Europa setzt auf Abriegelung

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POLITIK & GESELLSCHAFT
Luxemburger Wort
Freitag, den 27. Januar 2017
Europa setzt auf Abriegelung
Nach dem Modell des EU-Türkei-Deals versucht die EU, Migrationsströme aus Afrika Richtung Europa zu unterbinden
VON DIEGO VELAZQUEZ (BRÜSSEL)
Europa will die Zahl der übersetzenden Migranten aus Afrika senken. Doch die Pläne der Union
stoßen an völkerrechtliche und
praktische Probleme.
Nach den Anstrengungen, den
Flüchtlingsstrom im östlichen
Mittelmeer zu stoppen, richtet die
EU ihre Aufmerksamkeit nun auf
die „zentrale Mittelmeer Route“.
2016 trafen laut EU-Kommission
181 000 Menschen in Europa durch
diese Route ein. Für 90 Prozent
davon führte der Weg über Libyen. Doch auch Tunesien, Ägypten
und Algerien sind im Fokus Brüssels. Laut diversen NGOs starben
2016 über 5 000 Menschen beim
Versuch, das Mittelmeer Richtung
Europa zu überqueren.
Eine von den EU-Staaten vorgeschlagene Lösung ist es, mit den
nordafrikanischen Staaten Vereinbarungen nach dem Muster des
Deals mit der Türkei zu schließen. Dieses 2016 beschlossene Abkommen zielt darauf ab, dass die
Flüchtenden die EU gar nicht erst
erreichen. Das soll einerseits „Leben retten“ und „den Schmugglern das Handwerk legen“, wie Minister in Brüssel betonen, gleichzeitig aber auch, die Zahl der übersetzenden Migranten senken. Der
Türkei-Deal sei ein „Prototyp“ hört
man auf hohen diplomatischen
Ebenen. Joseph Muscat, Maltas
Regierungschef, schwärmte zu
Beginn des Jahres über ein solches Abkommen mit Libyen.
Die Idee dahinter ist, dass „nicht
die Schlepper entscheiden, wer
nach Europa kommt, sondern, dass
Europa das entscheidet“, erläuterte der deutsche Innenminister
Thomas de Maizière bei einem
Treffen der Migrationsminister
gestern in Valletta (Malta). „Aus
5 000 Menschen starben 2016 beim Versuch, das Mittelmeer zu überqueren.
sicheren Orten außerhalb Europa“
sollen dann „nur die Schutzbedürftigen nach Europa geholt werden“. Das Ziel ist klar: Asylanfragen sollen außerhalb Europas
geklärt werden, um dort bereits
zwischen Kriegsflüchtlingen und
sogenannten „Wirtschaftsmigranten“ zu unterscheiden. De Maizière implizierte gestern sogar,
nicht unbedingt auf Partnerschaften warten zu müssen – etwa bei
„Massenzustrom“.
Doch die Pläne werfen völkerrechtliche Fragen auf, wie der
deutsche Innenminister auch gestern zugab. Im Kern der Frage steht
die Einhaltung von Artikel 33 des
„Genfer Abkommens über die
Rechtsstellung der Flüchtlinge“
(GFK), das wichtigste internationale Abkommen über Flüchtlinge.
In diesem Artikel ist das Prinzip
der Nichtzurückweisung festgehalten, wonach „keiner der vertragschließenden Staaten einen
Flüchtling auf irgendeine Weise
über die Grenzen von Gebieten
ausweisen oder zurückweisen
wird, in denen sein Leben oder seine Freiheit bedroht sein würde“.
In den Plänen zu künftigen Partnerschaften und zur Bewertung
der Asylanträge außerhalb Europas wird jedoch erwogen, im Meer
aufgegriffene Migranten nicht wie
bisher nach Europa zu bringen,
sondern zurück nach Libyen oder
anderen nordafrikanischen Staaten. So stünde das Prinzip der
Nichtzurückweisung unter Druck.
„Wohin sollen diese Menschen
dann gebracht werden? Wo soll das
denn geschehen?“, reagierte gestern Luxemburgs Migrationsminister Jean Asselborn, der auf die
(FOTO: REUTERS)
„unpraktikablen“ Aspekte dieser
Ideen aufmerksam machte. Er bemängelte zudem, dass die öffentlichen Befürworter dieser Pläne,
sie während der Sitzung nicht erläuterten. „Libyen ist besonders
kompliziert“, musste De Maizière
zugeben.
