alles nur theater?

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Die Theaterwissenschaft ist dabei, sich neu zu erfinden. Sie sei die eigentliche Medienwissenschaft, betont Professor Jürgen
Schläder im Gespräch mit den EINSICHTEN. Außer dem Theater gebe es keine andere dreidimensionale Kunstform. Dabei
verwischen die Genregrenzen zwischen Schauspiel, Musiktheater, Tanztheater, Performance, Film und digitale Medien zusehends. In dem durch LMUexcellent geförderten Forschungszentrum „Sound and Movement“ gehen die Wissenschaftler
davon aus, dass das wesentliche Merkmal der experimentellen, neuen, zeitgenössischen Theaterszene der Zusammenhang
von Klang und Bewegung ist.
D as G espr ä ch f ü hrte M aximilian G . B urkhart
alles nur theater?
Einsichten: Die Theaterwissenschaft steht – wie die Kunstgeschichte auch – in dem Ruf, ein „Höheres-TöchterStudium“ zu sein: Schön und interessant, aber eigentlich zu nichts zu gebrauchen. Warum sollte man dennoch
Theaterwissenschaft studieren?
Jürgen Schläder: Weil sich das Fach entscheidend gewandelt hat. Theaterwissenschaft ist wie Kunstgeschichte
ursprünglich ein historisches Fach. Doch seine drei Schwerpunkte Geschichte, Theorie und Ästhetik des Theaters
haben ihre Gewichtung verändert. Theorie und Ästhetik des Theaters sind aufgrund der explosionsartigen experimentellen Neuentwicklungen in den letzten 20 Jahren wichtiger geworden. Die Theaterwissenschaft ist entstanden
aus einer besonderen Situation, in der man Literatur als aufgeführte Literatur begriffen hat.
Inzwischen aber ist – vor allem dank des deutschen Regietheaters – die Kunst, Theater zu machen, eine eigene
Kunst mit einer eigenen Geschichte und mit einem eigenen ästhetischen Wert und mit einer eigenen Theorie. Theater ist Gegenwartskunst. Theater ist immer gegenwärtig, selbst das schrecklichste historisch nachbuchstabierende
Theater. Und deswegen ist Theaterwissenschaft eine Wissenschaft, die uns sehr viel näher an unsere Realität heranbringt als viele andere Kunstwissenschaften. Im Theater passiert etwas Neues. Wir sehen Theater nicht mehr durch
die historische Brille, viele Zuschauer haben das begriffen.
Einsichten: Theorie ist also einer der großen Schwerpunkte der Theaterwissenschaft. Doch wo ist denn genau der
theoretische Neuansatz und auch der theoretische Nutzen der Theaterwissenschaft?
Schläder: Heute sind wir sehr viel mehr darauf bedacht, das Kunstwerk Theateraufführung selbst theoretisch zu
fassen, und dazu musste man sich bei sehr vielen Kulturtheorien bedienen. Das ganze Kompendium an Diskurs- und
Dekonstruktionstheorien ist für die Theaterwissenschaft wichtig, weil sich Diskurse auf dem Theater auf dreierlei
Weise realisieren: durch Sprache, durch Bewegung und durch das Bild, das auf der Bühne entsteht. Diese Informationen muss der Zuschauer alle zusammenlesen und aufeinander beziehen. Das wird dann kompliziert, wenn ihnen
nicht genau erzählt wird, wie Sie sie denn eigentlich aufeinander beziehen sollen, und wenn Sie Wahlmöglichkeiten
des Verständnisses haben – typisch postmoderne Ambivalenz also.
Einsichten: Damit haben sich doch aber schon Lessing und später die gesamte Frühromantik intensiv auseinander
gesetzt. Was ist neu?
Schläder: Neu ist der Ansatz, sehr viel mehr vom Ereignis auszugehen als von der Umsetzung eines Textes in
eine ganz bestimmte Bedeutungsstruktur. Heute haben Sie mehrere Bedeutungen, früher wurde sehr viel stärker
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3 Der Ring des Nibelungen II, Choreograf: Johann Kresnik,
Bühnenbild: Gottfried Helnwein. Aufführung in der Oper
Bonn 2008.
