286 Der chinesische Kaiser als Vorbild staat­liche Vorbildfunktion Chinas, prüfte, konkretisierte und erweiterte das Bild jedoch aus kameralistischer Perspektive auf seine Taug­lichkeit.282 Medienanalytisch hat sich damit gezeigt, dass Justis Decodierung der Informationen der Jesuiten zum Wirken der chinesischen Kaiser grundlegend adaptiv erfolgte, weil er von den Jesuiten vorgegebene Interpretationsrahmen beibehielt. Wenn Humes Gedanke von der Anziehungskraft der Ideen nun stimmte, dann musste Justis Modell aus seiner Sicht zurückwirken: Mit der Wahl und Vermittlung des außereuropäischen chinesischen Modells des ersten Landmannes im Staat trug Justi zu der von Leibniz angemahnten Sammlung und Aktualisierung von Regierungswissen in Europa bei. Er konnte hoffen, dass diese neue Sicht auf das Wirken von Chinas Monarchen die zeitgenössische Diskussion um das Verhältnis von Staat und Wirtschaft belebte. Zugleich nahm das neue Bild sowohl eine Vorbild- (Modell-) bzw. eine Kritik-Funktion hinsicht­lich der bestehenden Verhältnisse ein. Das Modell konnte helfen, auch die deutschen und europäischen Staaten an den Sieger seines Staatenvergleichs anzunähern. 4.2 Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 4.2.1 Die Bedeutung der Landwirtschaft in der Physiokratie Das mouvement physiokratique 283 setzte als Reaktion auf die Misserfolge des Merkantilismus in Frankreich in der Regierungszeit Ludwigs XV. sowie als Folge der franzö­ sischen Gebietsverluste in Übersee (Nordamerika und Indien) durch den Siebenjährigen 282 Im Vorwort des dritten Bandes von Astleys Collection wird Chinas als Vorbildfunktion gepriesen: Such is the Difference between Africa and Asia. The Contrast will be the more sensible, as our Method leads us to begin with China, the Country, most eminent not only in this Quarter, but the whole World; whether we regard the Advantages of its Soil and Situation, or the Beauty of its Manufactures, and Richness of its Commerce, the Industry and Ingenuity, or Civility of its Inhabitants, the Excellence of its Government, or the Grandeur of its Monarchs. Here the Reader will meet with every Thing that is splendid and noble; every Thing that can gratify the Pride and Luxury of Mankind. Here Art vies with Nature; and the most surprising Wealth is mixed with the most surprising Plenty. Civility and Politics are here cultivated to their utmost Perfection and Use. Here the Sovereign’s whole study is employed to gain the Hearts of his People; and here perfect Freedom exists under the most absolute Monarchy on Earth. In short, China may be called the Terrestrial Paradise of the present world. Astley, Thomas: A new General Collection of Voyages and Travels. Bd. 3. London 1746. S. VI. 283 Der Begriff physiocratie war erstmals in einem Traktat von Baudeau zum Thema Principes de tout gouvernement verwendet worden, der 1767 in den Ephémérides du Citoyen erschienen war. Geprägt hatte ihn Quesnay. Im Gegensatz dazu stand das systeme mercantile, das Quesnay und Mirabeau als Begriff in ihrer 1763 erschienen Philosophie rurale anwandten. Vgl. Oncken, August: Geschichte der Nationalökonomie. Die Zeit vor Adam Smith (Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften). Leipzig ³1922. S. 334f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 287 Krieg (1756 – 1763) und der dadurch fehlenden Beteiligung am Fernhandel ein.284 Das merkantilistische Ziel, durch die enge Verbindung von Staat und Wirtschaft die Staatseinnahmen zu sichern, war in Frankreich durch die einseitige Fokussierung auf Manufakturwesen und Handel verfehlt worden. Die Physiokraten forderten deshalb eine vollkommen gegenteilige Wirtschaftspolitik, in der sie die bisher politisch stark vernachlässigte Landwirtschaft als den wichtigsten Faktor identifizierten. Zu den Physio­ kraten zählten u. a. François Quesnay 285 (1694 – 1774), Victor de Riqueti Marquis de Mirabeau (1715 – 1789), Paul Pierre Le Mercier de la Rivière (1720 – 1774), Nicolas ­Baudeau (1730 – 1792), Guillaume François Le Trosne (1728 – 1780), Vincent de Gournay (1712 – 1759) und Pierre Samuel Du Pont de Nemours (1739 – 1817). Als Sympathisanten standen der Bewegung in Frankreich beispielsweise Minister Bertin und – deut­lich distanzierter – der spätere Generalkontrolleur der Finanzen Anne Robert Jacques Turgot (1727 – 1781)286 sowie Pierre Poivre nahe. Freunde und Gönner fanden die économistes auch in höfischen Kreisen durch Madame de Pompadour, Louis-Joseph de Bourbon, den Prinz von Condé und den Schwiegervater Ludwigs XV., den polnischen Exilkönig Stanislas Leszczynski.287 Zwar außerhalb des Kreises der Physiokraten stehend, aber inhalt­lich durch ihre Werke zu den Sympathisanten zu rechnen, sind der Autor von Landwirtschaftsbüchern Jean-Baptiste Dupuy-Demportes (?-1770) und der Reimser Deputierte in Paris Simon Philibert La Salle de l’Etang (1700 – 1765), der sich ebenfalls als Verfasser landwirtschaft­licher Traktate profilierte. Die Bewegung der Physiokraten 284 Zur Wirtschaftspolitik unter Ludwig XV. vgl. Braudel, Fernand/Labrousse, Ernest (Hg.): Histoire économique et sociale de la France. Bd. 2: Des derniers temps de l’âge seigneurial aux préludes de l’âge industriel 1660 – 1789. Paris 1970. Kaplan, Bread, Politics and Political Economy, Bd. 1. S. 48ff. Clark, Henry: Grain Trade Information: Economic Conflict and Political Culture under Terray, 1770 – 1774. In: The Journal of Modern History 76/4 (2004). S. 793 – 834. Zur Kritik an der Landwirtschaftspolitik unter Ludwig XIV., insbesondere zur Verarmung der Bevölkerung, der urbanen Konzentration des Luxus, zu fehlenden Reaktionen des Königs auf den Preisverfall nach schlechten Ernten sowie zu zahlreichen Vorschlägen für Reformen vgl. Rothkrug, Lionel: Opposition to Louis XIV. The Political and Social Origins of the French Enlightenment. Princeton 1965. S. 234 – 298. 285 Zu Quesnays Biografie vgl. Oncken, Geschichte der Nationalökonomie, S. 314ff. Schelle, Gustave: Le Docteur Quesnay: chirurgien, médecin de Mme de Pompadour et de Louis XV, physiocrate. Paris 1907. Quesnay wurde für seine medizinischen Verdienste 1752 in den Adelsstand erhoben. Lettres de Noblesse en faveur du D. Quesnay. Archives nationales, Paris, O1 96, fol. 330 – 332. 286 Zu seiner Verbindung zu den Physiokraten vgl. Weulersse, Georges: La physiocratie sous les ministères de Turgot et de Necker (1774 – 1781). Paris 1950. Schelle, Gustave: Turgot, sa vie et ses oeuvres. In: Ders. (Hg.): Oeuvres de Turgot et documents le concernant. Bd. 1. Paris 1919. S. 60f. 287 Chapotot, Stéphanie: Les Jardins du Roi Stanislas en Lorraine. Metz 1999. S. 93ff. Sein Architekt Richard Mique war es, der nach dem Tod des polnischen Exilkönigs das Hammeau für Marie ­Antoinette in Versailles im Stil eines Dörfchens aus der Zeit Heinrichs IV. errichtete. De Raissac, Muriel: Richard Mique. Architecte du roi de Pologne Stanislas Ier, des Mesdames et de Marie Antoinette (Les dix-huitièmes siècles, Bd. 154). Paris 2011. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 288 Der chinesische Kaiser als Vorbild fand auch über Frankreich hinaus zahlreiche Anhänger im Alten Reich, insbesondere in der Markgrafschaft Baden,288 in Schweden,289 der Toskana, in Polen und Russland.290 Die Ziele der Physiokraten und die Bedeutung der Landwirtschaft für diese Bewegung sind hinläng­lich erforscht und sollen hier nur äußerst knapp zum besseren Verständnis der nachfolgenden Überlegungen, zur physiokratischen Vermittlungsstrategie für diese Ideen ins Gedächtnis gerufen werden. Ausgespart wurde hingegen in der Forschung bisher weitgehend, dass die theoretischen Ansätze der Physiokraten ab Ende der 1750er bis in die 1780er Jahre in einem umfassenden Kommunikationsprozess der zunehmend entstehenden bürger­lichen Öffent­lichkeit, einem ökonomisch interessierten Fachpublikum sowie maßgeb­lichen Adressaten wie dem König von Frankreich, dem Dauphin (dem künftigen Ludwig XVI.) und zentralen Ministern, aber auch ausländischen Fürsten gezielt vermittelt wurden, um ein neues Bewusstsein für die Rolle der Landwirtschaft in Staat und Gesellschaft zu erreichen. Neben der Vermittlung des neuen Bewusstseins von der produktiven Natur ging es ihnen auch um die langfristige Verankerung und Etablierung ihrer Vorstellungen sowie um deren Umsetzung in die Praxis. Deshalb erhofften sich die Physiokraten in erster Linie Gesetze zu grundlegenden Reformen im Bereich der Landwirtschaft sowie eine künftige Ausrichtung der Wirtschaft auf diesen Sektor. Die Initiative dafür sahen sie beim Monarchen. Realisiert werden konnte die erhoffte Aktivität aus ihrer Sicht deshalb nur durch die Vermittlung und Etablierung eines erweiterten Herrschaftsverständnisses, nach dem der Monarch zugleich auch der erste Landmann seines Staates sein sollte. Daher spielte in der Argumentation der Physiokraten auch die Person des Königs selbst und die Sichtbarkeit seiner Handlungen eine bedeutende 288 Eine zeit­lich leicht versetzte Auseinandersetzung mit den physiokratischen Ideen in Deutschland bot beispielsweise Dohm, Christian Wilhelm: Über das physiokratische Sistem [sic!]. Wien 1782. Ders.: Über das physiokratische System. In: Deutsches Museum (1778). S. 289 – 324. Einen Überblick über die literarische Debatte bietet Priddat, Birger P. Bibliographie der phyiokratischen Debatte in Deutschland 1759 – 1799. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 9 (1985). S. 128 – 149. Zusammenfassend Braunreuther, Kurt: Über die Bedeutung der physiokratischen Bewegung in Deutschland in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Wissenschaft­liche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und Sprachwissenschaft­liche Reihe 5 (1955/56). S. 15 – 65. Metzler, Guido: Markgraf Karl Friedrich von Baden und die französischen Physiokraten. Betrachtungen eines Rezeptionsprozesses. In: Francia 28/2 (2001). S. 35 – 62. Emminghaus, Arwed Karl: Carl Friedrichs von Baden physiokratische Verbindungen, Bestrebungen und Versuche, ein Beitrag zur Geschichte des Physiokratismus. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 38 (1872). S. 1 – 63. Merkle, Hans: Der ‚Plus-Forderer‘: Der badische Staatsmann Sigismund von Reitzenstein und seine Zeit. Leinfelden-Echterdingen 2006. 289 Alimento, Antonella: Entre “les moeurs des Crétois et les loix de Minos”: la pénétration et la réception du mouvement physiocratique français en Suède. In: Histoire, économie, société 1 (2010). S. 68 – 80. Guy, Basil: The French Image of China before and after Voltaire (Studies on Voltaire and the Eighteenth Century, Bd. 21). Genève 1963. S. 351. 290 Larivière, Charles de: Mercier de la Rivière à Saint-Pétersbourg en 1767. D’après de nouveaux documents. In: Revue de l’histoire littéraire de la France 4 (1897). S. 581 – 602. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 289 Rolle: Sie wählten für die Visualisierung und bessere Verbreitung ihrer Argumentation das Motiv des pflügenden chinesischen Kaisers aus dem Ritual, das jeweils zu Beginn des Frühlings zu Ehren des Ackerbaugottes Shennong abgehalten wurde. Im Mittelpunkt der nachfolgenden Betrachtungen soll die Vermittlungsstrategie der Physiokraten für die neue Herrschaftsauffassung stehen. Gefragt wird nach den von ihnen gewählten Kommunikationsmedien und -formen. Berücksichtigt werden muss dabei insbesondere die Frage nach mög­lichen Leitmotiven, welche die Vorstellungen und Ziele der Physiokraten adäquat nach außen widerspiegelten und zugleich auch innerhalb der Bewegung im Sinne einer frühen Form der Corporate Identity genutzt wurden. Damit wird von der These ausgegangen, dass die Physiokraten bestrebt waren, ihre Ziele und Reformhoffnungen in einen öffent­lichen Diskurs einzuschalten und die zeitgenössische Medienkultur für die Propagierung eigener Ziele zu nutzen. Eine zweite Annahme besteht darin, dass sich die Bewegung der Physiokraten zunehmend als Schule zu konstituieren versuchte und sich ihre Mitglieder als „Erzieher der Nation“, insbesondere aber des Herrschers verstanden wissen wollten. Als wichtigster Vertreter der Bewegung der philosophes économiques ging der Arzt und Physiokrat François Quesnay davon aus, dass der Wohlstand eines Staates vom Reichtum und dem Erhalt der Natur sowie von der erfolgreichen Kultivierung der Erde abhinge.291 Den Naturbegriff hatte Quesnay ausdifferenziert: Zum einen verstand er unter Natur den Gegensatz zur Kultur. Die Natur bot dem Menschen die Ressourcen für seinen Lebensunterhalt. Er musste sie nur kennen und sorgfältig nutzen. Diese Maxime hatte Quesnay als Sohn eines Landmannes u. a. durch eigene Arbeit auf seinem kleinen Mustergut gewonnen, auf dem er zahlreiche Versuche mit neuen Pflanzen und Anbaumethoden unternahm. Im Sinne von Landwirtschaft und Agrarproduktion verstand Quesney Natur als gegensätz­lich zur Manufaktur- und entstehenden Industrieproduktion. Zugleich offenbarte sich die Natur als produktive Kraft, weshalb der Landwirtschaft von den Physiokraten die Komponente der Urproduktion zugeschrieben 291 Quesnay, François: Despotisme de la Chine. In: Oncken, Auguste (Hg.): François Quesnay. Œuvres économiques et philosophique. Accompagnées des éloges et d’autres travaux biographiques sur Quesnay par différents auteurs. Francfort 1888 (Reprint Aalen 1965). S. 563 – 660. Hier 8. Kapitel. § 5. S. 643. Muhlack, Ulrich: Art. „Physiokratismus“. In: Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher-Denker-Sachbegriffe. Köln 2005. S. 472 – 477. Hier S. 475. Muhlack, Ulrich: „Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland“. In: Zeitschrift für Historische Forschung 9 (1982). S. 14 – 46. Stiehl, Martina: Legaler Despotismus – Soziales Königtum. Lorenz von Stein und der Physiokratismus. (Diss.) Marburg 1988. S. 125f. Insbesondere zu de la Rivières Vorstellungen vom despotisme personnel et légal vgl. Hensmann, Folkert: Staat und Absolutismus im Denken der Physiokraten. Ein Beitrag zur physiokratischen Staatsauffassung von Quesnay bis Turgot. (Diss.) Frankfurt/M. 1976. S. 175 – 188. Gerteis, Klaus: Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik. In: Birtsch, Günter (Hg.): Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers (Aufklärung, Jg. 2, Heft 1). Hamburg 1987. S. 75 – 94. Zum Wandel des Naturverständnisses im 18. Jahrhundert grundsätz­lich: Groh, Ruth und Dieter: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der Natur (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 939). Frankfurt/M. 1991. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 290 Der chinesische Kaiser als Vorbild wurde: La terre est l’unique source des richesses et c’est l’agriculture qui les multiplie.292 Darüber hinaus galt ihm die Natur als Weltordnung, in welcher der Naturzustand der Menschen und das Naturrecht ihren Ursprung hatten. In Abgrenzung zu Thomas Hobbes (1588 – 1679) und in starker Anlehnung an John Lockes (1632 – 1704), David Humes, Montesquieus und Voltaires (1694 – 1778) positive Sicht des Naturzustandes implizierte die natür­liche Weltordnung für Quesnay wesent­liche Werte wie Freiheit, Gleichheit, Frieden, Eigentum und Sicherheit. Staat und Wirtschaft hatten sich aus seiner Sicht den naturgesetz­lichen Abläufen unterzuordnen.293 Wirtschaft konstituierten die Physiokraten erstmals als einen eigenständigen Bereich, aus dem sich auch eine eigene Staatslehre ergab. Quesnay stellte die Wirtschaft im Sinne des Naturrechtsdenkens des 18. Jahrhunderts als naturgesetz­lich geregelten Ablauf dar, von dem der Staat profitieren, den der Staat aber kaum in Abhängigkeit zu sich bestimmen könne. Vielmehr sei es die Aufgabe des Staates, den ungehinderten Ablauf der natür­lichen Prozesse und die effiziente Nutzung der Erträge – etwa durch den Ausbau von Verkehrswegen oder die Schaffung von Rechtssicherheit – zu gewährleisten. In seinem dreiseitigen Tableau économique 294 entwarf Quesnay 1758 die Vorstellung eines künftigen optimalen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, das auf zwei Sektoren beruhte: einem produktiven und einem sterilen. Zum produktiven Bereich zählte nach Quesnay neben der Landwirtschaft auch der Bergbau, die Jagd und die Fischerei, erschloss sich doch daraus die Natur mit ihren Roh- und Grundstoffen, auf deren Basis die Weiterverarbeitung der hieraus gewonnenen Erzeugnisse mög­lich war. Für Quesnay gab es kein besseres, lohnenderes und angemesseneres Mittel für eine 292 Quesnay, François: Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole, 1767. In: Oncken, Auguste (Hg.): François Quesnay. Œuvres économiques et philosophique. Accompagnées des éloges et d’autres travaux biographiques sur Quesnay par différents auteurs. Francfort 1888 (Reprint Aalen 1965). S. 330 – 337. Hier S. 337. 293 Jöhr, Walter A.: Geschichte der Volkswirtschaftslehre. St. Gallen 1971. S. 12. 294 Gustave Schelle bietet im Anhang seiner Biographie zu Quesnay Briefe Quesnays an Victor de Riqueti, Marquis de Mirabeau über das Tableau. Schelle, Docteur Quesnay, S. 389 – 399. Im Jahr 1758 erhielt Mirabeau das fertige Tableau Quesnays zur Ansicht mit der Bitte um einen Kommentar. Ein deutscher Kommentar stammt von Isaak Iselin. Iselin, Isaak: Ueber die wirthschaft­liche Organisation der Gesellschaft, oder Versuch einer Erläuterung der wirthschaft­lichen Tafel. In: Ephemeriden der Menschheit 1780. Bd. 1. S. 3 – 34. Ausführ­lich erläutert ist das Tableau bei Genovese-Fox, Elizabeth: The Origins of Physiocracy: Economic Revolution and Social Order in Eighteenth Century France. Ithaca 1976. S. 246ff. Kuczynski, Marguerite: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Tableau économique. Nach der 3. Ausgabe von 1759. Berlin 1965. S. VII. Bürgin, Alfred: Zur Soziogenese der politischen Ökonomie. Wirtschaftsgeschicht­liche und dogmenhistorische Betrachtungen. Marburg 1996. S. 327 – 356. Berg, Richard van den: “Un état de pleine concurrence”: Old and new Controversies about Physiocratic Theory of Value. In: Economies et Sociétiés 38/8 (2004). S. 1431 – 1457. Perrot, Jean-Claude: Une histoire intellectuelle de l’économie politique. XVII-XVIII siècle (Civilisations et sociétés, Bd. 85). Paris 1992. S. 217ff. Bourde, .Agronomie et agronomes, Bd. 1, S. 367ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 291 Einzelperson ebenso wie für einen Staat, Vermögen zu erwerben, als durch Ackerbau. Quesnay schrieb: L’agriculture est la source de toutes les richesses de l’Etat, et de celles de tous les citoyens.295 Gewerbe, Manufaktur und Handel subsumierte er unter den sterilen (unproduktiven) Sektor, der die vom produktiven Bereich der Natur abgerungenen Produkte nur tauschte, verfügbar machte oder transportierte, ohne noch etwas hinzuzufügen. Die Produktivität einer Wirtschaft maß sich aus Sicht Quesnays jedoch allein am produktiven Sektor und ergab sich aus dem Reinertrag (produit net) bzw. dem Mehrwert der Natur. Anhand dieser beiden Sektoren sowie in Abhängigkeit von den Eigentumsverhältnissen und den damit verbundenen Tätigkeitsfeldern teilte Quesnay in Anlehnung an Richard Cantillons (1680 – 1734) Essai sur la nature du commerce en général (1734/1755) die Bevölkerung in drei Kategorien ein.296 Im Tableau finden sich die bäuer­lichen Pächter als classe productive, in der classe des propriétaires sah Quesnay die länd­lichen Grundeigentümer und unter die classe stérile subsumierte er die Händler und Manufakturbesitzer.297 Innerhalb dieser drei Bevölkerungsgruppen sollte es zu einem Wirtschaftskreislauf kommen, der von der produktiven Gruppe ausging und wieder zu ihr zurückführte. In dieser Gruppe lag der Schlüssel zur Bildung des wirtschaft­lichen Reinertrags, der Ausgangspunkt zur Umverteilung und Neubildung sowie zur Steigerung des Ertrags. Aus diesen Annahmen leitete Quesnay die Schlussfolgerung ab, dass alles, was der Landwirtschaft schade, auch dem Staat und der Gesellschaft schäd­lich sei: Pauvre paysan, pauvre royaume; pauvre royaume, pauvre roi!298 Umgekehrt sei alles, was den Ackerbau begünstige, gleichermaßen für den Staat und die Gesellschaft günstig. Deshalb bildete das Tableau ein harmonisches Verhältnis von Natur, Wirtschaft und Gesellschaft ab, das es künftig umzusetzen galt. Orientiert war es an der Kugellaufbzw. Tableau-Uhr von Grollier de Servière, die dieser 1733 im Recueil d’ouvrages curieux de mathématique et de mécanique ausführ­lich beschrieben hatte.299 Im Tableau bildete Quesnay ein gesellschaft­liches und wirtschaft­liches Reformprogramm, ein boussole du gouvernement oder livret du ménage ab, das Orientierung zur Realisierung bieten sollte. Den Bauern gestand Quesnay den ökonomischen Vorrang zu, doch konstatierte er aufgrund der Besitzlosigkeit der meisten Bauern und der Bewirtschaftung durch die 2 95 Quesnay, Maximes générales, S. 331. 296 Vgl. zu Cantillons Geldtheorie, seinen Zirkulationsvorstellungen und zum Einfluss auf die Physiokraten Schumpeter, Joseph A.: Geschichte der ökonomischen Analyse. Bd. 1 (Grundriß der Sozialwissenschaft, Bd. 6). Göttingen 1965. S. 403ff. 297 Muhlack, Art. „Physiokratismus“, S. 474. 298 Diese Sentenz wird Quesnay zugeschrieben. Oncken, Quesnay, S. 128. 299 Vgl. Rieter, Heinz: Zur Rezeption der physiokratischen Kreislaufanalogie in der Wirtschaftswissenschaft. In: Scherf, Harald (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie. Bd. 3 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., 115,3). Berlin 1983. S. 55 – 99. Ders.: Quesnays Tableau Economique als Uhren-Analogie. In: Scherf, Harald (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökono­ mischen Theorie. Bd. 9 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., 115,9). Berlin 1990. S. 57 – 94. Bürgin, Zur Soziogenese der politischen Ökonomie. S. 35, FN 41. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 292 Der chinesische Kaiser als Vorbild so genannte Halbscheidpacht (métayage) für das gesamte Agrarsystem Frankreichs eine ungenügende Produktivität. Für ihn hing der Wohlstand einer Gesellschaft wesent­lich davon ab, dass die Bauern selbst Boden besaßen: Le Royaume doit être bien peuplé de riches cultivateurs.300 Die Herausbildung eines freien und besitzenden Pächterstandes sah Quesnay deshalb als eine der dring­lichsten Aufgaben des Herrschers an. Beziehungen zwischen den Bevölkerungsgruppen bildet das Tableau nicht ab. Es ging aber davon aus, dass alle Gruppen aufeinander bezogen agieren. Doch entgegen der Annahme Adam Smiths von den sich selbst regulierenden Kräften bedurfte es nach Quesnay eines Anstoßes wie bei der Uhr.301 Diesen sollte der Monarch geben. Somit sah Quesnay den Handlungsbedarf des Herrschers darin, die gesellschaft­lichen Beziehungen herzustellen bzw. zu beeinflussen. Sein Gesellschaftsideal bestand in der Nation agricole, die aus seiner Sicht schon einmal im Frankreich Heinrichs IV. ansatzweise verwirk­licht war.302 Frankreich bot auch die besten Voraussetzungen dafür: Es verfügte über ein großes Staatsterritorium und eine angemessene Bevölkerungszahl.303 Da die Besitzenden an das Land gebunden seien, müsse die Funktion dieser Gruppe im Aufbau der Nation a­ gricole bestehen. Was dafür jedoch in Frankreich fehle, war nach Quesnay die fördernde Staatsmacht und ein aktiver Herrscher, der durch entsprechende Rahmenbedingungen den Aufbau einer Nation agricole unterstütze. Sein formuliertes Ideal bestand deshalb aus einem souveränen Monarchen, der sich den Naturgesetzen freiwillig unterordnete und sie respektierte.304 Die Vorbilder für dieses Herrscherideal entlehnte Quesnay nicht mehr aus dem bekannten Fundus antiker oder christ­licher Monarchen der europäischen 300 Quesnay, Maximes, S. 333. Vgl. auch Zank, Wolfgang: Reiche Bauern, reiches Land. In: Piper, ­Nikolaus (Hg.): Die großen Ökonomen. Leben und Werk der wirtschaftswissenschaft­lichen Vordenker. Stuttgart ²1996. S. 20 – 25. 301 Einen Vergleich zwischen Quesnay und Smith bietet Karmann, Friedrich: Agrarwesen und Agrarpolitik in den Systemen der Physiokratie und des Adam Smith. In: Jahrbuch der Dissertationen der Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin 1921/22. S. 177 – 187. Hier S. 180f. 302 Tichauer-Menck, Clara: François Quesnay als politischer Oekonom. (Diss.) Wertheim/M. 1927. S. 5ff, S. 16. 303 Für Stadtstaaten oder Nations commerçantes wie die Niederlande prognostizierte er aufgrund des fehlenden Territoriums den Untergang. Tichauer-Menck, François Quesnay als politischer Oekonom, S. 4. 304 Priddat, Birger P.: Le concert universel. Die Physiokratie. Eine Transformationsphilosophie des 18. Jahrhunderts. Marburg 2001. S. 92. Es ist nach der vorliegenden Untersuchung davon auszugehen, dass die Physiokraten mit ihrer Vorstellung von der Nation agricole ein sehr eigenes und funktionales Verständnis von der Verknüpfung von Nation und Natur besaßen. Es ging ihnen um die Schaffung einer neuen kulturellen Identität der Menschen im Einklang mit der Natur. Dies betraf in erster Linie, jedoch nicht ausschließ­lich die Franzosen. Die Nation agricole musste somit nicht nur auf Frankreich beschränkt bleiben, sondern schloss all jene ein, die sich auf ihre Lehren und Ideen beriefen – eine Nation Gleichgesinnter. Zu Vorstellungen von Natur und Nation am Beispiel der Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert vgl. Michalsky, Tanja: Die Natur der Nation. Überlegungen zur „Landschaft“ als Ausdruck nationaler Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 293 Fürstenspiegel. Er wählte stattdessen ebenso wie Justi ein außereuropäisches Vorbild: das chinesische Kaisertum. Es ging ihm dabei nicht um die Qualitäten einzelner Persön­ lichkeiten, sondern um die Institution des Kaisertums an sich mit einem ausgewählten Teil seiner Funktionen, Rechte und Pf­lichten. Ausschlaggebend war für Quesnay die histoire d’une monarchie agricole seit den premiers souverains de la Chine, les Fo-hi (Fuxi) et les Yao.305 Der chinesische Kaiser avancierte über Quesnay hinaus auch bei anderen französischen Physiokraten zu einem Modell der Harmonie von Herrschaft und Natur und damit zu einem bedeutenden Argument innerhalb der physiokratischen Vermittlungsstrategie und Propaganda,306 was im nachfolgenden Kapitel gezeigt werden soll. 4.2.2 Die Rolle Chinas in der Physiokratie Die ausgeprägte Sinophilie Quesnays war ausschlaggebend für die bedeutende Rolle, die Chinas Landwirtschaft künftig für die Physiokraten als Argument und Vorbild spielen sollte. Quesnay nannte in seinem 1767 publizierten Werk Despotisme de la Chine zahlreiche Berichterstatter aus China, auf die er sich inhalt­lich bezogen hatte. Allen voran war dies Du Haldes Kompendium Description de la Chine (1735),307 Le Comtes Nouveaux memoires sur l’état present de la Chine (1696), die Lettres Édifiantes et ­Curieuses (1702 – 1776), die Schriften des Dominikaner-Missionars Domingo Fernandez Navarrete (1618 – 1686), Berichte des neapolitanischen Juristen Giovanni Francesco Gemelli Careri (1651 – 1725) und des schwedischen Ingenieurs Laurent Lange, Gesandtschaftsberichte wie die des Dänen Evert Ysbrant Ides (1657 – 1708) und des Admirals George Anson (1697 – 1762) sowie die Beschreibungen von Pierre Poivre.308 Quesnay griff also Identität. In: Bußmann, Klaus/Werner, Elke Anna (Hg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004. S. 333 – 354. Hier S. 337. 305 Quesnay, Despotisme de la Chine, 1. Kapitel, § 2, S. 566ff und 2. Kapitel, § 9, S. 603f. In seiner Argumentation zog er die chinesische Geschichte ebenso wie die jüngere Vergangenheit bzw. Gegenwart aus den Berichten von Poivre heran. 306 Der Begriff „Propaganda“ ist zeitgenössisch gewählt, zumal er u. a. in Verbindung mit den zahlreichen Artikeln Gelehrter in Zeitungen und Journalen gebracht wurde. Vgl. Reinalter, Helmut: Art. „Propaganda“. In: Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher, Denker, Sachbegriffe (UTB, Geschichte, Bd. 8316). Köln 2005. S. 495f. 307 Quesnay nannte ihn selbst in seinem Vorwort als Gewährsmann seiner Ausführungen. Quesnay, Despotisme de la Chine, 1. Kapitel, § 1, S. 566. Zum Einfluss der Schriften von Navarrete vgl. ­Cummins, James S.: Fray Domingo Navarrete: A Source for Quesnay. In: Bulletin of Hispanic Studies 36 (1959). S. 37 – 50. Zur Sinophilie Quesnays allgemein vgl. Li, La Chine et les Chinois. S. 47f. 308 Ibd. § 1, S. 566. Teile aus Poivres Reisebericht zu Chinas Landwirtschaft sowie zum Ackerbau in Cochinchina wurden auch in den Ephémérides du Citoyen unter dem Titel Voyages d’un Philosophe publiziert. Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Juin 1768. S. 166 – 217. Die Hervorhebung der Landwirtschaft Chinas insbesondere S. 213. Einen Überblick über die von Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 294 Der chinesische Kaiser als Vorbild im Wesent­lichen auf die Informationen zurück, die sich – wie bereits im dritten Kapitel dargestellt – den zeitgenössischen Veröffent­lichungen entnehmen ließen. Poivres Berichte aus Asien zirkulierten ebenso wie seine 1763 und 1764 in Lyon gehaltenen Vorträge zur Landwirtschaft außerhalb Europas in handschrift­lichen Kopien im Kreis der Physiokraten. Quesnay entlehnte aus ihnen wichtige Informationen, mit denen er die Vorbildhaftigkeit Chinas für Europa in seinen Despotisme de la Chine in der ersten Veröffent­ lichung in den Ephémérides du Citoyen im Jahr 1767 darstellte. Ganze Passagen wurden von Quesnay aus Poivres Beschreibungen und Vorträgen entlehnt.309 Vor allem Informationen zur Stellung der Landwirtschaft in Staat und Gesellschaft in China waren für Quesnay von besonderer Bedeutung. Zudem richtete er seinen Blick auf Poivres Beschreibungen von Kaiser und Untertanen als Interessengemeinschaft sowie auf China als Staat, in dem das Naturrecht herrschte. Auch die anderen Mitglieder der Gruppe um Quesnay zitierten in ihren Abhandlungen rege aus Poivres Berichten, da sich bei ihm das zeitgenössisch aktuellste Wissen über China fand.310 Für Quesnays Beschäftigung mit dem Wu-wei-Konzept der Chinesen ist hingegen ganz besonders die Wirkung von François Noëls Übersetzung der chinesischen Klassiker Sinensis imperii libri classici sex aus dem Jahr 1711 von Bedeutung.311 Daneben prägten ihn stark Beschreibungen der richesses immenses in China und der ökonomische Erfolg Chinas auf der Basis geltenden Naturrechts im vierten und fünften Band von Jacques Philibert Rousselot de Surgys Mélanges intéressans et curieux ou Abrégé d’histoire naturelle, morale, civile et politique, de l’Asie, l’Afrique, l’Amérique et des Terres polaires, die ab 1763 in Paris erschienen.312 Rousselot de Surgys hatte sich ebenfalls auf Du Haldes Description de la Chine bezogen.313 309 310 311 312 313 Quesnay stark rezipierten China-Berichte und Übersetzungen gibt Priddat, Le concert universel, S. 116f. Kurz auch bei Clarke, John: Oriental Enlightenment: The Encounter between Asian and Western Thought. London/New York 1997. S. 50. Maverick, China, S. 315. Guy, Basil: The French Image of China, S. 356. Immer noch Ly, Siou Y.: Les grands courants de la pensée économique ­chinoise dans l’antiquité et leur influence sur la formation de la doctrine physiocratique. Paris 1936. Quesnay, François: Despotisme de la Chine. In: Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Mars-Juin 1767. S. 5 – 88. Dazu Maffey, Aldo: Un plagio di F. Quesnay: il Despotisme de la Chine. In: Il pensiero politico 6 (1973). S. 37 – 56. Osterhammel, Pierre Poivre, S. 32. Gerlach, Christian: Wu-wei in Europe. A Study of Eurasian Economic Thought (online unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2005/gerlach_­ christian_wu-wei.pdf, gesehen: 11.08.2012). S. 27ff. Maverick, China, S. 26. Reichwein, Adolf: China und Europa. Geistige und künstlerische Beziehungen im 18. Jahrhundert. Berlin 1923. S. 116. Den Hinweis dazu gibt Quesnay ebenfalls selbst im ersten Kapitel. Quesnay, Despotisme de la Chine, 1. Kapitel, § 2, S. 570. Quesnay nennt den Titel, nicht jedoch den Autor. Rousselot de Surgy, Jacques Philibert: Mélanges intéressans et curieux ou Abrégé d’histoire, naturelle, morale, civile et politique, de l’Asie, l’Afrique, l’Amérique et des Terres polaires. Bd. 6. Paris 1764. S. 236ff. Rousselot de Surgy hatte nach eigener Aussage in Bd. IV, S. 5 und S. 10, Anm. c Du Halde als wichtigsten Autor seiner Mélanges interéssans curieux zugrunde gelegt, daneben aber auch weitere Berichte konsultiert. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 295 Quesnays Werk Le Despotisme de la Chine gab zunächst einen Überblick über das segensreiche Wirken der ersten Kaiser wie Shennong. Im Anschluss widmete er sich auf einigen Seiten dem Leben und den Lehren des Konfuzius. Die Vorstellungen von Harmonie und innerem Frieden als Grundlagen einer guten und funktionierenden Regierung prägten Quesnay wesent­lich.314 Aufgrund seiner Begeisterung für die klassischen Lehren der Chinesen nannten ihn seine Kollegen ehrenvoll Confucius européen, was auch seinem Selbstbild entsprach.315 Da die Physiokraten vom ordre naturel, der natür­lichen, gottgegebenen Ordnung und der vom Menschen bedingten, oft fehlerhaften und unzureichenden ordre positif ausgingen, waren sie bestrebt, den natür­lichen Zustand als Ausgangssituation wiederherzustellen.316 Quesnay begeisterte sich deshalb anhand der genannten Lektüre der Berichte aus China für das taoistische Wu-wei-Konzept und damit für die Vorstellung des Tuns ohne zu tun bzw. des Nichteingreifens durch den Menschen. Lao Tse hatte den chinesischen Kaisern die Natur als autorité souveraine vor Augen gehalten. Deshalb sollten sie den Kreislauf der Natur nicht stören oder lenken, sondern respektieren.317 Für die Physiokraten galt deshalb das ökonomische Prinzip der bienfaisance de la nature und des laissez faire, das im 19. Jahrhundert zum Grundsatz marktwirtschaft­licher Ökonomie erhoben wurde. Schon vor ihnen hatte der französische Ökonom Pierre de Boisguilbert (1646 – 1714) das Prinzip des laissez faire für wirtschaft­liche Belange geprüft und festgestellt, dass die Natur wie ein Blutkreislauf in einem Körper funktioniere. Man müsse der Natur nur erlauben, tätig zu sein. Sein Einfluss auf die Physiokraten ist umfassend nachgewiesen.318 Doch auch die 3 14 315 3 16 317 318 Vgl. auch Rousselot de Surgy, Jacques Philibert u. a.: Agronomie & industrie. 4 Bde. Paris 1762. Anonymus: Catalogue des livres de la bibliothéque de Madame la Marquise de Pompadour. Dame du Palais de la Reine. Paris 1765. Kurzer Hinweis darauf bei Maverick, China, S. 123, S. 128ff. Quesnay, Despotisme de la Chine, 1. Kapitel, § 2, S. 566ff. Neuerdings Finkelstein, Andrea: Harmony and Balance. An Intellectual History of Seventeenth-­ Century English Economic Thought. Ann Arbor 2000. S. 33ff. Guy, Basil: The French Image of China, S. 347. Grundsätz­lich Priddat, Birger P.: Ist das „laisser-faire“ Prinzip ein Prinzip des Nichthandelns? Über einen chinesischen Einfluß in Quesnay’s „Despotisme de la Chine“ und das physiokratische Denken. Discussion Paper 16. Institut für Finanzwissenschaft. Hamburg 1984. Genovese-Fox, Origins of Physiocracy, S. 74. Pinot, Virgile: Les physiocrates et la Chine au XVIIIe siècle. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine 8 (1906/07). S. 200 – 214. Hier S. 214. Oncken, August: Die Maxime des laissez faire et laissez passer. Ihr Ursprung, ihr Werden. Bern 1886. Den enormen Einfluss Chinas und der Lehre des Wu-wei auf Quesnay unterschlagen zahlreiche Forschungen zu Quesnay. So etwa Banzhaf, Spencer H.: Productive Nature and the Net Product: Quesnay’s Economies Animal and Political. In: History of Political Economy 32/3 (2000). S. 517 – 551. Roll, Eric: A History of Economic Thought. London 51999. S. 111 – 120. Quesnay, Despotisme de la Chine, 8. Kapitel, § 8 – 14, S. 645ff. Zu den klassischen Büchern Quesnay, Despotisme de la Chine, 2. Kapitel, § 2f, S. 590ff. Grundsätz­ lich zum Taoismus in der Vorstellung des Wu-wei vgl. McCormick, Ken: The Tao of Lassez faire. In: Eastern Economic Journal 25 (1999). S. 331 – 341. Faccarello, Gilbert: Aux origins de l’économie politique libérale. Pierre de Boisguilbert. Paris 1986. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 296 Der chinesische Kaiser als Vorbild französischen Skeptiker wie Michel de Montaigne (1533 – 1592) und François de la Mothe le Vayer (1588 – 1672) – er wirkte und schrieb im direktem Umfeld Richelieus – hatten trotz ihrer Stellungnahmen für das System des Merkantilismus immer wieder auf die Bedeutung der Natur verwiesen. Aus Le Vayers skeptischer Betrachtung der Politik, in der er das situationsbedingte bewusste Nichteingreifen in Vorgänge oder Strukturen als wesent­liche Tugend eines Herrschers konstatierte, und seinen Studien der französischen Übersetzungen der Lehren des Konfuzius sowie buddhistischer Maxime resultierte die Einsicht, dass dies auch für Mensch und Natur gelte. Bisher ist nur eine indirekte Rezeption von Le Vayers Werken durch Mirabeau über Bayles Dictionnaire nachgewiesen.319 Es zeigt sich aber hier, dass die Auseinandersetzung mit dem Wirken der Natur und der Übertragbarkeit ihrer Prinzipien auf politisches Handeln sowie die Bedeutung der Natur an sich ebenso wie ein Studium der Rolle der Natur in China nicht erst mit den Physiokraten in Frankreich einsetzt. Vielmehr begann die Beschäftigung bereits während der merkantilistisch orientierten Wirtschaftstätigkeit. China galt somit bereits als diskutables Beispiel. Die Physiokraten sahen im Prinzip des laissez faire nicht nur einen ökonomischen, sondern auch einen politischen Grundsatz. Die Politik hatte sich an der Natur und ihren Gegebenheiten zu orientieren. Es bedurfte nach Quesnay der unumschränkten Macht eines Monarchen, der sich einsichtig und freiwillig im Einklang mit den Naturgesetzen befand, sie befolgte, an seine Untertanen vermittelte und ihre Einhaltung kontrollierte. Zugleich hatte er nach taoistischen Vorstellungen als Hüter und nicht als Beherrscher der Natur zu fungieren. Seine Aufgabe bestand darin, alles wachsen zu lassen und nur darauf zu achten, dass dafür die Bedingungen gegeben seien.320 Dieser Aufgabenbereich des chinesischen Kaisers war aus Sicht der Physiokraten leicht und sinnvoll auf die europäischen Fürsten zu übertragen, denn nur die Herrscher waren es, die immer noch im status naturalis und libertatis verblieben waren. In den Fokus der Physiokraten geriet die Ausübung der chinesischen Herrschaft nach den Naturgesetzen, einem ordnungserhaltenden Prinzip, das ruhe- und friedenserhaltend wirkte. Das chinesische Kaiserreich funktionierte wie eine große Familie unter der fürsorg­ lichen Herrschaft eines Vaters.321 Quesnay schrieb im Despotisme de la Chine: Suivant les interprètes chinois, Tien est l’esprit qui préside au ciel, et ils regardent le ciel comme le 319 Schüßler, Rudolf: Laissez faire, Early Modern Skepticism and a “China-Connection”. Unveröffent­ lichtes Diskussionspapier der Universität Bayreuth, Mai 2011. S. 8f, S. 11, S. 13ff. Zu Le Vayer im Wörterbuch von Pierre Bayle vgl. Scheele, Meta: Wissen und Glaube in der Geschichtswissenschaft. Studien zum Historischen Pyrrhonismus in Frankreich und in Deutschland (Beiträge zur Philosophie, Bd. 18). (Diss.) Heidelberg 1930. S. 27ff. 320 Priddat, Birger P.: Le concert universel, S. 87 – 117. Gerlach, Wu-wei in Europe, S. 9ff, S. 27ff. Poirier, Turgot, Einleitung. Häufle, Heinrich: Aufklärung und Ökonomie. Zur Position der Physiokraten im siècle des Lumières (Münchener romanistische Arbeiten, Bd. 48). (Diss.) München 1978. S. 120ff. 321 China beeindruckte Quesnay, da es sich um ein riesiges Reich handelte, das durch seine Ordnung vorbild­lich für Frankreich wirken konnte und in dem es nach den Reiseberichten kaum zu Unruhen Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 297 plus parfait ouvrage de l’auteur de la nature. Car l’aspect du ciel a toujours attiré la vénération des hommes attentifs à la beauté et à la sublimité de l’ordre naturel, […]. Les Chinois disent que le père est le Tien d’une famille, le vice-roi, le Tien d’une province; l’empereur, le Tien de l’empire.322 Der amerikanische Sinologe Herlee Creel spricht vom chinesischen Herrscher als „Schiedsrichter“ über alle nach den von ihm kontrollierten Gesetzen aus­ ontesquieu geführten Handlungen der Untertanen.323 In deut­licher Abgrenzung zu M identifizierte Quesnay die chinesische Herrschaft in ihrer Übereinstimmung mit den Naturgesetzen als despotisme légal.324 Aus seiner Sicht war diese Herrschaftsform in Frankreich realisierbar. Zudem schien das taoistische Wu-wei-Konzept angesichts der deistischen Strömungen in Europa akzeptabel und umso leichter kommunizierbar. Wenn Gott nicht mehr stetig aktiv handelte, sondern sich durch seine Gesetze vertreten ließ, galt dies auch für seine Schöpfung und ihre Gesetzmäßigkeiten. Quesnay schuf aus den konfuzianischen und taoistischen Gedanken in Anlehnung an deistische und antike Grundlagen Ansätze zu einer eurasischen Synthese.325 Diese Auffassung korrespondierte darüber hinaus mit der aktuellen und in Frankreich diskutierten Vorstellung vom Funktionieren eines zunehmend entpersonalisierten und institutionalisierten Staates, der wie eine Maschine arbeitete.326 Faszinierend war für die Physiokraten auch die Übereinstimmung der Interessen zwischen Herrscher und Untertanen in China. Gemeinsam und harmonisch befolgten sie aus Sicht Quesnays die lois naturelles zwischen Himmel und Erde. Daraus resultierte, dass die Kaiser Chinas als souverains d’une nation essentiellement agricole herrschen konnten. Für Frankreich zog Quesnay den Schluss, dass die Menschen Gottes Absicht und damit ebenfalls den Naturgesetzen folgen sollten.327 Dass es sich dabei jedoch auch in Europa um ein gemeinsames Interesse von Herrschern und Untertanen handeln sollte, musste erst vermittelt werden. Dies bedingte ein modifiziertes Gesellschaftsverständnis in komme. Weulersse, Georges: Le mouvement physiocratique en France de 1756 à 1770. Paris 1910. Bd. 2. S. 48ff und S. 136ff. 322 Quesnay, Despotisme de la Chine, 2. Kapitel, § 1, S. 585. 323 “The ruler holds the control, the ministers carry on routine functions.” Creel, Herlee: The Fa-chia: “Legalists or “Administrators”? In: Ders.: What is Taoism? And other Studies in Chinese Cultural History. Chicago/London 1970. S. 92 – 120. Hier S. 98. 324 Quesnay, Despotisme de la Chine, Vorwort, S. 563f. 325 Gerlach, Wu-wei in Europe, S. 22. Deut­lich wird dies in Quesnays kleiner Abhandlung Le droit naturel aus dem Jahr 1765. 326 Quesnay, François: Sur les travaux des artisans, in: Oncken, Auguste (Hg.): François Quesnay. ­Œuvres économiques et philosophique. Accompagnées des éloges et d’autres travaux biographiques sur Quesnay par différents auteurs. Francfort 1888 (Reprint Aalen 1965). S. 526 – 554. Hier S. 532. Vgl. dazu Kapitel 4.1.3.c). 327 Priddat, Le concert universel, S. 107. Pinot, Les physiocrates et la Chine au XVIIIe siècle, S. 211. Goutte, Pierre-Henri: Les Éphémérides du citoyen, instrument périodique au service de l’ordre naturel (1765 – 1772). In: Le Dix-huitième siècle 26 (1994). S. 139 – 162. Hier S. 142f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 298 Der chinesische Kaiser als Vorbild Anlehnung an die aus dem Naturrecht resultierende Freiheit des Einzelnen.328 ­Quesnay schrieb: […] et dans tout l’empire les enfants héritent des biens de leurs pères et de leurs parents selon l’ordre naturel du droit de succession.329 In den Mélanges intéressans et curieux fand Quesnay den entscheidenen Hinweis zur Einteilung der chinesischen Gesellschaft: Le seconde division de la nation chinoise, comprend tous ceux qui n’ont pas pris de degrés littéraires: les laboureurs, les marchands et en général tous les artisans. C’est ce qui compose le menu peuple.330 Quesnay hielt in seinem Werk Despotisme de la Chine fest: Le second ordre des citoyens comprend tous ceux qui n’ont pas pris de degrés littéraires. Les laboureurs tiennent le premier rang, puis les marchands et géneralement tous les artisans, les paysans, manouvriers, et tout ce qui compose le menu peuple.331 Vor der Aufforderung, Strukturreformen durchzuführen und auch die französischen Eliten auf eine notwendige Nation agricole und die agriculture éclairée zu verpf­l ichten, scheute Quesnay ebenso wenig zurück wie die Mitglieder seines Kreises.332 Gleiches galt auch für die Vermittlung an das Volk 333 und die Erhebung der Landwirtschaft zur science économique. Dafür rühmte Quesnay die chinesischen Landwirtschaftsakademien.334 Quesnay diskutierte 328 Vaggi, Gianni: Structural Change and Social Transformation in Physiocracy. In: Schefold, Bertram/ Barens, Ingo/Caspari, Volker (Hg.): Political events and economic ideas. Cheltenham/UK/Northhampton/MA 2004. S. 150 – 172. Zorn, Wolfgang: Die Physiokratie und die Idee der individualistischen Gesellschaft. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 47/4 (1960). S. 498 – 507. Berg, Un état de pleine concurrence. 329 Quesnay, Despotisme de la Chine, 2. Kapitel, § 7, S. 599f. 330 Rousselot de Surgy, Mélanges intéressans et curieux, Bd. 5, S. 224. 331 Quesnay, Despotisme de la Chine, Kap. 2, § 4, S. 581. 332 Die Ablehnung physiokratischer Ideen im Adel und die befürchteten Konsequenzen für diesen Stand diskutiert Goulemot, Jean-Marie: Reflexions sur la culture politique des lumières. In: Bödeker, Hans Erich/François, Etienne (Hg): Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung (Deutsch-französische Kulturbibliothek, Bd. 5). Leipzig 1996. S. 435 – 446. 333 Mirabeau hatte beispielsweise am 14. Juni 1772 an den badischen Markgrafen geschrieben, dass die Einsichten in die physiokratischen Ansätze auch an das Volk vermittelt werden müssten: Ce point décisif, Monseigneur, c’est l’instruction populaire. Vainnement ferez-Vous instruire Votre auguste famille; vainnement Vos mesures à cet égard seraient-elles appuyées du consentement actuel de Vos courtisans et de Vos officiers. Ces derniers n’auront jamais de principes que la volonté du prince et d’objet comme tous autres que leurs intérêt momentané. Ne jugez d’après les difficultés que Vous trouvez à faire le bien de celles, qui se rencontreront à laisser tout languir et se détruire. […] C’est le peuple seul, c’est l’universalité des opinions et des volontés qui peut veiller à la garde de Vos institutions paternelles, et la première de toutes doit être le soin d’initier dès son enfance le moindre d’entre Vos sujets à la connaissance de l’intérêt personnel qu’il a à l’inauguration et à la conservation de Vos principes. […] Oui, Monseigneur, les vrais insituteurs des princes, ce sont les moeurs de leurs sujets, l’appui des moeurs sont les principes, et les principes constants et fondés sur l’ordre naturel doivent être appris en naissant, doivent former la religion domestique de chaque famille. Je supplie Votre Altesse Sérénissime de faire réflexion à ceci, que je ne fais que Lui répéter. Knies, Carl (Hg.): Carl Friedrich von Baden. Brief­licher Verkehr mit Mirabeau und Du Pont. Bd. 1. Heidelberg 1892. S. 59f. 334 Weulersse, Le mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 377. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 299 und zitierte in diesem Kontext ausführ­lich das Heilige Edikt des Kangxi-­Kaisers, das er dem Kompendium von Du Halde entnommen hatte. Die Achtung der gesamten chine­sischen Gesellschaft gegenüber der Landwirtschaft hob er gezielt hervor. Zugleich unterstrich er die wichtige Funktion des Monarchen und in Anlehnung an den Kaiser die Funktion der Mandarine, das Volk zu unterweisen und zu erziehen. Der Monarch trete in China, so Quesnay, wie am Beispiel des Heiligen Edikts des Kangxi-­Kaisers zu sehen sei, als Lehrer seiner Untertanen auf.335 Daneben werde das Volk auch durch die schrift­liche Publikation von ethischen Richtlinien und Verhaltensmaßregeln in den gazettes chinoises belehrt: La gazette du gouvernement intérieur de l’empire est encore, pour le public, une instruction historique journalière, qui lui présente des exemples de tous genres qui inspirent de la vénération pour la vertu, de l’amour pour le souverain, et de l’horreur pour le vice.336 Damit formulierte Quesnay ein Programm für die Vermittlung der physiokratischen Lehre. Publikationsmedien sollten wie in China als Vermittlungsorgane für die Erziehung des Volkes zur Landwirtschaft und fürst­liche Personen als Trägerschicht des Vermittlungsziels dienen. Dies bedeutete für Quesnay auch, die Publikationsorgane der Physiokraten zu offiziellen Medien der Regierung zu erheben. 4.2.3 Die physiokratische Propaganda und ihre Adressaten Nachfolgend sollen die grundlegenden Vermittlungsstrategien der Physiokraten, aber auch die der Krisenzeit von 1768/69 untersucht werden, die sich auf unterschied­liche Medien und Kommunikationsformen konzentrierten. Daneben finden die Reaktionen der Fürsten eingehende Beachtung, denn es kann von übereinstimmenden Interessen und gemeinsamen Handlungszielen zwischen den Physiokraten und einzelnen Herrschern ausgegangen werden. Es soll dabei die Annahme gelten, dass durch die Vermittlung physiokratischen Wissens an das Königshaus das kulturelle und symbolische Kapital Ludwigs XV. und seines Nachfolgers steigen und umgekehrt die Lehre der Physiokraten durch die Rezeption der könig­lichen Schüler in gleicher Weise an Bedeutung gewinnen konnte.337 Da auch seitens der französischen Krone die Herrschaftsauffassung durch gezielte Propaganda verbreitet wurde, deckten sich aus Sicht der Physiokraten ihre Interessen mit denen des Hofes. 335 Quesnay, Despotisme de la Chine, Kap. 2, § 5, S. 596. 336 Ibd. S. 597. Vgl. auch Maverick, China, S. 129. 337 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1539). Frankfurt/M. 2001. S. 340ff. Die Beziehungen der Physiokraten nach Baden, Schweden und die Toskana untersucht Abrosimov. Abrosimov, Kiril: Wissenstransfer und Austausch symbolischen Kapitals. Das europäische Fürsten-Netzwerk der französischen Physiokraten. In: Discussions 7 (2012). S. 1 – 41. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 300 Der chinesische Kaiser als Vorbild Die Physiokraten waren bei der Vermittlung ihres Wissen immer daran interessiert, dass ihre Ideen nicht ausschließ­lich akademisch-theoretische Übungen blieben, sondern sich in die Praxis umsetzen ließen und sich dort bewährten. Sie stellten deshalb grundsätz­liche Überlegungen an, durch welche Personenkreise und Mittel oder welches Vorgehen ihre theoretischen Ansätze schnell und zielgerichtet zu realisieren seien. Im Mittelpunkt ihres Interesses standen die Monarchen. Die Umsetzung ihrer Lehre bedurfte eines im ökonomischen bzw. agrarischen Bereich wissenden, kenntnisreichen Monarchen im Sinne des chinesischen Kaisers. Die économistes bedienten sich damit eines etablierten Musters der Verbindung von Wissen und Macht und der Akkumulation sowie der Monopolisierung von Wissen durch die Macht. Dieses Muster war über die Jahrhunderte trotz allen Wandels der Wissensinhalte, -anforderungen und der Methoden der Wissensgenerierung gleich geblieben.338 In den christ­lichen europäischen Vorstellungen der Fürstenerziehung waren das Ideal des allwissenden und alles sehenden Monarchen festgeschrieben und über Jahrhunderte pädagogische Praktiken für die Annäherung an das gött­liche Vorbild perfektioniert worden.339 Nun stand aus Sicht der Physiokraten wiederum ein solcher Wandel bzw. notwendiger Zuwachs im Herrschaftswissen an. Er schien machbar, denn einerseits verfügte die eigene antike Tradition über genügend Beispiele einer engen Verflechtung von landwirtschaft­lichem Wissen und Fähigkeiten bei Monarchen. Andererseits bewies China durch seine historischen und aktuellen Kaiser die Mög­lichkeit einer erfolgreichen Verbindung von Herrschaft und Landwirtschaft, ja sogar die Realisierung des lernenden und lehrenden Philosophen auf dem Thron. Hier schien die Durchdringung der eigenen (chinesischen) Welt durch den umfassend gebildeten und somit allwissenden Herrscher gelungen. Dieses Allwissen eines Königs hatte in Frankreich durchaus Tradition. Arndt Brendecke betont, dass das être informé 338 Zu Rolle von Wissen im frühneuzeit­lichen Staatsbildungsprozess grundsätz­lich Soll, Jacob: Jean-­ Baptiste Colberts geheimes Staatsinformationssystem und die Krise der bürger­lichen Gelehrsamkeit in Frankreich 1600 – 1750. In: Brendecke, Arndt/Friedrich, Markus (Hg.): Information in der Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien (Pluralisierung & Autorität, Bd. 16). Münster 2008. S. 359 – 374. Gottschalk, Karin: Wissen über Land und Leute. Administrative Praktiken und Staatsbildungsprozesse im 18. Jahrhundert. In: Collin, Peter/Horstmann, Thomas (Hg.): Das Wissen des Staates. Geschichte, Theorie, Praxis (Schriften zur Rechtspolitologie, Bd. 17). Baden-Baden 2004. S. 149 – 174. Hier S. 150ff. Spittler, Gerd: Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980). S. 574 – 604. Friedrich, Markus: Government and Information-Management in Early Modern Europe. The Case of the Society of Jesus (1540 – 1773). In: Journal of Early Modern History 12 (2008). S. 539 – 563. 339 Neben der Erfahrung durch Reisen wurde immer wieder die normative Orientierung an Exempla als didaktisches Mittel der Perfektionierung der Persön­lichkeit des Herrschers aufgeführt. Das Auge Gottes war immer auch als ein Symbol der Herrscher etabliert, was die Beobachtungsfähigkeit und Wachsamkeit des Monarchen herausstellte. Müller, Rainer A.: Die deutschen Fürstenspiegel des 17. Jahrhunderts. Regierungslehre und politische Pädagogik. In: Historische Zeitschrift 240 (1985). S. 571 – 597. Hier S. 583. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 301 de tout bei Ludwig XIV. als Voraussetzung politischer Rationalisierung erkannt und Wissensdefizite als Grund politischer Fehler eingestuft wurden.340 Diese Auffassung im Herrscherhaus galt es, von den Physiokraten für ihre Ziele zu nutzen, indem sie sich als Praeceptores erwiesen und als Berater der Krone etablierten. Sie benötigten dafür eine Strategie der erfolgreichen Vermittlung ihres Wissenskanons an die Monarchie sowie eine Form der Eigenpropaganda, welche die erfolgreiche Vermittlung des Wissens im Königshaus in der Öffent­lichkeit belegte. Daneben befanden sich die Physiokraten seit 1763 in einer immer drängender werdenden Rechtfertigungssituation: Am 5. Mai 1763 war durch den König auf ihr Betreiben hin die Freiheit des Binnenhandels mit Getreide eingeführt worden. Ein Jahr später, am 18. Juli 1764, folgte das Gesetz des unbeschränkten Exports. Aus dieser neuen Handelsfreiheit erwuchsen Spekulation und in den Jahren zwischen 1765 – 1768 immer wiederkehrende Hungersnöte, die in Rouen und Paris zu Unruhen führten.341 Das Freihandelsgesetz hatte die Defizite und die Rückständigkeit der französischen Landwirtschaft eindrück­lich aufgedeckt, die den freien Markt nur ungenügend bedienen konnte. Es bestand daher in den Jahren 1768 und 1769 seitens der Physiokraten unbedingter Handlungsbedarf, die Landwirtschaft zu stärken und so den Erhalt der neuen Gesetze nicht zu gefährden, gleichzeitig aber auch den Hungersnöten entgegenzuwirken. Die entstandene Disharmonie zwischen landwirtschaft­licher Produktion und dem Bedarf des Marktes musste durch den König als Gesetzgeber ausgeg­lichen werden. Die Krone musste je nach Situation bremsend oder beschleunigend, also regulierend wirken. Es ging den Physiokraten darum, schnellstens Harmonie zwischen Markt und Landwirtschaft herzustellen, wobei sich auch die Glaubwürdigkeit ihrer Lehre auf dem Prüfstand befand. Ein schneller Erfolg hinsicht­lich der Reformen für eine ertragreichere und modernere Landwirtschaft schien notwendig. Aber auch sie selbst als Schule bedurften bei der kritischen Stimmung gegen die Freihandelsgesetze einer stärkeren und vor allem sichtbaren Protektion durch die Krone. Um dies zu erreichen, suchten sie gerade 1768/69 nach speziellen Strategien der Annäherung an das Königshaus. Die Bewegung der Physiokraten zielte darauf, mit ihrer Lehre nicht nur ein umfassendes Gegenstück zum Merkantilismus, sondern darüber hinaus, basierend auf der universalen Gültigkeit der Naturgesetze, das wissenschaft­liche Programm einer neuen Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftsordnung theoretisch und terminologisch fixiert zu haben. Sie beanspruchten, ihre Lehre als nouvelle science, die Zusammenkünfte ihrer Bewegung als Académie économique und sich selbst als philosophes zu etablieren. Sie stellten ihre Bewegung mit dieser Anspruchshaltung neben die britische Royal Society 340 Brendecke, Arndt: Imperium und Empirie. Funktion des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln/Weimar/Wien 2009. S. 38f. 341 Im Juli 1770 wurde der freie Getreideexport vorerst wieder abgeschafft, 1774 durch Turgot wieder mög­lich. Kaplan, Bread, Politics and Political Economy, S. 164ff und S. 252ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 302 Der chinesische Kaiser als Vorbild oder die französische Académie des sciences.342 Eine neue Wissenschaftsdisziplin bedurfte jedoch einer angemessenen Verbreitung, des akademischen Austauschs, der Diskussion und Akzeptanz. Allerdings war nur Quesnay in die Académie des sciences aufgenommen worden, den anderen philosophes blieb die Zugehörigkeit verwehrt.343 Die renommierten Einrichtungen in Paris oder im Ausland nahmen kaum Notiz von ihnen. So blieb ihre Lehre auch dort verankert, wo sie als Wissenschaft entstanden war: an einem vollkommen neuen Ort von Gesprächskultur und Wissenschaftspraxis, dem Salon. Die Assembléen der Physiokraten waren eine der wichtigsten Mög­lichkeiten, in direktem Kontakt Gästen aus ganz Europa ihre Lehre zu vermitteln.344 Den Gästen, selbst Fürsten wie dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden (1728 – 1811), ging es darum, dazuzugehören. Die économistes gaben ihrem Kreis und ihren Zusammenkünften damit das Siegel großer Exklusivität. Doch dies allein genügte nicht. Ronald Meek spricht dezidiert von der „Propaganda“ der physiokratischen Bewegung, die etwa 1763 ihren Anfang nahm. Er geht dabei jedoch vor allem von den Publi­ kationsorganen aus, in denen sie ihre Artikel schalteten und ihre Ideen verbreiteten.345 Doch schon früher sind Maßnahmen zu erkennen. So diente den Physiokraten, vor allem Quesnay, die entstehende Encyclopédie Denis Diderots (1713 – 1784) als eine Plattform, um in ausgewählten Artikeln die physiokratischen Standpunkte zu fixieren und zu veröffent­lichen. Quesnay verfasste 1756 den Artikel Fermiers, ein Jahr später die Abhandlung zu Grains und 1759 seine Gedanken zur Population.346 Den Artikel zur Agriculture hatte Diderot bereits geschrieben (Abb. 13: Frontispiz der Enzyklopädie). Er ging dabei auf die Rolle alter Kulturheroen wie Triptolemos aus der Mythologie ein und bedauerte in Anlehnung an Plinius, dass die Erde früher ihre Früchte im Überfluss gab, weil sie das Vergnügen empfing, von könig­lichen Pflügen und von fürst­lichen Händen 342 Jobert, Ambroise: Magnats polonaise et physiocrates français (1767 – 1774) (Collection historique de l’institut français de Varsovie, Bd. 8). Paris 1941. S. 69f. 343 Die Aufnahme erfolgte 1751. Schelle, Docteur Quesnay, S. 151. 