal, der schob den Rollstuhl aus der Gruppe heraus, und ich folgte ihr. – Ich sehe bekannte Gesichter hier, sagte ich. Das kann doch kein Zufall sein. – Nein, sagte sie, Zufall ist es nicht. Sie sind deinetwegen hier. Dann schwieg sie und lächelte und drehte sich um zu dem Mann hinter ihr. – Dein Sohn?, frage ich. Sie sind der Sohn? – Ja, sagte er. – Freut mich, dass alles so geklappt hat, sagte Constanze, und dass alle gekommen sind. Wir gehen zusammen ins Seminar, danach treffen wir uns im Bistro. Das ist für uns reserviert. – Wer ist wir?, fragte ich. – Lass dich überraschen. Dann das Seminar. Zuerst ein Vortrag von Paul Meier, Vorstandsmitglied der Tagmakraten. Es war eine Tour de Force durch deren Programmatik. In einer 354 knappen Stunde breitete Meier politische Zukunftsszenarien aus. Manches davon erinnerte mich an Hauser, anderes an Tian, wieder anderes an das, was ich über Robert Yangs Ideen wusste, nur weniges erschien mir ganz und gar fremd. Trotzdem kostete es mich einige Anstrengung, Meier zu folgen. Bei den meisten Teilnehmern dagegen von Anstrengung keine Spur. Ich bin viel älter als die meisten, dachte ich, daran wird es liegen. Dann die Podiumsdiskussion. Ein kleiner Tisch mit vier Stühlen. Meier bat die Mitdiskutanten zu sich. Ich war in Gedanken noch bei Fragen, die ich zu seinem Vortrag hätte stellen mögen, dann sah ich, wie Meier mit strahlendem Lächeln auf drei Männer zuging, einer etwa in meinem Alter, einer eine halbe, der andere fast eine Generation jünger, und ihnen die Plätze zuwies. Jetzt erst hörte ich die Namen: Hier bitte, Herr Kiesewetter; here on my left please, Mr Yang; Sie, Herr Mesäcker, bitte hier rechts. Dann erst erkannte ich die Gesichter. Yang, Kiesewetter und Mesäcker an einem Tisch, zu Gast bei den Tagmakraten. Morgen wirst du achtzig, sagte ich mir, du musstest achtzig werden, um das zu erleben. Aber immerhin, du erlebst es. Altwerden kann sich lohnen, das zumindest hatte ich immer geahnt. Was folgte, war keine Diskussion, eher eine Befragung. Meier hatte eine klare Agenda. Sie alle wissen, sagte er, dass wir hier keine Talkshow machen, wir simulieren konkrete künftige Entscheidungssituationen. Dass die Zuhörer über die Ideen der Tagmakraten und Robert Yangs Bescheid wussten, setzte er offenbar voraus. Dann wandte er sich Robert Yang zu. – Sie und wir, sagte er zu Yang, wünschen uns eine politische Zukunft jenseits der alten Demokratie. Darüber müssen wir hier nicht diskutieren. Wir wollen darüber reden, wie wir unsere Konzepte bekannter machen. Das sei schwierig genug, fuhr er fort, und dabei könne man bekanntlich viel falsch machen. Überall lauere die Gefahr, mit alten Ideologien und Vorurteilen in Verbindung gebracht zu werden. Eben deswegen habe Yang sich früher ja mit 355 öffentlichen Auftritten lange zurückgehalten, und die Tagmakraten täten es immer noch. Die Frage sei nun, ob die Zeit reif sei für ein offensiveres Auftreten. – Sie, Robert Yang, sagte er dann, haben sich in letzter Zeit sehr dafür eingesetzt. Warum? – Weil es eilt, sagte Yang. Dass die Spätfolgen unentschlossener Klimapolitik und Bevölkerungspolitik zu einem Weltdrama würden, sei schon nicht mehr abwendbar, und umso notwendiger seien nun konkrete Aktionen hiergegen. Ebenso auch gegen die Missachtung des politischen Unabhängigkeitsstrebens, die ja auch längst zu einem Weltdrama geworden sei. Wir sind bereit, sagte Yang dann. Die virtuelle Weltklimaregierung habe großartige Vorarbeit geleistet, jetzt könne darauf aufgebaut werden. Auch die Verfahren für die volle Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit seien praxisreif, jetzt müsse um deren Anwendung gekämpft werden. Dann hielt er kurz inne, und dann sagte er fast beiläufig: Es werde dauern, aber einiges Aufsehenerregende werde vielleicht doch schon sehr bald passieren. Es könne in Europa bald förmliche Entmonarchisierungen geben, die erste vermutlich in Katalonien. Das dürfe aber natürlich nur ein Anfang sein. Meier unterbrach ihn. Er, Yang, wisse ja, mit wie viel Sympathie die Tagmakraten seine Aktivitäten seit Langem verfolgten, aber er wisse auch, welche Zwischenschritte zu grundlegenden Reformen sie für notwendig hielten, angefangen mit einem breit angelegten Protest durch Nichtwählen, Stichwort Delegitimierung. Hierfür erhofften die Tagmakraten sich auch den Schulterschluss mit Yang und seiner Bewegung. Dann wandte Meier sich an Kiesewetter. Welche Chancen er, Kiesewetter, denn sehe, dass Konzepte wie die Yangs und der Tagmakraten die Unterstützung einflussreicher Medien gewönnen. 356 Kiesewetters Antwort war kurz und bündig. Die Eigentümer einflussreicher Medien hätten kein Interesse an großen politischen Veränderungen. In diesen Medien würden die Tagmakraten in der nächsten Zukunft kaum eine Rolle spielen. Meier wandte sich nun Mesäcker zu. Was der denn hier wolle, flüsterte ich Constanze zu, und sie flüsterte zurück: – Wart's ab, auch ein Mesäcker könnte sich verändert haben. Meier fragte Mesäcker, ob über die Konzepte Yangs und der Tagmakraten in den Parteien überhaupt gesprochen werde, und wenn, dann in welchen. In seiner Partei offiziell nicht, sagte Mesäcker, und wahrscheinlich auch nicht in anderen Parteien. Eine Ausnahme seien vielleicht die Deutschen Demokraten. Er halte es sogar für möglich, dass Deutsche Demokraten die Unabhängigkeit Bayerns wieder ins Gespräch bringen und sich dabei u.a. auf die Tagmakraten berufen werden. – Etwas Schlimmeres, warf Meier entrüstet ein, könnte uns nicht passieren. – Das verstehe ich sogar, sagte Mesäcker. Meier sah Mesäcker verblüfft an. Er war auf ein Streitgespräch mit Mesäcker eingestellt gewesen, und nun dies, diese verständnisvolle Bemerkung Mesäckers, mit der er am wenigsten gerechnet hätte. Meier hielt kurz inne, als wolle er doch noch die streitigen Argumente gegen Mesäcker vorbringen, mit denen er sich im Voraus gewappnet hatte, aber all das wäre nun ins Leere gegangen. Stattdessen setzte er zu einem versöhnlichen Schlusswort an. Wenn irgendwelche bizarren bayerischen Separatisten sich auf Konzepte von Yang oder den Tagmakraten berufen sollten, sagte er, dann würde das wieder einmal zeigen, wie leicht neue Ideen zwischen alte politische Fronten geraten. Wenn das einigen an diesem Abend noch klarer geworden sei, dann habe die Veranstaltung sich schon deswegen gelohnt. Fast alle im Raum klatschen Beifall. 357 Ich wollte danach rasch aufstehen, aber Constanze fasste mich am Arm. – Interessant genug für jemanden, der morgen achtzig wird?, flüsterte sie. – Natürlich. Danke, dass du mich hierhergelockt hast. – Das war nur das Vorprogramm, sagte sie dann. Im Bistro geht's gleich weiter. Im Bistro waren zwei große Tische zusammengestellt. Als ich hineinkam, saß Constanze schon am Kopf eines der Tische, die Ellenbogen aufgestützt, vor ihr ein Blatt mit handschriftlichen Notizen. Die Plätze um sie herum waren besetzt, ich setzte mich auf einen der beiden freien Plätze ihr gegenüber. Dann schaute ich in der Runde von einem zum anderen. Neben Constanze ihr Sohn, daneben Robert Yang, dann Claude Halsdorf, der Milliardärflüsterer, dann ein Sohn von Xavi Puig, dann Klaus vom Archiv, dann Kiesewetter, dann Meier von den Tagmakraten, dann Mesäcker. Einer fehlt leider noch, sagte Constanze, sein Flug ist verspätet. Im selben Moment schon öffnete sich die Tür, ich drehte mich um. Tian! Ich stand auf, ging auf ihn zu, umarmte ihn, geleitete ihn wortlos zum Platz neben mir. Constanze brachte mit einer kurzen Handbewegung alle zum Schweigen. Sie begrüßte einen nach dem anderen, dann stellt sie jeden mit ein paar treffenden Sätzen vor. Dann sagt sie: – Ich hatte nicht erwartet, je Teil einer solchen Runde sein zu können. Danke euch allen, dass ihr da seid. Dann begann sie zu reden, beredt und souverän wie immer, aber so bewegend, ja fast ergreifend wie jetzt hatte ich sie nie erlebt. Meinen Geburtstag erwähnte sie dabei mit keinem Wort, aber alle schienen Bescheid zu wissen. Ich, Matthias Schmidt, ein alter pensionierter SPIEGEL-Archivar, werde morgen achtzig, und Constanze bringt eine Gästerunde zusammen, wie ich sie mir nicht zu wünschen gewagt hätte. Keine 358 Feier, nur eine kleine Gesprächsrunde in einem kleinen Bistro, und doch das denkbar größte Geschenk. Constanze sprach lange, aber zu lang wurde es niemandem. Sie und ich seien neben Mesäcker