synthetisch gearbeitet. Im 19. Jahrhundert stand
eine Figur im Zentrum der Aufführung, weil in
der Figur, durch ihr Erscheinungsbild, ihr Kostüm, ihre Gestik, ihre Sprache, ihre Proxemik
(d.i. Bewegung im Raum) und durch den Raum
selber ein synthetisches Bild von Lebenswirklichkeitsillusion entsteht. Doch mit der großen
Theaterreform am Beginn des 20. Jahrhunderts
wurden die unterschiedlichen Mittel, mit denen
man Theater machen kann, sehr viel stärker differenziert und diversifiziert – und diese Mittel haben sich weiter
verselbständigt. Wir haben heute weniger ein illusionistisches Theater wie Lessing, Schiller oder noch das späte
19. Jahrhundert, sondern vielmehr ein materialbezogenes Theater. Die einzelnen Ausdrucksmöglichkeiten führen
ein gewisses Eigenleben und werden weniger vom Regisseur als vom Zuschauer wieder zu einer Bedeutungsstruktur zusammengesetzt.
Wenn Richard Wagner ihnen den Ring des Nibelungen konzipiert und vorgeführt hat, dann war klar, was sie zu denken hatten. Wenn heute ein Regisseur Richard Wagners Ring vorführt, ist überhaupt nicht klar, was Sie zu denken
haben. Sie haben ganz viele Möglichkeiten. Es hängt von ihrer Kenntnis des Stücks, von Ihrem kulturellen Horizont
und von Ihrem Erfahrungsbereich ab, was Sie – durchaus in mehreren Schichten und in mehreren Durchgängen –
selber von so einer Aufführung, von einer solchen Interpretation verstehen. Die Herausforderung für den Zuschauer
ist heute eine ganz andere und eine viel größere.
Einsichten: Das hört sich sehr nach einem verkopften „Sokratismus“ an, wie das Friedrich Nietzsche in der Geburt der Tragödie kritisiert hat. Verliert durch diesen ganzen theoretischen Überbau das Schauspiel nicht seine
ursprüngliche, sinnliche – oder wie Nietzsche sagt: „dionysische“ Qualität? Sind wir auf dem Weg zu einem rein
apollinischen, zu einem rein theoretischen Theater?
Schläder: Nein, das sind wir wohl nicht. Aber das Problem ist, dass wir einerseits Aufführung durch Ereignisstrukturen ersetzen und andererseits Bedeutungsstrukturen durch Präsentation, aber auch durch sogenannte Emergenzen ersetzen, also durch unkontrolliert aufbrechende emotionale Reaktionen. Emergenzen können nicht so einfach
aus dem rein Subjektiven und Einmaligen, nur mich Betreffenden, heraus und in einen wissenschaftlichen Diskurs
überführt werden. Ginge das, hätten wir ein anderes Theater. Wir können die Emergenzen nicht wissenschaftlich
austauschbar und diskutabel machen und deshalb auch nicht in einem Inszenierungskonzept strategisch planen.
Wir sollten vielmehr dem Dionysischen, dem Sinnlichen den Vorzug geben.
Einsichten: Wenn es emergente wissenschaftliche Erfahrung gibt, dann ist sie nicht mehr objektivierbar. Wird damit aber die Wissenschaft nicht selbst zum Theater.
Schläder: Man muss sehr sauber abwägen, welche Aussagen man über eine Kunstform machen kann und welche
nicht. Aber es gibt natürlich immer Möglichkeiten, das rein Kognitive aus der Theaterwahrnehmung mit Emotionalem zu ergänzen. Es ist durchaus saubere wissenschaftliche Methode, mehrere Verständnisse und Interpretationsmöglichkeiten wohl abgeprüft und argumentativ abgesichert nebeneinander zu stellen. Wir können heute nicht
mehr eine Lösung als das Allheilmittel präsentieren. Unsere wissenschaftliche Leistung besteht darin, solch einen
Musterkatalog zur Verfügung zu stellen.
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Einsichten: „Sound and Movement“, „Geräusch und Bewegung“ heißt ihr Projekt, das durch LMUexcellent gefördert wird. Was verbirgt sich dahinter?
Schläder: In der aktuellen Theaterlandschaft sind die Grenzen zwischen den einzelnen Genres des Theaters, also
Schauspiel, Musiktheater, Tanztheater, Performance, Film und digitale Medien, sehr verwischt. Wir am Forschungszentrum behaupten, dass das wesentliche Merkmal der experimentellen, neuen, zeitgenössischen Theaterszene der
Zusammenhang von Klang und Bewegung ist. Klang muss nicht immer ein musikalischer Klang sein. Das ist ein
ganz wesentlicher Paradigmenwechsel: Bis etwa Mitte der 1980er-Jahre ließ jede Theateraufführung, ob textbasiert
oder nicht, über Textvermittlung eine kognitive Rezeptionsmöglichkeit offen. Jetzt ist der Text, wenn er denn überhaupt noch existiert, wenn er gesprochen oder als Lesetext an die Wand geworfen wird, in eine gleichbedeutend
unbedeutende Funktion getreten, wie viele andere Theatermittel auch. Wichtig geworden ist das Zusammenspiel
von darstellendem Körper und von Geräuschen oder musikalischen Vorgängen, die diese Darstellung emotional
unterstreichen oder formal gliedern. „Sound and Movement“: Dieser Zusammenhang und dieser Zusammenklang
ist das Entscheidende an den Theaterexperimenten heute.