344 Abrosimov, Wissenstransfer und Austausch symbolischen Kapitals, S. 65. 345 Meek, Ronald L.: The Economics of Physiocracy. Essays and Translations. London 1962. Introduction. S. 31. Die Einordnung der Vermittlung der physiokratischen Lehre durch gezielte Propaganda greift auch Liana Vardi in ihrem Artikel auf. Vardi, Liana: Physiocratic Visions. In: Edelstein, Dan (Hg.): The Super-Enlightenment: During to Know too Much (SVEC, Bd. 2010,01). Oxford 2010. S. 97 – 122. Hier S. 104ff. 346 Quesnay schrieb im Artikel „Population“: A la Chine on est si convaincu que la tranquillité de l’état, sa prospérité & le bonheur des peuples dépendent de la tolérance de l’administration en ma tière religieuse, que pour être mandarin, & par conséquent magistrat, il faut par une condition absolue, n’être attaché à aucun culte particulier. Quesnay, François: Art. „Population“, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 13. Neufchatel 1765. S. 88 – 103. Pinot, Les physiocrates et la Chine au XVIIIe siècle, S. 202. Zu Quesnays Artikeln Grains und Fermiers vgl. Kaplan, Bread, Politics and Political Economy, S. 113f. Fox-Genovese, The Origins of Physiocracy, S. 118ff. Von Turgot sind die Artikel Étymologie, Existence, Expansibilité, Foire und Fondation nachgewiesen. Schelle, Turgot, Bd. 1, S. 48ff und S. 55ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 303 kultiviert zu werden. Um dieser Ehre gerecht zu werden, so Diderot, habe sie mit aller Kraft ihre Erträge vervielfacht. Diderot betonte, dass dies gegenwärtig nicht mehr so sei. Die Gegenwart, so mahnte er, habe diese Ehre allein an die armen Bauern abgegeben. Die Erde, so könne man versucht sein zu glauben, empfinde diese Schmach. Wie anders sei es in China: Le Père du Halde nous apprend que l’Empereur, pour en inspirer le goût à ses sujets, met la main à la charrue tous les ans une fois; qu’il trace quelques sillons; & que les plus distingués de sa Cour lui succèdent tour à tour au même travail & à la même charrue.347 Der Artikel Diderots entsprach in wesent­lichen Aussagen den Vorstellungen der Physiokraten und konnte somit die Vermittlungsstrategie der économistes stützen. Da jedoch der öffent­liche Verkauf der Encyclopédie verboten war, erreichte das Werk in der ersten Auflage vor allem über 4000 Leser außerhalb Frankreichs. Die Käufer der nachfolgenden, nicht autorisierten Drucke entstammten in der Regel dem zweiten und dritten Stand. Die höchsten Käuferzahlen konnten nach Robert Darnton in Städten mit Parlamenten und Akademien, also Städten mit einem erhöhten Aufkommen gebildeter Bürger in Frankreich verzeichnet werden. Dennoch, so betont Darnton, sei die Encyclopédie so teuer gewesen, dass damit nur ein begrenzter Leser- und Nutzerkreis erreicht werden konnte.348 Die Physiokraten setzten sich durch ihre Mitarbeit an der Encyclopédie mit der sozialen, didaktischen und identitätsstiftenden Funktion der Künste auseinander, die insbesondere Diderot konstatiert hatte.349 Sie folgten der Auffassung, dass unter­schied­liche Kunst- und Textgattungen die Vermittlung von Inhalten 347 Diderot bezeichnete die Landwirtschaft als die erste, die nütz­lichste, die verbreitetste und vielleicht die wichtigste der Künste. Die Ägypter, so Diderot, verehrten Osiris wegen seiner Erfindung des Ackerbaus, die Griechen Ceres und ihren Sohn Triptolemos wegen ihrer Kunst, den Ackerbau zu betreiben und der Vermittlung der Kunst an die Menschen, die Römer Saturn oder ihren König Janus, den sie in den Rang eines Gottes in Anerkennung seiner Wohltaten erhoben. Die Landwirtschaft war fast die einzige Beschäftigung der Patriarchen, die von allen Menschen am meisten respektierte wegen der Einfachheit ihrer Sitten, der Güte ihrer Seele und die Erhöhung ihrer Gefühle. Sie gereichte den größten Männern bei den anderen alten Völkern zur Freude. Diderot, Denis: Art. „Agriculture“. In: Diderot, Denis/Le Rond d’Alembert, Jean-Baptiste (Hg.): Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de letters. Bd. 1. Paris 1751. S. 183 – 190. Hier S. 183f. 348 Erst über die Drucke in Genf, Neuchâtel, Lyon und Grenoble wurden nach 1777 weitere Leserkreise auch in Frankreich erreicht. Am Beispiel von Besançon zeigt Darnton die Sozialstruktur der Käufer der Encyclopédie auf. Die Mehrheit der Käufer entstammte dem zweiten und dritten Stand. Darnton, Robert: Neue Aspekte zur Geschichte der Encyclopédie. In: Gumbrecht, Hans-Ulrich/ Reichardt, Rolf/Schleich, Thomas (Hg.): Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich. Bd. 2: Medien und Wirkungen (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 4). München/Wien 1981. S. 35 – 66. Hier S. 36f, S. 54ff, S. 57. 349 Zumal dieser davon ausgegangen war, dass die Natur die erste Künstlerin sei. Leith, James A.: The Idea of Art as Propaganda in France 1750 – 1799. A Study in the History of Ideas (University of Toronto Romance Series, Bd. 8). Toronto 1965. S. 27ff und S. 60ff. Grieger, Astrid: Kunst und Öffent­ lichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Jäger, Hans-Wolf (Hg.): „Öffent­lichkeit“ im 18. Jahrhundert (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, Bd. 4). Göttingen 1997. S. 117 – 136. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 304 Der chinesische Kaiser als Vorbild begünstigen oder sogar erleichtern konnten.350 Doch sie bedienten sich dieser Gattungen nicht nur selbst, sondern stellten fest, dass ihre Lehre außerhalb ihres Kreises in unterschied­lichste Medien Eingang fand und weitergetragen wurde. Zunehmend setzten die Physiokraten aber auf eigene Publikationsorgane. Als bekannteste Zeitschrift der physiokratischen Bewegung dienten ab 1765 die Ephémérides du Citoyen ou Chronique de l’Esprit national, die als politisches Journal nach dem Vorbild des britischen Spectator konzipiert worden waren und bis 1772 in einer Auflage von ca. 400 bis 500 Exemplaren in 63 Bänden erschienen. Die Zeitschrift wurde 1768 von 169 Personen aus ganz Europa abonniert 351 und redaktionell bis 1768 von Abbé Baudeau und bis zum Verbot 1772 von Du Pont betreut.352 Im selben Jahr, 1768, übernahmen die Physiokraten die Aufsicht über das Journal de l’Agriculture, du Commerce et des Finances. In beiden Titeln spiegeln sich die Ziele und die Adressaten der Physiokraten wider: Sie wandten sich damit neben den Monarchen an ein ökonomisch interessiertes Fachpublikum innerhalb und außerhalb des Hofes. Mit den Zeitschriften behielten sie immer die Untertanen als Begünstigte eines vernünftigen sowie eines mit ihren Interessen übereinstimmenden Herrscherwillens und zugleich als fähige Helfer des Herrschers im Auge. Die Physiokraten sahen somit in der Bevölkerung nicht mehr nur das Objekt der Regierungshandlungen des Königs, sondern Subjekte hinsicht­lich der Kommunikation, Verbreitung und Umsetzung ihrer – vor allem ökonomischen – Interessen. Mit diesen stimmte aus Sicht der Physiokraten der Erbmonarch stärker überein als der gewählte Herrscher. Nur der Erbmonarch konnte ein propriétaire am gemeinsamen produit net sein, der gewählte Fürst nur ein usufruitier.353 Quesnay und sein Kreis formulierten das Ideal des interessierten und von seinen Interessen geleiteten Individuums, das die Themen analysierte und sich eine Meinung dazu bildete bzw. letzt­lich einen Nutzen aus dem Wissen zog.354 Somit erkannten sie in der öffent­lichen Meinung die Reine du monde.355 Die öffent­liche Meinung musste sich aber erst herausbilden, sie musste geschult werden. Es ging Quesnay und seinem Kreis um eine umfassende éducation civique.356 Für notwendig erachteten sie dafür die breite Kenntnis des ordre 350 Sie bedienten sich deshalb auch der Lobreden, Widmungsbriefe, Elogen oder der bild­lichen Darstellung. 351 Goutte, Éphémérides du citoyen, S. 156. 352 Sgard, Jean (Hg.): Dictionnaire des journaux (1600 – 1789). Paris 1991. Nr. 377. S. 354 353 Le Mercier de la Rivière, Pierre-Paul: L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques. Londres 1767. S. 238 – 240. 354 Zur Rolle des Individuums und des Individualismus bei den Physiokraten vgl. Zorn, Physiokratie und die Idee der individualistischen Gesellschaft, S. 499f. 355 Le Mercier de la Rivière, L’ordre naturel, S. 104. Holldack, Heinz: Der Physiokratismus und die absolute Monarchie. In: Historische Zeitschrift 145/3 (1932). S. 517 – 549. Hier S. 539. 356 Grosperrin, Bernard: Faut-il instruire le peuple? La réponse des physiocrates. In: Cahiers d’histoire 21 (1976). S. 157 – 169. Hier S. 159f. Gourdon, Henri: Les physiocrates et l’éducation nationale au XVIIIe siècle. In: Revue pédagogique 38 (1901). S. 577 – 589. Hier S. 578. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 305 naturel in allen Ständen. Dies bedurfte nicht zuletzt eines vom Herrscher initiierten Unterrichts über die Naturgesetze und die Einrichtung eines état agricole, in dem jedes Individuum seine Funktion erhielt.357 Dafür musste der Monarch aber auch selbst die Gesetze der Natur kennen, akzeptieren und als Träger der Souveränität anwenden. Der Herrscher hatte als Exekutive des ordre naturel zu fungieren. Dem ordre naturel rechneten die Physiokraten somit eine herrschaftsregelnde und begrenzende Funktion zu. Als Gegenkraft zu einer mög­licherweise ausartenden, die Naturgesetze ignorierenden fürst­lichen Gewalt sollte die Öffent­lichkeit (bestehend aus den von ihren Interessen geleiteten Individuen) fungieren.358 Die Publikationsorgane der Physiokraten zielten deshalb darauf, die entstehende Öffent­lichkeit durch Belehrung zu konstituieren und von ihren Vorstellungen einer Agrarnation zu überzeugen. Als Träger und Motoren der praktischen Umsetzung ihrer Vorstellungen identifizierten die Physiokraten die Monarchen nicht zuletzt deshalb, weil sie davon ausgingen, dass die Interessen von Fürsten stärker mit denen der Allgemeinheit verbunden seien als die der Herrschenden in einer Republik. So wie der Monarch an der Steigerung des Wohlstandes beteiligt sein sollte, so sollte sein Wohlstand vom Wohlergehen der Untertanen abhängen. Den Herrschern kam damit, wie schon Klaus Gerteis betont hatte, eine wichtige Funktion als Personen zu, galten sie den Physiokraten doch als Amtsträger, als dépositaire der Souveränität und damit als Verkünder der natür­lichen Ordnung im Sinne etwa eines von ihnen angestrebten royaume agricole.359 Die Physiokraten zielten darauf, langfristig für die Landwirtschaft eine „privileged position under government protection“ zu erlangen.360 Nur so konnte die notwendige Modernisierung der Landwirtschaft erreicht und zeitnah das notwendige Gleichgewicht zwischen den landwirtschaft­lichen Rohstoffen, den Bedürfnissen des freien Handels und der Verarbeitung in den Manufakturen hergestellt werden.361 3 57 Zorn, Physiokratie und die Idee der individualistischen Gesellschaft, S. 501. 358 Ne voyez-vous pas dans cette instruction génerale une contreforce naturelle oppose aux volontés usurpatrices et vexatoires, contreforce d’autant plus puissante que la conviction sera plus intime, la lumière plus vive, le sentiment plus enraciné? Baudeau, Nicolas: Premiere introduction a la philosophie economique, ou, Analyse des etats polices. Paris 1771. S. 138. 359 Gerteis, Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik, S. 87 – 89. 360 Guy, The French Image of China before and after Voltaire, S. 349. 361 Mirabeau hatte in einem undatierten Schreiben die Landwirtschaft als wesent­lichen Wirkungsbereich der Regierung beschrieben und zum Handeln aufgefordert: Il faudroit bien so garder de vouloir le régir et gouverner. Cette meprise des gouvernements trop organisés, nuit a toutes les parties qu’ils embrassent […]. En mettant donc toujours pour base de la deffense absolue de toute gêne ni contrainte en cette matiere, il faudroit donc donner a l’agriculture une voye pour se faire connoitre du gouvernement. Die Lösung sah er in der Schaffung der Stelle eines Directeur général de l’agriculture, der als Anprechpartner und Verbindungsmann der Bauern zum Fürsten selbst Inspektionsreisen unternehmen sollte, um sich ein umfassendes Bild von den Zuständen zu machen. Undatiertes Schreiben Mirabeaus ohne Adressat, Archives nationales, Paris, K 906, Nr. 24. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 306 Der chinesische Kaiser als Vorbild Von großer Bedeutung war deshalb der persön­liche Kontakt zu Ludwig XV. sowie zu amtierenden Ministern, den Quesnay durch seine Stellung als Leibarzt von Madame de Pompadour am Hof in Versailles aufbauen konnte. Madame de Pompadour brachte den Physiokraten großes Interesse entgegen und war selbst von deren Zielen vollkommen überzeugt. Im Jahr 1766, kurz nach ihrem Tod, wurden in Lüttich gefälschte Memoiren der könig­lichen Mätresse veröffent­licht. Die Mémoires de Madame Marquise de Pompadour galten bis ins 19. Jahrhundert als gesicherte Quelle.362 Ungeachtet der fehlenden Authentizität spiegeln diese wider, wie Madame de Pompadour von Zeitgenossen wahrgenommen wurde. Da sich die politisch und wirtschaft­lich interessierte Mätresse des Königs immer auch als dessen politische Beraterin verstand, gezielt in ihrem Schloss Crécy Zusammenkünfte des Staatsrates organisiert und mit Ministern 363 sowie dem Kreis der Physiokraten im Austausch gestanden hatte, war es aus Sicht der oder des Verfassers ihrer Mémoires keineswegs abwegig, kritische Diskussionen und eindeutige politische und wirtschaft­liche Stellungnahmen mit ihr in Verbindung zu bringen.364 So berichten ihre Mémoires von einer anonymen Denkschrift, die sie fi[t] lire au Roi. Das Memorandum, offensicht­lich zu Beginn der 1750er Jahre verfasst, habe Vorschläge zur Steigerung des Steueraufkommens und zur Begleichung der Staatsschulden enthalten. Es habe kritisch analysiert, dass unter der Regierung Ludwigs XIV. die Einrichtung von Manufakturen im Vordergrund gestanden habe, während die Felder unbestellt geblieben seien, weil die Arbeitskräfte in die städtische Industrie abgezogen worden wären: Le royaume se trouva rempli de métiers; un grand luxe, qui en est une suite nécessaire, se forma, & dès lors la France, à qui son climat heureux devoit donner une richesse supérieure à celle de tous les autres états de l’Europe, devint pauvre. Cependant le Ministère, qui a suivi depuis le plan de Monsieur Colbert, a continué de multiplier les arts, aux dépens du produit de l’agriculture. On dit pour raison que cette industrie met à contribution tous les états de l’Europe: mais la France ne voit point qu’elle commence par se taxer elle-même, en diminuant le produit de ses prémières matières; désavantage, qui porte directement sur la puissance de l’état, puisqu’il arrête les progress de la 362 Zur Aufdeckung der Fälschungen sowie zur Rolle unterschied­licher „Memoiren“ von könig­lichen Mätressen oder Ludwigs XV. selbst als äußerst beliebte zeitgenössische Lektüre vgl. Darnton, Robert: The Forbidden Best-Sellers of Prerevolutionary France. New York 1995. S. 62ff und S. 337ff. Eva Dade verweist darauf, die Marquise habe es vermieden, ihre Einflüsse und Meinungen zu politischen Angelegenheiten in großem Stil schrift­lich zu fixieren. Sie habe nicht gegen das Rollenbild einer Frau verstoßen wollen. Dade, Eva Kathrin: Madame de Pompadour. Die Mätresse und die Diplomatie (Externa, Bd. 2). (Diss.) Köln/Weimar/Wien 2010. S. 235. 363 Eva Dade analysiert die Einflüsse der Mätresse auf die Personalpolitik im Kabinett. Dade, Madame de Pompadour, S. 42 – 60 und S. 202ff, S. 208. 364 Auf ihren Porträts hatte sie sich häufig mit Büchern, Notizen bzw. Briefen und Schreibzeug darstellen lassen, um ihre Intellektualität zu unterstreichen. Darin sah sie auch die Legitimation ihrer freundschaft­lichen Verbindung zum König. Zu den Bildern und ihrer Einordnung vgl. Weisbrod, Andrea: Von Macht und Mythos der Pompadour. Die Mätressen im politischen Gefüge des französischen Absolutismus. Königstein/Taunus 2000. S. 151 – 197. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 307 population, &c. &c.365 Der Verfasser der Mémoires der Marquise diskutierte die bestehenden gegensätz­lichen, merkantilistisch und zunehmend physiokratisch geprägten Auffassungen bei Hofe. So ist zu lesen, dass Monsieur de Belle-Isle 366 der Ansicht sei, dass Geld nur durch das produzierende Gewerbe zirkulieren könne. Seiner Protagonistin legte der Autor der Mémoires hingegen eine ganz andere Meinung in den Mund: […] mais il prétendoit mal. De grands économes m’ont démontré depuis que les productions de la terre créent une richesse réelle, au lieu que l’industrie n’en forme qu’une fiction.367 Die gefälschten „Memoiren“ boten ihren Lesern kritische Einschätzungen politischer Tendenzen und Ereignisse, die aber für die Zeitgenossen offensicht­lich glaubwürdig und authentisch zum etablierten Bild von den Ansichten und dem Wirken der könig­lichen Mätresse passten. Insofern können die Mémoires als ein Spiegel ihrer öffent­lichen Außenwahrnehmung gelten. Die könig­liche Mätresse fungierte tatsäch­lich bis zu ihrem Tod 1764 immer wieder aus eigener Überzeugung als Vermittlerin und Förderin der Ideen Quesnays und seines Kreises: Brief­lich äußerte sie Quesnay über ihre Beziehung: La confiance dont vous m’honorez me donne un avantage sur tous ceux qui, comme moi, vous adressent leurs respects. Elle me met à portée de voir chaque jour le principe même de ces sentiments généreux dont les autres ne ressentent que les effets. Oui, Madame, j’admire sans cesse cette bonté d’âme qui s’étend à tous et qui met tant d’attention à saisir les instants de faire le bien, et tant de souci à en éviter l’éclat. C’est à ce trait qui vous distingue singulièrement que je consacre mon hommage et le respect infini avec lequel je suis, etc.368 Im Frühling des Jahres 1749 gelang es ihr, Quesnay als médecin consultant du roi zu etablieren, wenig später war er sogar für die Position des ersten Leibarztes des Königs im Gespräch. Auch wenn er letzt­lich die Stelle nicht erhielt, erwarb er sich über Jahre doch das Vertrauen des Monarchen ebenso wie das des Dauphin durch stetige persön­liche Nähe und zahl­reiche G ­ espräche, die Madame de Pompadour zwischen den könig­lichen Personen und dem Arzt anregte.369 Dies gelang umso leichter, weil Quesnay im entresol unter den Vorzimmern des Appartements von Madame de ­Pompadour wohnte und ihm uneingeschränkter Zugang zu ihren Räumen sowie ihrem Salon eingeräumt worden war.370 Er gehörte zu ihrem engsten Kreis und somit mittelbar auch zu dem des Königs. Über ihn profitierten neben dem engeren Kreis der Physiokraten auch die Enzyklopädisten wie Diderot und D’Alembert und Minister Bertin von dieser 365 Pompadour, Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de: Mémoires de Madame Marquise de ­Pompadour. Bd. 2. Lüttich 1766. S. 32. 366 Es handelt sich um Marschall Belle-Isle, den Kriegsminister. Zu seiner Verbindung mit der Marquise vgl. Dade, Madame de Pompadour, S. 223. 367 Pompadour, Memoires de Madame Marquise de Pompadour, Bd. 2, S. 39. 368 Schelle, Docteur Quesnay, S. 101. 369 Ibd. S. 112ff. 370 Zu den Apartement du Sieur Quesnay, bestehend aus zwei Räumen, einen kleinen Vorzimmer sowie einer Garderobe und der Ausstattung bzw. der Lage vgl. Cordey, Jean: Inventaire des biens de Madame de Pompadour rédigé aprés son décès. Paris 1939. S. 110. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 308 Der chinesische Kaiser als Vorbild Nähe, wenn sie sich in Quesnays Räumen zu regelmäßigen Gesprächen trafen und zuweilen sogar in den Salon der Pompadour Eintritt fanden.371 Quesnay war deshalb davon überzeugt, König und Kronprinz für die physiokratischen Ideen gewinnen zu können und sie an die Spitze der Bewegung zu stellen. Die Gründung der Société d’Agriculture, die vor allem Ministern wie Bertin und Turgot sowie dem Reisenden Poivre ein großes Anliegen war, sollte durch den Monarchen gefördert und legitimiert werden. Doch bevor sich ein Herrscher an die Spitze der physiokratischen Bewegung stellen konnte, mussten durch den direkten Kontakt der amtierende Monarch und sein Nachfolger vom Wert, vom Umfang und vom Inhalt der Vorstellungen unterrichtet werden. Nach dem Tod der Marquise de Pompadour verloren die Zusammenkünfte der Physiokraten im entresol Quesnays an Bedeutung und verlagerten sich ab 1767 nach Paris in die Wohnung von Mirabeau. Mit der neuen Gastgeberrolle avancierte Mirabeau zum organisatorischen und strategischen Kopf der physiokratischen Schule. Er knüpfte und koordinierte maßgeb­lich neue, oft auch persön­liche Kontakte zu Fürsten und strukturierte bzw. bündelte das physiokratische Wissen für die Außenwirkung.372 In den 1770er Jahren war es somit immer weniger Quesnay, sondern mehr Mirabeau, der die Lehren der französischen économistes in der Öffent­lichkeit vertrat und propagierte. Zudem waren die Physiokraten nun darauf angewiesen, neue Vermittler aus den engsten Kreisen um den König und den jungen Dauphin Louis Auguste, den zukünftigen Ludwig XVI., zu finden. 4.2.4 Von der Bedeutung eines Motivs – Das Pflugritual als Bestandteil physiokratischer Vermittlungsstrategien Wenn die Physiokraten auf die Umsetzung ihrer Ansätze zielten, mussten sie zur Vermittlung entgegen Klaus Gerteis’ Auffassung kein utopisches Gegenbild zur eigenen Realität konstruieren und sich damit vollkommen von der Realität lösen,373 sondern 371 Lever, Evelyne: Madame de Pompadour. Paris 2000. S. 120. Quesnay hatte seiner Gönnerin zum Dank für die Unterstützung eines seiner Werke Traité des fièvres gewidmet. Die könig­liche Mätresse bedachte den Arzt und Ökonomen in ihrem Testament vom 15. April 1764 mit einer Pension von 4000 Louis d’or. Testament der Pompadour. In: Malassis, M. A. P. (Hg.): Correspondance de Mme de Pompadour avec son père, M. Poisson et son frère, M. de Vandières. Paris 1878. S. 217 – 224. Hier S. 218. Allgemein zum Vertrauensverhältnis zwischen Quesnay und der Pompadour sowie zur Protektion durch die Mätresse vgl. Schultz, Uwe: Madame de Pompadour oder die Liebe an der Macht. München 2004. S. 79f. Weisbrod, Macht und Mythos der Pompadour, S. 113ff. 372 Théré, Christine/Loïc, Charles: The Writing Workshop of François Quesnay and the Making of Physiocracy. In: History of Political Economy 40/1 (2008). S. 1 – 44. Hier S. 23ff. 373 Gerteis geht davon aus, dass sich die Physiokraten mit ihren praxisfernen revolutionären Konzepten vollkommen von der Realität lösten, maximal in einem Schwebezustand zwischen Realitätsbezug und Abbildungscharakter verharrten. Gerteis, Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik, S. 82f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 309 ihre philosophie rurale als praktische Wissenschaft beweisbar, argumentativ leicht nachvollziehbar und verständ­lich kommunizieren können. Insbesondere bedurfte es eines Beispiels für die Rolle und das Aufgabenspektrum des Monarchen, das überzeugend und problemlos übertragbar war und somit zur Orientierung dienen konnte. Nötig waren dafür Beispiele aus der geprüften Praxis. Die Physiokraten fanden solche Beispiele jedoch kaum in den Staaten Europas und entlehnten sie deshalb aus andereren Erdteilen, insbesondere aus China. Darüber hinaus griffen sie im Gegensatz zu Justi auf die Antike zurück. Sie wählten für die Darstellung und sogar für die Visualisierung ihrer Argumentation das Motiv des pflügenden chinesischen Kaisers aus dem Ritual, das zu Beginn des Frühlings zu Ehren des Ackerbaugottes Shennong abgehalten wurde. Ein solches Ritual, wie es der Kaiser in China vornahm, war bis Ende der 1750er Jahre nie Gegenstand der Belehrung oder der Diskussion über die Form fürst­licher Landwirtschaftsförderung in Frankreich oder in Europa gewesen. Die Physiokraten verbreiteten in ihren Schriften in gleicher Weise wie in direktem Kontakt zum König den Ablauf der Pflugszene des Kaisers von China gezielt mit der Intention, den französischen Monarchen, aber auch andere europäische Fürsten an ihre Aufgabe – die Förderung der Landwirtschaft – zu erinnern und gleichzeitig zur Nachahmung anzuregen. Die Annahme oder Ausführung des Rituals durch europäische Monarchen setzte voraus, dass das vorbildhafte Konstrukt oder Modell des chinesischen Kaisers und seiner engen Beziehung zum Bauernstand bzw. zur Landwirtschaft den europäischen Fürsten erst einmal nahegebracht und in der Öffent­lichkeit verbreitet wurde. Es soll deshalb im Folgenden untersucht werden, •• warum Elemente aus einer fremden Kultur in die physiokratische Theorie Eingang gefunden haben, •• warum sich ein Ritual und warum sich speziell das Ritual des kaiser­lichen Pflügens als Vorbild eignete, und •• auf welche Weise die Idee des pflugführenden Monarchen als Bestandteil der physiokratischen Theorie verbreitet und von den französischen Königen Ludwig XV. und dem künftigen Ludwig XVI. rezipiert wurde. a. Vico, die Einheit der Kulturen und die visualisierte Philosophie Methodisch erscheint es sinnvoll, nach Ansätzen zu suchen, die aus dem zeitgenössischen Kontext erklären, wieso überhaupt Elemente aus der chinesischen Kultur in die Vorstellungen der Physiokraten und somit auch in die künftige französische Herrschaftsauffassung übertragen werden konnten. Frankreich war im Siebenjährigen Krieg militärisch gedemütigt worden und hatte wesent­liche wirtschaft­liche Einbußen durch den Verlust von Kolonien zu verzeichnen. Es bedurfte deshalb einer Zeit der Orientierung, die von einer Diskussion zwischen Intellektuellen und adeligen Eliten um die Frage des Lernens von anderen Staaten geprägt war. Stellten Vergleiche mit anderen Gemeinwesen und die Nachahmung in bestimmten Bereichen, die als vorbild­lich erkannt worden waren, mög­liche Lösungsansätze für die eigenen Defizite dar? Drohten eher Gefahren vor dem Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 310 Der chinesische Kaiser als Vorbild Unbekannten, dem Neuen, bzw. bargen Modifikationen oder Anpassungen der erkannten Vorbilder und ihre Einbindung in eventuelle Reformen Risiken für Frankreich in sich? Fragen nach den Auswirkungen auf einzelne Stände und Gruppen wurden laut. Fremdes Wissen wurde in diesen Debatten als antifranzösisch und antipatriotisch diffamiert. Es bedurfte also einer Rechtfertigung des Fremden, wenn es als Modell dienen sollte. China erschien den Physiokraten geeignet, da europäische Modelle wie England oder Preußen 374 eher als europäische Konkurrenz, als deut­lich gefähr­licher für die Selbstwahrnehmung angesehen werden mussten.375 Zudem konnte China der Aspekt einer allzu fremden Kultur dadurch genommen werden, indem, wie im Kapitel zum Kameralismus beschrieben, auf die Ähn­lichkeiten rekurriert und darüber hinaus die Vorstellung von der grundsätz­lichen Einheit der Kulturen von den Physiokraten betont wurde. Dies erleichterte die Annäherung an China als Modell und half den é­ conomistes, die mög­lichen Einwände, das gewählte Vorbild sei unfranzösisch, zu entschärfen. Um den Aspekt der Einheit der Kulturen zu konkretisieren, ist ein Blick in ­Giambattista Vicos (1668 – 1744) geschichtsphilosophischen Entwurf in seiner ­Principj di una scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni aus dem Jahr 1725 notwendig. In endgültiger, überarbeiteter Form erschien das Werk kurz nach seinem Tod 1744.376 Einen wichtigen und bisher kaum beachteten Hinweis auf die mög­liche Rolle Vicos und seiner Geschichtsphilosophie in der Theorie der Physiokraten gab der Philosoph und Theologe Johann Georg Hamann (1730 – 1788) im Jahr 1777 in einem Brief an Johann Gottfried Herder (1744 – 1803). Hamann berichtete Herder, er habe sich Vicos Scienza nuova (in der Ausgabe von 1730) aus der Bibliothek kommen lassen, um die Quellen der Science nouvelle der Physiokraten zu finden.377 Hamann fertigte zwar ein ausführ­liches Exzerpt an und beschrieb das Frontispiz, stellte jedoch nach der Lektüre schrift­lich keine vergleichenden oder analysierenden Bezüge zu den Lehren der 374 Zum Wissensaustausch zwischen Frankreich und Preußen sowie zum französischen Preußenbild die unpublizierte Habilitationsschrift meiner Kollegin Isabelle Deflers (Heidelberg/Freiburg) mit dem Titel: „Der reflektierte Staat. Preußen im Spiegel französischer Reformdiskurse (1763 – 1806)“. 