die Ältesten in der Runde, wir kennten uns seit Studienzeiten, und eine unserer ersten gemeinsamen Erinnerungen sei ein Professor Graf gewesen, der uns als kurzsichtige Generation Sichtflug abgekanzelt habe. Später hätten wir beide im SPIEGEL-Archiv unter dem mittlerweile legendären Archivleiter Hauser, meinem Vorgänger, gearbeitet, einem Mann, für den die Weitsicht oder, wie er es genannt habe, der Blick ins Weite ein lebenslanges Leitmotiv gewesen sei. Seitdem hätten wir beide, jeder für sich, uns immer wieder gefragt, zu wie viel Weitsicht Politik in diesem Jahrhundert fähig sein werde. Eine hoffnungsvolle Antwort darauf sähen wir nicht. Dann fing sie an, eine Art politisches Weltszenario auszubreiten, von dem ich zuerst meinte, dass es in dieser hochkarätige Runde überflüssige Selbstverständlichkeiten seien. Aber sie trug es mit solcher verblüffenden Verve und solch altersweisem Charme vor, dass niemand auch nur für einen Moment den Blick abschweifen ließ. Sie sprach vom schleichenden Dritten Weltkrieg, der ja wieder nur eine Verschnaufpause eingelegt habe, von den schwelenden Konflikten um politische Unabhängigkeit und davon, dass auf Dauer nur die größtmögliche Wahlfreiheit über die Staatszugehörigkeit die Welt werde befrieden können. Dann streifte sie kurz die gefährlichsten Konfliktherde der Welt in Asien und Afrika, dann sprach sie über die weltweit zunehmende wirtschaftliche, politische und militärische Verwundbarkeit durch Cyber-Attacken, die inzwischen die atomare Bedrohung fast habe vergessen lassen, dann über die Überbevölkerung, die trotz verringerten Bevölkerungswachstums immer gefährlicher werde, da sie den Raubbau an Rohstoffen weiter beschleunige. Den Preis dafür würden viele Menschen noch in diesem Jahrhundert zahlen – mit verringerten Chancen auf Wohlstand und damit auf Bildung und Zivilisierung. Dann sprach sie über die globale Erwärmung, die noch nicht einmal annähernd gestoppt sei, eine böse Hinterlassenschaft der lebenden 359 Generationen nicht nur an das nächste Jahrhundert, und darüber, dass die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die skandalösen Gerechtigkeitslücken, die immer irgendwo lauernde Massenarbeitslosigkeit und die Unbelehrbarkeit der Zentralbanken fast in Vergessenheit gerieten, aber nur, um irgendwann mit umso größerer Wucht auf die politische Agenda zurückzukehren. Die Mehrheit hier am Tisch, sagte sie dann, sei sich sicher darüber einig, dass das nicht – dabei sah sie Mesäcker aufmunternd an – die Schuld einiger führender Politiker dieser Welt sei, sondern ein Systemversagen. Ein Versagen auch der Demokratie, vor allem – jetzt streifte sie Mesäcker mit einem eher entschuldigenden Blick – der Parteiendemokratie. Dann machte sie eine Pause, drückte den Rollstuhl von der Tischkante weg und schaute in die Runde. So, sagte sie dann, nun habe sie ein Problemszenario ausgebreitet, das möge genug sein. Den meisten in dieser Runde sei ja die Beschreibung von Problemen nicht genug, sie dächten über deren praktische Lösung nach. Nun habe sie den unbescheidenen Wunsch, dass reihum jeder dazu etwas beitrage, was ihm wichtig erscheine, mich ausgenommen, denn ich sei heute ja zum Zuhören eingeladen. Mesäcker war der Erste. Er habe geahnt, sagte er, dass er an diesem Tag Erstaunliches hören werde, aber es sei noch erstaunlicher, als er es erwartet habe. Er habe großen Respekt vor dieser Runde, aber spontan könne er dazu nichts Wichtiges beitragen. Auch er wolle lieber nur Zuhörer sein. Klaus sah ihn mit verschmitztem Lächeln an. – Schön, wenn einmal ein früherer Politiker im Alter zum guten Zuhörer wird. Mesäcker blieb gelassen. – Sie mögen sogar Recht haben, sagte er, und ja, dazu könne er sich in dieser kleinen Runde als alter Mann durchaus bekennen, auch er denke manchmal darüber nach, ob er sich in seinem Politikerleben fürs Zuhören und auch für das Nachdenken genug 360 Zeit genommen habe. Auf jeden Fall wünsche er sich, dass Politiker es damit in Zukunft leichter hätten. – Ich gratuliere Ihnen zu dieser Einsicht, warf Meier ein, sie ist der erste Schritt zu systemveränderndem Denken. Und dann, in die Runde blickend: – Sie, Herr Mesäcker, haben also als Politiker Dinge entschieden, über die sie zu wenig wussten und zu wenig nachgedacht haben. So verstehe ich Sie. – Vielleicht, sagte Mesäcker. Aber hatte ich eine andere Wahl? – Nein, sagte Meier, die hatten sie nicht. Auch Sie waren eben Opfer eines Systemversagens. Er schaute wieder in die Runde. – Und wir alle mit Ihnen. Mesäcker sah ihn verdutzt an, dann lächelte er, dann sah er, wie alle anderen schmunzelten, dann lachten alle, auch Mesäcker, für eine Sekunde befreit auf. Von dem Moment an war die Stimmung ganz und gar gelöst, und wir waren eine vertraute, fast intime Runde. – Bin ich dran?, fragte Halsdorf dann. – Ja, sagte Constanze. Sie erklären uns ganz kurz, ob Geld die Welt rettet. Halsdorf lächelte. Dass die Welt mit Geld allein nicht zu retten sei, sagte er, auch mit viel Geld nicht, dass wüssten hier natürlich alle, aber ohne viel Geld erst recht nicht. Yang habe ja gezeigt, wie viel Geld sich, wenn man es sehr geschickt anstelle, für große politische Ideen mobilisieren lasse, nicht nur in Amerika. Immer mehr private Milliardenvermögen würden in Stiftungen überführt, und fast alle diese Stiftungen seien irgendwie auf Sinnsuche, und das bedeute auch: auf Ideensuche. Was derzeit knapp sei, sei daher nicht großes Geld, das in der Politik Gutes tun wolle, knapp seien vielmehr große Ideen, aus denen Gutes entstehen könne. Deswegen habe Robert Yang für seine Ideen viele Jahre lang so viel Geld mobilisieren können, und 361 nun sollten die Tagmakraten in Deutschland es auch versuchen. Sie sollten es tun, schloss er, solange noch genügend Superreiche offen seien für neue politische Ideen. Keiner wisse, wie lange es so bleibe. Der junge Puig fühlte sich angesprochen, und er nickte Halsdorf zu. Die meisten Milliardäre seien als Ideenförderer in der Tat launisch und unstet. Sein verstorbener Vater sei allerdings seinem großen politischen Thema bis zum Lebensende treu geblieben und zu Robert Yang immer loyal, und er selbst wolle das auch sein. – Andererseits, mischte Meier sich ein, hat die Abhängigkeit vom großen Geld politischen Ideen nie gutgetan. Wenn der Sponsor einer Idee in Misskredit gerät, dann gerät die Idee oft mit unter die Räder. Daher wollen wir unsere Sache weiter behutsam voranbringen. Die politische Erneuerung, das wissen wir alle, verträgt keinen Aufschub, aber ein gescheiterter Versuch könnte alles noch schlimmer machen. Yang hob ungeduldig die Hand. Das verstehe er, sagte er, aber so behutsam wolle er es nicht mehr angehen. Wenn er dann scheitere, dann habe er vielleicht hunderte Millionen verschwendet, vielleicht auch Milliarden, dann zögen sich womöglich auch die letzten Milliardäre dieser Welt von solchen Projekten erst einmal zurück, aber dann müsse er sich wenigstens nicht vorwerfen, zu lange gezögert zu haben. Dann sei es nicht seine Schuld, sondern dann sei der Welt eben nicht zu helfen gewesen. Er werde in nächster Zeit versuchen, die Weltöffentlichkeit auch mit aufsehenerregenden Aktionen aufzurütteln. Meier wollte mit einem Kopfschütteln auf sich aufmerksam machen, aber Yang ging gleich zu seinem nächsten Thema über. – Ich weiß, sprach er Meier an, dass auch ihr Tagmakraten euch für das Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit einsetzt, vielleicht sogar noch konsequenter als ich. Das hat mich natürlich bestärkt. Inzwischen weiß ich auch, dass euer Konzept und das von Puig und mir entwickelte einander ideal ergänzen. 