Asselborn: „unrealistische Pläne“
„Dass man Menschen vor der Küste Lampedusas rettet und dann
nach Ägypten bringt, ist doch absurd“, monierte Asselborn. „Langfristig soll man auf Partnerschaften bauen und legale Migrationswege ausbauen“, so der LSAP-Minister weiter, doch momentan sei
die Idee, Asylanträge außerhalb
Europas zu bearbeiten „schlicht
unrealistisch“. Die EU-Kommission sieht das ähnlich, weil die Voraussetzungen dafür einfach nicht
vorhanden sind. Indes denken
manche EU-Staaten, dass die Umsetzung der Genfer Flüchtlingskonvention ins EU-Recht die Ansprüche der Konvention durch das
Konzept der „sicheren Drittstaaten“ unnötig nach oben korrigiere
und plädieren deswegen für eine
flexiblere Interpretation. Die GFK
kennt das Begriff der „sicheren
Drittstaaten“ nicht. Es ist die europäische Interpretation des Prinzips der Nichtzurückweisung. Kein
Staat darf demzufolge einen
Flüchtling in ein Land zurückschicken, in dem Gefahr besteht, dass
dort sein Leben oder seine Freiheit bedroht wären. „Wir wären
kaum in der Lage, im gegenwärtigen europäischen Regelungssystem mit Staaten Nordafrikas ein
Abkommen nach dem Muster des
EU-Türkei-Abkommens zu schließen. Daran hindert uns die EUAsylverfahrensrichtlinie mit ihren
hohen Anforderungen an den ,sicheren Drittstaat‘“, verriet de Maizière neulich.
In der Tat bietet die GFK keine
Handhabe dagegen, neben „sicheren Drittstaaten“ auch das Konzept der „sicheren Orte“ einzuführen, wie De Maizière es nun
fordert. Es würde erlauben,
Flüchtlinge in europäische Asylzentren in Drittstaaten zurückzuschicken, ohne dass diese wiederum als sicher gelten müssten.
Theoretisch zumindest.
Asselborn warnt hier davor, die
GFK „so zu verdrehen, dass sie
kaum mehr erkennbar ist“. Doch
gerade das steht gerade zur Debatte. Ein Papier der maltesischen
Ratspräsidentschaft, das dem „Luxemburger Wort“ vorliegt, fordert
die EU-Kommission dazu auf, Artikel 33 der GFK so zu interpretieren, dass es „den in Krisensituationen vorherrschenden Umständen besser Rechnung trägt“.
Im libyschen Bürgerkrieg sind Feind und Freund schwer zu unterscheiden
Die Europäische Union setzt auf eine Partnerschaft mit einem Staat, den es nicht gibt
sen nicht nennenswert über die
Stadtgrenzen von Tripolis ausweiten. In Libyen haben weiter Hunderte Milizen das Sagen, in weiten
Teilen des Landes herrscht Anarchie. Und selbst in der Hauptstadt
kann sich die Einheitsregierung
offensichtlich nicht überall durchsetzen: Mitte Januar verkündete
die islamistische Regierung in Tripolis, mehrere Gebäude der Einheitsregierung besetzt zu haben.
„Staatsstreich in Libyen“, meldeten die Zeitungen am Tag danach.
Der italienische „Corriere della
Sera“ bezweifelte dies, denn – so
ein Kommentator – „dafür müsste
erst einmal ein Staat existieren“.
Tripolis. Libyen ist nach dem Sturz
von Langzeitmachthaber Muammar al-Gaddafi 2011 in Chaos und
Bürgerkrieg versunken. Viele afrikanische Migranten versuchen,
von dort aus nach Europa zu gelangen.
Hoffnung keimte auf, als die von
den Vereinten Nationen unterstützte, sogenannte „Einheitsregierung“ Libyens vergangenes
Frühjahr ihre Arbeit in der libyschen Hauptstadt Tripolis aufnahm. Ministerpräsident Fajis alSarradsch sollte die tiefe Spaltung
seines Landes überwinden. Dazu
sollte seine Regierung die beiden
konkurrierenden Führungen – eine islamistische ebenfalls in der
Hauptstadt Tripolis und eine eher
weltliche in der östlichen Stadt
Tobruk – ersetzen.