375 Vgl. dazu Schulze, Winfried: Die Entstehung des nationalen Vorurteils. Zur Kultur des Wahrnehmung fremder Nationen in der Europäischen Frühen Neuzeit. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 46 (1995). S. 642 – 665. 376 Vico, Giambattista: La Scienza nuova. Hg. v. Fausto Nicolini. 2 Bde. Bari 1928/1931. In deutscher Übersetzung vgl. Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Hg. v. Vittorio Hösle/Christoph Jermann. Bd. 1 (mit einer Einleitung „Vico und die Kulturwissenschaft“ von Vittorio Hösle) (Philosophische Bibliothek, Bd. 418a). Hamburg 1990. S. CXLVI und S. CLXI. 377 Hamann, Johann Georg: Briefwechsel. Hg. v. Walther Ziesemer/Arthur Henkel. Bd. 3: 1770 – 1777. Wiesbaden 1957. S. 381. Zu den ersten Anzeigen des Werks in deutschen Periodika oder im Gelehrtenlexikon von Jöcher und den deutschen Übersetzungen vgl. Trabant, Jürgen: Vico in Germanien 1750 – 1850. In: Hausmann, Frank-Rutger (Hg.): Italien in Germanien. Deutsche Italien-Rezeption von 1750 – 1850. Tübingen 1996. S. 232 – 274. Hier S. 234f. und S. 237f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 311 Physiokraten her.378 Doch seine Vermutung eines Einflusses, dem ebenfalls bisher in der Forschung kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde,379 erscheint keinesfalls abwegig und soll hier geprüft werden. Als Vermittler der geschichtsphilosophischen Lehren Vicos in Frankreich kann mit großer Wahrschein­lichkeit Ferdinando (Abbé) Galiani (1728 – 1787) gelten, der zwischen 1759 und 1769 als neapolitanischer Gesandtschaftssekretär in Paris weilte und Kontakte zum Kreis der Physiokraten unterhielt. Er war Vico mehrfach begegnet und hatte sich seit seinem 16. Lebensjahr intensiv mit der Scienza nuova auseinandergesetzt. Zahlreiche philosophische, aber auch moralische Ansätze zu guter Herrschaftsführung und ökonomische Vorstellungen Vicos zur Rolle der Arbeit in verschiedenen Kulturen diskutierte Galiani in seinen Schriften, etwa in seinem noch anonym publizierten Traktat Della Moneta (1750), der übersetzt De la Monnaie 1751 in Paris erschien.380 Durch Galianis Abhandlungen und seine Präsenz in verschiedenen Salons wurde Vico in Paris bekannt. Galiani verfolgte intensiv die landwirtschaftspolitischen Einflüsse der Physio­kraten auf die französische Gesetzgebung und deren Wirkung auf die Hungersnöte Ende der 1760er Jahre. Dies veranlasste ihn dazu, seine kritische Position zum Edikt von Export- und Importfreiheit von 1764 im Dialogue sur le commerce des blés (1768) zu fixieren.381 378 Albus, Weltbild und Metapher, S. 124f. Berlin, Isaiah: Vico and Herder. Two Studies in the History of Ideas. Chato/Windass 1976. S. 76, S. 91, S. 147. 379 Eine kurze Erwähnung von Vico im Zusammenhang mit Turgot findet sich bei Bödeker, Hans-Erich: Entstehung der Soziologie. In: Glaser, Horst Albert/Vajda, György Mihály (Hg.): Die Wende von der Aufklärung zur Romantik 1760 – 1820: Epoche im Überblick. Bd. 1 (A Comparative History of Literatures in European Languages, Bd. 14). Amsterdam/Philadelphia 2001. S. 259 – 292. Hier S. 281. 380 Zum Verhältnis und Einfluss von Vico auf Galiani vgl. Nicolini, Fausto: Giambattista Vico e ­Ferdinando Galiani. In: Giornale storico della Letteratura Italiana. 71/2 (1918). S. 137 – 207. Zu den Verbindungen Galianis in Frankreich vgl. Venturi, Franco: Galiani entre les encyclopédistes et les physiocrates. In: Ders. (Hg.): Europe des lumières. Recherches sur le 18e siècle. (Civilisations et sociétés 23). Paris 1971. S. 171 – 192. Eisermann, Gottfried: Galiani. Ökonom, Soziologe, Philosoph. Frankfurt/M. 1997. S. 17ff, S. 54, S. 67. Dongili, Paola/Einaudi, Luigi: Über Galianis „Della moneta“. Vademecum zu einem frühen Klassiker. Darmstadt 1986. Einleitung. 381 Galiani schlüpft im Dialogue in die Rolle des Chevalier Zanobi, der zu dem Ergebnis kommt, dass Frankreich kein Agrarstaat sei und auch keiner sein würde, selbst wenn alle brach liegenden Anbau­ flächen bearbeitet würden. Überflüssige Kornmengen würden nicht erwirtschaftet. Als Chevalier Zanobi unterbreitet er im siebten Dialog den Vorschlag, das Edikt von 1764 zu modifizieren und die Aus- und Einfuhr von eigenem und fremden Getreide jeweils mit einen Zoll zu belegen. In den Dialogues überlegten Galianis diskutierende Protagonisten, welche Vorbilder für Frankreich dien­lich seien. England und das römische Fürsorgeprogramm der Annona wurden als nicht taug­ lich verworfen. Modelle sollten danach ausgesucht werden, wie viel Ähn­lichkeit sie böten. Galiani, Ferdinando: Dialogue sur le commerce des blés: In: Scrittori Classici Italiani di Economia Politica. Bd. 5. Milano 1848. Hier S. 269ff. Galianis Dialogue wurden kontrovers diskutiert. Die Aprilausgabe des Mercure de France von 1770 enthielt eine scharfe Kritik. Eisermann, Galiani, S. 76. Die Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 312 Der chinesische Kaiser als Vorbild In Frankreich setzten sich insbesondere Voltaire in seiner Philosophie sur l’histoire universelle (1754) und in seinem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) sowie Anne Robert Jacques Turgot in seinem Werk Tableau philosophique des progrès successifs de l’ésprit humain (1750) und in seinen Réflexions sur la formation et la distribution des riches (1766) mit Vicos Ansichten auseinander.382 Über Voltaire und Turgot gelangten bedeutende Axiome Vicos, etwa die Vorstellung von der Einheit der Kulturen, seine Auffassung vom Menschen als Schöpferwesen und Gestalter der Geschichte, seine Vorstellungen eines notwendigen sozialen Wandels, die er in seinem Konzept zum historischen Wandel geäußert hatte, und seine Gedanken von der historischen Wahrheit des Mythos in die physiokratische Theorie.383 Von besonderer Bedeutung sind aber die strukturellen und geschichtsphilosophischen Übereinstimmungen, die sich in Anlehnung an den Neapolitaner in Turgots und Quesnays Schriften ergaben. Der spätere Minister Anne Robert Jacques Turgot war es, der die Natur- und Wirtschaftslehren der Physiokraten durch seine Studien (u. a. zu Vico) historisierte und Quesnays Wirtschaftskreislauf im Tableau économique um gesellschaftstheoretische Komponenten ergänzte.384 Nachfolgend sollen zunächst Vicos Vorstellungen zusammengefasst und im Anschluss gezeigt werden, welche seiner Ansätze die physiokratische Argumentation und Vermittlungsstrategie bereicherten und unterstützten. Damit wird der bisher in der Forschung noch immer geltenden Annahme widersprochen, Vico sei nicht zeitgenössisch, sondern erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts rezipiert worden.385 382 383 384 385 Physiokraten reagierten schon 1769 in einer rechtfertigenden Stellungnahme auf Galianis Schrift in den Ephémérides du citoyen. Venturi, Galiani, S. 177ff. Michelet, Jules (Hg.): Œuvres choisies de Vico: contenant ses mémoires, écrits par lui […]. Bd. 1. Paris 1835. S. 128. Turgot, Anne Robert Jacques: Über die Fortschritte des mensch­lichen Geistes. Hg. v. Johannes Rohbeck/Lieselotte Steinbrügge (Suhrkamp-Taschenbuch, Bd. 657). Frankfurt/M. 1990. Einleitung. Jolink, Albert: The Evolutionist Economics of Léon Walras. New York 1996. S. 16 – 24. Zur Rezeption Vicos im deutschsprachigen Raum sind vor allem Isaak Iselin und Herder zu nennen. Vgl. Trabant, Vico in Germanien, S. 232 – 251. Turgot las fließend italienisch und übersetzte auch aus dem Italienischen. Schelle, Turgot, Bd. 3, S. 406. Bezüge finden sich in seinen Réflexions sur la formation et la distribution des richesses (1766) oder den Lettres sur la liberté du commerce des grains (1770). Insbesondere Quesnay galt als Lehrer und Freund Turgots. Sehr gute Kontakte pflegte Turgot auch zu Vincent de Gournay und Du Pont. Zu Letzterem veränderte sich sein Verhältnis jedoch, als dieser Turgots Réflexions sur la formation et la distribution des richesses für die Publikation in den Ephémérides du citoyen ablehnte. Schelle, Turgot, Bd. 1, S. 595ff. Turgot setzte sich sehr stark mit landwirtschaft­lichen Fragen auseinander. Er stellte das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag auf. Vgl. Heyke, Hans-Eberhard: Antike und chinesische Stimmen zur landwirtschaft­lichen Produktion. Vorstellungen von Turgot, dem Begründer des Bodenertragsgesetzes. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56 (1969). S. 145 – 161. Hier S. 147. Johnson Kent Wright schreibt 2009: “Two unusual works influenced by natural law theory made contributions to stadical theory. The first was of long-term importance; the second of immediate significance. The former was The New Science, by the Naepolitan jurist and philosopher ­Giambattista Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 313 Vico hielt ähn­lich wie Montesquieu die Annahme der Isolation verschiedener Kultursphären voneinander für verfehlt. Er fand vielmehr zahlreiche Indizien für die Einheit der Kulturen bzw. für ihre typologische Verwandtschaft. Solche Übereinstimmungen beruhten nach Auffassung von Vico nicht auf einem mög­lichen gemeinsamen Ursprung aller Kulturen. Im Wesent­lichen sah er die Gemeinsamkeiten in der mensch­lichen Natur, die bei räum­lich getrennten, kulturell voneinander unabhängigen Völkern dennoch ähn­liche Strukturen ausgebildet habe. Dies seien nach Vico beispielsweise die Entstehung von Religionen, die Institution der Ehe und die rituelle Bestattung von Toten. Er ging davon aus, dass die gleichen Ideen und Strukturen in unterschied­lichen Völkern einen Hinweis auf die Wahrheit dieser Ideen und den Gemeinsinn (senso comune) der Menschen geben würden, da in ihnen offensicht­lich eine einheitsstiftende Komponente erkannt werden konnte. Die Wahrheit und Bedeutung dieser Ideen ergab sich für ihn aus der Übereinstimmung über verschiedene Völker und Kulturen hinweg: Idee uniformi nate appo intieri popoli tra essoloro non conosciuti debbon avere un motivo comune di vero. Questa degnitá è un gran principio, che stabilisce il senso comune del gener umano esser il criterio insegnato alle nazioni dalla provvedenza divina per diffinire il certo d’intorno al diritto natural delle genti, del quale le nazioni si accertano con intendere l’unitá sostanziali di cotal diritto, nelle quali con diverse modificazioni tutte convengono.386 Vico hob sich damit deut­lich von Descartes ab, ging Ersterer doch davon aus, dass der senso comune vermittelnd zwischen dem Wahrschein­lichen und dem Wahren wirkte und zur Erkenntnis im Sinne praktischer Vernunft führte.387 Zugleich war der senso comune für Vico der Filter, durch den die vom Einzelnen erzeugten Gewissheiten durch den Konsens der Menschen zu allgemeinen Gewissheiten wurden und der somit allgemeinverbind­ liche Normen der Zivilisation schuf. Darüber hinaus handelte es sich um gemeinsame Gewissheiten, die für ihn über die Zeit hinweg Bestand hatten.388 Hugo Grotius hatte eine Vico (1668 – 1744), who developed a highly idiosyncratic theory of stadial social evolution out of a critical confrontation with contemporary natural lawyers. Almost entirely ignored by his contemporaries, Vico was immedieately claimed as one of the percursors of “historicism” when his work was rediscovered early in the nineteenth century.” Wright, Johnson Kent: Historical Writing in the Enlightenment. In: Fritzpatrick, Martin/ Jones, Peter/ Knellwolf, Christa/ McCalman Iain (Ed.): The Enlightenment World. Oxfordshire/New York 2004. S. 207 – 216. Hier S. 209. 386 Vico, Scienza nuova, 3. Aufl. 1740, § 144f. Vgl. Erny, Nicola: Theorie und System der neuen Wissenschaft von Giambattista Vico. Eine Untersuchung zu Konzeption und Begründung (Epistemata, Reihe Philosophie, Bd. 144). (Diss.) Würzburg 1994. S. 86. 387Descartes bon sens ließ die Erkenntnis der Wahrheit nur im rationalen Urteil zu. Bei Vico ergab sich die Wahrheit aus der Tatsache, dass alle Menschen hinsicht­lich der bereits genannten Prinzipien wie Ehe, Totenbestattung und Religion übereinstimmten. Amoroso, Leonardo: Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft. Würzburg 2006. S. 51. Zur Kritik an Vicos Form der Wahrheitserkenntnis. Ibd. S. 100. 388 Ibd. S. 53 und S. 64. Or, poiché questo mondo di nazioni egli è stato fato dagli uomini, vediamo in quail cose hanno con perpetuitá convenuto e tuttavia vi convengono tutti gli uomini, perche tali cose Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 314 Der chinesische Kaiser als Vorbild ähn­liche Annahme geäußert, die Vico beeinflusst haben könnte: Quod ubi multi diversis temporibus ac locis idem pro certo affirmant, id ad causam universalem referri debeat.389 Vico erhob in seiner Scienza nuova den senso comune zu einem gemeinschaftsstiftenden Prinzip und zugleich zu einem Spiegel, der die Prinzipien der Gemeinschaftsbildung offenbarte und erforschbar machte. Somit stellte sein Werk eine Ideengeschichte der Zivilisation dar. Heinz Schlaffer hat darauf verwiesen, dass mit Vico das hermeneu­ tische Zeitalter begonnen und der Neapolitaner Geschichtsphilosoph den Blick seiner Zeitgenossen auf das gerichtet habe, was der Mensch selbst geschaffen und erreicht hätte. Vico habe das Feld mensch­licher Phänomene abgesteckt und gezeigt, dass der Mensch Initiator und Autor seiner Geschichte gewesen sei.390 Dabei kam es Vico darauf an, dass die Transformation der Natur durch den Menschen in eine soziale und zivilisierte Umgebung als schöpferisches Wirken des Menschen anzusehen sei, worin sich sein natür­liches Wesen offenbare. Durch dieses schöpferische Wirken des Menschen erlerne er auch die Prinzipien der Natur. Für Vico war Natur somit Entstehungs- und Wirkungskategorie. Diese Erkenntnis war für die Physiokraten von größter Bedeutung und avancierte zur Grundaussage ihrer Lehre.391 Zu diesem Schöpfungsprozess des Menschen zählte für Vico auch die Entwicklung von Zeichen und Sprache bei allen Völkern als Form der Kommunikation, als Grundlage zur Schaffung politischer Organisation und zur Konstituierung von Recht. Der Untersuchung von Etymologien widmete sich Vico umfassend.392 Worin bestanden nun die einheitsstiftenden Prinzipien, die nach Vico alle Völker und Kulturen gemeinsam als wahr und richtig erkannt und eingeführt hatten? In erster Linie handelte es sich um die Ausbildung von Religion.393 Die historische Rolle der Religio- 389 390 391 392 393 ne potranno dare I principi universali ed eterni, quail devon essere d’ogni scienza, sopra I quail tutte sursero e tutte vi si conservano in nazioni. Vico, Scienza nuova, § 332. Grotius, Hugo: De iure belli ac pacis. Hg. v. Bernardina J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp. Leiden 1939. § 40. S. 21. Vgl. auch Cacciatore, Giuseppe: Metaphysik, Poesie und Geschichte. Über die Philosophie von Giambattista Vico. Berlin 2002. S. 77. Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M. 1990. S. 184ff. Fritzsch verweist auf Vicos Analyse mensch­ licher Gedanken und sozialer Kognitionen, durch die der Mensch nach Vico zu Wissenschaft der Natur und der mensch­lichen Dinge gelangt sei. Fritzsch, Walter: Vicos Begründung objektiven Sinnverstehens geistiger Operationen und ihr aktualer Bezug als Strukturanalyse der Entwicklung von Weltbildern, Handlungsentwürfen und das Selbst. (Diss.) Bern 1985. S. 17. Turgot kritisierte die Missachtung der weisen Ökonomie der Natur durch die Menschen, insbesondere Gesetzgeber im gesamten Verlauf der Geschichte. Turgot, Discours sur les avantages que l’établissement du christianisme a procurés au genre humain, S. 207. Cacciatore, Metaphysik, Poesie und Geschichte, S. 13, S. 61. Vico ging davon aus, dass es eine allen Völkern gemeinsame Sprache gäbe, die existentielle Dinge abbilde. Ibd. S. 78. Vgl. auch Albus, Weltbild und Metapher, S. 42ff. Vico ging davon aus, dass alle Völker die Vorstellung von einer vorsehenden Gottheit besäßen. Berichte von Reisenden, die von Menschen ohne die Kenntnis eines Gottes erzählten, verwarf Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 315 nen im Zivilisationsprozess der Menschen aller Kulturen betonte auch Turgot. Er setzte sich aber insbesondere mit dem Christentum auseinander. In der christ­lichen Religion erkannte Turgot die Bestätigung eines natür­lichen moralischen Gefühls von Menschen und ihrer natür­lichen Rechte. Im Christentum sah er grundlegende natür­liche Elemente wie die Gleichheit aller Menschen und die Liebe als Handlungsmotivation verankert. Diesen Komponenten hatte sich aus Sicht Turgots auch ein Monarch zu unterwerfen.394 Vicos Vorstellung von der grundlegenden Bedeutung der Religion in allen Kulturen wurde von ihm nicht nur sprach­lich, sondern auch bild­lich zusammengefasst. Er hatte für die zweite Ausgabe seiner Scienza nuova die Dipintura entworfen und vom Neapolitaner Maler und Bildhauer Domenico Antonio Vaccaro (1678 – 1745) als Frontispiz seines Werkes zeichnen lassen. Da für Vicos Vorstellung von der Entwicklung der Kultur das Bildhafte am Anfang steht, setzte er seinem Werk ein Bild voran, das es erlaubte, sich dem Inhalt nicht nur durch das Wort, sondern auch im Wortsinne anschau­lich zu nähern. Die Scienza nuova setzte methodisch auf eine Verflechtung von Wort und Bild, die der Autor seinem Leser wortreich erläuterte.395 Mit der Idee, seine Philosophie in einem Bild zu fixieren und seine Lehren auch visuell zu vermitteln, hatte Vico einen ungewöhn­lichen Weg beschritten. Die Visualisierung von komplexen Theorien oder Gedankengängen war im Gegensatz zur philosophischen Dichtung nicht etabliert. Doch genau der Wirkung philosophischer Dichtung suchte Vico mit seinem Bild als Idea dell’Opera zu entsprechen. Epikur oder Lukrez boten ihre Lehren in verständ­lichen und gut lernbaren Versen als Lebensphilosophie. Es ging ihnen mit der Wahl des Mediums Gedicht nicht nur um Belehrung, sondern auch um Überredung bzw. Überzeugung.396 Das beabsichtigte Vico auch mit seinem Bild. Auf einem Bild konnten Gegenstände leicht in Beziehung gesetzt und so gut zur Anschauung gebracht werden, deren Verhältnis sonst nur umständ­lich verbal konstruiert werden musste. Vico beabsichtigte, mit dem Bild eine knappe „Vorstellung vom Ganzen“ zu geben.397 Ein philosophisches Bild 394 395 396 397 Vico. Vico, Scienza nuova, § 334. Amoroso, Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft, S. 80ff. Rohbeck, Johannes: Turgot als Geschichtsphilosoph. In: Turgot. Über die Fortschritte des mensch­ lichen Geistes. Hg. von Johannes Rohbeck/Lieselotte Steinbrügge (Suhrkamp-Taschenbuch, Bd. 657). Frankfurt/M. 1990. S. 7 – 87. Hier S. 35f. Eine umfassende Erläuterung zur Dipintura und zum Bildverständnis von Vico findet sich erstmals bei Thomas Gilbhard: Vicos Denkbild: Studien zur ‚Dipintura‘ der Scienza Nuova und der Lehre vom Ingenium (Actus et Imago, Bd. 3). (Diss.) Berlin 2012. S. 32ff. Zum missverständ­lichen Begriff der Dipintura ibd. S. 29. Brandt, Reinhard: Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte. Köln 2000. S. 19ff. Zu Vico insbesondere S. 331 – 345. James A. Leith macht darauf aufmerksam, dass einige Reformer des 18. Jahrhunderts, etwa auch Diderot und d’Alembert, zur Vermittlung ihrer Ziele neue Wege beschritten und die Bildkunst einbezogen. Leith, Idea of Art as Propaganda in France, S. 15. Er erreichte allerdings wohl auch viel Ratlosigkeit mit seinem Frontispiz, da er zahlreiche allego­ rische Darstellungen umdeutete. Brandt, Philosophie in Bildern, S. 334. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 316 Der chinesische Kaiser als Vorbild kam auch den Physiokraten entgegen und mag ihr Bestreben, sich gezielt des Motivs des pflügenden chinesischen Kaisers als Visualisierung ihrer Lehre zu bedienen, maßgeb­lich unterstützt haben. Da Quesnay selbst auch ausgebildeter Kupferstecher war,398 ist ihm die Wirkung von bild­lichen Darstellungen an sich, aber auch die Bedeutung, die einem Motiv zugrunde liegen konnte, bekannt gewesen. Die économistes verfügten mit Quesnay nicht nur über einen der maßgeb­lichen Theoretiker der Schule, sondern zugleich auch über jemanden, dem die Wirkungs- und Funktionsweise der zeitgenössischen Medien vertraut war. Die Gründe für die Auswahl des Motivs durch die Physiokraten werden im nachfolgenden Kapitel eingehend untersucht. Auf seinem Frontispiz ließ Vico die drei grundlegenden Prinzipien der Menschheit in Hieroglyphen, also Symbolen abbilden. Sinnbild­lich für die wahre christ­liche Religion steht der Altar, für die heidnischen ein Krummstab als Symbol für Weissagungen.399 Mit der Religion in engem Zusammenhang stand für Vico die Bestellung von Feldern, die in allen Kulturen einen wichtigen Platz einnahm. Die Vielzahl der Völker und Kulturen fand er in der Weltkugel abgebildet. Sichtbar wurde die Landwirtschaft in zwei den Globus umlaufenden Tierkreiszeichen: dem Löwen, den Vico als N ­ emeischen Löwen verstanden wissen wollte, der von Herkules getötet Feuer spie und somit das Land bebaubar machte, sowie der Jungfrau, deren Haar mit Ähren, dem wahren Gold im Zeitalter Saturns, geschmückt ist.400 Dazu wurde, wie Vico bemerkte, in allen Kulturen zum Landbau ein gleichartiges Werkzeug gebraucht: der Pflug. Dieses Gerät und die damit verbundene Landwirtschaft stellte für ihn ein Produkt des senso comune dar, weshalb er den Pflug auf seinem Frontispiz unmittelbar vor dem Altar platzierte. Er schrieb dazu: L’aratro appoggia con certa maestá il manico in faccia all’altare, per darci ad intendere che le terre arate furono i primi altari della Gentilità. Vico erläuterte weiter, dass Heroen als Väter der ersten Stämme, die den Ackerbau eingeführt hätten, gleichzeitig über das Recht, die Wissenschaft und die religiöse Macht mit der Verwaltung der gött­lichen Dinge verfügten.401 Er verwies dezidiert auf den Ackerbau als bedeutsame kulturstiftende Leistung von Heroen und ihre könig­liche bzw. priester­liche sowie ökonomische Macht über die Stämme. Der Pflug stellte für ihn in erster Linie ein Herrschaftszeichen und ein Symbol für gött­liche Nähe dar. Dieses Arbeitsgerät spielte aus Sicht Vicos zudem in allen Völkern für die Familienbindung und für die wirtschaft­liche Führung eines Hauses unter väter­licher Aufsicht eine gleich bedeutende Rolle. Seine Position neben dem Altar sollte auf die Tugenden der Väter und ihre quasi gött­liche Autorität in allen Kulturen verweisen. Schließ­lich sei der Pflug auch ein Instrument, das die Gründung von Städten und 3 98 Schelle, Docteur Quesnay, S. 15. 399 Eine gute Zusammenfassung bei Amoroso, Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft, S. 29ff. 4 00 Vico, Scienza nuova, § 3. 4 01 Vico, Scienza nuova, § 15. Dazu vgl. Amoroso, Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft, S. 34. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 317 Staaten markiert habe, wurden doch aus Vicos Sicht Stadtgrenzen zuerst mit dem Pflug gezogen.402 Daneben stand der Pflug für Vico aber auch symbolisch für die sesshafte, landbesitzende, ackerbautreibende, den Göttern verbundene und herrschaftsausübende Aristokratie als Nachfolger der kulturstiftenden Heroen, während das Steuerruder abseits vom Altar in Vicos Verständnis einmal nicht die Herrschaft darstellte, sondern bild­lich auf landlose, wandernde bzw. umherfahrende Knechte verwies, die nicht an den aristokratischen Tätigkeiten und den gött­lichen Dingen teilhatten.403 Vico hatte mit dieser Erkenntnis einen frühen Blick auf das Phänomen von Gesellschaft geworfen, die sich für ihn aus unterschied­lichen Segmenten bzw. Gebilden zusammensetzte und vor allem sozial fassbar wurde.404 Während Vico ein Bild von ursprüng­licher Zusammengehörigkeit von Herrschaft und Landwirtschaft, von kultischer und gesetzgeberischer Macht und Landbesitz zeichnete, deutete er zugleich auf seinem Frontispiz die bedroh­liche Entfernung von Pflug und Steuerruder an, die er später in seinem Text explizit ausführt. Da die Knechte keinen Anteil am Besitz des Landes besaßen, aber bei der Landarbeit dienen mussten, hätten sie sich nach Vico aufgelehnt (contese Agrarie).405 In der Entfernung von Pflug und Steuerruder, von Herrscher und Knecht, von Landbesitzenden und Landlosen, von denen, die dem Altar nahe, und denen, die entfernt stehen, erkannte Vico eine Dychotomie von Staat und Teilen der Gesellschaft sowie einen wesent­lichen Grund für inneren Unfrieden in den Gemeinschaften der Menschen. Eben diese zunehmende Trennung oder stetige Auseinanderentwicklung von Staat und Gesellschaft konstatierte auch Turgot in Frankreich. Gesellschaft bedeutete für ihn längst nicht mehr die Einheit von Ständen und Korporationen, sondern in Anlehnung an Quesnays Tableau économique ein kollektives Konzept oder Verständnis, das sich insbesondere durch soziale und ökonomische Zusammenhänge definierte. Aus Q ­ uesnays politischer Ökonomie und Vicos Beobachtungen der Scienza nuova entlehnte Turgot moral­philo­sophische Erklärungsmuster für ein theoretisches und praktisches Verständnis von Gesellschaft.406 Dabei folgte er Vico hinsicht­lich der Erkenntnis, dass die Aus- 4 02 Vico, Scienza nuova, § 16. In den Städten und Staaten habe die staat­liche Gewalt mit der Ausübung von Gerechtigkeit ihren Ursprung. Ibd. § 18. 4 03 Ibd. § 18. 4 04 Ibd. § 915. Vico eröffnete mit seinen Beobachtungen den Blick für eine Wissenschaft von „Gesellschaft“, die sich jeweils in unterschied­lichen Stadien und nach Gesetz­lichkeiten entwickelt hatte. 4 05 Finalmente il timone è in lontanza dall’aratro, ch’in faccia dell’altare gli si mostra infesto e minaccevole con la punta, perché I famoli, non avendo parte, come si è divisato, nel dominio de’ terreni, ce tutti eran in signoria de’ nobili, ristucchi di dover servire sempre a’ signori, dopo lunga etá finalmente, faccendone la pretension e perciò ammutinati, si rivoltarono contro gli eroi in sí fatte contese agrarie, che si truoveranno assai piú antiche e di gran lunga diverse da quelle che si leggono sopra la storia romana ultima. Ibd. § 20. Vgl. dazu auch Gilbhard, Vicos Denkbild, S. 104ff. Amoroso, Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft, S. 36. 