362 Dann sprach er lange über Online-Referenden zur politischen Unabhängigkeit. Ein großes Problem sei dabei die Fälschungssicherheit gewesen, aber nicht weniger schwierig der Ausschluss von Zufallsergebnissen. Erst Puig habe ihn darauf gestoßen, dass die Ergebnisse herkömmlicher demokratischer Wahlen oft Zufallsergebnisse seien, Momentaufnahmen, die nur flüchtige Stimmungen abbildeten. Sein Abstimmungserfahren sei dagegen so weit entwickelt, dass es Zufallsergebnisse nahezu ausschließe. Im Übrigen hätte sein Team auch großartige Lösungen für die Probleme in Unabhängigkeitsreferenden unterlegener Minderheiten gefunden. Wenn eine Region sich z.B. nur mit knapper Mehrheit für unabhängig erkläre, dann sei es natürlich fraglich, ob damit der Freiheit und dem Frieden wirklich nachhaltig gedient sei. Mit einem solchen Ergebnis dürfe der politische Entscheidungsprozess daher nicht beendet sein. – Richtig, warf Meier ein, das sehen wir genauso. Was wir politische Assoziationsfreiheit nennen, schützt auch eventuelle neu entstehende Minderheiten. – Glauben Sie mir, sagte Yang, die Zeit ist reif dafür. Viel Behutsamkeit können wir uns nicht mehr leisten. Kiesewetter, der zuletzt mit halb geschlossenen Augen zugehört hatte, hob demonstrativ die Augenbrauen. – Kann sein, dass die Zeit reif ist, murmelte er, aber die Presse, die Medien, die Redaktionen sind es nicht. In diesem Moment hob Constanze die Hand, als wolle sie die Gesprächsrunde damit beenden. Dann begann sie im Tonfall eines Schlussworts: – Hoch interessant, was wir gerade gehört haben…. – Aber wie sieht denn Tian das Ganze?, unterbrach ich sie. Wollen wir das nicht auch noch hören? 363 Constanze schaute mich etwas verlegen und schuldbewusst an, dann sah sie auffordernd zu Tian hinüber, dann Tian zu mir, dann ich zu Tian, und dabei nickte ich ihm so lebhaft zu, dass er kurz entschlossen das Wort ergriff. Er habe hier sehr interessante Gedanken gehört, sagte er, deren Entwicklung er und seine Kollegen in China übrigens schon lange verfolgten. Dann deutete er vorsichtig einiges von dem an, was er mir in unseren langen Gesprächen in Peking erklärt hatte. Einige in der Runde, Meier vor allem und Yang, Constanze und auch Kiesewetter, hörten ihm staunend zu, als trauten sie ihren Ohren nicht. Aber dann brach Tian – er hatte kaum mehr als zwei Minuten geredet – unvermittelt ab. – Sie sehen, sagte er dann noch, in China hält man sich viele Wege offen, auch einige, denen der Westen sich noch verschließt. Aber Sie sollten die kommenden Entwicklungen in China aufmerksam beobachten. Alle in der Runde nickten anerkennend. Nur mich hatte dieses Aber etwas stutzig gemacht. Aber wir sollten die Entwicklungen in China beobachten. Was bedeutete das? Constanze dankte Tian, und nun kam sie – auch das natürlich gut vorbereitet – zu ihrem Schlusswort, jetzt mit einer ersten Spür Müdigkeit in der Miene, aber immer noch sprühend vor geistiger Frische. Was wir heute gehört hätten, mache doch viel Mut, sagte sie. Die große Demokratiemüdigkeit, die den Westen in den letzten Jahrzehnten befallen habe, müsse eben nicht bedeuten, dass das Rad der Geschichte zurückgedreht werde, ganz im Gegenteil. Auch dass die alte Sehnsucht nach einem starken Mann bzw. einer starken Frau an der Staatsspitze in demokratischen Staaten so unfassbar stark zurückgekehrt sei, dürfe uns von unseren Zielen nicht ablenken. Von den Tagmakraten hätten wir ja gehört, dass in Wahrheit niemand mehr die Rolle des starken Staatslenkers kompetent ausfüllen könne, und das sei doch sehr einleuchtend. Demnach könne es kein Zurück hinter die Demokratie geben, wie sie ist, sondern nur eine Entwicklung über die Demokratie hinaus. Wenn also unsere Art von 364 Demokratie untergehe, wie beispielsweise die klassische Demokratie Athens untergegangen sei, dann führe das nicht in ein neues Zeitalter von Autokratien. Allein die von Yang skizzierten neuen Abstimmungsverfahren zeigten, dass auf unsere Demokratie viel höher entwickelte Staatsformen folgen könnten. Wir hätten aber auch gehört, fuhr Constanze fort, wie unterschiedlich der Zeitbedarf für diese Entwicklungen eingeschätzt werde. Meier zufolge könnten wohl selbst die Jüngsten in der Runde nicht sicher sein, diese Entwicklungen noch zu erleben. All dem wolle sie als Ökonomin nur noch hinzufügen: Auch die Wirtschaft sei von der Inkompetenz überforderter demokratischer Staatsführungen stark betroffen. Auch die Wirtschaft könne daher von einer Weiterentwicklung der Demokratie nur profitieren. Dabei strahlte Constanze eine zuversichtliche Stimmung aus, von der wir uns alle anstecken ließen. Nur Tians Miene blieb so ernst, wie sie seit seiner Ankunft gewesen war. Natürlich hatten wir bis dahin nichts zu Ende diskutiert, aber das durfte ich auch nicht erwarten. Wir kamen schon zum Ende unserer Begegnung, und auch das war von Constanze perfekt inszeniert. Es gab eine mehrsprachige Speisekarte, deutsch, englisch, katalanisch, chinesisch und luxemburgisch, mit je einem deutschen, englischen, katalanischen, chinesischen und luxemburgischen Gericht. Dann wurde unser kleiner Kreis von fünf Kellnern umsorgt, allesamt Studenten, einer Deutschen, einem Kanadier, einer Chinesin, einem Luxemburger und einer Katalanin. Und nach der ersten Speise hatte Constanze noch eine Überraschung parat. Jeder von uns sollte die politische Idee, die ihm für die Zukunft am wichtigsten schien, den fünf kellnernden Studenten in einem Kurzvortrag erläutern, und anschließend sollte ein anderer herausfinden, wie gut die Studenten es verstanden hatten. Alle machten begeistert mit. Aber das Ergebnis war dann doch eher ernüchternd. Genau verstanden hatten die Studenten nur, was Mesäcker über die Zukunft seiner Partei gesagt hatte. Ganz überrascht habe sie das nicht, sagte Constanze am Ende, es habe uns aber zumindest gezeigt, wie viel Überzeugungsarbeit noch zu leisten sei. 365 Vielleicht, sagte sie, bevor wir danach auseinandergingen, hätten wir für alles noch immer nicht die richtige Sprache gefunden. Vielleicht müssten wir bei diesen Themen viel mehr in Bildern sprechen, die die politische Phantasie anregten. Ob jemandem dazu spontan etwas einfalle. Meier hob die Hand. - Was haltet ihr davon: Demokratien sind die Larven, aus denen sich die Schmetterlinge postdemokratischer Staatsformen entwickeln werden. Ich brauchte eine Weile, bis das Bild sich in meiner Vorstellung ganz entfaltet hatte. – Das passt, sagte ich. Kleine Neuerungen Wie hatte Constanze es geschafft, diese Runde zu diesem Tag zusammenzubringen? Ganz leicht sei es nicht gewesen, untertrieb sie, als ich sie am nächsten Morgen danach fragte, aber im Zusammenbringen von Menschen habe sie ja einige Übung. Viel mehr konnte ich ihr, bescheiden wie sie war, dazu nicht entlocken. Natürlich war ich von dem Treffen beglückt, und auch Constanze tat es gut. Das Leben wird im Alter, spätestens aber im neunten Lebensjahrzehnt ereignisärmer, und nicht nur Yang hatte uns an diesem Tag das Gefühl gegeben, uns stünden zumindest politisch vielleicht doch noch große Ereignisse bevor. Ganz falsch lagen wir damit nicht. Weniger als ein halbes Jahr nach unserem Treffen gab es in Schottland ein Probereferendum über die Monarchie, wie es schon in Katalonien stattgefunden hatte. Der Zeitpunkt war denkbar günstig. Die royale Familie hatte gerade mit neuen Skandalen Schlagzeilen gemacht. Im Internet kursierten heimlich aufgenommene Bilder eines offenbar alkoholseligen Königspaares, der König hörbar Unflätiges murmelnd, und dazu gab es Gerüchte über einen alles andere als königlichen Erziehungsstil und seelische Nöte der 366 Königskinder. Von dieser Familie wollten sich weniger Schotten denn je repräsentiert sehen. Nach dem ersten Probereferendum wurden – wie Yangs Verfahren es vorsah – zwei Bestätigungsreferenden durchgeführt. Das Ergebnis war eindeutig. Fast alle schottischen Bezirke lehnten die britische Monarchie mit großer Mehrheit für sich ab. In diesen Bezirken war damit auch in Schottland die Monarchie de facto abgeschafft. Dem König wurde die Botschaft übermittelt, als Gast sei er dort weiterhin willkommen, aber nicht mehr als Staatsoberhaupt und König der Schotten. Wenige Monate später gründete sich in Flandern eine Bewegung, die sich die Loslösung von der belgischen Monarchie zum Ziel setzte. Ich hatte die europäischen Monarchien immer für bedeutungslos gehalten und tat es noch immer, aber die Medien waren erfüllt von dem Thema, und ich ließ mich davon anstecken. Wirklich bedeutende politische Entwicklungen hatte ich in Europa bisher kaum erleben dürfen, nicht einmal den Willen dazu, aber wenigstens in dieser Angelegenheit war nun ein breiter Veränderungswille zu spüren. Immerhin war es ein Stück Staatsordnung, das hier in Frage gestellt wurde. Ich wollte meine Freude hierüber teilen und rief Constanze an. Auch sie sei doch sicher froh, dies in unserem Alter noch zu erleben. – Ja, antwortete sie, interessant ist das, aber es ist doch auch erschütternd, dass eine solche Kleinigkeit schon als großes Ereignis gilt. Eine Provinz erklärt einen