Einsichten: Damit ist doch aber die Theaterwissenschaft im Kern die zeitgemäße Medienwissenschaft.
Schläder: In der Tat, der Meinung bin ich wirklich! Wir haben keine andere Möglichkeit, so dicht an Medien und
Medienwissenschaft heranzukommen wie auf dem Theater. Mein Credo ist: Es gibt keine andere dreidimensionale
Kunstform als das Theater. Und das ist in jeder Sekunde real und in jeder Sekunde nicht real, weil es immer fiktional
oder virtuell ist.
Einsichten: Die heutige Jugend ist vor allem virtuell unterwegs im Cyberspace, denn die fiktionalen Welten laden
zum Mitmachen ein und bieten eine Simultaneität aller Medien, die der Nutzer tatsächlich erleben kann. Im Theater
dagegen ist der Zuschauer zum passiven Konsum gezwungen. Kann sich das Theater überhaupt noch so weit öffnen
oder ist es nicht durch die neuen Medien an sein Ende gelangt?
Schläder: Das kommt darauf an, was man vom Theater eigentlich erwartet. Wenn ich vom Theater nur Entertainment erwarte, dann würde ich Ihnen – mit einigen Vorbehalten – Recht geben. Doch alle virtuellen Realitäten haben
ohne jede Ausnahme theatrale Qualität: Sie gaukeln eine Dreidimensionalität vor, in der Sie sich bewegen können.
Doch Sie stehen nicht wirklich selber drin und brauchen immer einen Avatar, der für Sie handelt. Allerdings sind
die virtuellen Welten mittlerweile so perfekt geplant, dass es keinen Illusionsbruch mehr gibt. Aber Menschen bestehen doch nicht nur – und daran glaube ich wirklich! – aus emotional gesteuerten, fast mechanisch ablaufenden
Aktivitäten. Sie bestehen doch in erster Linie aus Reflexion über das, was sie tun, also aus Denken. Theater besteht
aus ständigen Illusionsbrüchen – und ständig bin ich herausgefordert, diese Illusionsbrüche nachzuvollziehen. Die
Interaktivität zwischen Theater und Zuschauer, ist nicht eine des Selber-Mitmachens in der aufgebauten fiktiven
Welt, sondern des Reflektierens der aufgebauten fiktiven Welt und der Erkenntnisse, die ich daraus für mich selber
ableite. Das ist ein Kultur-Prozess.
Einsichten: Was ist denn wirklich avantgardistisches Theater? Haben Sie da ein konkretes Beispiel?
Schläder: Bei den Salzburger Festspielen 2009 hat Katie Mitchell eine szenische Interpretation des Revolutionsstücks
„Al gran sole carico d’amore“ von Luigi Nono gegeben und wirklich etwas Neues geschaffen! Sie sehen fünf Frauenschicksale, die an großen Revolutionen der Weltgeschichte beteiligt waren in fünf Stationen auf der Bühne dargestellt.
Sie sehen mehrere filmende Kamerateams, ein Riesenorchester und einen Riesenchor. Und Sie haben eine Leinwand, auf der das, was gefilmt wird, live geschnitten zu sehen ist. Das heißt: Sie haben einen Film, der kein Film ist.
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3 Julia Wieninger und Laura Sundermann in „Al gran sole carico
d‘amore“ von Luigi Nono in der Interpretation von Katie Mitchell,
Salzburger Festspiele 2009.
Denn er ist nicht vorproduziert, sondern entsteht jeden
Abend neu. Sie haben eine Bühnenaufführung, die keine
Bühnenaufführung ist. Denn sie ist in allererster Linie ein
Setting für den Film. Und alles wird emotional aufgeladen
durch Orchester und Chor. Der „Autor“, der diese Aufführung tatsächlich steuert, ist der Cutter. Solch ein Theater
hat es bislang nicht gegeben. Das Faszinierende daran
ist, dass ganz traditionelle Kunstformen ihre Struktur und
ihre Bedeutung verlieren oder wandeln und doch – das
ist das Entscheidende – ohne einander nicht auskommen.