4 06 Vorstellungen zur Gesellschaft entwickelte er bereits 1750 in seinem Tableau philosophique und in seinem Artikel Existence für die Enzyklopädie im Jahr 1757. Schelle, Turgot, Bd. 1, S. 48ff. Rohbeck, Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 318 Der chinesische Kaiser als Vorbild einanderentwicklung von Staat und Gesellschaft die Grundlage sozialer Spannungen oder sogar Unruhen sein könnte. Turgot und Quesnay zielten mit ihren theoretischen Werken ebenso wie der Minister später in der Regierungspraxis auf eine Verhinderung mög­licher Konflikte.407 Turgot wie der gesamte Kreis der Physiokraten appellierten an die Fähigkeit der Monarchie zur Anpassung an veränderte politische, wirtschaft­liche und gesellschaft­liche Gegebenheiten und an den Reformwillen des monarchischen Herrschaftssystems. Dies implizierte für Turgot wie für die Mitglieder des physiokratischen Kreises in einem ersten Schritt die Versöhnung aller unterschied­lichen Interessen der einzelnen Stände. In einem zweiten Schritt sollte es durch die verbindende Kategorie des Glücks zu einer Annäherung und Vergemeinschaftung der Menschen kommen.408 Vicos Annahme einer typologischen Verwandtschaft aller Kulturen, die sich in der Ausbildung gleicher und grundlegender Prinzipien offenbarte, bildet einen wichtigen theoretischen Anhaltspunkt für den mög­lichen Kulturvergleich und für die Idee der Ähn­lichkeit grundlegender Dinge in allen Kulturen. Für die Physiokraten, insbesondere für Turgot und Quesnay, die sich mit Vico beschäftigt hatten, bedeutete dies, dass ein Kulturgegenstand wie etwa der Pflug und der damit verbundene Ackerbau nicht nur zwischen China und Europa wechselseitig vergleichbar war, sondern dass dieser in beiden Kulturen den gleichen oder zumindest einen ähn­lichen Stellenwert besitzt. Deshalb konnte von der universalen oder relativen Gültigkeit einer Kategorie – im vorliegenden Fall einer Handlung, des Pflügens und der Funktionalität von Landwirtschaft nach ähn­lichen Kriterien – ausgegangen werden.409 Vicos strukturgeschicht­licher Ansatz ermög­lichte den Physiokraten eine Legitimation dafür, China und die eigene antike Tradition in ihrer Argumentation zusammenfließen zu lassen. Der Blick auf China und Turgot als Geschichtsphilosoph, S. 67. Zur Entstehung der Vorstellungen von „Gesellschaft“ vgl. Acham, Karl: Art. „Soziologie“. In: Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Basel 1995. Sp. 1270 – 1282. Hier Sp. 1270. Baker, Keith: Enlightenment and the Institution of Society. Notes for a Conceptual History. In: Melching, Willem/Wyger, Velma (Hg.): Main Trends in Cultural History. Ten Essays. Amsterdam 1994. S. 95 – 120. Head, Brian W.: The Origins of “La Science Sociale” in France, 1770 – 1800. In: Australian Journal of French Studies 19 (1982). S. 115 – 132. 4 07 Schelle, Turgot, Bd. 1, S. 412. 4 08 Turgot, Discours sur les avantages que l’établissement du christianisme a procurés au genre humain, S. 205 – 207. 4 09 Werner, Michael: Dissymmetrien und symmetrische Modellbildungen in der Forschung zum Kulturtransfer. In: Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch: Frankreich – Deutschland 1770 – 1815. Bd. 1 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek, Bd. 55). Leipzig 1997. S. 87 – 101. Hier S. 87 und 89. Turgot ging ebenso von grundlegenden einheit­lichen Entwicklungen aller Kulturen aus. Rohbeck, Johannes: Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie. Lafitau und Turgot. Zur aufgeklärten Gegenaufklärung in Frankreich. In: Georg-Forster-Studien 2 (1998). S. 57 – 77. Hier S. 66. Gisi, Lucas: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert (Spectrum Literaturwissenschaft, Bd. 11). (Diss.) Berlin/New York 2007. S. 134ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 319 seine Landwirtschaft bedeutete damit für die Physiokraten nicht mehr den Blick auf ein fremdes, höchstens exotisches Beispiel, sondern auf eine Kultur zu richten, die im allgemeinen mensch­lichen Konsens die gleichen wesent­lichen kulturellen Maximen und Prinzipien hervorgebracht hatte. Wie Europa stand China somit nicht außerhalb, sondern war Teil einer eigenen, gemeinsamen Tradition. Eine wesent­liche Wahrheit der Geschichte aller Kulturen bestand für Vico beispielsweise in der Erkenntnis des materiellen Lebenszusammenhangs aller Menschen mit der Natur. Diese bedeutende, aus der Geschichte der Völker abgeleitete Erkenntnis entsprach der physiokratischen Annahme von der Natur als gebende und bedürfnisbefriedigende Kraft. Bei Vico fanden sie nicht nur den historischen Beweis für die Gültigkeit ihrer Annahme in Europa, sondern sogar für alle Völker. Es entstand daraus eine grundlegende Wahrheit für ihre Theorie. Der strukturgeschicht­liche Rückblick in die Vergangenheit ergab für China und die europäische Antike hinsicht­lich der Landwirtschaft – wenn die Physiokraten dem Blick Vicos folgten – eine gleichermaßen hohe Bedeutung des Ackerbaus als Entstehungs- und Wirkungskategorie mensch­lichen Überlebens (etwa als Ressource für Nahrung und Kleidung) sowie als Entstehungs- und Wirkungskategorie mensch­lichen Lebens in einer politischen Gemeinschaft. Die Erkenntnis Vicos, dass die Landwirtschaft in allen Kulturen auf gleichen Ursprüngen basierte, bedeutete für die Physiokraten eine legitime und wissenschaft­lich fundierte Mög­lichkeit, Bezüge herzustellen, auf Ähn­lichkeiten und Parallelen zu verweisen oder die Antike und China als gleichberechtigte Beispiele nebeneinander heranzuziehen: König­liche Heroen hatten, wie in Kapitel 2.1 und 2.2 herausgearbeitet, in chinesischen wie in den europäischen Mythen die Landwirtschaft gestiftet und verbreitet sowie die Menschen auf die Achtung des Landbaus verpf­lichtet.410 Aus China war über die Reiseberichte und Kompendien ebenfalls bekannt, dass ackerbaustiftende Kulturheroen wie Shennong als historische Kaiser betrachtet wurden. Vico hatte somit für alle Völker einen konstitutiven Zusammenhang von Entstehung und Tradierung des Landbaus erkannt. Die Mythen, welche diese Ursprünge fixierten und tradierten, hatte Vico als Geschichte von Ideen identifiziert.411 Die Mythen deckten für ihn den wahren Hintergrund des Denkens und der Vorstellungen der Alten in Übereinstimmung mit ihrem Handeln auf.412 Vico nahm mit seinem Mythenverständnis innerhalb der seit dem 17. Jahrhundert entstandenen neuen Mythentheorien in Europa eine für die Ziele und Argumentation der Physiokraten passende Position ein. In England, Frankreich und Deutschland gewannen 410 Vico betonte zwar das segensreiche Wirken zahlreicher ackerbaustiftender Heroen, ging jedoch nur auf Herkules detaillierter ein. Vico, Scienza nuova, § 543f. Momigliani, Arnaldo: Römische Hünen und Helden in Vicos Scienza nuova. In: Ders. (Hg.): Ausgewählte Schriften zur Geschichte und Geschichtsschreibung. Bd. 2: Spätantike bis Spätaufklärung. Stuttgart/Weimar 1999. S. 195 – 219. Hier S. 202. 411 Vico, Scienza nuova, § 347. 412 Ibd. § 150. Vgl. dazu auch Fritzsch, Vicos Begründung objektiven Sinnverstehens, S. 25ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 320 Der chinesische Kaiser als Vorbild Auseinandersetzungen um die Einordnung der eigenen Zeit und des zeitgenössischen Geschichtsverständnisses in Bezug auf die Antike wieder zunehmend an Bedeutung. In der Querelle des Anciens et des Modernes gingen die Anhänger der Anciens von einer von Raum und Klima abhängigen Entwicklung des Menschen und der damit verbundenen kulturellen Unterschiede aus, während die Modernes die anthropologische Prämisse einer einheit­lichen Natur des Menschen erkannten. Aus dieser Diskussion ergab sich auch die Frage nach der Antike als orientierungsstiftender Leitfunktion sowie der Verwendung der antiken Mythologie in der Dichtung, der bildenden Kunst oder Abhandlungen zur Politik im christ­lichen Europa der zeitgenössischen Gegenwart des ausgehenden 17. und 18. Jahrhunderts.413 Insbesondere ging es in dieser Diskussion um die Positionierung der Aufklärungsströmungen zum Mythos und seinem Nutzen für die einzelnen Positionen. Inwieweit blieb die Antike vorbildhaft und Inspiration zur Imitation oder war sie eher als ein Affront gegen die Vernunft zu werten? In den unterschied­lichen Strömungen der Aufklärung wurde ein wissenschaft­liches Interesse am Ursprung des Mythos und seiner Aussage wach sowie die Erforschung seiner kulturgeschicht­lichen Bedeutung forciert. Julie Boch sprach sich daher vollkommen richtig gegen die vorherrschende Forschungsmeinung aus, die Aufklärung sei mythenfeind­lich gewesen.414 Francis Bacon (1561 – 1626) hatte in Mythen Allegorien und Sinnbilder gesehen, die nur verborgene Weisheiten statt rationaler Erkenntnis transportierten.415 Bernard Le Boyer de Fontenelle (1657 – 1757) hatte schon im ausgehenden 17. Jahrhundert, jedoch auch in seiner erst 1724 erschienen Abhandlung De l’origine des fables Mythen grundsätz­lich allen Kulturen zuerkannt.416 Für ihn stellten diese erste Erklärungen für Naturerscheinungen dar: On trouve aussi chez les anciens Chinois la méthode qu’avaient les anciens Grecs d’inventer des histoires pour rendre raison des choses naturelles.417 Im 413 Einen guten Überblick zu den Standpunkten hinsicht­lich der Mythendeutung seit dem 17. Jahrhundert bietet Burke. Burke, Peter: Vico. Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft. Berlin 2001. S. 55ff. Jauss, Hans Robert: Mythen des Anfangs. Die geheime Sehnsucht der Aufklärung. In: Kemper, Peter (Hg.): Macht des Mythos – Ohnmacht der Vernunft? (Fischer-Taschenbücher, Sozialwissenschaft, Bd. 6643) Frankfurt/M. 1989. S. 53 – 77. Zum deutsch-schweizerischen Literaturstreit um die Rolle der Antike unter Berücksichtigung der französischen Diskurse vgl. Gisi, Einbildungskraft und Mythologie, S. 40ff. 414 Boch, Julie: Les dieux désenchantés. La fable dans la pensée française de Huet à Voltaire (1680 – 1760) (Le dix-huitièmes siècles, Bd. 68). Paris 2002. S. 14f., S. 106 – 110. S. 532. Gisi, Einbildungskraft und Mythologie, S. 192ff. So formuliert etwa bei Jauss, Mythen des Anfangs, S. 53. 415 Bacon, Francis: Weisheit der Alten. Übers. v. Marina Münkler, hg. v. Philipp Rippel. Frankfurt/M. 1991. S. 10ff. 416 Fontenelle ging trotz ihrer Herkunft aus unterschied­lichen Klimazonen und Gegenden grundsätz­ lich nicht von einem natür­lichen Unterschied zwischen den Völkern aus. Gisi, Einbildungskraft und Mythologie, S. 17, S. 131ff. 417 Fontenelle, Bernard Le Bouyer de: De l’origine des fables. In: Œuvres de Fontenelle. Bd. 4. Paris 1825. S. 294 – 310. Hier S. 306. Bemerkenswert war jedoch die anthropologische Einordnung der Mythen durch Fontenelle, die Vico teilte. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 321 Wesent­lichen brachte Fontenelle aber eher mensch­liche Irrtümer mit Mythen in Verbindung als historische Wahrheit wie Vico, auch wenn Fontenelle wie Vico davon ausging, dass die Menschen zu allen Zeiten über gleiche geistige Fähigkeiten verfügten.418 Diesen Ansatz teilte auch Turgot. Für ihn war jeder Mensch, unabhängig seiner Herkunft, geschichtsgestaltendes Subjekt und mit der gleichen mensch­lichen Gattungsvernunft ausgestattet.419 Für Vico offenbaren die Mythen hingegen nicht analoge, sondern eindeutige Ideen und das schöpferische Wirken der Menschen hinsicht­lich ihrer sozialen und politischen Praktiken. Vicos Metaphernbegriff geht über die Ähn­lichkeit als verbindendes Element hinaus. Er basiert vielmehr auf der Annahme von Identität.420 In Mythen erkannte Vico eine sozial und politisch regulative Kraft.421 Den Mythen und ihren Protagonisten gestand er deshalb Modellcharakter zu, Allgemeinbegriffe und damit die Allgemeingültigkeit politischer Weisheit zu transportieren.422 Zunächst folgte das Mythenverständnis Turgots eher dem Fontenelles als dem Vicos. Turgot hatte in seinem Tableau philosophique des progrès succesifs de l’esprit humain formuliert, dass alle Gegenstände der Natur in Gestalt von Gottheiten auftraten. Die Mythologie offenbarte ihm eher den Aberglauben der Antike.423 Dennoch gestand er den Mythen wenig später in seinem Plan d’un ouvrage sur la géographie politique (1751) Ansätze rationaler Vorstellungen von Menschen zu und ließ sie als historische Leistungen gelten.424 Er folgte somit dem Ansatz Vicos. Dieses Verständnis von der Historizität der Mythen eröffnete den Physiokraten einen Pool von wichtigen Argumenten zur Vermittlung ihrer Lehre. Sie konnten, wie in diesem Kapitel noch zu zeigen sein wird, ihre neue Herrschaftsvorstellung unmittelbar zu mythischen Heroen in Beziehung setzen und eine „Nachfolge“ konstruieren. Die économistes verstanden ihre Vorstellung von der Herrschaft und Produktivität der Natur sowie dem Wirtschaftsverlauf im Tableau économique Quesnays auf der Basis der 418 Fontenelle wandte sich damit gegen den Ansatz der Entwicklungsstadien in der Lebensaltermetapher, die etwa Gottsched vertrat. Gisi, Einbildungskraft und Mythologie, S. 18f. 419 Rohbeck, Turgot als Geschichtsphilosoph, S. 78f. 420 Albus, Weltbild und Metapher, S. 67. 421 Mali, Joseph: The Rehabilitation of Myth. Vico’s New Science. Cambridge 2002. S. 11ff. Fellmann, Ferdinand: Alles ist voller Götter. Philosophische Mythos-Theorien und ethnologische Erfahrung. In: Kämpf, Heike/Schott, Rüdiger (Hg.): Der Mensch als homo pictor? Die Kunst traditioneller Kulturen aus der Sicht von Philosophie und Ethnologie (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine Kunstwissenschaft, Beiheft, Bd. 1). Bonn 1995. S. 1 – 19. Hier S. 13. Jauss, Mythen des Anfangs, S. 56ff. 422 Vico, Scienza nuova, § 209. 423 Gisi, Einbildungskraft und Mythologie, S. 135. Rohbeck, Turgot als Geschichtsphilosoph, S. 11. 424 Gisi, Einbildungskraft und Mythologie, S. 136. Zum Mythenverständnis in der Aufklärung als „mythistory“ vgl. auch Edelstein, Dan: Introduction to the Super-Enlightenment. In: Ders. (Hg.): The Super-Enlightenment: During to Know too Much (SVEC, Bd. 2010,01). Oxford 2010. S. 1 – 34. Hier S. 10ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 322 Der chinesische Kaiser als Vorbild Landwirtschaft einerseits als eine Entdeckungsgeschichte, welche die zeitgenössische Gegenwart unweiger­lich mit der Vergangenheit verbinden musste. Zugleich sahen sie darin ein Fortschrittsmodell, dessen Wurzeln ebenfalls in der Geschichte verankert lagen. Das Konzept der Anknüpfung an die Antike zeigte sich schon an der Wahl des Namens der französischen économistes als Physiokraten. Natur folgte aus ihrer Sicht der ursprüng­lichen Physis, dem Prinzip der natura naturans. Der Mensch wirkte in der Landwirtschaft als Co-Operateur der Natur. Das Co-Verhalten von Mensch und Natur verweist auf die aristotelische Ökonomie und die griechische Antike als Ursprung naturaler Produktionstheorien.425 Parallelen im erhofften Wirken von Natur und Herrschaft sowie Gesellschaft hatte Turgot in Anlehnung an Vicos Paradigma von der Natur als Entstehungs- und Wirkungskategorie mit der Metapher des segenspendenden Wassers bestens auf den Punkt gebracht: Voyez cet agent universel de la nature: L’eau qui, filtrée par mille canaux insensibles, distribue aux productions de la terre leurs sucs nourriciers, couvre sa surface de verdure, et porte partout la vie et la fécondité; qui recueille en plus grand amas dans les rivières et dans la mer, est le lien du commerce des hommes et réunit toutes les parties de l’Univers; également répandue sur toute la surface de la terre, elle n’en ferait qu’une vaste mer; les germes seraient étouffés par l’élément bienfaisant qui doit les développer. Il a fallu que les montagnes portassent leurs têtes au-dessus des nuages pour rassembler autour d’elles les vapeurs de l’atmosphère. Et qu’une pente variée à l’infini, depuis leurs sommets jusqu’aux plus grandes profondeurs, en dirigeant le cours des eaux, distribuât partout leurs bienfaits. Voilà l’image de la souveraineté, de cette subordination nécessaire entre tous les ordres de l’Etat, de cette sage distribution de la dépendance et de l’autorité qui en unit toutes les parties. De là, les deux point surs lesquels roule la perfection des sociétés politiques, la s­ agesse et l’équité des lois, l’autorité qui les appuie. Des lois qui combinent tous les rapports que la nature ou les circonstances peuvent mettre entre les hommes, qui balancent toutes les conditions, et qui, de même qu’un pilote habile sait avancer presque à l’opposite du vent par une adroite disposition de ses voiles, sachent diriger au bonheur public les intérêts, les passions et les vices mêmes des particuliers.426 Vicos Annahme von der Historizität der Mythen und ihr allgemeingültiger Wahrheitsgehalt, der durch gemeinsame Prinzipien, die von allen Völkern als prinzipiell 425 Priddat, Birger P.: Ökonomie und Natur. Der Gebrauchswert der Natur. Über Hans Immlers Natur in der ökonomischen Theorie. In: Ökonomie und/oder Natur. Zur Abschätzung ökonomischer Reichweiten ökologischer Ideen. Paper des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung. Schriftenreihe des IÖW 1/88. S. 48 – 70. Hier S. 53. 426 Turgot, Anne Robert Jacques: Discours sur les avantages que l’établissement du christianisme a procurés au genre humain, prononcé en latin à l’ouverture des Sorbonique par M. l’abbé Turgot, prieur de Sorbonne, le vendredi 3 juillet 1750. In: Œuvres de Turgot et documents le concernant. Avec Biographie et Notes. Hg. v. Gustave Schelle. Bd. 1. Paris 1913 (Reprint Glashütten im Taunus 1972). S. 194 – 214. Hier S. 206. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 323 zustimmungswürdig empfunden und somit bestätigt worden waren, bot nicht nur ein überkulturelles, sondern auch ein überzeit­liches Argument für die Bedeutung der Landwirtschaft. Der Mythos als Träger von Wahrheiten allgemeiner Gültigkeit musste Raum und Zeit überwinden. Der Verweis auf Mythen oder mythologische Figuren in der physiokratischen Argumentation konnte von Kritikern nicht mehr als bloße, erdichtete Sinnbilder mit verschleiernder Aussage oder inhaltsleerer Dekoration abgetan werden. Mythen beleuchteten die Ursprünge mensch­licher Ideen und skizzierten Bedingungen zu ihrer Erhaltung. Somit ermög­lichten sie Legitimation und boten einen geeigneten Anknüpfungspunkt, Rückbezüge zu den von ihnen transportierten allgemeingültigen mensch­lichen Wahrheiten herzustellen. Sie konnten den Physiokraten als historisch-­ belehrendes und zugleich als aktuelles Argument gelten. Mythen und ihre Protagonisten, die als etablierte Medien und als Symbole von Herrschaftsauffassung bekannt waren, boten sich den Physiokraten nun an, mit ihrem bekannten Potential bestehende Defizite zu entlarven und darzustellen oder alte Ideale wiederzubeleben. Das mythische Figurenprogramm galt bis dahin als bewährtes Instrumentarium der versteckten oder indirekten, oft auch fehlenden Botschaften. Mit einem neuen Mythenverständnis als Ideengeschichte konnten die oft als inhaltsleer und als reine Dekoration verstandenen mythischen Gestalten innerhalb der Darstellung des Herrschaftsverständnisses mit einer neuen Ernsthaftigkeit versehen werden. Es ergab sich eine neue Nutzung des Mythos als historisches Argument mit einem anderen Wahrheitsgehalt.427 Die Mythen ermög­ lichten einen historischen Blick auf mensch­liches Leben in unmittelbarer Nähe und Erfahrung der Natur und seiner systematischen Entfremdung. Vico zeigte mit seiner Geschichte vom Ursprung den ökonomischen Sündenfall, den die Physiokraten zu beheben versuchten. Die Kulturen folgten also einem Schema, was sie grundsätz­lich wegen gemeinsamer und ähn­licher Prinzipien vergleichbar machte, aber auch Unterschiede in ihrer späteren Entwicklung umso klarer aufdeckte. Wenn nach Vico in allen Kulturen die Nähe von Herrschaft und Ackerbau zu den wesent­lichen zivilisations-, gemeinschafts- und staatsbildenden Prinzipien gehört hatte, musste auffallen, dass es in der europäischen Geschichte einen Bruch mit dieser Tatsache gab oder diese Verflechtung in Vergessenheit geraten war, während diese Verbindung im zeitgenössischen China traditionell noch immer bestand. Zudem war sie von den meisten europäischen Berichterstattern als ein traditionelles und zugleich immer auch aktuelles Fundament erfolgreicher Politik der chinesischen Kaiser hinsicht­lich des Staatswohls erkannt und eingestuft worden. In China war also scheinbar etwas immer noch oder wieder verwirk­licht, was in Europa inzwischen als Mangel oder Defizit erkannt wurde und auf einer verlorenen 427 So legitimierte beispielsweise der Naturphilosoph Paul-Henri Thiry d’Holbach in seinem Werk La Morale universelle mythologische Szenen […] quelques traits mémorables de grandeur d’ame, de bonté, de justice, d’amour pour la Patrie. Thiry d’Holbach, Paul-Henri: La Morale Universelle, ou Les devoirs de l’homme fondés sur la Nature. Bd. 2. Amsterdam 1776. S. 234. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 324 Der chinesische Kaiser als Vorbild Tradition basierte. Die Kritik bezog sich dabei insbesondere auf die verlorene griechische, römisch-republikanische und römisch-kaiser­liche Tradition des Königs oder Staatsmanns als Bauern. Wenn sich die Kulturen miteinander vergleichen ließen und sogar essentielle Gemeinsamkeiten aufwiesen, dann musste auch ein Transfer von Ideen oder Instrumenten – etwa von Herrschaft oder Herrschaftsausübung – mög­lich und fruchtbar sein. Somit konnte die bestehende und erfolgreiche Tradition in China ein stichhaltiges Argument für die von den Physiokraten für notwendig erachtete Anknüpfung an die antike Verbindung von Herrschaft mit Landwirtschaft darstellen. Am Beispiel der Kontinuität Chinas konnte schließ­lich der Beweis erbracht werden, dass die Entfremdung von Herrschaft und Landwirtschaft in Frankreich zu Fehlentwicklungen geführt hatte und eine Wiederbelebung der Tradition nach dem Vorbild Chinas und in Anlehnung an die antike Tradition die einzige mög­liche Lösung darstellte.428 Einen wesent­lichen Faktor für die Realisierung dieser Vorstellungen im Sinne eines Fortschritts bei gleichzeitiger Anknüpfung an den eigenen Ursprung erkannten die Physiokraten in den geistigen Fähigkeiten und Kenntnissen eines Monarchen.429 Diese Fähigkeiten galt es zu vermitteln. 428 Einen ähn­lichen Ansatz verfolgt Friedrich Schillers Rätsel aus Turandot. Für die 15 Rätsel seiner Prinzessin aus Turandot wählte er grundsätz­lich allgemeine bzw. alltäg­liche Dinge, die in der chinesischen und europäischen Kultur ähn­lich wichtige oder sogar existentielle Funktionen einnahmen. In einem der Rätsel entschied sich Schiller für den Pflug als kulturübergreifenden und weltweit bekannten Gegenstand und spielte zudem auf das offenbar inzwischen recht bekannte Pflugritual chinesischer Kaiser an. Rätsel aus Turandot Wie heißt das Ding, das wenige schätzen, Doch zierts des größten Kaisers Hand, […] Es hat den Erdkreis überwunden, [Hervorhebung durch Susan Richter] Es macht das Leben sanft und gleich. […] Dies Ding von Eisen, das nur wenige schätzen, Das Chinas Kaiser selbst in seiner Hand Zu Ehren bringt am ersten Tag des Jahrs, Dies Werkzeug, das unschuld’ger als das Schwert Dem frommen Fleiß den Erdkreis unterworfen – […] Und ehrte nicht das köst­liche Geräte, Das allen diesen Segen schuf – den Pflug? [Hervorhebung durch Susan Richter] Das Gedicht entstand 1801/02. Im Januar 1802 brachte Schiller das Stück Turandot in Weimar zur Uraufführung. Es basierte auf einer Vorlage Carlo Gozzis, die allerdings geographisch eher in Persien angesiedelt war. Schiller, Friedrich: Sämt­liche Werke. Bd. 1: Gedichte. Dramen. München ³1962. S. 443f. Vgl. eine kurze Einordnung zu dem Gedicht bei Tan, Der Chinese in der Literatur, S. 54f. Berger, Willy Richard: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung (Literatur und Leben, N. F., 41). Köln/Wien 1990. S. 224 – 233. 4 29 Turgot, Discours sur les avantages que l’établissement du christianisme a procurés au genre humain, S. 211 – 214. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 325 b. Das eigenhändige Pflügen des Monarchen – Gründe für die Auswahl eines Motivs Die Wahl der Physiokraten für das zu dokumentierende Vorbild fiel auf das Motiv des monarchischen eigenhändigen Pflügens aus dem chinesischen Pflugritual, weil Rituale als Instrumente symbolischer Kommunikation von Macht oder symbolischer Demonstration der Herrscherauffassung gleichermaßen zum europäischen wie zum chinesischen Herrschaftsverständnis gehörten. Ein Ritual bot vor allem visuelle und symbolische Elemente von Handlungen, die wiederkehrend nachvollziehbar Inhalte verbreiteten und eine Form von Praxis im Sinne aktiver Ausführung implizierten. Dabei ging es ihnen nicht darum, das Ritual an sich und den Anlass – die Eröffnung der landwirtschaft­lichen Arbeiten im Jahreszyklus im zeitigen Frühjahr – aus dem Konfuzianismus zu übernehmen. Der Fokus der Physiokraten richtete sich lösgelöst von aller sakralen Grundbedeutung rein auf die eigenhändige landwirtschaft­liche Tätigkeit des Monarchen und die damit verbundene Aussage der Wertschätzung des Ackerbaus. Damit folgten sie, wie in Kapitel 3 ausführ­lich beschrieben, den größtenteils sozialen Deutungen der Reiseberichterstatter, welche die religiösen Einordnungen des Rituals weitgehend vernachlässigt hatten. Das Motiv des Pflügens aus diesem Ritual war somit das geeignete Element, die von den Physiokraten für den Monarchen angedachte neue Funktion kompakt zu fassen und zu visualisieren. Es bot die beste Voraussetzung, auch für Frankreich und das übrige Europa, eine neue Herrschaftsauffassung wie die des ersten Landmannes eines Staates zu kommunizieren und sichtbar bzw. einfach verständ­lich für jedermann darzustellen. An der Wahl des Motivs zeigt sich deut­lich, welche Bedeutung die Praxis bzw. die praxistaug­liche und praxisgeprüfte Handlungsanleitung für Herrscher bei den Physiokraten, aber auch die erhoffte Wirkung praktischer Beispiele einnahm. Da das Ritual als eine herausragende Handlung des chinesischen Kaisers in zahlreichen Reiseberichten kommuniziert und stetig wiederholt worden war, konnte von einer guten Vorkenntnis der Adressaten ausgegangen werden, von der die économistes zu profitieren hofften. Die Physiokraten trafen ihre Wahl des Rituals mit Bedacht, denn nur wenige außereuropäische Rituale eigneten sich zur Umcodierung und zur Instrumentalisierung als Vorbild, insbesondere für den physiokratischen Kontext. Hinsicht­lich der Motivwahl von europäischer Seite vollkommen unbeachtet blieben zahlreiche andere Rituale, in denen die Beziehung eines asiatischen Herrschers zur Natur hergestellt und symbolisch kommuniziert wurde, wie etwa die Ceremonien, mit denen die Könige in Siam dem Wasser zu befehlen pflegen.430 Johann Christian Lünig beschreibt in seinem Theatrum C ­ eremoniale Historico-Politicum den jähr­lichen fest­lichen Konvoi von könig­lichen Barken auf dem Fluss der siamesischen Hauptstadt Bangkok, die der König mit Priestern und 430 Lünig, Johann Christian: Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum oder historisch=und politischer Schau=Platz des Europäischen Canzley=Ceremoniels. Bd. 2. Leipzig 1720. S. 1462f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 326 Der chinesische Kaiser als Vorbild seinem Gefolge unternahm, um das Wasser in sein Bett zu zwingen und die Stadt vor Hochwasser zu schützen. Die kurze Darstellung dieses Rituals und die damit öffent­lich dargestellte Macht des Königs kommentierte Lünig leicht ironisch: Wie der König in Siam in denen Tituln, die er gebrauchet, einen Meister des Wassers nennet, weil er seiner Einbildung nach, die Gewalt hat, das Wasser steigen und fallen zu lassen, wann es ihm beliebet, also thut er folgendes, seine Unterthanen wegen dieser praetendirten Gewalt zu überzeugen.431 Den Elementen zu gebieten, oblag nach christ­lich-europäischer Tradition ausschließ­lich Gott. Die angeb­liche Macht und Funktion des siamesischen Gottkönigs über eine Naturgewalt war somit nicht auf ein welt­liches oder geist­liches Herrscheramt in Europa übertragbar. Aber auch das Ritual der chinesischen Kaiserin, die traditionsgemäß im Frühling die ersten Blätter der Maulbeerbäume zu pflücken hatte, um die Seidenraupen zu füttern, fand trotz der der großen Begeisterung der Europäer für den Seidenanbau sowie der fürst­lichen Protektion der Seidenmanufakturen keine Nachahmung. Und das, obwohl sich auch in diesem Ritual die physiokratische Maxime bestätigte, dass ein agrarisches Produkt als Grundlage diente und dazu beitrug, neue Waren zu schaffen. Dieses Ritual war zwar neben dem kaiser­lichen Pflügen immer wieder von den Reiseberichten aufgegriffen und vermittelt worden, eignete sich aber nicht für die physiokratischen Belange. Beim Anbau von Maulbeerhainen zur Fütterung von Seidenraupen handelte es sich nicht um einen in Frankreich heimischen und allseits bekannten, sondern neuen, sogar fremden Landwirtschaftszweig, der ausschließ­lich der Herstellung eines Luxusproduktes diente und nicht wie in China als Grundstoff der Kleidung an sich galt. Die Thematisierung des Seidenanbaus hätte wegen der aufwändigen Zucht von Maulbeerbäumen, die in einigen Gegenden Frankreichs zur Vernachlässigung des Anbaus anderer Produkte geführt hatte, in Fachkreisen und Öffent­lichkeit nicht nur extrem polarisiert, sondern die Ziele der Physiokraten sogar konterkariert. In der Seidenproduktion fand sich eben kein solch kulturübergreifendes Element wie der Pflug als allgemein bekanntes und grundsätz­lich notwendiges Ackergerät. Es kann deshalb angenommen werden, dass ein Transfer von Motiven aus Ritualen 432 fremder Kulturkreise nur dann gelang, wenn einzelne Elemente den Akteuren, aber 431 Ibd. Als kleiner Exkurs soll hier angeführt werden, dass auch der siamesische König in Anlehnung an buddhistische und hinduistische Traditionen den Frühling mit dem eigenhändigen Ziehen der ersten Furche auf dem Feld eröffnete: Der König war vormahls gewohnt, sich vier oder fünffmahl im Jahr in seiner Pracht sehen zu lassen. Er pflegte auch alle Jahr mit großen Solennitäten zu pflügen, und das Erdreich zuerst zu brechen, und ebenfalls nach verstrichener Regen=Zeit mit öffent­licher Solennität, dem Strom zu befehlen, daß er wieder in sein Ufer kehren sollte. Salmon: Die heutige Historie oder der gegenwärtige Staat von allen Nationen. Ersten Theils andern Stücks, aus dem Holländischen des Herrn D. van Goch ins Teutsche getreu­lich übersetzt. Eine umständ­liche Beschreibung der Königreiche Siam, Pegu und Arrakan. Altona 1735. S. 71. Siam eignete sich aufgrund einer deut­lich geringeren Berichterstattung und der einhelligen Beurteilung der Reisenden, eine Despotie zu sein, nicht so gut als Vorbild. 