machtlosen König auf ihrem Gebiet zum Privatmann. Na und? Sie hatte natürlich wieder einmal Recht. Es gab einen kleinen Funken Hoffnung auf spätere größere Veränderungen, mehr nicht. Aber schon ein paar Monate später bewegte sich wieder etwas. Es gab Neues aus Island und China. Wirtschaftlich hatten beide Länder schon lange eng zusammengearbeitet, vor allem natürlich in Fischereiangelegenheiten. Nun wollten, so hieß es, Island und China auch bei politischen Reformen kooperieren. Ich dachte natürlich sofort an das, wovon Tian mir in Peking erzählt hatte: dass China in kleinen 367 Modellstaaten Reformen erproben lassen wollte, die man sich an einem Milliardenvolk nicht zu erproben traute. War Island mit seinen 300.000 Einwohnern nicht ein geradezu idealer Testfall? Würde Island sich also, ermutigt durch großzügige chinesische Finanzhilfen, demnächst zum globalen Vorreiter politischer Systemerneuerung machen? Das beobachten zu dürfen, dafür würde ich mir noch ein ziemlich langes Leben wünschen. Aber auch anderswo kamen Reformvorhaben in Bewegung. Yangs Referendumskonzept hatte einige Initiativen angeregt, die Größeres im Sinn hatten als eine Loslösung von monarchischem Zeremoniell. In Indien suchten immer mehr Regionen nach Wegen zu mehr Autonomie, und auch hier sprach sich herum, dass Yangs Konzept hierfür neue Perspektiven eröffnete. Auch in Südosteuropa wuchs bei ethnischen und sprachlichen Minderheiten, ungarischen, albanischen und anderen, das Interesse an diesem Konzept heran. Auch in Estland wurde darüber neu diskutiert. Estland hatte seit mehr als einem halben Jahrhundert die Furcht vor einer russischen Invasion fast zur Staatsräson gemacht und als NATO-Mitglied militärisch immer weiter aufgerüstet, was zwischen der estnischen Mehrheit und der russischen Minderheit des Landes Misstrauen und Missgunst hatte wachsen lassen. Dass nun die russische Minderheit mehr Eigenständigkeit einforderte, könnte auch von Yangs Konzept inspiriert gewesen sein. Dazu passten die Slogans, mit denen die russische Minderheit jetzt für ihr Anliegen warb, wie Eure Armee ist nicht unsere und Wir zahlen nicht mit für euren Rüstungswahn. Was anderes konnte das Ziel solcher Initiativen sein als ein, wie es jetzt auch in den Medien genannt wurde, YangReferendum? Hier also ein Referendum über das Lossagen der russischen Minderheit von der estnischen Landesverteidigung? Das aber würde nur möglich sein in Zusammenhang mit einem Umbau der Staatsordnung. So weit immerhin war es zumindest in einem kleinen europäischen Land gekommen. 368 Stillstände Ein paar Monate lang hatte ich geglaubt, hier mit dieser hoffnungsvollen Note enden zu können, aber das wäre, wie man inzwischen weiß, ganz und gar irreführend gewesen. Von der Bundestagswahl 2077 hatte ich mir keine Veränderungen erwartet, aber es kam dann doch anders. Die Schlussphase des Wahlkampfs brachte eine Debatte, wie man sie seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Den Anfang machten die Deutschen Demokraten. Als Umfragen ihnen immer bedrohlichere Stimmenverluste vorhersagten, schossen sie sich immer gezielter auf die EU ein. Die EU sei ein verkorkstes Jahrhundertprojekt, und zwar von Anfang an, und man müsse endlich den Mut haben, es auch so benennen. Dieses politische Europa sei nicht mehr reparabel, eine Sanierung sei zwecklos, es helfe nur noch ein Neubau. Mit uns Europa neu bauen, das wurde die zentrale Wahlkampfbotschaft. Für die Tagmakraten hätte es Schlimmeres kaum geben können. Dass man das politische Europa von Grund auf neu bauen müsse, das hatten sie schon immer vertreten, und Konzepte dafür hatten sie über Jahrzehnte entwickelt. Dieses Thema durften sie nicht von den immer noch populistischen Deutschen Demokraten vereinnahmen lassen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stürzten sie sich daher in eine reguläre Wahlkampfdebatte. Sie traten den Deutschen Demokraten mit dem Slogan entgegen: Baumeister für ein neues Europa – Die Tagmakraten. Helfen tat es nicht. Die Deutschen Demokraten wurden bei dieser Wahl erstmals stärkste Partei. Dabei gelang es ihnen, viele politikmüde Wähler wieder an die Wahlurnen zu bringen und damit die Wahlbeteiligung auf unerwartete 37 Prozent zu steigern. Die Leitmedien deuteten dies trotzig als ein Wiedererstarken der Demokratie. Die Deutschen Demokraten gewannen am Ende die SPD und die Unionsparteien als Koalitionspartner, womit weitere vier Jahre Stillstand gesichert waren. 369 In den Monaten danach bemerkte ich an mir zum ersten Mal, wovor mein Verstand mich bis dahin hatte bewahren sollen: Das Altern macht ungeduldig. Wenn es um große, grundlegende Reformen geht, hatte schon Hauser mir oft vorgehalten, müsse man in historischen Zeiträumen denken, sich also vor Ungeduld hüten. Die Geschichte nehme eben auf den Wunsch, ein bestimmtes Ereignis noch selbst zu erleben, keine Rücksicht. Aber ausgerechnet im Alter konnte ich diesen Wunsch immer weniger unterdrücken. Ich hoffte, dass wenigstens anderswo auf der Welt demnächst Stillstände aufbrechen würden. Dann kam eine Mail von Tian, die erste nach langer Zeit. Was weißt du Neues über Yang? Was über Meier? Halten sie durch? Nur diese drei Sätze, sonst nichts. Kein Wort über China, kein Wort über die Reformideen von Tian und Kollegen, kein Wort darüber, wie weit die Partei und womöglich die Regierung in China sich darauf eingelassen hatten. Ich wusste: Ein gutes Omen war das nicht. Manchmal ähnelt die Wirklichkeit einem schlechten Roman. Manchmal folgen spontane reale Ereignisse wie gekünstelt aufeinander. So erschien es mir, als nur einige Tage nach Tians Mail die Vanuatu-Tragödie ihren Lauf nahm. Meteorologen sagten voraus, dass wieder einmal ein südpazifischer Wirbelsturm Vanuatus Inseln streifen würde. Dann wurden die Meldungen bedrohlicher. Was da komme, hieß es jetzt, könne der heftigste je beobachtete Wirbelsturm sein. Die nächste Nachricht: Der Zyklon ändere die Richtung, sein Zentrum bewege sich genau auf Vanuatu zu. Dann die Warnung: Viele kleinere Inseln Vanuatus würden vollständig überflutet werden. Jetzt blickte die Welt auf Vanuatu. Vielleicht hatte Yang so etwas schon lange erwartet, und vielleicht wusste er auch längst, was er in solchem Fall tun würde. Viele Dutzend wagemutige Journalisten aus aller Welt, manche von ihnen bekannte Kriegsberichterstatter, machten sich sofort auf den Weg nach Vanuatu. Und Yang wollte dabei sein. Für ihn, den globalen Klimaschutzaktivisten, war das vielleicht die große Chance seines Lebens, ein weltweit sichtbares klimapolitisches Signal zu geben. 370 Yang brauchte zwei Tage für die Vorbereitung. Er charterte ein Flugzeug, ließ es mit Schlauchbooten, Fahnen, Transparenten und Ballons beladen, alle mit unübersehbar großer Beschriftung. Eine davon: World Upgrade in Aktion für Vanuatu. Eine andere: Weltklima-Regierung - virtuell. Drei von deren Mitgliedern flogen mit ihm. Zum ersten Mal, hoffte Yang, würden die Augen der Welt sich auf dieses Gremium richten. Yangs Flugzeug landete in Vanuatus Hauptstadt Port Vila einen halben Tag, bevor der Wirbelsturm sie erreichte. Am nächsten Morgen erkannte ich auf Fernsehbildern vom Flughafen Port Vila Yangs Fahnen und Transparente. Ein paar Stunden später sah ich Yang im Kurzinterview mit einem Reporter, im Hintergrund seine Mitstreiter von der virtuellen Weltklimaregierung, umgeben von Schlauchbooten und Ballons, alle beschriftet mit Yangs großformatigen Botschaften. Dies waren die letzten Bilder von Yang. Am nächsten Tag meldeten die Medien seinen Tod. Er war nicht Opfer seines Wagemuts geworden, er war nicht bei einer spektakulären Aktion verunglückt, er war einen ganz banalen Tod gestorben. Eine im Orkan herabfallende Balkonplatte hatte ihn erschlagen. Ich hätte ihm gewünscht, mit seinem Tod wenigstens noch seiner Sache gedient zu haben, aber selbst das war ihm nicht vergönnt. Die Welt schaute auf die Bilder von den Verheerungen des Zyklons, der Fall Yang war eine drittrangige Nachricht. Die Medien verwehrten ihm sogar noch im Tod den verdienten Respekt. Klimaaktivist Robert Yang bei Spaziergang in Vanuatu verunglückt, so ähnlich meldete es nicht nur BILD-Online. Umso eindrucksvoller war der spontane Nachruf, den zur gleichen Zeit Claude Halsdorf auf seiner eigenen Internetplattform veröffentlichte und der später Millionen Leser fand. Ich