Diese Variabiliät von Realitätswahrnehmung ist ohne diese technischen Mittel nicht zu erreichen.
Einsichten: Damit vollendet sich ja quasi ein barocker
Traum: Alles ist Theater! Alles ist meine Bühne!
Schläder: So ist es! Doch was heißt hier barocker Traum?
Seit Platon, seit dem Höhlengleichnis, führen wir diesen
unendlichen, nie zu entscheidenden Dialog, ob es hinter unserer Wahrnehmung eine Realität gibt, die immer
existiert und wir sehen nur eine Perspektive. Oder ob es
Realität nur dann gibt, wenn wir etwas wahrnehmen.
Einsichten: Aber folgt damit die moderne Inszenierungspraxis nicht einem Trend, den man als „Pornografisierung“ bezeichnen kann: Sie bringt alles – wirklich alles – simultan auf die Bühne. Im zeitgenössischen Theater
bekommen Sie alles gezeigt, haben aber keine inneren Bilder mehr. Da stellt sich dann aber die Frage: Was ist
daran noch revolutionär?
Schläder: Bei einer so technifizierten Interpretation entstehen vielgestaltige Bilder. Und die Menge und die Unterschiedlichkeit der Bilder erzeugt dann doch so etwas wie eine innere Substanz. Je nachdem, wo Sie hinschauen,
sehen Sie etwas anderes. Und es ist ja nur ein schöner Wunschtraum, dass Sie von einer Inszenierung, die Ihnen
alles bietet, immer auch alles immer wahrnehmen könnten. Sie erleben mit jedem Besuch einer solchen Aufführung
eine andere Aufführung. Das ist ein erheblicher Gewinn, weil sich in der Konstruktion auf der Bühne die Dreidimensionalität, die Lebenswirklichkeit, wiederfindet.
Einsichten: Sind die Menschen damit nicht überfordert? Wollen sie nicht einfache, klare Botschaften? Oder anders
gefragt: Funktioniert dieses postmoderne Theater oder spielt es nicht am Publikum vorbei?
Schläder: Es spielt im Augenblick ganz sicher an weiten Kreisen des Publikums vorbei. Aber Kunst ist immer gegen solche Banalisierungsmomente angerannt. Der Zuschauer muss natürlich lernen, damit umzugehen. Auch wir
mussten lernen, mit so einer Art Theater umzugehen.
Einsichten: Darin liegt aber auch ein Moment der Gefahr. Wenn wir wirklich auf Nietzsches Spuren wandeln und
die Ethik, den Wirklichkeitsbegriff und das Theater dekonstruieren, dann bleiben wir bei dem Satz stehen: Alles
ist möglich, alles ist erlaubt! Kann ein postmodernes Theater dieser Falle entgehen: Auf der einen Seite lauert die
Gefahr der Beliebigkeit, auf der anderen Seite die Gefahr der Instrumentalisierbarkeit.
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Schläder: Der erhobene Zeigefinger ist die schlechteste Möglichkeit, keine Frage. Die Theaterwissenschaft hat es
über lange Zeit versäumt, die Erkenntnisse dieser Wissenschaft tatsächlich zu popularisieren. Man stellt auch fest,
dass die kunst- und kulturinteressierte Öffentlichkeit sehr froh ist, wenn sie Handreichungen und Verständnismöglichkeiten gezeigt bekommt im Umgang mit Kunst, die sie nicht von vorne herein und per se versteht. Doch im
Augenblick fehlt noch immer der ausgefeilte Kriterienkatalog für die ästhetische Wertung von Theater. Wir haben
im Augenblick noch keine umfassende Antworten gefunden auf die Tatsache, dass die Polyvalenz von Material sich
so gesteigert und verändert hat; dafür, dass wir viele Ausdrucksmöglichkeiten gleichwertig nebeneinander haben.
Das hat es früher nicht gegeben und insofern ist die Moderne eine strenge Herausforderung.
Prof. Dr. Jürgen Schläder ist seit 1987 Professor für Theaterwissenschaft mit Schwerpunkt Musiktheater
an der LMU. Er leitet das interdisziplinäre Forschungszentrum „Sound and Movement“, das im Rahmen
des Ideenfonds des LMUexcellent-Zukunftskonzepts gefördert wird.
[email protected]
http://www.theaterwissenschaft.uni-muenchen.de/personen_neu/professoren/schlaeder/index.html
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