432 Zum Ritualtransfer vgl. Chaniotis, Angelos: Der Kaiserkult im Osten des Römischen Reiches im Kontext der zeitgenössischen Ritualpraxis. In: Hubert Cancik/Konrad Hitzl (Hg.): Die Praxis der Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 327 auch den Zuschauern oder passiven Teilnehmern, bereits aus dem eigenen kulturellen Kontext vertraut waren. Dies bedeutete für den Motivtransfer als Teil des Kulturtransfers, dass die Gegenstände nicht nur miteinander vergleichbar sein, sondern in beiden Kulturen den gleichen oder zumindest einen ähn­lichen Stellenwert besitzen mussten, also von der universalen oder relativen Gültigkeit einer Kategorie – im vorliegenden Fall einer Handlung, des Pflügens – ausgegangen werden konnte. Auswahl und Transfer des Motivs des eigenhändigen Pflügens des Kaisers als Teil des chinesischen Pflugrituals nach Europa erfolgten nach dem Gehalt seiner Symbolwirkung bzw. dem allgemeinen Bekanntheits- und Wiedererkennungswert derselben. c. Die Verbreitung der Idee des pflugführenden Monarchen als Bestandteil der physiokratischen Theorie Das Vorbild Chinas in der Landwirtschaft wurde durch die Physiokraten intensiv vermittelt: Marquis de Mirabeau schrieb 1756 in seinem Werk L’Ami des hommes: L’agriculture en un mot est l’art universel, l’art de l’innocence & de la vertu, l’art de tous les hommes & de tous les rangs.433 Er verwies dabei auf die Antike, in der diese Sicht die Menschen vereint, gemeinsam ernährt und zur Tugend angeleitet habe. Bedauernd stellte Mirabeau fest, dass dieser wünschenswerte Zustand der Vergangenheit angehöre und gegenwärtig die Landwirtschaft vernachlässigt werde. Anders sei dies in China: Les Chinois, dit-on, persuadés que l’emploi des terres dépend, comme on n’en peut douter, les moyens de subsistance qu’on en retire, que l’étendue des moyens de subsistance est l’exacte mesure de la Population, & que la Population est l’unique richesse réelle d’un Etat, regardent comme un crime l’emploi des terres en maisons & jardins de plaisance, comme si l’on faudroit par-là les hommes de leur nourriture.434 In Frankreich, so kritisierte Mirabeau, liege viel Land ungenutzt und brach oder werde ganz aufgegeben. Aber gerade in der Nutzung des gesamten Staatsgebietes als Anbaufläche liege das Glück des Landes. Je mehr die nütz­liche Kunst der Landwirtschaft in allen Ständen gelehrt und angeregt werde, könne die Produktion agrarischer Güter vervielfacht werden. Dann werde sich Frankreich immer mehr vom Zustand des Verfalls und der Schwächung entfernen. Enthusiastisch rief Mirabeau seine Landsleute auf, schnell zurück zum Fundamentalprinzip landwirtschaft­licher Tätigkeit aller Stände zu finden. Je mehr sich die Menschen auf die Erde und ihre Früchte beziehen würden, desto mehr könne sie bevölkert werden.435 Im Anschluss daran erläuterte er ausführ­lich die besondere Eignung Frankreichs für eine blühende Landwirtschaft Herrscherverehrung in Rom und seinen Provinzen. Tübingen 2003. S. 3 – 28. Hier S. 4. 433 Mirabeau, Victor de Riqueti, Marquis de: L’Ami des hommes, ou traité de la population. Bd. 1. Avignon 1756. S. 142. Vgl. grundsätz­lich zu Mirabeau als Physiokrat: Genovese-Fox, The Origins of Physiocracy, S. 134ff. Perrot, Histoire intellectuelle de l’économie politique. 434 Mirabeau, L’Ami des hommes, ou traité de la population, Bd. 1, S. 61. 435 Ibd. Bd. 1, S. 26 – 28. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 328 Der chinesische Kaiser als Vorbild durch naturräum­liche Vorteile des Landes.436 Doch auch die Stellung der Bauern müsse der neuen Bedeutung des Landbaus angepasst werden: Dans un Etat constitué comme la France, il faut que […] le Laboureur enfin & l’agriculteur, cet ordre d’hommes précieux par lesquels j’aurois dû commencer soit infatiable, honoré, chéri, protégé, soulagé, encouragé de façon qu’il fasse envie à tous les autres états par son bonheur, sa liberté, sa joie, sa tranquillité, & par cette pureté Patriarchale de mœurs, dont la campagne est la véritable & l’unique patrie.437 Damit skizzierte Mirabeau den Wirkungsbereich des französischen Königs, diese Bedingungen für die Bauern nach dem Vorbild des chinesischen Kaisers zu schaffen.438 Er stellte allerdings noch keinen direkten Bezug zum Motiv des eigenhändigen Pflügens des Kaisers von China her. Offensicht­lich war es Quesnay, der das Potential dieses Motivs für die Argumentation bzw. für die Verbreitung der physiokratischen Lehre erkannte. Mirabeau stand mit Quesnay sowohl in persön­lichem als auch in brief­lichem Kontakt. Quesnay hatte von Mirabeau ein Exemplar seiner Ami des hommes erhalten und sich intensiv mit den Thesen beschäftigt. Darüber hinaus hoffte Mirabeau, dass Madame de Pompadour das Buch lesen und die Inhalte an den König vermitteln würde.439 Mirabeaus Werk prägte nicht nur Quesnay stark, der Freund unterstützte ihn auch bei seinen eigenen Publikationen.440 Im Jahr 1763 erschien in Amsterdam zunächst anonym die Philosophie rurale ou, Économie générale et politique de l’agriculture, reduite à l’ordre immuable des loix physiques & morales, qui assurent la prospérité des empires. Verfasst worden war der Band gemeinsam von Mirabeau und Quesnay mit dem Ziel, eine ausführ­liche und allgemeinverständ­ liche Erläuterung des Tableau économique von Quesnay zu bieten.441 Das erste Kapitel des Buches wurde von einer Vignette.442 in Form eines kleinen Kupferstichs bekrönt. Er zeigte in einer idealisierten Landschaft den chinesischen Kaiser am Pflug, wie er, eingerahmt von Mandarinen und Bauern mit Gefäßen von Saatgut, die erste Furche zog. Der Stich nahm zusammengefasst, komprimiert und visualisiert den Inhalt des Werks von der Bedeutung des Bodens und der Landwirtschaft sowie die Idee eines 436 Ibd. S. 34 – 41. J’en reviens pourtant à mon principe fondamental: Aimez, encouragez l’agriculture; il n’y a rien de grand & d’utile où vous ne puissiez atteindre par cette attention. S. 34. 437 Ibd. Bd. 1, S. 100. 438 Ibd. Bd. 1, S. 151. 439 Schelle, Docteur Quesnay, S. 226f, S. 231. Dumaih, Pascal (Hg.): Madame du Hausset. Mémoires sur la Marquise de Pompadour. Écrits par sa femme de chambre. Paris 2009. S. 78. 4 40 Schelle, Docteur Quesnay, S. 299. 4 41 Dieses Werk hatte die Gönnerin der Physiokraten, Madame de Pompadour, in ihre Bibliothek aufgenommen. Anonymus, Catalogue des livres de la bibliothéque de Madame la Marquise de Pompadour, S. 31, Nr. 320. 4 42 Es handelt sich um Buchverzierungen, die oft zu Beginn oder am Ende eines Kapitels standen. Eine kurze Erläuterung zu diesen kleinteiligen Verzierungen geben Müller, Silke/Wess, Susanne: Studienbuch neuere deutsche Literaturwissenschaft, 1720 – 1848. Basiswissen. Würzburg ²1999. S. 191. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 329 royaume agricole mit dem Herrscher an der Spitze vorweg. Auch wenn im gesamten nachfolgenden Text kein Bezug zu China mehr hergestellt wurde und die Pflugszene keine verbale Einordnung erfuhr, stand sie einleitend und richtungsweisend als Devise an exponierter Stelle des Buches.443 Mit ihr war dem Leser das Modell einer durch den Monarchen optimal geförderten Landwirtschaft und einer Gesellschaft, welche der Landwirtschaft einen hohen Stellenwert beimaß, visuell kommuniziert. Die Vignette nahm somit wesent­liche Bestandteile der physiokratischen Lehre vorweg und präsentierte sie anschau­lich. Das Motiv avancierte zum Motto der Physiokraten, das bild­lich und verbal einen Wiedererkennungseffekt – etwa in den Ephémérides du Citoyen – mit sich bringen sollte. Es ging ihnen mit der Visualisierung auch um den Versuch, ihre Grundaussagen schnell fassbar und überzeugend darzustellen, denn gerade Quesnays Tableau hatte mit der zeitgenössischen Kritik der Unverständ­lichkeit und uneinheit­ lichen Terminologie zu kämpfen.444 Die Abbildung folgt keiner Vorlage, sondern stellt vielmehr eine der frühesten europäischen Darstellungen der Pflugszene des chinesischen Monarchen dar, die nach den Beschreibungen der Reiseberichte in Europa angefertigt wurde. Der Stecher ist unbekannt.445 4 43 Anonymus [Quesnay, François/Mirabeau, Victor Riqueti de]: Philosophie rurale ou, Économie générale et politique de l’agriculture, reduite à l’ordre immuable des loix physiques & morales, qui assurent la prospérité des empires. Amsterdam 1763. S. 2. 4 44 Fox-Genovese, The Origins of Physiocracy, S. 100f und S. 136. 4 45 Mög­licherweise diente sie Bernhard Rhode später als Vorlage für sein Ölbild des pflügenden Kaisers auf Schloss Britz. Bernhard Rode (eigent­lich Christian Bernhard) ist einer der wenigen Maler, die sich dieses Themas annahmen. Er schuf im Jahr 1770 ein Ölbild mit der Pflugszene für den Landsitz des preußischen Ministers Ewald Friedrich Graf von Hertzberg. Drei Jahre später entstand als Pendant die Darstellung der chinesischen Kaiserin beim Ritual der Ernte der ersten Maulbeer­blätter für die Seidenraupenzucht. Das erste Bild zeigt den Kaiser in einem leuchtend gelben Gewand mit roter Schärpe, in rotgelben Schuhen und mit turbanartiger Kopfbedeckung. Mit der rechten Hand führt er den Pflug, mit der linken die Zügel der beiden weißen, blumengeschmückten Ochsen. Bedienstete halten dem Monarchen die Schleppe des Mantels und einen Schirm, der ihm Schatten spendet. Vor dem Kaiser beobachten Untertanen in respektvoller Haltung den pflügenden Landesherrn. Die Szene ist von üppigem Grün exotischer Pflanzen und Gehölze eingerahmt, welche die Fruchtbarkeit und Schönheit der Umgebung betonen, zugleich aber auch den Erfolg der rituellen Handlung des Monarchen beweisen. Das Bild entstand für das chinesische Zimmer des Schlosses Britz als passende exotische Dekoration, die aber programmatisch eine idealisierte Verbindung zwischen dem Staatsmann und dem Landwirt von Hertzberg unterstrich und die Kenntnis fremder Gepflogenheiten durch und die Bedeutung der Landwirtschaft für den Hausherrn dokumentierte. Christian Bernhard Rode (1725 – 1797): „Der Kaiser von China am Pflug“. Abb. 129. In: Budde, Europa und die Kaiser von China. Eine weitere Abbildung befindet sich in: Beck, Herbert/Bol, Peter C./Bückling, Mareile (Hg.): Mehr Licht. Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung. Ausstellung im Städelschen Kunstinstitut 22. August 1999 – 9. Januar 2000. Katalog. München 1999. S. 237. Zum Bild vgl. Börsch-Supan, Helmut/Pryzborowski, Claudia: Christian Bernhard Rode und die Ausstattung von Hertzbergs Landhaus in Britz. In: Kindler, Simone/Badstübner-Gröger, Sibylle (Hg.): 300 Jahre Schloss Britz. Ewald Friedrich Graf von Hertzberg und die Berliner Aufklärung. Berlin 2006. S. 71 – 86. Ebenfalls Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 330 Der chinesische Kaiser als Vorbild Im Jahr 1764 war das Vorbild des chinesischen Kaisers am Pflug mit Simon Philibert de La Salle de l’Etangs Buch Manuel d’Agriculture stärker als bisher in die Vermittlungsstrategie der Physiokraten und ihrer Anhänger gelangt.446 La Salle de l’Etang schrieb in der Einleitung De la position de notre Agriculture, dass die Menschen Berufe nach dem Gewicht der Personen, die den Beruf ausüben (exercent) und praktizieren (pratiquent), beurteilten: Ce qui sait bien voir, qu’en général on ne juge des professions, & même d’un art si noble qu’il puisse être par lui-même que par les qualités des personnes que les exercent & qui les pratiquent.447 Auf die rhetorische Frage, warum in China die Landwirtschaft so geehrt und respektiert werde, antwortete er, dass es der chinesische Kaiser nicht verachte, den Pflug selbst in die Hand zu nehmen: Pourquoi à la Chine, l’Agriculture est-elle si honorée & si respectée? C’est que l’Empereur ne dédaigne pas de tenir lui-même la queue de la charrue.448 Er zeigte seinen Lesern mit dieser Aussage, wie wichtig es für den lange ignorierten französischen Bauerstand sein würde, wenn sich auch der eigene Landesherr ausdrück­lich mit einem Arbeitsgerät der Bauern zeigte oder sogar eigenhändig Arbeitsschritte ausführte, um mit seiner Person die Bedeutung dieses Berufes zu betonen. Machte der französische König wie der chinesische Kaiser das Bestellen eines Ackers zu einer seiner persön­lichen Angelegenheiten, so wurde der gesamte Bauern­stand symbolisch geadelt. Ihm musste folg­lich in der Gesellschaft ein neuer Status und seiner Arbeit ein höherer Wert beigemessen werden. Deshalb forderte La Salle de l’Etang nicht nur die Vermittlung landwirtschaft­licher Kenntnisse und des Respekts vor dem Ackerbau an die Jugend im Allgemeinen, sondern insbesondere an die nächste Herrschergeneration, den Kronprinzen (et même d’un Prince). Landwirtschaft und das vorbildhafte Wirken des chinesischen Kaisers für den Ackerbau wurde von ihm zu einem wichtigen Teil fürst­licher Bildung bzw. Erziehung erhoben, womit nicht zuletzt auch die Hoffnung auf künftige Förderung verbunden war.449 Doch nach dazu: Krosigk, Klaus-Henning von: Der Garten zu Britz. Seine Entwicklungsgeschichte von den Anfängen bis heute. Berlin 1998. S. 26. 4 46 La Salle de l’Etang, Simon Philibert de: Manuel d’agriculture pour le laboureur, pour le propriétaire, et pour le gouvernement contenant les vrais & seuls moyens de faire prospérer l’agriculture, tant en France que dans tous les autres Etats où l’on cultive; avec La réfutation de la nouvelle méthode de M. Thull. Paris 1764. Dazu vgl. Haushofer, Heinz: Das kaiser­liche Pflügen. In: Ders./Boelcke, Willi A. (Hg.): Wege und Forschungen der Agrargeschichte (Zeitschrift für Agrargeschichte und Agrarsoziologie. Sonderbände, Bd. 3). Frankfurt/M. 1967. S. 171 – 180. Hier S. 175. Das Buch findet sich nicht in der Bibliothek von Madame de Pompadour, dafür ein früheres landwirtschaft­liches Werk des Autors: La Salle de l’Etang, Simon Philibert de: Prairies artificielles, ou Moyens de perfectionner l’Agriculture. Paris 1758. 4 47 La Salle de l’Etang, Manuel d’agriculture, Einleitung, o. S. 4 48 Ibd. S. 4f. 4 49 La Salle de l’Etang stand mit der Vorstellung, dass so mancher Berufsstand oder ein Handwerk durch die Ausübung durch einen Fürsten geadelt und damit anerkannt werde, nicht allein. Im Alten Reich war es Justus Möser, der in seiner Abhandlung Reicher Leute Kinder sollten ein Handwerk lernen seinen Lesern neben deutschen älteren Traditionen vor allem auch fremde (russische und englische) Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 331 dem Fürsten musste auch der Bauer im Landbau belehrt werden. Diese Aufgabe der Organisation der Vermittlung neuen Agrarwissens an die Bauern oblag nach La Salle de l’Etang dem Herrscher. So transportierte schon das Frontispiz seines Werkes das Thema der könig­lichen Unterweisung an den Landmann (Abb. 14: Frontispiz und Deckblatt). Dafür wählte La Salle de l’Etang jedoch nicht eine Darstellung des chinesischen Kaisers, sondern zog den visualisierten Bezug zur Antike mit einem Kupferstich von BenoîtLouis Prévost (1735 – 1804) vor: Einem zeitgenössisch gekleideten Bauern, der gerade mit der Aussaat beschäftigt ist, erscheint Triptolemos auf seinem Schlangenwagen. Der könig­lich-gött­liche Stifter des Ackerbaus erweist sich als gütiger und geduldiger Lehrmeister, der den Menschen einst nicht nur die Kunst der Landwirtschaft vermittelt hatte, sondern sie nun mit den aktuellen Neuerungen der Technik – etwa der abgebildeten Maschine zur Aussaat – bekanntmachte, um ihre Arbeit zu erleichtern und effizienter zu gestalten. Triptolemos avancierte bei La Salle de l’Etang zu einem Agrargenius, der den Menschen den Segen einer neuen Landwirtschaft mit neuem Wissen und neuen Produktionsmethoden brachte. Der könig­liche Kulturheros Triptolemos konnte somit als gleichzeitige Personifikation und Verbindung einer langen Tradition und einem Aufbruch in ein neues, modernes Agrarzeitalter verstanden werden. Zugleich lag in seiner Person die Aufforderung an den Monarchen, genau dieser Funktion des Triptolemos zu entsprechen: Initiator, Vermittler und Träger eines agrarischen Fortschritts zu sein. Das Frontispiz trägt die Bildunterschrift: Ne change point de soc. La Salle de l’Etang eröffnete sein Werk mit der im Frontispiz visualisierten Devise einer neuen Landwirtschaft auf dem Fundament antiker Tradition, die im Laufe der Argumentation des Buches eine Bestätigung und Ergänzung durch das Handeln des chinesischen Kaisers erhielt. Der belehrende mythische König von La Salle de L’Etang und der eigenhändig pflügende Kaiser Quesnays und Mirabeaus avancierten zu einem Motto der neuen Landwirtschaft und zum Leitfaden eines neuen Herrschaftsverständnisses. Dieser Gedanke verankerte sich auch im Werk François Quesnays. Er beschrieb das Pflugritual des chinesischen Kaisers 1767 in seinem Werk Despotisme de la Chine, das in den Ephémérides erstmals zwischen März und Juni publiziert wurde, sehr ausführ­ lich: Au contraire l’agriculture a toujours été en vénération à la Chine, et ceux qui la professent ont toujours mérité l’attention particulière des Empereurs; nous ne nous étendrons pas ici sur le détail des prérogatives que ces princes leur ont accordées dans tous les temps. […] Le successeur de l’empereur Lang-hi [Kangxi-­Kaiser] a surtout fait des règlements très favorable pour exiter l’émulation des laboureurs. Outre qu’il a donné lui-même l’exemple du travail en labourant la terre et en y semant cinq sortes de grains, il a encore ordonné aux gouverneurs de toutes les villes de s’informer, chaque année de celui qui se sera le plus Monarchen als Beispiele anführte, um sein Ziel, das nachlassende Ansehen und die Bedeutung des Handwerks zu stärken: Zar Peter diente als Geselle und Schiffszimmermeister. Möser, Justus: Reicher Leute Kinder sollten ein Handwerk lernen. In: Ders.: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Bearb. v. Ludwig Schirmeyer. Oldenburg/Berlin 1943. S. 30 – 41. Hier S. 33. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 332 Der chinesische Kaiser als Vorbild distingue, chacun dans son gouvernement, par son application à la culture des terres, par une reputation integre et une économie sage et bien entendue. […].450 Quesnay war von der Prämisse ausgegangen, dass die Nation in den allgemeinen Gesetzen der Naturordnung unterrichtet werden müsse, welche die vollkommenste Regierung begründen würde.451 Der Physiokrat betonte deshalb ebenso wie La Salle de l’Etang, dass das Studium der Rechtswissenschaften für Staatsmänner nicht mehr genüge, sondern dass das Studium der Naturordnung und Landwirtschaft fester Bestandteil des Regierungswissens werden müsse. Ein Prinz müsse theoretisches und praktisches landwirtschaft­liches Wissen erwerben, denn der Herrscher und die Nation sollten aus Sicht Quesnays niemals aus dem Auge verlieren, dass der Boden die alleinige Quelle der Reichtümer sei, und dass der Ackerbau diese vervielfältige.452 Der Herrscher erhielt somit aus physiokratischer Sicht eine weitere Funktion: Der König sollte künftig als erster Landwirt seinem royaume agricole und einer der Landwirtschaft verpf­lichteten Gesellschaft vorstehen – so wie es der chinesische Kaiser tat. Symbolisch unterstrich der chinesische Kaiser diese Funktion durch das jähr­liche eigenhändige Pflügen. Quesnay ging es zum einen darum, den Monarchen landwirtschaft­liche Fähigkeiten zu vermitteln und ihnen auch die schwere körper­liche Arbeit der Landbebauung nahezubringen, um ihnen eine konkrete Vorstellung vom Wert des Bodens und seiner Früchte zu geben, zum anderen kannte er sehr wohl die Wirkung symbolischer Handlungen. Deshalb stand das kaiser­liche chinesische Pflugritual ebenso im Fokus seiner Vermittlungsstrategie gegenüber den Herrschern wie der Rat, die Arbeit des pauvre cultivateur oder laboureur auf dem Land durch Feste eine Wertschätzung entgegenzubringen. Ausführ­lich diskutierte Quesnay deshalb die Tradition chinesischer Frühlingsfeste für Bauern, die in ganz China gefeiert wurden. Dabei wurde eine große Tonkuh über das Feld getragen und symbolisch durch Tritte eines kleinen Jungen angetrieben. Die Bauern folgten der Kuh mit ihren Arbeitsgeräten bis 450 Quesnay, Despotisme de la Chine, 2. Kapitel, § 8, S. 601f. Zum Verständnis der Physiokraten vgl. Dubreuil, Paul: Le despotisme légal. Vues politiques des physiocrates. Paris 1908. S. 85ff. Bei ­Rousselot de Surgy findet sich die kurze Erwähnung des eigenhändigen Pflügens des Kaisers und die herrscher­liche Protektion der Landwirtschaft in China: L’agriculture est beaucoup en vénération à la Chine, & ceux qui la professent ont toujours mérité une attention particulière des Empereurs. Nous ne nous étendrons pas sur le détail des prérogatives que ces princes ont accordées aux laboureurs dans tous les temps. Rousselot de Surgy, Mélanges intéressans et curieux, Bd. 5, S. 224 – 226. 451 Quesnay, Despotisme de la Chine, 8. Kapitel, § 10, S. 646. 452 Quesnay, Despotisme de la Chine, 8. Kapitel, § 11, S. 646f. Zur Erforschung und Verbreitung landwirtschaft­lichen Wissens empfahl er Landwirtschaftsakademien. A la réserve des sociétés brigandes, ennemies des autres sociétés, l’agriculture les réunit toutes; et sans l’agriculture les autres sociétés ne peuvent former que des nations imparfaites. Il n’y a donc que les nations agricoles qui puissent constituer des empires fixes et durables, susceptibles d’un gouvernement général, invariable, exactement à l’ordre immuable des lois naturelles: or, c’est alors l’agriculture, elle-même, qui forme la base de ces empires, et qui prescrit et constitue l’ordre de leur gouvernement, parce qu’elle est la source des biens qui satisfont aux besoins des peuples, et que ses succès ou sa décadence dépendent nécessairement de la forme du gouver­nement. Quesnay, Despotisme de la Chine, 8. Kapitel, § 12, S. 647. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 333 zum Palast des ört­lichen Mandarins, wo die Kuh zerschlagen, ihrem Bauch viele kleine Tonkühe als Symbol der Fruchtbarkeit entnommen und an Zuschauer verteilt wurden. Im Anschluss hielte der Mandarin eine Lobrede auf die Landwirtschaft und den Fleiß der Bauern. Die Auszeichnung der Bauern durch den Yongzheng-­Kaiser hob Quesnay in diesem Kontext ebenfalls als bedeutende Maßnahme hervor.453 d. Die Konstruktion des physiokratischen Modells Es stellt sich nun die Frage, wie die Handlung des chinesischen Monarchen durch die Physiokraten zu einem neuen Herrschaftsideal bzw. zu einem Modell für den franzö­ sischen König und die Fürsten in Europa stilisiert werden konnte? Da die Physiokraten darauf abzielten, neue Normen für das herrscher­liche Wirken in Frankreich und in Europa zu fixieren, bot sich ihnen mit dem chinesischen Ritual eine standardisierte, normierte und inszenierte Handlungssequenz eines Monarchen, die eine fürst­liche Funktion implizierte und Pf­lichterfüllung kommunizierte, die insbesondere in Frankreich vernachlässigt worden war. Die Rolle des chinesischen Monarchen konnte als „Steinbruch“ und Legitimation für ein neues Konzept der Herrschaftsauffassung und herrscher­lichen Repräsentation genutzt werden, um denk- und handlungsanleitend Reformen anzuregen. Der pflügende chinesische Monarch avancierte also zum Vorbild oder sogar zum Modell für die Physiokraten. Das Motiv des pflügenden Monarchen fasste die gesamte Vorstellung des segensreichen herrscher­lichen Wirkens zusammen und eignete sich somit dafür. Doch wie konnte ein Motiv zu einem Modell avancieren? Wie bereits im Kapitel zu Johann Heinrich Gottlob Justi und dem deutschen Kameralismus angesprochen wurde, hatte die Idee des Modells Mitte des 18. Jahrhunderts in David Humes Gedanken zu den Assoziationsgesetzen in seinen Philosophical essays concerning human understanding aus dem Jahr 1748454 eine theoretische Basis gefunden. Hume war den Physiokraten kein Unbekannter, stand er doch sogar zu einigen von ihnen in direktem brief­l ichen Kontakt.455 Quesnay und andere Physiokraten hatten wie der Kameralist Justi eine gedank­liche Verbindung vom europäischen zum chinesischen Staats- und Regierungssystem bzw. zur Funktion des Herrschers hergestellt. Hinsicht­lich der Funktion des Kaisers als Förderer oder Schirmherr der Landwirtschaft, die durch das Pflugritual ausgedrückt wurde, hatten sie gezielt durch Überbetonung positiver 453 Ibd. 2. Kapitel, § 9, S. 602. Vgl. dazu das Kapitel zu den chinesischen Riten in dieser Arbeit und die Rolle des Festes in den Reiseberichten. 454Hume, Philosophical essays concerning human understanding. Jean-Bernard Mérian hatte eine französische Übersetzung angefertigt, die 1758 unter dem Titel Essays philosophiques erschien. Hume war zwar nicht der Erste, der auf die Assoziationsgesetze Bezug nahm, nur hatte aus seiner Sicht bisher noch kein Philosoph versucht […] to enumerate or class all the principles of association; a subject, however, that seems worthy of curiosity. Ibd. S. 24. 455 Gerteis, Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik, S. 88. Fox-Genovese, The Origins of Physiocracy, S. 86, S. 94 – 104. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 334 Der chinesische Kaiser als Vorbild Inhalte aus den Reiseberichten und Geschichtswerken eine eigene, ihren Vorstellungen von der fürst­lichen Förderung der Landwirtschaft und des Bauernstandes gemäße Wirk­ lichkeit in China konstruiert. Dies erfolgte unter weitgehender Auslassung negativer Inhalte hinsicht­lich des Zustandes der Landwirtschaft in China. Dabei ging es ihnen vor allem um die Betonung bestimmter Einzelheiten in der Darstellung des Pflugrituals, die rezipierbar bzw. übertragbar waren: etwa die einzelnen Bestandteile des Aktes, die anwesende oder teilnehmende Öffent­lichkeit sowie die Tradition der kaiser­lichen Handlungen. Auch in der selektiven Auswahl und verkürzten Darstellung gingen sie in Anlehnung an Hume in der Konstruktion ihres Modells ähn­lich wie Justi vor. Nicht übertragbar war hingegen die religiöse Komponente des Rituals. Es musste stattdessen entsakralisiert und für den französischen Kontext gedeutet bzw. mit einem ihren Zielen gemäßen Sinn versehen werden. Dafür hatten die Reiseberichte mit ihrer Fokussierung auf die gemeinschaftsstiftende bzw. soziale und ökonomische Komponente bereits eine gute Vorlage geschaffen. Assoziativ griffen die Physiokraten diese Deutung auf und integrierten sie in ihre Lehre. Nach Humes erkenntnistheoretischem Konzept kam es nach der Assoziation •• zur Erstellung eines Planes, •• zum Fassen von Vorsätzen und •• zur Verfolgung des Ziels. Das Ziel von Quesnay und seinen Kollegen bestand in der Erstellung eines neuen Herrschaftskonzepts, eines Gegenentwurfs zur eigenen Realität. Dieses Konzept enthielt eine Erweiterung der Funktion des Monarchen um die eines ersten Landmannes des Staates. Entsprechend den zeitgenössischen Anforderungen an Konzepte, bei denen biblische oder antike Vorbilder immer stärker gegenüber Beispielen aus der eigenen oder fremdem Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit in den Hintergrund traten, repräsentierte China eine reale, komplexe und weit entwickelte Erfahrungswelt. Sein Herrschaftsmodell erschien durch die Reiseberichte überprüfbar und bestach vor allem durch seine Ähn­lichkeit, die berührte und als letzte Modellierungsstufe das Handeln im Sinne einer Nachahmung initiierte.456 Doch wie war Nachahmung zu erreichen? Dass eine Theorie – von effizienter Landwirtschaft mit einem geachteten Bauernstand – offensicht­lich ebenfalls in der Praxis funktionierte, wenn auch in einem vollkommen anderen kulturellen Kontext, der aber laut Vico gleiche Wurzeln zum eigenen europäischen aufwies, war ein Hinweis auf die Praxistaug­lichkeit der physiokratischen Theorie. Was zum Zeitpunkt der Thema­ tisierung des Pflugrituals durch die Physiokraten nicht gegeben war, war der im Transfer des Motivs aus der einen in die andere Kultur angelegte analoge Stellenwert 457 landwirtschaft­licher Betätigung eines Herrschers. Er stellte in Frankreich und im Europa 456 Müller, Zur Geschichte des Modellbegriffs und des Modelldenkens, S. 218. 