will hier nicht Halsdorfs ergreifende Schilderung der Persönlichkeit Robert Yangs wiedergeben, der fast verglüht sei in seinem Engagement für die Rettung des Weltklimas. Fast ebenso beachtenswert war Halsdorfs Reminiszenz an das Seminar über die Anthropologie von 371 Staatsverfassungen, das Yang und er in Stanford gemeinsam besucht hatten. Yangs eigener Beitrag zu diesem Seminar habe davon gehandelt, welche Schlüsselrolle Feindbilder und Empörung bei großen politischen Veränderungen gespielt hätten, Feindbilder also wie verhasste Monarchen, Autokraten, Oligarchen, Ethnien, Gesellschaftsschichten, Parteikader, Un- oder Andersgläubige oder auch abstrakte Feindbilder wie das Großkapital oder vermeintliche Verschwörercliquen. Diesen Zusammenhang zwischen Feindbild und Empörung einerseits und politischem Wandel andererseits habe Yang als anthropologische Konstante gesehen. Empörung, so Yang damals weiter, wirke aber, auch wenn sie noch so berechtigt sei, für sich genommen erst einmal nur destruktiv, was auch in der Geschichte großer politischer Bürgerbewegungen seinen traurigen Niederschlag gefunden habe. Dies sei ein Schlüsselgedanke, der in der politischen Ideengeschichte bisher kaum eine Rolle gespielt habe. Früher oder später, so sei Yangs Schlussfolgerung gewesen, bedürfe es daher neuer Staatsverfassungen, die es Menschen leichter machten, politischen Wandel auf den Weg zu bringen, ohne sich zuvor in Feindbilder verbissen zu haben. Diesen Gedanken, so Halsdorf, habe Yang nie aufgegeben, aber er sei zu früh gestorben, um ihm in aller Gründlichkeit nachzugehen. Hoffnung gebe aber, dass einige andere – an erster Stelle nannte er Meier – diesen Gedanken schon seit Längerem sehr konkret weitergedacht hätten. Ich wollte über Yangs Tod nicht nur lesen, ich wollte meine Trauer darüber mit jemandem teilen, und wen anders konnte ich anrufen als Constanze. Auch sie war natürlich bestürzt. Ob sie denn glaube, fragte ich sie, dass Yangs Bewegung ihren Weg auch ohne ihn mit gleicher Entschlossenheit weitergehen werde. Auch Constanze hatte sich diese Frage natürlich sofort gestellt, und sie hatte, kurz entschlossen wie immer, darüber auch schon mit Claude Halsdorf gesprochen. Wenn einer ein Gespür dafür hatte, wie es um Yangs Bewegung nun bestellt sein würde, dann er, das wusste sie. Halsdorfs Antwort war bedrückend: Er glaube nicht, dass jemals wieder irgendjemand so leicht so viel Geld für ein politisches Projekt einwerben könne. 372 Einige Milliardäre, zuletzt sogar aus China, hätten Yang im Lauf der Zeit ja veritable Blankoschecks ausgestellt. Im Umgang mit den Superreichen dieser Welt sei Yang ein Jahrhunderttalent gewesen, ein Genie geradezu, und auf ein neues solches Genie solle man nicht hoffen. Das große Geld werde für World Upgrade nicht mehr fließen. Die großen Projekte, die Yang in jüngster Zeit auf den Weg gebracht habe, würden also rasch ins Stocken geraten. Dann erzählte er Constanze, worüber Yang zuletzt verhandelt hatte: informelle Unabhängigkeitsreferenden in Indien und in europäischen Ländern, die meisten über Unabhängigkeiten für einzelne Staatssparten. Übergangshilfen für den Umbau zum klimapolitischen Modellstaat für mehrere kleine europäische Staaten. Vorübergehende Übergabe der Staatsgeschäfte des Kosovo, des früheren Libyens und des früheren Somalias an die Staatsmanagementorganisation der Gates-Stiftung mit dem Auftrag einer politischen Systemerneuerung. – Aber auch all das, fasste Constanze zusammen, war noch ganz in den Anfängen. Noch würde sich kein Land der Welt einem Robert Yang retten lassen wollen. Demokratiedämmerung Wie viel einfacher wäre es gewesen, wenn ich diese Geschichte, wie ich es zuletzt geplant hatte, mit der Bundestagswahl 2077 hätte enden lassen können. Dann kam Yangs Tod, und den konnte ich natürlich nicht übergehen. Aber durfte Yangs Tod das Ende dieser Geschichte sein? Wäre nicht auch das ein Ende gewesen wie in einem schlechten Roman? Mit Yangs Tod gingen viele Hoffnungen unter, das war klar, aber war damit wirklich irgendetwas zum Abschluss gekommen? Keiner wusste es. Ich nahm mir in dieser Sache noch einige Wochen Bedenkzeit, und dabei verfolgte ich die Nachrichten über den aktuellen Volkskongress in China. Es waren die üblichen starren Bilder, dazu immerhin ein paar Meldungen über unvorhergesehene Personalien, aber dann kam am Ende die Meldung über die Resolution zur Einheit 373 und Einigkeit Chinas. Die westlichen Medien machten zu Anfang wenig Aufhebens davon. Der tiefere Sinn der Resolution erschloss sich erst bei genauem Studium, nichts also für eilige Korrespondenten und Redakteure. Aber mich machte es hellhörig, und ich besorgte mir den vollständigen Text. Es war, wie ich befürchtet hatte. Einheit und Einigkeit, das hieß Einheitlichkeit in starren Staatsgrenzen. Die Botschaft war: Ganz China hat einig hinter der Parteiführung und ihren Dogmen zu stehen. Ganz China, das hieß: alle Regionen, alle sozialen Schichten, alle Ethnien, alle Konfessionen, aber es hieß auch: alle Wissenschaftler, auch Leute wie Tian. Die Vielfalt der wissenschaftlichen Meinungen, die sich, wie Tian es mir erklärt hatte, auch im Auftrag der Parteiführung herausgebildet hatte, war der Partei unheimlich geworden. Dass die Entwicklung von Reformkonzepten ein Wettlauf mit der Zeit sein würde, hatte auch Tian gewusst. Für China schien dieser Wettlauf nun verloren. Die Parteiführung glaubte nicht mehr, das Land mit Reformen befrieden zu können, also versuchte sie es wieder mit harter Hand. Das Signal an die Kritiker, Querdenker und Vordenker im eigenen Land und in der Welt war: Das neue China wird das alte sein. Die grandiose Idee, Systemreformen zunächst von kleineren Nationen testen zu lassen, um sie dann später ggf. auf China zu übertragen, war zu spät gekommen. Oder würde Tian sagen, zu früh? Viel zu früh womöglich? Ich schickte Tian eine Mail. Nichts, was ihn in Bedrängnis bringen konnte, nur die kurze Frage: Wie weit, glaubst du, geht es zurück? Seine Antwort kam rasch und überraschend klar und offen. – Mit der Entscheidung des Volkskongresses? Für den Rest des Jahrhunderts ist sie bindend. Aber das Denken verbietet sie nicht. Nicht das reformerische Denken verbot sie, aber das Handeln. Damit war klar: Das 21. Jahrhundert wird für China als das zu Ende gehen, was es für die Chinesen bisher gewesen war, als ein Jahrhundert des Wohlstandswachstum. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Alles andere war damit den Generationen des 22. Jahrhunderts 374 aufgebürdet. Auch ich war tief enttäuscht. Wie viel Hoffnung hatte Tian in mir geweckt, dass China einem verkrusteten Westen politische Impulse geben würde, zu denen dieser selbst nicht mehr fähig war. Diese Hoffnung war nun erloschen. Wenigstens insofern, sagte ich mir dann, klare Verhältnisse. Yangs Tod und der Rückschlag in China, beides zusammen kann eine Epoche um ihre Chancen bringen. Aber manchmal, wenn ich in den Spiegel schaute, auf mein faltiges Gesicht und den fast kahlen, nur noch von einem schmalen Streifen halblanger schlohweißer Haare gesäumten Kopf, dachte ich auch: Sollen doch Jüngere sich darüber Gedanken machen. Du hast wenigstens deine Chronistenpflicht erfüllt. Als Achtzigjähriger hat man nicht mehr viele Gesprächspartner, bei denen man sich in solchen Dingen vergewissern kann, aber ich hatte ja noch immer Constanze. Ich rief sie an, und ohne dass ich es gewollt hatte, begann ich zu klagen, über die entmutigenden Zeiten und über das Nachlassen der körperlichen Kräfte, das auch ich immer mehr spürte, über den schmerzenden Rücken, den schwächelnden Kreislauf und darüber, dass auch ich nun immer öfter eine Gehhilfe benutzte. Wenn mein Körper noch etwas ordentlich beherrschte, sagte ich, dann allenfalls die Tastatur des Computers. Darauf gab sie wieder einmal eine Antwort, die alles zurechtrückte: Das Wichtigste ist dir am längsten geblieben, nimm das als dein Glück. Dann schilderte ich ihr, dass ich dieses Buch nicht mit Ereignissen enden lassen wollte, die sich später als folgenloses Randgeschehen unseres Jahrhunderts erweisen würden. Ob sie denn meine, dass das bei Yangs Tod und der aktuellen Resolution des chinesischen Volkskongresses der Fall sein könnte. Sie versuchte mich zu beruhigen. Natürlich seien das Momentaufnahmen, und niemand wisse genau, wie lange diese Ereignisse in die Zukunft hineinwirken würden. Aber wir beide seien doch sicher, dass, wenn irgendwelchen Gedanken unserer Zeit die Zukunft gehöre, es Gedanken wie die von Yang, Tian und Ihresgleichen seien. Daran änderten doch auch die jüngsten Ereignisse nichts. 