Eigentlich. Doch der Osten, in
dem das demokratisch legitimierte Parlament des Landes sitzt, verweigert der Einheitsregierung bis
heute die Anerkennung und damit
auch die vollständige Übergabe
der Macht. Als Störer wird der in
Tobruk einflussreiche General
Chalifa Haftar gesehen. Al-Sarradsch konnte seine Macht indes-
Die Europäische Union setzt auf
eine Partnerschaft mit einem Staat,
den es nicht gibt. Dahinter verbirgt sich eine Mischung aus
Wunschdenken und Eigeninteressen. Die Europäer erwarten von
Libyen, dass es seine Grenzen zum
Mittelmeer hin dicht macht und
keine afrikanischen Flüchtlinge
mehr durchlässt.
Zwei Regierungen in Tripolis
Wer aber soll die Grenzen sichern, wer könnte Europas Gesprächspartner sein? Dutzende
kleinere Milizen verbünden oder
verfeinden sich je nach Lage mit
den beiden Machtzentren des Landes, Tripolis und Tobruk. Es geht,
wie so oft, um Einfluss, Geld und
Öl.
In Tripolis gibt es sogar zwei
Führungen – die von den Vereinten Nationen und dem Westen anerkannte „Einheitsregierung“ von
Ministerpräsident Fajis al-Sarradsch, der aber über die Stadtgrenzen hinaus nicht viel zu sagen
hat, und der ehemalige Nationalkongress (GNC) unter Führung
von Khalifa Ghwell, der den Muslimbrüdern nahesteht.
Noch immer teilen sich zwei
„Regierungen“ ihre Einflusssphären in Libyen auf – der Nationale
Generalkongress (GNC) in der
Hauptstadt Tripolis und das Repräsentantenhaus (HoR) in Tobruk, nahe der ägyptischen Grenze. Auch das Parlament in Tobruk
ist international anerkannt, hat
aber bis zum heutigen Tag die
„Einheitsregierung“ in Libyen
nicht anerkannt. Der von Islamisten dominierte GNC ist bei westlichen Regierungen verpönt, hat
aber Rückhalt bei Großmufti Sadiq al-Ghariani, der höchsten religiösen Autorität des Landes.
Der lachende Dritte in dieser
unübersichtlichen Lage könnte
demnächst Moskau werden. Durch
die Erfolge in Syrien gestärkt
scheut sich Russland nicht, offen
General Chalifa Haftar, den starken Mann im Osten des Landes zu
unterstützen. Haftar kommandiert
die libysche Nationalarmee, und
wird mittlerweile als der nächste
Staatschef gehandelt. Im letzten
Jahr reiste er zweimal nach Moskau, Anfang Januar besuchte er den
russischen Flugzeugträger Admiral Kuszenow, der auf der Heim-
reise vom Einsatz in Syrien vor der
libyschen Küste Zwischenstopp
machte. Haftar ist ein Gegner der
international unterstützten Einheitsregierung in Tripolis. Seine
Opposition hat Kalkül: In der neuen Regierung müsste er seinen
Posten als Kommandeur der nationalen Armee räumen.
Die Europäische Union befindet sich gegenüber Haftar in einer
zweideutigen Lage. Sie verurteilt
seinen Druck auf das Parlament in
Tobruk, der eine Einheitsregierung unmöglich macht, muss aber
gleichzeitig seine Erfolge gegen
Dschihadisten und Islamisten anerkennen.
Ein weiteres Element in den unübersichtlichen Machtverhältnissen bildet die Terrormiliz Islamischer Staat, die zwar in den letzten Monaten bittere Niederlagen
hinnehmen musste, jedoch noch
immer aktiv ist. Das zeigt der
kürzlich erfolge Angriff von B-2Tarnkappenbombern des US-Militärs auf ein Lager der Extremisten etwa 45 Kilometer südwestlich von Sirte. Mehr als 80 ISKämpfer sollen bei dem Angriff
getötet worden sein.
pley
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