375 Natürlich hatte sie Recht. Umso irreführender wäre es aber doch, ein Buch über unser Jahrhundert mit genau diesen Ereignissen enden zu lassen. Aber womit sonst? Auch dazu bat ich Constanze um ihren Rat. Schon am nächsten Tag überfiel sie mich Ideen, fast alle davon auf Anhieb hoch plausibel. Das Allerwichtigste sei natürlich, sagte sie, nach Yangs Tod und den Ereignissen in China nicht zu resignieren. Reformer brauchten nun einmal einen langen Atem, am allermeisten, das wisse ich ja, Systemreformer, und nur wer den allerlängsten Atem habe, der könne am Ende Gewinner sein. – Und wer, meinst du, wird das sein?, fragte ich. Vielleicht, sagte sie zögernd, Leute wie Meier. Die könne ja niemand zum Schweigen bringen, wie das chinesische System es jetzt mit seinen Reformern tue, und die seien auch nicht auf Leitfiguren wie einen Robert Yang angewiesen. Aber für dieses Jahrhundert mache ihr auch das nicht viel Hoffnung. Auch mit dieser pessimistischen Note will ich hier aber nicht enden, das wäre wohl auch nicht in Constanzes Sinn. Aber was wäre zu den großen politischen Themen noch nachzutragen? Zur lähmenden Stimmung von politischer Stagnation, Inkompetenz und Sinnleere, zum Niedergang der Parteiendemokratie, zum schleichenden Dritten Weltkrieg, zum Ringen um die Bändigung der Flüchtlingsströme – das viele für Europa schon verloren gegeben haben –, zur weltweiten Missachtung des Selbstbestimmungsrechts über die Staatszugehörigkeit, zum auch in Europa immer wieder aufflackernden sozialen Unfrieden usw.? War das Resümee am Ende doch nur, dass wir in einem Jahrhundert verpasster Chancen lebten? Auch dazu gab Constanze noch einen klugen Kommentar. Ja, sagte sie, Chancen habe es durchaus gegeben, aber – auch darüber hätten wir ja schon oft gesprochen – es ließe sich niemand benennen, der sie bewusst vergeben hätte. Unser Jahrhundert sei, politisch gesehen, nun einmal ein Jahrhundert der organisierten Überforderung. 376 Politische Schuld gebe es viel, aber nur selten hätten demokratische Politiker sie wissentlich auf sich geladen. Ob das für sie denn das vorläufige Fazit für unser Jahrhundert sei, fragte ich. – Vielleicht, sagte sie zögerlich, als hätte sie mit dieser Frage am allerwenigsten gerechnet. Dann, nach einer Pause, als warte sie darauf, dass sich in ihrem Kopf eine genauere Antwort formte, sagte sie: – Unserem Jahrhundert fehlt noch immer eine Kultur langfristen Denkens. Ich weiß, die hat es auch früher nicht gegeben, aber jetzt ist sie überlebensnotwendig geworden, und jetzt wir leben mit einer Demokratie, die eine solche Kultur nicht gedeihen lässt. – Grafs altes Thema, sagte ich. Wir, die Generation Sichtflug, haben es vermasselt. – Ja, sagte Constanze, aber auch Graf hat es nicht wirklich durchschaut. Er hat uns Kurzsichtigkeit vorgehalten, aber auch er hat nicht gesehen, wie fest die Kurzsichtigkeit in unserer Demokratie angelegt ist. Deswegen sind die Jüngeren heute ja nicht besser als wir damals. Wir hatten wenigstens noch einen Graf, der es uns vorgehalten hat. Die Generationen nach uns hatten keinen Graf. Die Kultur des langfristigen Denkens. Das war das Stichwort, das mich nach unserem Gespräch lange beschäftigte. Ich suchte nach Beispielen großer politischer Irrtümer der Vergangenheit, vor denen eine solche Kultur uns bewahrt hätte. Dabei kam mir auch die Atomenergie in den Sinn. Was wäre gewesen, wenn die Kosten für den Rückbau der Atomkraftwerke und für die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls von Anfang an vollständig eingerechnet worden wären? Diese Frage stellte ich einem früheren Kollegen vom SPIEGEL, und der zögerte keinen Moment mit der Antwort. Wenn alles einkalkuliert worden wäre, sagte er, wäre nie ein Atomkraftwerk gebaut worden. Die immensen Kosten des Rückbaus kenne man ja inzwischen, dazu kämen die Kosten der mindestens zwei Jahrhunderte dauernden Zwischenlagerung, danach müsse der strahlende Atommüll bis zu einer Million Jahre 377 in Endlagern gesichert werden, was wiederum mit Kosten und Risiken verbunden sei. Wenn man sämtliche, also die in einer Million Jahren anfallenden Kosten berücksichtigt hätte, dann wäre die Atomenergie von Anfang völlig indiskutabel gewesen. Sie sei nie etwas anderes gewesen als ein zynisches Geschäft dreier egoistischer Generationen zulasten zahlloser nachfolgender. Dazu will ich noch einen eigenen Gedanken nachtragen, der mir schon viele Jahre vorher gekommen war. Ich habe mehrmals Atomkraftwerke besichtigt und habe dabei versucht, deren Technik zu verstehen. Gelungen ist mir das nicht, von ein paar ganz einfachen Prinzipien abgesehen. Geblieben ist mir aber das Staunen über den technischen Erfindungsgeist, der solche Gebilde entstehen lässt, im Großen und in zahllosen Details. Wie simpel sind dagegen die politischen Systemreformen, die für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Atomenergie hätten sorgen können. Wie kann es also sein, dass Menschen etwas so Kompliziertes wie Atomkraftwerke ersinnen konnten, aber im Aufbau ihres Staates im Dampfmaschinenzeitalter stehenbleiben? Wie kann es sein, dass menschliche Innovationskraft sich nur in der Technik so frei entfaltet? Ist nicht schon das Beweis für einen Systemfehler? Ja, das ist es, und eben dieser Systemfehler verhindert auch eine Kultur langfristigen Denkens. Das zeigt sich nicht nur im Umgang mit der Atomenergie, es zeigt sich auch in fast allem, wovon hier bisher die Rede war, und klarer noch bei einem ganz anderen Thema, über das Hauser mit mir schon in den späten zwanziger Jahren gesprochen hat: der Umgang mit menschlichem Erbgut. Hauser sah darin schon damals eine Schicksalsfrage der Menschheit. Auch er sei immer ein entschiedener Gegner von Eingriffen in das menschliche Erbgut gewesen, erklärte er mir, und das sei er im Grunde noch immer. Aber inzwischen habe er verstanden, wie folgenschwer auch das Nichtstun in dieser Frage sei. Die menschliche Spezies habe es durch technischen und medizinischen Fortschritt geschafft, fast allen auf die Welt kommenden Menschen ein langes Überleben zu sichern und damit auch die Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen. Dadurch habe sich die Menschheit als einzige Spezies, genauer gesagt, als einzige 378 nicht von Menschen gezüchtete, von der natürlichen Selektion des Erbguts ausgenommen, und das sei in höchstem Maße unnatürlich. So etwas habe es in der Welt vorher nie gegeben, hier stelle also die Menschheit ein hoch riskantes genetisches Experiment mit sich selbst an. Noch reiche die menschliche Phantasie nicht aus, erklärte Hauser, um sich den Verlauf dieses Experiments auszumalen, aber eines sei doch sicher: Ewig könne es nicht gutgehen. Die Menschheit sehe sich insofern ungerührt dabei zu, wie sie genetisch aus dem Ruder laufe. Verglichen hiermit seien Klimawandel und Bevölkerungsentwicklung beinahe kurzfristige Probleme, aber das sei natürlich alles andere als ein Grund zur Beruhigung. Um die Entwicklung ihres eigenen Erbguts nicht in einer Menschheitskatastrophe enden zu lassen, müsse die Menschheit noch viel mehr politischen Weitblick entwickeln und ein noch viel höheres Niveau der politischen Zivilisierung erreichen als für den Umgang mit Problemen wie der Atomenergie und der globalen Erwärmung. Das aber, sagte er, sei mit unserer Art von Demokratie erst recht nicht vorstellbar. Mit diesem Gedanken habe ich mich fast fünfzig Jahre lang nicht mehr befasst, aber als Achtzigjährigem erscheint er mir nun umso unabweisbarer. Auch dieses Beispiel zeigt wieder: Je weiter man in die Zukunft schaut, desto fragwürdiger werden unsere politischen Überzeugungen und auch einige unserer moralischen. Desto kläglicher, nein desto unsäglicher erscheint uns die Politik der Gegenwart. Aber relativieren sich nicht, werden manche fragen, wenn man so weit in die Zukunft schaut, die Versäumnisse unseres Jahrhunderts? Hat es nicht schon in der Vergangenheit Jahrhunderte politischer Stagnation gegeben, ohne dass dies im Nachhinein als historische Katastrophe erschienen wäre? Natürlich. Aber schon Hauser hat gewusst: Die Menschheit verändert sich und ihre Lebensbedingungen heute schneller denn je, und ein Jahrhundert politischer Versäumnisse wiegt in diesen Zeiten so schwer wie früher ein Jahrtausend. 379 Ich fragte Constanze, ob sie es denn für möglich halte, dass der Rückstand in der politischen Zivilisierung sich noch in diesem Jahrhundert merklich verringert. Sie zögerte, als wolle sie mir eine negative Antwort ersparen. – Was hilft es uns, darüber zu spekulieren?, sagte sie dann. Jüngere in meiner Lage könnten sich solche Spekulationen ersparen, sie könnten einfach das Ende des Jahrhunderts abwarten. Aber ich habe mir nun einmal auferlegt, als Achtzigjähriger diesen verfrühten Rückblick auf unser Jahrhundert zu Ende zu bringen, und Zeit zum Abwarten bleibt mir nicht mehr. Trotzdem hatte ich die fixe Idee, für den Ausklang des Jahrhunderts irgendein passendes Schlagwort zu finden. Schließlich fragte ich Constanze, wie sie die politische Gegenwart mit einem Wort beschreiben würde. Und wieder hatte sie eine Antwort parat. – Demokratiedämmerung, sagte sie. – Siehst du es wirklich so düster?, fragte ich. – Nein, sagte sie. Genau das macht ja Hoffnung. Für einen Moment war ich von diesem Satz fast beglückt, aber dann fragte ich mich, ob nicht auch damit in Wahrheit nur Ratlosigkeit verschleiert wird, und schon war mein Mut, dieses Jahrhundert doch noch auf den Begriff zu bringen, wieder gesunken. Ich habe mich oft im Leben über mich selbst geärgert, wenn ich solchen Gedanken nachging, den Gedanken eines Zauderers, aber es gibt auch die seltenen Momente im Leben, in denen das Zaudern, sogar ein quälend langes Zaudern, sich auszahlt. Hätte ich an dieser Stelle nicht gezaudert, hätte ich hier nicht dies noch nachtragen können, was doch noch Hoffnung macht: Nach der kurzen Schockstarre, in die die Global Upgrade Bewegung nach Yangs Tod verfallen war, wendete die Stimmung sich dort in ein Jetzt-erst-recht. Eine wichtige Rolle spielte dabei ein Zitat aus einem unveröffentlichten Artikel Robert Yangs. Darin schrieb er, dass die Bewährungsprobe großer zivilgesellschaftlicher Initiativen erst komme, wenn sie 380 sich ohne ihre großen Leitfiguren und ohne große Geldgeber behaupten müssten. Der neu gewählte Vorstand von World Upgrade konnte die Mitgliederzahl in kurzer Zeit fast um die Hälfte steigern. Und jetzt, nur ein paar Wochen später, kann ich auch dies noch nachtragen, ein Lohn für weiteres Zaudern: Eine Mail von Tian, unerschrocken, selbstbewusst und fast zuversichtlich. Er sehe nun manches klarer nach der Resolution des Volkskongresses. Die Parteiführung wisse, dass die Gedanken von Fundamentalreformern – er, Tian, zähe sich dazu – schon zu weit verbreitet seien, um sie auf Dauer unterdrücken zu können. Die Zeiten, in denen man unbequeme Geister einfach mundtot machen, sie also unter Hausarrest stellen, in Gefängnissen verschwinden lassen oder gar umbringen lassen konnte, seien eben auch in China vorbei, und Ältere wie er ließen sich ohnehin nicht mehr einschüchtern. Die Partei habe mit der Resolution zur Einheit und Einigkeit zwar Zeit gewonnen, aber weniger Zeit, als man im Westen befürchte. Vielleicht sogar weniger, als er, Tian, noch zu leben habe. Und dann folgte noch dieses PS über die westliche Welt: Die Mächtigen in China können neue Ideen nicht mehr unterdrücken, sie können sie nur eine Zeitlang totschweigen. Aber ist das nicht in eurer Demokratie ähnlich? Sollte ich mich danach auf die Wette einlassen, dass auch ich noch aufsehenerregende Reformen in China erleben würde? Während ich darüber grübelte, überraschte mich Constanze, die immer noch eifrige, die ihre Tage immer mehr mit Internetrecherchen zu verbringen schien, mit neuen Nachrichten. Auch der neuen Führung von World Upgrade war klar geworden, wie wenig all ihre Proklamationen, Aktionen und Publikationen am Ende bewirkten, so originell und innovativ sie auch waren. Wollten sie nicht weiter so wirkungslos bleiben, mussten sie nach neuen Methoden suchen. Es war dann aber Meier, der zuerst auf die Idee kam, die Energien von World Upgrade mit Ideen der deutschen Tagmakraten kurzzuschließen. In einem ersten gemeinsamen Projekt sollte Yangs Referendums- 381 Software für informelle Volksabstimmungen über den Parteienstaat eingesetzt werden. Zuerst in Deutschland. War nicht auch das ein Hoffnungszeichen? Ich begann mir auszumalen, wie gegen Ende des Jahrhunderts Fundamentalreformer in China und Deutschland zusammen mit World Upgrade zu Keimzellen eines politischen Systemwandels würden. Ein verschwommener Gedanke, aber doch ein wohltuender. Und wie wäre es um die Staaten dieser Welt heute bestellt, überlegte ich dann, wenn genau das schon vor fünfzig Jahren passiert wäre? Ganz so weit reichte meine Phantasie nicht, aber dass wir mindestens fünfzig verlorene Jahre hinter uns hatten, das zumindest war vollkommen klar. Und in genau diesen Tagen stieß ich im Internet auf eine von World Upgrade finanzierte aufsehenerregende Studie. Darin wurden die großen politischen Versäumnisse unseres Jahrhunderts beschrieben und dazu eine politische und wirtschaftliche Entwicklung skizziert, wie ein Übergang zu neuen, postdemokratischen Staatsformen sie ermöglicht hätte. Der Kontrast zur Realität war atemberaubend. Wohlstand, sozialer Zusammenhalt, Freiheit, Frieden, Bildung, Zivilisierung, politische Sinnerfüllung – in all dem waren wir weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben. Das zeigte auch, ein wie viel besseres Beispiel wir der Welt hätten geben können. Wir haben es verpasst. Mit diesen Gedanken wollte ich nicht allein sein. Ich wollte Constanze noch einmal einladen, aber nein, dachte ich dann, wenn es ein Treffen geben soll, dann würde natürlich ich es sein, der die Reise macht. Also lud ich mich bei ihr ein. Ich wolle, sagte ich ihr, ein paar sehr wichtige Gedanken mit ihr teilen. Aber schon auf dem Weg zu ihr kamen mir wieder Zweifel, und sie steigerten sich noch, als ich ihr endlich gegenübersaß. War es nicht eine skurrile Szene? Hier saßen zwei Uralte, Constanze und ich, achtzig und dreiundachtzig Jahre alt, die einige im Internet zusammengesuchte Informationen als Hoffnungszeichen für kommende Generationen gedeutet hatten, zusammen, und ich erklärte Constanze, dass es um die 382 wichtigsten Dinge der Welt gehe. Unser Gespräch stockte schon noch nach ein paar Sätzen. – Ausgerechnet wir, sagte ich. Ausgerechnet wir suchen händeringend nach solchen Hoffnungszeichen. Müssten nicht hunderttausende Jüngere längst das Gleiche tun? Oder tun sie es womöglich schon, ohne dass wir es wissen? Constanze saß reglos mit gesenktem Kopf in ihrem Rollstuhl und schwieg. – Oder sehen sie keine Chance gegen die Übermacht derer, die Gedanken wie die von Tian und Yang als weltfremde Irrwege abtun und dann totzuschweigen versuchen? Jetzt hob Constanze den Kopf und sah mich mit einem Blick an, als hätte sie auf genau diese Bemerkung gewartet. Dann streckte mir aus dem Rollstuhl die Arme entgegen, zog mich an sich heran und schwieg. Aus solcher unbarmherzigen Nähe hatte ich ihr altes Gesicht noch nicht betrachtet. Constanze war für mich immer die geistig unfassbar jung Gebliebene gewesen, ihr körperlicher Verfall eigentlich Nebensache. Bis jetzt. Ja, sagte ich schließlich, für uns ist alles Wichtige gesagt. Epilog Hätte ich mir bei dieser kleinen Geschichte unseres Jahrhunderts nicht von Anfang von Constanze helfen lassen sollen? So hatten wir es früher einmal verabredet, daran erinnerte ich mich, aber vielleicht war es immer noch das alte Unterlegenheitsgefühl, das mich davon abgehalten hatte. Natürlich würde mit ihrer Hilfe nichts schlechter, manches vielleicht sehr viel besser werden, aber als ich darüber endlich nachdachte, war die Chance vertan. Eine solche Anstrengung wollte ich ihr nicht mehr zuzumuten. Aber ganz und gar übergehen wollte ich sie am Ende auch nicht, also schickte ich ihr, kurz bevor ich das vorangegangene Kapitel begann, meinen gesamten Textentwurf. Nicht mit der Bitte um Korrekturen, nicht mit der Bitte um 383 ein Urteil, nur mit der schuldbewussten Notiz: Damit du weißt, was ich im vergangenen Jahr gemacht habe. Sie hat sich dann sehr rasch, viel rascher, als ich es meinte erwarten zu können, aufgerafft, alles zu lesen, und sie hat – die Constanze halt, wie sie immer war – danach kluge Fragen gestellt, auch solche, die ich mir von Anfang selbst hätte stellen sollen. Ob wir, fragte Constanze, sie und ich, ein solches Buch in unseren jungen Jahren hätten lesen mögen, als vorausschauende Jahrhundertgeschichte. Nein, gab sie selbst die Antwort, wirklich gern gelesen hätten wir es nicht, dafür wäre uns zu vieles zu abwegig erschienen und vieles zu weit in der Zukunft, als dass es uns nahegegangen wäre. Auch wir, sagte sie, waren auf so etwas nicht vorbereitet, so wenig wie die allermeisten damals. Natürlich hat sie Recht. Dieses Buch, hätte es damals geheißen, sei voller wirklichkeitsfremder Szenarien und fragwürdiger Faktendeutung, wissenschaftlich unplausibel, und es würde von den realen Ereignissen sehr bald widerlegt werden. Und auch wir hätten dem kaum widersprochen. Wie hätten wir auch damals schon wissen können, dass politische und wissenschaftliche Selbstverständlichkeiten im weiteren Jahrhundertverlauf auf so breiter Front wegbrechen würden? Aber was ändert das aus heutiger Sicht? Im Grunde nichts. Natürlich bleiben viele auch heute noch im Denken des ersten Jahrhundertquartals befangen, aber darauf kann ich hier natürlich keine Rücksicht nehmen. Hier geht es gerade darum, wie sehr es in diesem Jahrhundert an politischer Voraussicht gefehlt hat, und darum, für das kommende zu mehr Voraussicht zu ermutigen. Darüber sind Constanze und ich uns vollkommen einig. In unseren jungen Jahren glaubten ja auch wir, Constanze und ich, dass der Rest der Welt zu den etablierten Demokratien aufschließen müsse, und alles würde gut. Oder gut genug. Oder so gut, wie es eben besser nicht geht. Vielleicht sieht eine knappe Mehrheit es heute noch so. 384 Diese knappe Mehrheit, meinte Constanze zuletzt, werde um ihre Überzeugungen weiter kämpfen, auch mit den schamlosesten Argumenten. Dass z.B. ein pensionierter SPIEGEL-Archivar die Demokratiegeschichte unseres Jahrhunderts – und damit die Lebensleistungen zahlloser verdienter Demokraten – mit so wenig Respekt abhandele, werde mit größtmöglicher Häme kommentiert werden. Auch Verschwörungstheoretiker würden sich zu Wort melden, die in mir, dem SPIEGELArchivar, eine vorgeschobene Frontfigur dunkler ideologischer Hintermänner sehen wollen. Es soll hier aber nicht scheinen, als sei Constanze am Ende ganz und gar fatalistisch geworden. Nichts behindere den Fortschritt so sehr wie Verharmlosung, das war ihr spätes Credo, und nichts sei daher wichtiger als die Auseinandersetzung mit den politischen Verharmlosern. Solange es Hoffnung gebe, dürfe man nichts beschönigen, und etwas Hoffnung hätten wir beide doch. Das stimmt natürlich, und daher will ich mich auch nicht dem geringsten Verdacht der Verharmlosung aussetzen. Ich täte es, wenn ich hier nicht noch einmal auf einige der unheilvollsten Entwicklungen unserer Zeit hinwiese: Die große Mehrheit findet sich noch immer mit existenziellen Bedrohungen, globalen wie lokalen, leichtfertig ab. In der politischen Zivilisierung gibt es weiterhin weltweit keinen Fortschritt. Auch demokratische Staaten verweigern sich weiter neuen politischen Freiheiten, deren Respektierung die Welt friedlicher werden ließe. Staaten mit eher rückständiger politischer Zivilisierung werden noch größer, mächtiger und politisch dominanter. Politisches Denken bleibt weiter geprägt vom zeitlichen Horizont von Legislaturperioden. All das – und vieles mehr, was hier ausführlich beschrieben wurde – hat sich bis in die jüngste Zeit sogar noch verschärft, und damit hat auch die Sinnleere der Demokratie eine neue Dramatik erreicht. Dass die Demokratie eine missbrauchsträchtige Staatsform ist, muss ich hier nicht wiederholen. Dass aber schon in politischer Untätigkeit ein schlimmer Missbrauch der Demokratie liegen kann, das ist noch nie so deutlich geworden wie jetzt. 385 Natürlich sind es die Populisten, die für diesen Missbrauch am anfälligsten sind. Diejenigen also, die am schamlosesten Wahlen mit unerfüllbaren Versprechungen gewinnen und deren Politik sich daher auch nach gewonnenen Wahlen meistens in markigen Sprüchen erschöpft. Ich war gerade zwanzig, als in den USA Donald Trump Präsident wurde, dieses Menetekel der Demokratie, und ich erinnere mich noch gut, wie während Trumps Wahlkampagne vielen nur deswegen nicht vor Schreck das Blut in den Adern gefroren war, weil sie meinten, ein Trump sei in einer gereiften Demokratie chancenlos. Dieses Jahrhundert hat uns eines Schlechteren belehrt. Wir haben mehr als ein Dutzend Trumps an der Spitze etablierter Demokratien erlitten und zahllose Pendants in weniger etablierten, Nachfolger also der Generationen Berlusconi, Putin, Erdogan & Co., dieser vergifteten Früchte der Demokratie Und nun, in der Gegenwart, der fast weltweite neue Schub an Populismus und damit an politischer Inkompetenz. Constanze fragte mich einmal, ob ich mich noch erinnere, was früher einmal als Modernisierungsverlierer bezeichnet wurde. Das war die Minderheit derjenigen, die vom Wohlstandswachstum nicht oder viel weniger als die Mehrheit profitierte, und es war die bevorzugte Klientel der Populisten, von Parteien wie damals der Alternative für Deutschland. An den Begriff Modernisierungsverlierer denkt heute fast niemand mehr, aber das damit bezeichnete Lebensgefühl ist verbreiteter denn je. Es ist natürlich weiterhin nicht das Lebensgefühl einer klaren Mehrheit, aber es ist zu weit verbreitet, als dass demokratische Politik noch gegen die Modernisierungsverlierer von heute gemacht werden könnte. Und die Demokratie hat diesen Verlierern nun einmal nichts anderes als billigen Populismus zu bieten. Deren Schuld, die Schuld der Verlierer, ist es nicht. Was sie sich erhoffen, ist Gerechtigkeit und neue Sinnerfüllung, und dafür greifen sie immer wieder zu populistischen Rauschmitteln. Die Plünderung der Staatsfinanzen ist damit häufig verbunden. 386 Aber ich will hier trotz allem nicht mit der Prognose enden, die Demokratie werde im Sumpf des neuen Populismus untergehen. Denn welchen Sinn machte eine solche Prognose, ohne zugleich zu fragen, was nach dem Untergang der Demokratie geschähe? Zu dieser Frage soll hier ein Satz genügen, den Constanze mir aufgegeben hat. Schreib es so, sagte sie: Was uns gelingen muss, ist der Übergang in eine postdemokratische Ordnung. Und schreibe, dass uns dafür nicht mehr viel Zeit bleibt. Über eine postdemokratische Ordnung muss ich hier keine weiteren Worte verlieren. Aber ich will hier nicht schließen, ohne Constanzes ausgreifendem Gedanken einen Kontrast entgegenzusetzen: chinesische Bescheidenheit. Noch in den letzten Jahren hatte es ja den Anschein gehabt, als seien Constanzes politisches Denken, meines und früher eine Zeitlang auch Hausers mit dem politischen Denken Tians fast im Gleichklang. Aber dann kam eine Nachricht von Tian, die mir klarmachte, worin unsere Denkweisen sich doch immer noch deutlich unterschieden. Tian schrieb, dass nun doch endgültig auf einige Jahrzehnte hinaus in China keine großen politischen Neuerungen mehr zu erwarten seien. Und dann dies: Aber er sei dennoch dankbar für die Jahre, in denen er mehr Zuversicht hatte haben dürfen. Dankbarkeit für einige Jahre enttäuschter Zuversicht? Dankbarkeit womöglich gegenüber einem chinesischen Staat, weil er ihn eine Zeitlang in falscher Hoffnung gewiegt hatte? Konnte so etwas ernst gemeint sein? Ganz und gar ironisch, wie ich es im ersten Moment gehofft hatte, war es jedenfalls nicht. Natürlich hätte ich Tian anstelle von Dankbarkeit nicht Zorn und Verzweiflung gewünscht, aber von solcher fatalistischen Bescheidenheit war ich doch irritiert. Wenn selbst ein Tian den neuen Stillstand in China ohne erkennbare Unmutsaufwallung hinnahm, war das Grund zur Beunruhigung auch weit über China hinaus. Und ich fragte mich auch: Hat sich die westliche Welt dieser chinesischen Mentalität nicht schon ein Stück weit angenähert? Ja, gab ich mir selbst die Antwort, gerade unter den Jüngeren. 387 Aber Tian wäre nicht Tian, wenn er seinen so irritierend fatalistischen nicht noch diese klugen Worte hinzugefügt hätte: Ich hoffe, dass ihr im Westen ganz aus eigener Kraft neue Zuversicht schöpfen könnt. Verlasst euch nicht auf China. Ein bewegender Satz. Eine Mahnung aus China an die klügeren Köpfe im Westen, sich am eigenen Schopf aus dem Sumpf ihrer Demokratie zu ziehen. Wenigstens damit war Tian dem westlichen Denken immer noch ein gutes Stück voraus.