457 Werner, Dissymmetrien und symmetrische Modellbildungen, S. 87. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 335 des 18. Jahrhunderts ein Desiderat dar. Landbau gehörte nicht – oder nicht mehr – in den Kanon der Repräsentation von Amtspf­lichten eines europäischen Monarchen.458 Es war deshalb das erklärte Ziel der physiokratischen Strömung, die Regierenden von der Verhaltens- und (eingeschränkten, weil säkularisierten) Funktionsanalogie zu überzeugen. Sie konnten dabei an die antike europäische Tradition anknüpfen und so den analogen Stellen­wert der zu transferierenden Gegenstände herstellen. Eine Ergänzung und Bestätigung fand das antike, zwischenzeit­lich vernachlässigte und im 18. Jahrhundert neu belebte Bild vom Staatsmann und Bauern durch das Ritual des pflügenden chinesischen Kaisers. Die Tätigkeit des pflügenden asiatischen Monarchen wies nicht nur eine hohe Kompatibilität mit der eigenen europäischen antiken und zeitgenössisch gewünschten bzw. für notwendig erachteten Herrschaftsauffassung auf, das Ritual erwies sich darüber hinaus auch als geeignet, diese Auffassungen sichtbar zu kommunizieren, zu stützen oder sogar zu erweitern. Mit der Reduzierung des Rituals zu einem Motiv setzten die Physiokraten auf ein wirkungsästhetisches Konzept, dem sie ein hohes Potential für die imitatio zuschrieben. Um die imitatio als Erfolg des Motivs zu erreichen, hatten sie bestimmte Kriterien an das Motiv gerichtet, die sich stark an den zeitgenössischen Anforderungen der Bildpraxis orientierten. Jean-Baptiste Dubos (1670 – 1742) ging in seinen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture aus dem Jahr 1719 vor allem davon aus, dass zuerst der Gegenstand der Darstellung eine erheb­ liche Wirkung auf den Betrachter haben müsse, um eine Reaktion beim Betrachter hervorzurufen und ihn zu überzeugen. Die Darstellung eines Bauern, der seine Kuhherde nach Hause treibe, erschien Dubos deshalb als Bildmotiv vollkommen ungeeignet, da es eine alltäg­liche Handlung und für niemanden von Interesse sei. Im Fokus müsse vielmehr das Besondere stehen, dessen Wirkung Erstaunen hervorrufe und Anreize zur Nachahmung biete.459 Vor dieser theoretischen Forderung an ein Bild konnte das Motiv des pflügenden Kaisers bestens bestehen, verband es doch zwei ungewöhn­liche Sphären miteinander: die der Herrschaft und die der bäuer­lichen Arbeit. Zugleich warnte Dubos vor unbekannten Symbolen oder Allegorien, die aus seiner Sicht beim Betrachter ledig­lich Unverständnis hervorrufen würden. Vielmehr müsse mit bekannten Attributen gearbeitet werden, um dem Betrachter den Inhalt konkret zu vermitteln und keine Rätsel aufzugeben.460 Diese Forderung wurde mit dem gewählten Motiv leicht erfüllt, denn die Funktion des Pflügens als wesent­licher Teil der Feldarbeit konnte beim Betrachter als bekannt vorausgesetzt werden und vermittelte ihm zugleich die Vico’sche Sicht kulturübergreifender Bedeutung. Das Motiv des pflügenden Kaisers transportierte anders als Literatur, welche nach Dubos der willkür­lichen Zeichen der Schrift 458 Vgl. das Kapitel zu antiken und mittelalter­lichen Traditionen der Verflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft in dieser Arbeit. 459 Dubos, Jean-Baptiste: Réflexions critiques sur la poesie et sur la peinture. Paris 1719 (Reprint Genf 1982). S. 68. 4 60 Ibd. S. 190 – 222. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 336 Der chinesische Kaiser als Vorbild bedürfe, über das Sehen signes naturels, natür­liche Zeichen. Der Zugang zu diesen sei leichter, erreiche aber nicht die Komplexität der Schrift. Die Vermittlung von Inhalten durch visuelle Kunst war somit aus Sicht Dubos – in Anlehnung an John Locke – begrenzt, oberfläch­lich aber erfolgversprechender.461 Die Physiokraten nahmen somit in ihrer Vermittlungsstrategie mög­liche Rezipienten(-gruppen) wie den Monarchen, aber auch den Adel und nicht zuletzt auch die einfachen Bauern und ihre unterschied­ lichen Wahrnehmungskonventionen in den Blick. Sie zielten mit ihrem Motiv bzw. der Visualisierungsstrategie ihres Modells jedoch nicht auf die genannten Betrachter und Öffent­lichkeit(en) als ästhetische Urteilsinstanz wie etwa bei Kunstgegenständen, sondern als Adressaten ihrer Botschaft.462 Mit der besonderen Hervorhebung des Kaisers am Pflug aus dem chinesischen Ritual entstand ein vereinfachtes und zugleich äußerst prägnantes Motiv, das kompakt und leicht verständ­lich das Modell bzw. die von den Physiokraten konzipierte theoretische Erweiterung des Ideals vom Monarchen um eine zusätz­liche Herrschaftsvorstellung als erstem Landwirt zusammenfasste. Im Motiv des pflügenden Monarchen offenbarten sich wesent­liche Forderungen der Physiokraten wie etwa die Unterwerfung des Herrschers unter die Gesetzmäßigkeiten der Natur und die Akzeptanz ihrer Herrschaft. Im Pflügen des Monarchen zeigte sich symbolisch auch das Tun ohne zu tun des Wu-wei-Konzepts. Die begrenzte Aktivität des Menschen wird beim Pflügen und Säen sowie dem anschließenden Warten auf die Ernte offenbar. Deut­lich ist die dem Menschen aufgenötigte Passivität und die der Natur gestattete Zeit der Aktion.463 Ebenso deut­lich zeigte das Motiv auch eine andere wesent­liche Eigenschaft des neuen Herrschaftsmodells der Physiokraten: die Aktion des Herrschers zur richtigen Zeit, zur rechten Zeit aktiv zu wirken. Ohne die herrscher­liche Initiative, ohne sein Vorangehen, ohne sein Vorbild oder seine Gesetze, die im Einklang mit der Natur den Rahmen für den erhofften Agrarstaat und eine in Arbeit vereinte Gesellschaft schufen, änderte sich der bestehende Zustand nicht. Die Physiokraten hatten im Pflugritual der chinesischen Kaiser ein geeignetes Vorbild und eine passende Metapher für ihre Auffassung von der Agrarpolitik als ureigenstem Feld eines Monarchen gefunden und es als wichtigen Bestandteil ihrer Propaganda genutzt. Und diese zeigte Erfolg. e. Vom Erfolg der physiokratischen Vermittlungsstrategie – Le roi paysan Dass die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der Physiokraten und einer erweiterten Herrschaftsauffassung offenbar im Königshaus über einen längeren Zeitraum 4 61 Ibd. S. 414 – 416. Locke, John: An essay concerning human understanding. Hg. v. Peter H. Nidditch, Oxford 1975. 3. Buch, Kap. XI, § 21, S. 519. Kernbauer, Eva: Der Platz des Publikums. Kunst und Öffent­lichkeit im 18. Jahrhundert. (Diss.) Trier 2007. S. 103ff. 4 62 Zur Rolle des Publikums Fort, Bernadette: Théorie du public et critique d’art. In: Studies on Voltaire and the Eighteenth Century 265 (1989). S. 1485 – 1488. Kernbauer, Platz des Publikums, S. 89ff. 4 63 Priddat, Le concert universel, S. 113. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 337 akzeptiert wurde und der Einfluss der économistes – sei es über den persön­lichen Kontakt oder über ihre Schriften – bestehen blieb, beweist das zunehmende Interesse des Königs Ludwig XV. und seines Sohnes, Louis Ferdinand (1729 – 1765) an der Landwirtschaft sowie das eigenhändige Pflügen des jungen Dauphin und künftigen Königs Ludwig XVI. In der bisherigen Forschung wurde darauf verwiesen, dass es Quesnay als Leibarzt von Madame de Pompadour gelungen sei, König Ludwig XV. im Frühling des Jahres 1756 dazu zu überreden, selbst einen Pflug in die Hand zu nehmen und zu führen. Der König habe „persön­lich die Feldbestellung eröffnet“ bzw. nach Willy Richard Berger gepflügt, um „so die jähr­liche Frühjahrsaussaat einzuleiten.“464 Ludwig XV. habe sich allerdings geweigert, daraus einen größeren Akt zu machen, war doch das Pflügen eines Herrschers weder in den Pf­lichten des Monarchen noch in der symbolischen Kommunikation seiner Funktionen verankert. Für eine solche Handlung im Sinne einer Eröffnung der saisonalen landwirtschaft­lichen Tätigkeiten durch den König gibt es jedoch keinen Quellenbeleg. Zudem waren landwirtschaft­liche Tätigkeiten im Jahreszyklus eng an katholische Feiertage und die damit einhergehende Heiligenverehrung gebunden. Somit war es vor allem die Kirche, die durch vielfältige Formen von Segen und Fürbitten die jahreszeit­lichen Aussaat- und Erntearbeiten begleitete und ideell auch leitete.465 Die Eröffnung der landwirtschaft­lichen Arbeitssaison fiel damit zunächst traditionell gar nicht in das Wirkungsressort des Monarchen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass es im Einzelfall in seinem Beisein oder durch seine Mitwirkung geschehen sein mag. Ein Indiz für eine solche Mög­lichkeit bieten immerhin die weit verbreiteten Präsentationen der Ernten durch Bauern und Pächter gegenüber Gutsherren oder gegenüber der Obrigkeit, die nicht selten auch in gemeinsamen Fest­lichkeiten in den Dörfern mündeten. Sie führten zu einer feier­lichen und oft fröh­lichen Vergemeinschaftung von den Personen, die das Land zur Verfügung gestellt hatten, mit denjenigen, die es erfolgreich mit Gottes Hilfe bebaut hatten.466 Auch fürst­liche bzw. höfische Erntedankfeste 4 64 Budde, Europa und die Kaiser von China, S. 304. Haushofer, Das kaiser­liche Pflügen, S. 174f. ­Berger, China-Bild und China-Mode, S. 81. Die gleiche Information findet sich auch bei Reichwein, China und Europa, S. 115. Guy, The French Image of China, S. 346f. Auch Stähler, Der Herrscher als Pflüger und Säer, S. 14. 4 65 Vgl. das Kapitel zur Entflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft im Mittelalter in dieser Arbeit. 4 66 Hinsicht­lich der Erntefeste mit Gutsherren oder der Obrigkeit besteht eine erheb­liche Forschungslücke. Sie zu schließen, sprengt den Rahmen dieser Arbeit. Nur ansatzweise kann hier ein kurzer Überblick gegeben werden. Zu den „welt­lichen Erntefesten“ schrieb Carstens in seiner Betrachtung für deutsche Territorien 1755: Zu den großen jähr­lichen Begebenheiten in der Natur, wovon die Erhaltung und zeit­liche Wohlfahrt des ganzen mensch­lichen Geschlechts abhängt, gehöret ohne Streit die jähr­liche Ernte. Betrübter Zustand einer Gegend, wenn sie nur in einem Jahre sehr mißlinget. Sowohl der Landmann als die Bewohner der Städte haben gleiche Ursache, jähr­lich zu wünschen, daß Freude in der Ernte sey, da beyder Wohlstand darauf beruhet. Man gönnets denen, die bey Einsammlung der Feldfrüchte vielen Schweiß vergießen müssen, gerne, wenn sie dabey so glück­lich sind, daß sie nicht allein während solcher saurer Arbeit mit Speise und Trank gut verpfleget und gestärkt werden, sondern wenn ihnen auch, nach geendigter Ernte von den Herrschaften zum Zeichen der Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 338 Der chinesische Kaiser als Vorbild in den Hofkirchen setzten ein Zeichen der Dankbarkeit für die Erträge am Ende des landwirtschaft­lichen Jahreszyklus. Ob jedoch jähr­liche Gottesdienste zum Erntedank in der könig­lichen Kapelle in Versailles stattgefunden haben, bleibt unklar. Es finden sich zum Erntedank weder Berichte noch bild­liche Darstellungen wie beispielsweise von Gottesdiensten zu Trauungen und Taufen von Mitgliedern der könig­lichen Familie oder zu ranghohen Kirchenfesten.467 Statt der Eröffnung der landwirtschaft­lichen Saison durch Ludwig XV. wurde in der zeitgenössischen landwirtschaft­lichen Fachliteratur ledig­lich die Tatsache betont, der König habe zu seinem Vergnügen im Trianon einen Pflug stehen und es nicht verachtet, ihn auch zur Hand zu nehmen. Darüber hinaus wurde der Leser 1761 im Lehrbuch Le Gentilhomme Cultivateur ou Corps Complet d’Agriculture von Jean-­Baptiste Dupuy-Demportes (?-1770)468 informiert, was Madame de Pompadour in ihrer Biblio­ thek stehen hatte:469 On sçait que le Roi a une charrue à Trianon, & qu’il en fait son amusement, ne dédaignant pas d’y mettre lui-même la main.470 Ein paar Seiten weiter verwies Dupuy-Demportes auf den chinesischen Kaiser und das Pflugritual und stellte Erkennt­lichkeit und des Wohlgefallens, eine besondere Ergötz­lichkeit verwilliget und ausgerichtet wird. Wir wollen die Haltung eines welt­lichen Erntefestes hier unangefochten lassen […]. Carstens, A. P. L.: Vom gottesdienst­lichen christ­lichen Erntefeste. Zum Michaelistage 1755. In: Nütz­liche Samlungen [sic!] 78 (1755). S. 1233 – 1248. Hier S. 1242. Carstens berichtet zudem über die Ernte­ bräuche der Israeliten. S. 1243. Dem Gutsherren wurde dabei auch oft eine Erntekrone aus Stroh überreicht und auf dem Feld eine Erntepuppe als „Opfergabe“ aufgestellt. Art. „Erntedankfest“. In: Becker-Huberti, Manfred: Lexikon der Bräuche und Feste. Freiburg/Basel/Wien 2000. S. 85f. Zu kurzzeitigen belustigenden ständischen Positionswechseln kam es zuweilen während des Karnevals an Höfen, wenn Adlige oder Fürsten als Bauern verkleidet auftraten. Auch Bauernaufzüge mit der Darstellung bäurischer Arbeiten waren zu Sommerfesten an Höfen beliebt. Sieber, Friedrich: Volk und volkstüm­liche Motivik im Festwerk des Barocks (Veröffent­lichungen des Instituts für Deutsche Volkskunde, Bd. 21). Berlin 1960. S. 27ff. 4 67 Zu den fest­lichen Gottesdiensten im Jahreszyklus in der Versailler Hofkappelle vgl. Maral, Alexandre: La Chapelle Royale de Versailles sous Louis XIV. Cérémonial, liturgie et musique (Etudes du ­Centre de Musique Baroque de Versailles, Bd. 4). Sprimont 2002. S. 99ff. Erntedankgottesdienste werden nicht erwähnt. Auf den Dörfern waren laut Madame de Sévigné vor Christi Himmelfahrt so genannte rogationes (Bitttage) üb­lich, um die Heiligen um gute Ernten zu bitten. Sévigné, Marie de Rabutin Chantal, marquise de: Correspondance. 3 Bde. Paris 1972 – 1978. Hier Bd. 1. S. 46. 4 68 Die Biografie und das Werk des Autors sind kaum erforscht. Höfer, Ferdinand (Hg.): Nouvelle biographie générale. Bd. 15. Paris 1866. Sp. 383. 4 69 Ein Eintrag im Bücherverzeichnis, das nach ihrem Tod angefertigt wurde, verweist auf den Titel: Anonymus, Catalogue des livres de la bibliothéque de Madame la Marquise de Pompadour, S. 30, Nr. 314. 470 Dupuy-Demportes, Jean-Baptiste: Le Gentilhomme Cultivateur ou Corps Complet d’Agriculture. Bd. 1. Paris 1761. S. IV, FN 4. Un Monarque, plus père de ses Sujets que leur Roi, sans cesse occupé de leur soulagement, comme il le proteste tous les jours sur la foi sacrée, & qui fait son délassement de ce qui fait leur occupation. Ibd. Zur Herkunft und zum Verbleib des Pfluges konnten keine Informationen gefunden werden. Ob Ludwig XV. ein eigenes Ackergerät gebaut wurde oder ob ihm eines von Bauern ausgeliehen wurde, bleibt unbekannt. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 339 damit offensicht­lich einen engen Zusammenhang zwischen dem chinesischen Vorbild und der Aufgeschlossenheit Ludwigs XV. her, ein solches landwirtschaft­liches Gerät zu besitzen und auszuprobieren.471 Parallel nannte er die antiken Größen wie ­Romulus, Cincinnatus und Alexander den Großen, denen die Landwirtschaft gleichermaßen wie dem chinesischen Kaiser als Grundlage ihrer Herrschaft am Herzen gelegen habe. Auch auf die eigene dynastische Tradition landwirtschaftsfördernder Herrscher aus dem Hause der Bourbonen machte Dupuy-Demportes mit Heinrich IV. und seinem Minister Sully aufmerksam.472 Umso bedauer­licher war für ihn der Schluss, dass König Ludwig XIV. und Colbert ihre Aufmerksamkeit nur noch auf die Luxusgüter gerichtet hätten, ebenso wie in der zeitgenössischen Gegenwart der Ackerbau stark vernachlässigt werde.473 Insofern sei es gut, dass die Franzosen wie kaum ein anderes Volk Beispielen folge, was ihnen von ranghohen Personen vorgeben werde: Le plus efficace moyen d’encourager l’Agriculture seroit donc de ramener les Grands d’un préjugé qui traverse si sensiblement ses progrès. Seroit-il donc impossible de les déterminer à rendre les hommages qu’ils doivent à ce premier des Arts?474 Dem Vorbild der Herrscher und Großen des Landes sprach Dupuy-Demportes die altbekannte erzieherische und prägende Wirkung zu, die Untertanen richtungsweisend und handlungsmotivierend anleiten könne. Stellten 4 71 Dupuy-Demportes, Le Gentilhomme Cultivateur, Bd. 1, S. 2f. 472 Sully, ce vrai modèle de grands Ministre, établit toute son Administration sur l’encouragement de l’Agriculture. Qu’on vante tant qu’on voudra le Ministre de Richelieu & de Colbert, qu’on les compare avec le premier, on verra, pour peu qu’on posses le Code de l’Administration, l’extrême différence qui est entre eux. Ibd. S. III. Zu Sullys Güterverwaltung vgl. Aristide, Isabelle: La fortune de Sully. Paris 1990. Zu Heinrich IV. und Sullys Wirken Buisseret, David/Barbiche, Bernard (Hg.): Les oeconomies royales de Sully. 2 Bde. (Publications de la Société de l’Histoire de France, Bd. 476/499). Paris 1970/1988. Zur Verehrung von Sully während der Regierungszeiten von Ludwig XV. und Ludwig XVI. durch panegyrische Gedichte, Gemälde und Skulpturen bzw. zu seiner Stilisierung als politisches Vorbild durch die Physiokraten vgl. Avezou, Laurent: Sully à travers l’Histoire. Les avatars d’un Mythe politique (Société de l’École des Chartes, Mémoires et documents, Bd. 58). Paris 2001. S. 241ff. Abbé Baudeau verfasste einen historischen Rückblick auf Sullys Wirken: Baudeau, Nicolas: Principes économiques de Louis XII et du cardinal d’Amboise, de Henri IV et du duc de Sully sur l’administration des finances, opposés aux système des docteurs modernes. Paris 1785. Minister Turgot wurde nach seiner Amtsübernahme als Minister von den Physiokraten als nouveau Sully gefeiert. Grell, Chantal/Michel, Christian: L’École des Princes ou Alexandre disgracié. Paris 1988. S. 81. 473 Tous se sont ressentis de la magnificence de Louis le Grand. Mais où est le laboureur qui attentif à son état, ait été décoré de quelque marque de distinction? Où est la récompense coulée du trône jusqu’à lui? Si M. Colbert avoit appuyé les Ordonnances sages qu’il fit donner sur l’Agriculture, du même zèle qu’il eut pour les Manufactures, nos campagnes négligées ne peindroient plus si énergiquement le deuil qu’elles portent, & et nous ne gémirions pas du larcin que ce Ministre leur a fait involontairement; les Inspecteurs d’Agriculture au’il auroit créé auroient été aussi favorables aux progrès de cet Art, que ceux qu’il établit pour l’industrie devoient devenir peu avantageux; celle-ci plus libre produiroit tout l’effet qu’il s’étoit proposé, & l’une plus instruite & plus encouragée, auroit ajuoté à la force & la solidité de l’autre. Dupuy-Demportes, Le Gentilhomme Cultivateur, Bd. 1, S. III. 474 Ibd. S. 1. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 340 Der chinesische Kaiser als Vorbild sie sich an die Spitze einer Idee, folge die Masse leichter. Führte der König den Pflug selbst, so adelte er den Landbau durch seine Person, stellte ihn gar unter könig­liche Protektion. Mit dieser Aufmerksamkeit des Königs für die Landwirtschaft musste es dem Adel leichter fallen, den Hof zu verlassen und seiner Bestimmung gemäß auf seine Landgüter zurückzukehren. Das erhoffte sich jedenfalls Dupuy-Demportes: On doit tout espérer d’un Regne qui accorde tout ce qui est juste: bientôt les douceurs de la paix succèderont aux dévastations de de [sic!] la guerre. Notre père commun, cet auguste Monarque, n’ayant plus à soutenir des Alliés fidelles, tournera toutes ses vûes sur vous.475 Dem Adel kam traditionell als Inhaber von Grundeigentum eine wichtige Rolle in der Landwirtschaft zu, die künftig wieder eingenommen werden sollte. An diese Klientel wandte er sich deshalb mit seinem Werk. Zugleich verwies er im gestochenen ­Frontispiz seines Buches auf das ideale Zusammenwirken von Mensch und Natur im Ackerbau (Abb. 17: Frontispiz). Während ein kräftiger, antikisierend gekleideter Bauer den Boden pflügte und vorbereitete, hielt die personifizierte fruchtbare Natur Ceres von ihrem Schlangen­wagen aus ihm und allen Betrachtern ihre Bedeutung als Mater Artium et Nutrix vor Augen.476 Das Frontispiz verwies damit auf die physiokratische Sicht der Natur als Herrscherin und Leitfaden des Buches. Der könig­liche Besitz eines Pfluges im Trianon verstärkte die Hoffnungen des Zeitgenossen Dupuy-Demportes auf eine Protektion der Landwirtschaft durch den König und seine künftige sichtbare Position an der Spitze des französischen Ackerbaus nach dem Vorbild des chinesischen Kaisers und zahlreicher anderer Monarchen aus dem antiken oder eigenen dynastischen Kontext. Zu dieser Hoffnung mag noch ein anderes Ereignis am 8. August 1756 beigetragen haben: König Ludwig XV . wohnte im Trianon mehreren Experimenten des Botanikers, Agronomen und Directeur de la Monnaie à Troyes Mathieu Tillet (1714 – 1791) bei, die Krankheiten bei Getreide wie den so genannten Weizenbrand erforschen und bekämpfen sollten. Die Krankheit trug später seinen Namen: Tilletia. Er hatte dafür im Garten des Trianon mehrere kleine Versuchsbeete mit verdorbenem bzw. infiziertem und gesundem Saatgut bestückt und dem König die Ergebnisse der Ernte sowie die Ansteckungsgefahr erläutert. Im Jahr 1755 hatte er für seine Untersuchungen an unterschied­lichen Getreidesorten bereits den Preis der Akademie der Wissenschaften in Bordeaux erhalten.477 Die Ergebnisse der Experimente im Trianon veröffent­lichte 475 Ibd. S. 7. 476 Dupuy-Demportes, Frontispice Le Gentilhomme Cultivateur, Bd. 1, o. Pag. 477 Tillet hatte erkannt, dass die schwarze Farbe verdorbener Ähren nicht vom Einfluss des Nebels auf Korn herrührte, sondern von infiziertem Saatgut ausging. Er schlug zur Behandlung des Saatgutes Kalk und Salz vor. Auch frühe Beobachtungen zum Rostpilz stammen von Tillet. Diese Krankheit wurde jedoch erst 1853 vollständig erforscht. Tillet, Mathieu: Dissertation sur la cause qui corrompt et noircit le bled dans les épis; et sur les moyens de prévenir ces accidens (Prix de l’Académie de Bordeaux, médaille d’or). Bordeaux/Paris 1755. Im Jahr 1757 war eine deutsche Übersetzung der Akademie-Publikation Tillet erhält­lich: Tillet, Mathieu: Des Herrn Tillets […] Abhandlung von der Ursache, woher die Körner des Getreides in den Aehren verderben und schwarz werden, und Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 341 Tillet zeitnah und betonte, dass der König seine Präsentation als würdig genug erachtet habe, um sie mit seiner Anwesenheit zu ehren.478 In der Widmung seiner Arbeit an den König betonte er die wirtschaft­liche Bedeutung seiner Forschungen sowie den Wert des Ackerbaus: ce premier fond de nos richesses et la plus précieuse de nos ressources. 479 Zugleich legte er dem König nahe, dass er für seine Entdeckung der Kornkrankheit nicht nur den Preis der Akademie, sondern auch das Lob der Bauern verdiene, denen er seine Erkenntnisse widmen wolle. Denn die Bauern seien es, die das Brot mit allen teilen und deren Tagwerk dem Staat zu Wohlstand verhelfe.480 Für seine agrarischen Verdienste erhob Ludwig XV. Tillet 1773 als Chevalier in den Ordre de Saint-Michel.481 Von den Experimenten, die im Beisein des Königs und Quesnays stattfanden, berichtete auch der Physiokrat, Agronom, Mitinitiator und erste Präsident der Sociétés d’Agriculture und Freund des Finanzministers Bertin, Louis-François-Henri Marquis de Turbilly (1717 – 1776), in seinem Memoire sur les défrichemens, das 1760 in Paris erschien. Er wertete die Mög­lichkeit, Experimente und Beobachtungen vor dem König präsentieren zu dürfen, als eine Ehre, die der Monarch der Landwirtschaft mit seiner Anwesenheit sichtbar entgegenbrachte. Sie entsprach aus Sicht de Turbillys der gleichen Patronage und väter­lichen Fürsorge wie in China, wo der Kaiser sie durch eigenhändiges Pflügen zum Ausdruck bringe: Tout ce que j’ai dit jusqu’à présent ne suffit pas pour le défrichement des terres incultes du Royaume, il faut encore que le Roi honore ces fortes d’entreprises d’une protection particuliere; qu’il les favorise, & qu’il témoigne publiquement sçavoir gré à ceux qui les exécuteront. Aucune Nation ne se portera plus volontiers que celle-ci, à ce qu’elle sçaura pouvoir plaire à son souverain. Les essays que sa Majesté à fait faire ci-devant, sous ses yeux dans le Parc de Trianon, sous une marque de son gout pour l’Agriculture, & de son attention bien-faisante pour ses sujets; il seroit aisé d’en tenter de nouveaux de différentes 478 479 480 481 von denen Mitteln, wodurch man diesen Zufällen zuvorkommen kann. Hamburg 1757. Auch im Journal économique und im Journal de commerce publizierte Tillet Ergebnisse zu seinen Forschungen. Zu diesen Artikeln in beiden Zeitschriften knapp zusammenfassend Kaplan, Steven L.: Provisioning Paris: Merchants and Millers in the Grain and Flour Trade. Ithaca/London 1984. S. 67f. Vgl. zum Weizenbrand kurz Börner, Horst/Schlüter, Klaus/Aumann, Jens: Pflanzenkrankheiten und Pflanzenschutz. Heidelberg 82009. S. 7. Zu Tillets Forschungen Wehnelt, B.: Mathieu Tillet. Tilletia. Die Geschichte einer Entdeckung. o. O. 1937. S. 55. Zu den theoretischen Vorstellungen des 18. Jahrhunderts über diese Krankheit ibd. S. 64ff. Gleich 1756 erschien die Schrift unter dem Titel: Tillet, Mathieu: Précis des expériences qui ont été faites par ordre du Roi à Trianon, sur la cause de la corruption des bleds et sur les moyens de la prévenir à la suite duquel est une instruction propre à guider les laboureurs dans la manière dont ils doivent préparer le grain avant de le semer par. Paris 1756. S. 4. 1787 erschien eine zweite Auflage: Précis des expériences faites par ordre du roi, à Trianon, sur la cause des la corruptions des blés, Paris ²1787. Tillet, Précis des expériences qui ont été faites par ordre du Roi à Trianon, Préface, o. Pag. Ibd. o. Pag. Ebenfalls kurz zu den Experimenten Tillets im Trianon Antoine, Michel: Louis XV. Paris 2008. S. 423. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 342 Der chinesische Kaiser als Vorbild façons, sur des terreins en friches aux environs de Versailles, et des autres Maisons Royales ou va la Cour. Ces épreuves, en presence du Maître, ne manqueroient point de produire un très-bon effet quand meme elles ne réussiroient pas toutes. On ne peut trop honorer l’Agriculture; les Peuples qui en fait le plus de cas, ont été les plus florisants. On la prise si fort à la Chine que chaque année l’Empereur y fait en grande cérémonie, l’ouverture des terres.482 Der Empfang Tillets im Trianon im Sommer des Jahres 1756 kann gleichermaßen als Auftakt zur Planung eines Botanischen Gartens gewertet werden. Ab 1760 entstand durch den Architekten Ange-Jacques Gabriel (1698 – 1782) das Petit Trianon, dessen Garten als Ort für Experimente mit Glashäusern ausgestattet wurde. Insbesondere Pflanzen aus allen Erdteilen, aber auch Nutz- und Gemüsepflanzen wurden ab 1760 unter Antoine Richard (1734 – 1807) als Obergärtner kultiviert, beobachtet, und beschrieben. Reisende, wie Chevalier Etienne-François Turgot (1721 – 1789), der 1765 als Gouverneur aus Guyana zurückgekehrt war,483 oder Abbé Gallois, der 1765 aus China nach Frankreich heimkehrte, wurden vom König zu Berichten im Trianon empfangen und übergaben dem neuen Botanischen Garten Samen und Pflanzen. So gelangte über Gallois ein Mangobaum in die Sammlung des Trianon. Das Trianon als Rückzugsort des Königs avancierte somit immer stärker zu einem Ort des Wissensaustauschs und der Sammlung von Wissen zur Landwirtschaft und zur Botanik. Der König ließ sich in diesen Bereichen bereitwillig und für seine Untertanen wahrnehmbar unterrichten, denn das Journal de Paris berichtete regelmäßig darüber, wer die Ehre hatte, dem Monarchen neues Wissen zu präsentieren und zu vermitteln.484 Damit war das Trianon unter 482 De Menon Marquis de Turbilly, Louis-François-Henri: Memoire sur les défrichemens. Paris 1760. S. 294f. Bekannt ist die enge Zusammenarbeit Turbillys mit Bertin. Er gilt als Wegbereiter der Erschließung und Urbarmachung von neuem Land. Vgl. dazu Weulersse, Le mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 81 und S. 89. Zu Turbilly vgl. Bourde, Agronomie et agronomes en France au XVIIIe siècle, Bd. 1. S. 242 – 247, Bd. 2, S. 1100ff. Sauvy, Alfred/Hecht, Jacqueline: La population agricole française au XVIIIe siècle et l’expérience du marquis de Turbilly. In: Population 20ème année 2 (1965). S. 269 – 286. Erwähnung fanden die Experimente auch bei Pierre Jean-Baptiste Legrand d’Aussy: M. Tillet, de l’Académie des Sciences, a fait à Trianon, sous les yeux du roi défunt, plusieurs expériences sur les blés cariés. Il a découvert, avec l’aide du microscope, que ces taches noires qu’on appelle carie, n’étoient qu’une sorte de moisissure, une espèce de mousse ou de champignon qui s’implante dans le grain, et en dévore la substance en pénétrant jusqu’au germe qu’il infecte. Le physicien s’est assuré qu’une forte lessive, faite avec des cendres de bois neuf et de la chaux vive, détruisoit cette plante parasite. Il a publié le résultat de son travail; et son mémoire, imprimé au Louvre, a été envoyé par le gouvernement à tous les Intendants de Province. Legrand d’Aussy, Pierre Jean-Baptiste: Histoire de la vie privée des Français depuis l’origine de la nation jusqu’à nos jours. Bd. 1. Paris 1782. S. 31f. 483 Es handelt sich um den Bruder des späteren Finanzministers Anne Robert Jacques Turgot. Eine umfassende Biografie zu Chevalier Turgot sowie eine Zusammenstellung aller seiner Werke bietet Morel, Jean Paul: Poivre, Réaumur, et le chevalier Turgot. Paper 2010. S. 61 – 65. http://pierre-poivre.pagesperso-orange.fr/reaumur-turgot.pdf (gesehen am 10.05.2012). 484 Lamy, Gabriela: Les Jardins de Trianon à Travers la Presse. Les Progrès de la Botanique et de l’Horti­ culture vus par l’Avant-Coureur et le Journal de Paris (1760 – 1792). In: Henry, Christophe/Rabreau, Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 343 Ludwig XV. der Ort, an dem der König seine Kenntnisnahme landwirtschaft­lichen und botanischen Wissens bzw. sein Interesse daran demonstrierte, zelebrierte und repräsentierte. Für die Wissenschaftler und Reisenden, die zu einem Vortrag oder zu einem Experiment eingeladen wurden, war der Besuch im Trianon der Beginn der erhofften Förderung durch die notwendige Verflechtung von Wissenschaft und Regierung. Ludwig XV. unterstrich den Charakter noch zusätz­lich durch das Gemälde Cérès enseignant l’agriculture à Triptolème, das als Auftragswerk durch den Maler Louis Jean François Lagrenée (1724 – 1805) geschaffen und 1770 im Speisesaal des Petit Trianon aufgehängt wurde.485Auch der Förderung des Wissensaustauschs der Experten untereinander zeigte sich der König durch die Einrichtung des Botanischen Gartens in Paris 1755 und mit der Unterstützung der Initiativen von Turbilly, Bertin, Etienne-François Turgot und Poivre 1761 zur Gründung der Société Royale d’Agriculture de la Généralité de Paris gewogen. Schon zuvor, aber auch im Anschluss daran, wurden weitere Landwirtschaftsgesellschaften in unterschied­lichen Städten Frankreichs gegründet.486 Das Engagement des Königs für die Landwirtschaft rühmte der frühere Ratsherr von Montpellier und Dichter Pierre Fulcrand de Rosset (1709 – 1788) in seinem Gedicht L’Agriculture, das er 1774 König Ludwig XV. widmete.487 Im Vorwort heißt es überschwäng­lich: La France vit aussitôt éclor un grand nombre d’ouvrages sur l’Agriculture; Votre Majesté fit répeter sous ses yeux & sit Elle-même d’heureuses expériences, Elle ordonna que tous ses Sujets en fussent instruits, Daniel (Hg.): Le Public et la Politique des Arts au Siècle des Lumières. Célébration du 250 Anniversaire des Arts du Premier Salon de Diderot (Annales du Centre Ledoux, Bd. 8). Paris 2011. S. 413 – 425. Hier S. 416. 485 Zu den Implikationen des Gemäldes vgl. Kapitel 4.2.4.g). 486 Die landwirtschaft­lichen Gesellschaften Frankreichs verstanden sich als Institutionen der Zentralgewalt. Bertin ging es vor allem um die praktische Verbesserung des Landbaus. Moriceau, JeanMarc: Art. „Sociétés d’Agriculture“. In: Bély, Lucien (Hg.): Dictionnaire de l’Ancien Régime. Paris ²2003. Sp. 1169. Zur Entstehung der Gesellschaften Bourde, Agronomie et Agronomes en France au XVIII Siècle, Bd. 3, S. 1193ff. Midell, Katharina: Aufklärung und länd­liche Welt: Die Sociétés d’Agriculture in Frankreich und aufklärerische Ambitionen gegenüber dem Landmann. In: Bödeker, Hans-Erich/François, Etienne (Hg.): Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung (Deutsch-französische Kulturbibliothek, Bd. 5). Leipzig 1996. S. 375 – 398. Hier S. 379ff. Die französischen Gesellschaften waren jedoch weit weniger als die deutschen Träger einer Volksaufklärung und gestanden in ihren Schriften und Preisfragen dem Landmann kaum die Rolle eines Subjektes in der Gesellschaft zu. Ibd. S. 390ff. Turbilly gehörte zu den Initiatoren der landwirtschaft­lichen Gesellschaften in Tours und in Paris. Er war zudem Mitglied der Ökonomischen Gesellschaft in Bern. Veyret, Patrick M.: Un Gentilhomme cultivateur novateur: Louis-François-Henri de Menon, Marquis de Turbilly. In: Comptes rendus de l’Academie d’Agriculture de France: Agriculture, Alimentation, Environnement 54 (1968). S. 1263 – 1276. Hier S. 1271. Zum Publikationsorgan der Gesellschaft in Paris vgl. ab 1785 – 1791 Art. „Mémoires d’Agriculture“. In: Sgard, Dictionnaire des Journaux, Nr. 871, S. 789f. 487 Aus einem Brief von Anisson-Duperon vom 13. Juni 1780 geht hervor, dass das Gedicht auf Weisung Bertins in der Imprimerie Royale 1774 gedruckt und dieser aus dem Trésor Royal bezahlt wurde. Archives nationales, Paris, O1 610, Nr. 397. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 344 Der chinesische Kaiser als Vorbild l’exemple du Prince a rendu cultivateurs les Citoyens & les Grands du Royaume. […] Les Sociétés d’Agriculture formées dans les Provinces, sous votre protection, ont excité, instruit & avidé les cultivateurs. Das dazugehörige Frontispiz des Buches zeigte einen dankbar zur Sonne weisenden, pflügenden, älteren Landmann, der im Licht ein doppeltes, sich spiegelndes „L“, das könig­liche Monogramm, für Ludwigs Gunst und Gnade gegenüber den Bauern und dem Landbau erblickte (Abb. 18: Frontispiz).488 Mit dem Besitz eines Pflugs und dem hin und wieder persön­lich bekundeten Interesse des amtierenden französischen Königs für das Gedeihen des Getreides bzw. an der Landwirtschaft hatte sich auch Voltaires Hoffnung, die er im Zusammenhang mit einer ausführ­lichen Schilderung des kaiser­lichen Pflügens in China in seinem Artikel Agriculture im Dictionnaire Philosophique geäußert hatte, zumindest ansatzweise erfüllt: Que doivent faire nos Souverains d’Europe en apprenant de tels examples? Admirer et rougir, mais surtout imiter.489 Doch mit Ludwigs XV. Freude am Pflug im Garten des Trianon und seiner Einladung Tillets war längst noch kein neues und dauerhaftes Bewusstsein in die Herrschaftsauffassung und politischen Leitlinien des Monarchen gedrungen, das sich in einem kontinuier­lich wahrnehmbaren Engagement im Rahmen von Gesetzgebung, Initiativen zur Hebung des Bauerntums oder der nachhaltigen Unterstützung des Ackerbaus hätte zeigen können. Der Besitz des Pfluges implizierte längst noch nicht die von Voltaire angesprochene und erhoffte Imitation des umfassenden herrscher­lichen Wirkens der chinesischen Potentaten im Bereich des Landbaus durch die europäischen Herrscher. Der französische König erschien noch weit davon entfernt, wenn auch ansatzweise auf einem guten Weg. Auch das überbordende Lob Rossets für das bisher Erreichte und die erlangte Protektion Ludwigs XV. liest sich gleichfalls als Ermahnung gegenüber dem König, mit dem gezeigten Engagement fortzufahren, um die noch bestehenden Defizite zu beheben. Es bedurfte somit einer fortgesetzten Vermittlung der physiokratischen Inhalte, um eine nachhaltige Wirkung im Herrscherhaus zu erzielen. Eine interessierte Hinwendung zur Landwirtschaft zeigte auch die nächste ­Generation der Herrscherfamilie. In einer Gedenkrede, die am 20. Dezember 1779, dem 14. Todestag des verstorbenen Dauphin Louis Ferdinand (1729 – 1765) gehalten wurde, beklagte der Verfasser Abbé Edmond Cordier de Saint-Firmin den Verlust des Prinzen und rühmte die große Liebe des französischen Thronfolgers zur Landwirtschaft.490 Er schrieb: O sou488 Rosset, Pierre Fulcrand de: L’agriculture, poème. Paris ²1774. S. 6 (1. Aufl. auch 1774). Ludwig XV. hatte zuvor sein Einverständnis für eine Widmung gegeben. 489 Voltaire, Art. „Agriculture“. In: Ders.: Dictionnaire Philosophique (Œuvres complètes de Voltaire, Bd. 17). Paris 1878. S. 88. Voltaires Schilderung des kaiser­lichen Pflugrituals in China unter der Zwischenüberschrift De la grande protection due à l’agriculture folgte passagenweise exakt Cyr Contancins Bericht an seinen Ordensbruder Étienne Souciet in Paris vom 15. Dezember 1727, der in den Lettres édifiantes et curieuses publiziert worden war. Voltaire nannte seine Quelle nicht, hatte aber die Passagen in Anführungszeichen gesetzt. Ibd. S. 87f. 490 Cordier de Saint-Firmin, Edmond: Éloge du dauphin, père de Louis XVI, par M. l’abbé Cordier de Saint-Firmin, prononcé le 20 décembre 1779. Bruxelles/Paris 1780. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 345 pirs honorables pour la mémoire du Dauphin, que ceux des habitans de la campagne, qui avaient compté sur la protection de ce Prince, en abandonnant leurs foyers à l’usurpateur qui les en avait expulsés, & qui disputant à des barbares les dernieres gerbes destinées a ensemencer leurs terres, les avaient laissées incultes! Il n’est donc plus, s’écriaient-ils, ce bon Dauphin, qui arrosa de ses sueurs les sillons qu’avait tracés la charrue qu’il voulut conduire lui-même! Comme il aimait l’agriculture! comme il respectait nos héritages! Il n’est aucun de nous qui eût à se lamenter, en visitant sa vigne ou son champ, qui s’était rencontré sur le chemin de ce Prince.491 Den Ausführungen von Cordier de Saint-Firmin ist zu entnehmen, dass der Sohn Ludwigs XV. auf eigenen Feldern und Weingütern einer landwirtschaft­lichen Betätigung und sogar dem eigenhändigen Ziehen von Furchen mit dem Pflug nachgegangen war. Die Rede betonte, dass diese Arbeiten aus eigenem Antrieb des Prinzen geschahen. In einer Memorialrede ist immer auch eine Anlehnung an christ­liche Metaphorik zu erwarten. Im Fall des verstorbenen Thronfolgers konnte mit der erwähnten Neigung zum Landbau auch eine weitere metaphorische Aussage zum fruchtbaren Wirken des Prinzen auf der Erde und seinen hinterlassenen Spuren im Weinberg Christi verbunden werden. Da sich aber darüber hinaus auch andere Quellen zum Lob von ackerbau­lichen Arbeiten des Prinzen gefunden haben, kann die Aussage der Memorialrede durchaus als Hinweis auf sein Interesse an der Landwirtschaft interpretiert werden.492 So wurde beispielsweise die undatierte Denkschrift eines Monsieur de Malassise zur Verbesserung der Landwirtschaft in Frankreich an M. Le Dauphin de France gerichtet. Die Denkschrift unterstrich in der Einleitung das landwirtschaft­liche Fachwissen und die eigenen Feldarbeiten des künftigen Königs.493 Der Fachmann richtete seine Vorschläge also an den könig­lichen Experten. Die eigene landwirtschaft­liche Tätigkeit des Kronprinzen gehörte ganz offensicht­lich zu den wesent­lichen Aspekten seiner Person und seines Wirkens im Leben, die den Zeitgenossen hinreichend vertraut und bedeutsam erschienen war, so dass darauf selbst nach 14 Jahren in der Gedenkrede leicht darauf verwiesen werden konnte. Die Memorialrede bietet somit einen wichtigen Hinweis auf eine mög­liche Kontinuität erster Erfahrungen mit eigenhändiger bäuer­licher Arbeit in drei Generationen im Haus Bourbon.494 491 Ibd. S. 37f. 492 Ein Bericht über den Tod und die Bestattung von Louis Ferdinand findet sich in den Archives nationales unter der Signatur O1 1044, Nr. 93. Er ergab jedoch keine weiteren Hinweise auf ein exponiertes Interesse des verstorbenen Kronprinzen. Andere Gedenkreden, die im Land und am Hof im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tod des Dauphin gehalten wurden, bieten keine weiteren Anhaltspunkte zur landwirtschaft­lichen Betätigung des Kronprinzen. Zwar wird die Sorge des Dauphin um seine zukünftigen Untertanen gepriesen, der Ackerbau spielte hingegen keine Rolle. So beispielsweise Caveirac: Christ­liche Lobrede auf Seine König­liche Hoheit, Ludwig, den verstorbenen Kronprinzen von Frankreich. Augsburg 1767. 493 Archives nationales, Paris, M 784, Nr. 10,2: A M. Le Dauphin de France, undatiert, um 1758? 494 Inwieweit Louis Ferdinand vom Kreis der Physiokraten beeinflusst war, ist unklar. Zu Madame de Pompadour besaß er ein schlechtes Verhältnis. Kontakte zu Physiokraten konnten nicht nachgewiesen werden. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 346 Der chinesische Kaiser als Vorbild Eine Bestätigung der Inhalte der Memorialrede findet sich auch in der im Jahr 1777 von Liévin-Bonaventure Proyart (1743 – 1808) vor Ludwig XVI. präsentierten und im gleichen Jahr publizierten Lebensbeschreibung des verstorbenen Kronprinzen unter dem Titel Vie du Dauphin, père de Louis XVI . Proyart schilderte eindrück­lich die große Begeisterung Louis Ferdinands für die Landwirtschaft und die Bauern: Zudem habe er bei der Jagd immer darauf geachtet, niemals ein Feld zu zerstören: L’Agriculture parut au Dauphin un objet digne de toute son attention. Il protégea, en plusieurs occasions, ces Sociétés qui ont travaillé avec tant de succès à perfectionner cet art, la source des vraies richesses d’un Etat. Il reçut leurs mémoires, & les lut avec plaisir. Il appelle les Laboureurs, « une classe d’hommes utile & précieuse à la société. Il faut, dit-il, que les Laboureurs, sans être riches, soient dans un état d’aisance, & ne craignent point, en rentrant des champs au logis, de trouver les Huissiers a leurs portes: prétendre s’enrichir en les dépouillant, c’est tuer la poule qui pond des œufs d’or ». Comme on lui représentoit que ses revenus étoient trop bornés, & qu’à son âge, le Dauphin, fils de Louis XIV, avoit cinquante mille francs par mois pour sa cassette: « il ne me seroit pas difficile, répondit-il, d’obtenir du Roi la même somme: mais comme je ne la recevrois que pour la donner, j’aime mieux que le pauvre Laboureur en profite, & qu’elle soit retranchée sur ses tailles ». Il avoit coutume de dire qu’il étoit plus jaloux d’être aimé des Paysans que des Courtisans. Quelquefois, pendant les voyages du Roi, il prenoit plaisir à se faire raconter ce que disoient de lui les habitans des campagnes: on lui rapportoit un jour qu’un Laboureur Picard après s’être expliqué fort cavaliérement sur le compte de quelques Seigneurs de la Cour, avait ajouté qu’il aimeroit toujours M. le Dauphin, parce que à la chasse il n’entroit point dans les terre encore couvertes de leurs moissons. « N’admirez-vous pas ces bonnes gens, dit alors le Dauphin à l’Abbé de Saint-Cyr, ils nous aiment parce que nous ne leurs faisons point de mal; & des Courtisans rassasiés de nos bienfaits, n’ont pour nous que de l’indifférence ». Aucun Laboureur en effet n’eut jamais à se plaindre que ce Prince eût causé le moindre dommage dans son champ. Un jour qu’il chassoit avec le Roi dans les environs de Compiegne, son cocher vouloit traverser une piece de terre dont la moisson n’étoit pas encore levée; s’en étant aperçu, il lui cria de rentrer dans le chemin: le Cocher lui observa qu’il n’arriveroit pas à tems au rendez-vous. « Soit, répliqua le Prince, j’aimerois mieux manquer dix rendez-vous de chasse, que d’occasionner pour cinq sols de dommage dans le champ d’un pauvre Paysan ». Belle leçon pour ces Seigneurs qui se croyent tout permis dans leurs terres, parce qu’ils y peuvent tout impunément, & que leurs vasseaux, dans la crainte de plus grands maux encore, n’osent demander justice de ceux dont ils les font gémir.495 Daneben ist auch das bestehende Interesse von Louis Ferdinand an der Landwirtschaft in künstlerischer Hinsicht belegt: Der Sohn Ludwigs XV. beauftragte Jean-Baptiste Oudry (1686 – 1755) mit dem Gemälde La Ferme. Es wurde auf dem Pariser Salon 1750 ausgestellt. 495 Proyart, Liévin-Bonaventure: Vie du Dauphin, père de Louis XVI. Ecrite sur les Mémoires de la cours, présentée au Roi et à la famille royale. Paris ²1778. S. 151 – 153. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 347 Der Salon hatte sich in dem Jahr dem Thema des Ackerbaus verpf­lichtet. In seinem Tableau de Mr. le Dauphin erläuterte der Maler dem künftigen König sein Bild in allen Einzelheiten. Er hatte sämt­liche ackerbau­liche Tätigkeiten in und um ein Gehöft dargestellt.496 Eine durch unterschied­liche Quellengattungen besser belegte und fassbare sowie zudem in ihrer Qualität deut­lich gesteigerte Fortsetzung landwirtschaft­lichen Interesses folgte mit dem Sohn Louis Ferdinands: Am 15. Juni 1768 führte der 14-jährige Enkel des Königs Ludwig XV. und aktuelle Thronfolger Louis Auguste auf einem Acker in der Nähe von Versailles, der nicht näher bekannt ist,497 selbst den Pflug. Die Physiokraten deuteten das eigenhändige Pflügen des Dauphin als ihren Erfolg, den sie in ihrer Zeitschrift Ephémérides du Citoyen im Juli 1768 mit der Publikation eines anonymen Briefes vom 16. Juni 1768 aus Versailles feierten. Der Anonymus, der das Geschehen einen Tag später exakt schilderte, hob unter Verweis darauf, dass die Physiokraten ja immer glaubten, dass es nötig sei, nach China zu gehen, wenn man sehen wolle, dass erhabene Hände den Pflug bedienten, das spontane Interesse des Kronprinzen an der Arbeit eines Bauern auf dem Feld während seiner Promenade hervor. Nach eingehender Beobachtung des Bauern habe er selbst den Pflug zu führen begehrt und sich zum Erstaunen aller sofort als fähiger Pflüger erwiesen: Sans doute vous croyez toujours, Monsieur, qu’il faut aller à la Chine, si l’on veut voir des mains augustes manier la charrue? Eh bien! Détrompez vous: Monseigneur le Dauphin, nous donna ce spectacle aussi attendrissant, qu’interessant. Ce Prince dirigea sa promenade vers un champ qu’on labourit; il examina quelque temps la manoeuvre; & demanda ensuite à conduire lui-même la charrue: ce qu’il exécuta avec autant de force que d’adresse, au point que le laboureur soit étonné, comme les spectateurs, de sa profondeur du sillon, de la justesse de sa direction. L’intérêt que vous prenez M. à l’agriculture, vous sera gouter autant de plaisier en lisant cette nouvelle, que j’ai de satisfaction à vous la mander. Je vais mettre le comble à l’un & à l’autre trait, qui sait l’éloge du coeur de se jeune & Auguste Prince, comme le premier sait celui de ses gouts. […].498 Der anonyme Verfasser bedient die Pläne und Hoffnungen der Physiokraten so genau, dass die Annahme eines fingierten Schreibens berechtigt erscheint. Gerade Leserbriefe bzw. Einsendungen von Lesern wurden oftmals von den Herausgebern von Zeitungen oder Zeitschriften erfunden, um künst­lich Dispute in ihren Blättern zu unterstützen oder bestimmte Meinungen zu untermauern und zu festigen.499 Das Periodikum unterstand 496 Öl auf Leinwand, 130 x 212 cm. Vgl. Lambert, Gisèle: Paysages, paysans. L’art et la terre en Europe du Moyen Âge au XX siècle. Paris 1994. S. 174f. Kat. Nr. 150. Vgl. auch Martin, Meredith: Dairy Queens. The Politics of Pastoral Architecture from Catherine De’ Medici to Marie-Antoinette (Harvard Historical Studies, Bd. 176). Cambridge 2011. S. 177f. 497 Zum mög­lichen Ort des Geschehens folgen im Verlauf des Kapitels Überlegungen. 498 Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Juillet 1768. S. 9 – 11. Hier S. 9f. 499 Zum Leserbrief vgl. Faulstich, Werner: Die bürger­liche Mediengesellschaft (1700 – 1830) (Die Geschichte der Medien, Bd. 4). Göttingen 2002. S. 83 – 86. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 348 Der chinesische Kaiser als Vorbild bis 1768 der redaktionellen Betreuung von Abbé Baudeau, ab 1769 Du Pont de Nemours. Unter der Rubrik Événements publics listeten die beiden Herausgeber regelmäßig sehr genau Gesetzesentwürfe oder sonstige praktische Regierunghandlungen europäischer Fürsten auf, die mit ihren Lehren konform gingen oder auf ihrer Vermittlung basierten.500 Die Rubrik, die grundsätz­lich den Auftakt einer jeden Ausgabe der Ephémérides bildete, diente als Dokumentation des Erfolges physiokratischer Vermittlungsstrategien in ganz Europa. Die stichprobenhafte Untersuchung der unter dieser Rubrik aufgenommenen Beispiele fürst­licher Anstrengungen zur Umsetzung physiokratischer Ziele ergibt den Befund, dass die Berichte entweder mit den jeweiligen Monarchen abgestimmt oder sogar von ihnen selbst veranlasst worden waren. Dies soll an einem Beispiel nachgewiesen werden: Marquis de Mirabeau dankte Karl Friedrich von Baden in seinem Brief vom 12. Januar 1772 für die Übersendung eines Manuskripts des Markgrafen (des späteren Abrégé de l’économie politique) und bat den deutschen Fürsten, es in den Ephémérides veröffent­lichen zu dürfen: J’aurais à cet égard une permission à Lui demander; c’est que l’année 1772 des Ephémérides pût commencer par un tel morceau. C’est, Monseigneur, au nom de toute la société oeconomique et, nous l’osons dire, au nom de l’humanité entière, que nous Vous demandons cette grâce-là.501 Karl Friedrich erteilte seine Zustimmung zur Publikation: Je dois donc laisser entièrement à votre disposition, Monsieur, ce qui est de lui donner une place dans les Ephémérides du Citoyen.502 Der badische Markgraf war einer Präsentation seiner Schrift in einem öffent­lichen Printmedium, das zudem als ökonomisches Fachblatt von zahlreichen Monarchen in Europa zur Kenntnis und ernst genommen wurde, nicht abgeneigt. Im Gegenteil, er schien geschmeichelt.503 Die Physiokraten wiederum fanden darin die Auseinandersetzung eines Fürsten mit den Leçons oeconomiques von Mirabeau, die dieser dem badischen Markgrafen 1770 zugesandt hatte.504 Die Schrift des Markgrafen erschien als Auftakt der Juniausgabe unter dem Titel Abrégé des principes de l’Économie Politique par S. A. S. Monseigneur le Margrave 500 Goutte, Éphémérides du citoyen, S. 155f. 501 Marquis de Mirabeau an Carl Friedrich, 12. Januar 1772. In: Knies, Brief­licher Verkehr, Bd. 1, Nr. 24, S. 56. 502 Karl Friedrich an den Marquis von Mirabeau [ohne Datum]. In: Knies, Brief­licher Verkehr, Bd. 1, Nr. 25, S. 58. Mirabeau teilte Karl Friedrich am 14. Juni 1772 brief­lich mit, dass sein Werk nun erschienen sei. In: Knies, Brief­licher Verkehr. Bd. 1, Nr. 26, S. 58. 503 Karl Friedrich hatte 1767 die Epémérides du Citoyen kennengelernt. Landgraf, Gerald Maria: „Moderate et prudenter“ – Studien zur aufgeklärten Reformpolitik Karl Friedrichs von Baden (1728 – 1811). (Diss.) Landsberg a. L. 2008. S. 67. Der Markgraf schrieb an Marquis von Mirabeau in einem undatierten Brief [Frühjahr 1770] zu den Ephémérides: J’aurais dû vous prévenir, Monsieur, des lectures que j’ai faites, en vous disant que je possède les Éphémérides du citoyen depuis leur commencement, et que j’en ai lu la plus grande partie; que j’ai lu de même la Philosophie rurale et les Éléments, qui en sont un extrait ainsi que la Physiocratie. In: Knies, Brief­licher Verkehr, Bd. 1, Nr. 7, S. 38. Landgraf, Moderate et prudenter, S. 67. 504 Knies, Brief­licher Verkehr, Bd. 1, Nr. 39, S. 126. Metzler, Markgraf Karl Friedrich von Baden und die französischen Physiokraten, S. 48f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 349 Régnat de Bade.505 Der Artikel war mit einer aufwändigen Vignette geschmückt, die das Wappen des fürst­lichen Autors hervorhob, das von der Darstellung eines pflügenden Bauern und eines wohlhabenden Dorfes flankiert wurde. Die von den Physiokraten aufgeführten Berichte über das Handeln von Fürsten im Sinne ihrer Lehre können somit nicht als Fiktion der Herausgeber, sondern vielmehr als Tatsachen, jedoch als gezielte Propaganda der économistes für fürst­liche Reformprojekte eingeordnet werden, die gemäß ihrer Lehre initiiert wurden, oder als Selbstinszenierung der jeweiligen Monarchen als ökonomisch und landwirtschaft­lich versierte Kenner. Das physiokratische Fachblatt schmückte sich nicht nur mit seinem Einfluss auf die Reformen europäischer Potentaten, auch die Fürsten unterschied­licher europäischer Staaten bedienten sich des Blattes für ihre Prestigezwecke, um zu beweisen, dass sie über zeitgemäßes Wissen und entsprechende Fähigkeiten verfügten, die ihr politisches Handeln im agrarisch-ökonomischen Bereich bestimmte. Sie dokumentierten damit nach außen, dass die Forderungen nach einem erweiterten ökonomischen und speziell landwirtschaft­lichen Herrschaftsverständnis in ihr Selbstverständnis integriert worden waren. Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass der anonyme Bericht über das eigenhändige Pflügen des Dauphin im Juni des Jahres 1768 durchaus den Tatsachen entsprach, die Publikation des Geschehens allerdings nicht nur den Interessen der Physiokraten, sondern auch denen des Hofes entsprochen haben mag. Dieser Aspekt soll nachfolgend näher geprüft werden. Pierre-Henri Goutte geht davon aus, dass es sich bei dem anonymen Brief aus Versailles um einen eigenhändigen Text des Dauphin handelt, den dieser zur Publikation freigegeben habe.506 Dies erscheint allerdings mehr als unwahrschein­lich, da der 14-jährige Kronprinz kaum einen weitschweifend panegyrischen Text auf sich selbst in der dritten Person verfasst und zur Publikation freigegeben hätte. Inhalt und Anordnung des Textes hätten dann eher im Stil einer Selbstverpf­lichtung im Sinne eines künftigen politischen Programms, nicht jedoch als lobende Hervorhebung einer eigenen Handlung erscheinen müssen. Der Brief aus Versailles stellte dem zeitgenössischen Leser einen äußerst wachen künftigen König Frankreichs vor, der während seines Spaziergangs nicht unachtsam an einem pflügenden Bauern vorbeigegangen war, sondern sich für die Arbeit seiner Untertanen interessierte und durch genaue Beobachtung sich in der Lage zeigte, sie innerhalb kurzer Zeit selbst mit Geschick und Kraft auszuführen. So stand der französische Kronprinz in nichts dem offensicht­lich allgemein bekannten Beispiel des chinesischen 505 Karl Friedrich, Markgraf von Baden: Abrégé des Principes de l’Économie Politique. In: Ephémérides du citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Janvier 1772. S. 1 – 51. Zum rückwirkenden Einfluss der Schrift Karl Friedrichs auf Du Pont vgl. Priddat, Birger P: Die Änderung der physiokratischen Konzeption 1775. Karl Friedrichs von Baden-Durlach „Abrégé“ und Pierre Samuel Du Ponts de Nemours „Table raisonnée“. In: Vierhaus, Rudolf (Hg.): Aufklärung als Prozess (Aufklärung, Bd. 2,2). Hamburg 1988. S. 113 – 133. 506 Auf eine Begründung der Annahme verzichtet Goutte. Goutte, Éphémérides du citoyen, S. 154. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 350 Der chinesische Kaiser als Vorbild Kaisers nach. Der Brief beweist einmal mehr, dass seitens der Physiokraten von einer starken Präsenz des Motivs des pflügenden chinesischen Kaisers in der französischen Öffent­lichkeit ausgegangen wurde, auf das sich deshalb leicht ein Vergleich gründen ließ. Das bekannte Motiv des chinesischen Kaisers ermög­lichte es, die entweder spontane oder im Kontext einer Erziehungsmaßnahme ausgeführte landwirtschaft­liche Tätigkeit des jungen Prinzen aus ihrer Banalität zu heben und ihr eine herrscher­liche Bedeutung und damit vorbildhafte Würdigung zu geben. Der Leser erfuhr, dass Europa nun mit dem jugend­lichen Dauphin Frankreichs einen gleichrangigen, ebenso fähigen, die Landwirtschaft ehrenden zukünftigen Monarchen besaß, der das etablierte Beispiel aus der fremden chinesischen Kultur ablöste und durch das französische ersetzte. Dem Brief in den Ephémérides du Citoyen gelang die Nationalisierung des Motivs des pflügenden Monarchen. Der anonyme Autor lag deshalb in seiner Einschätzung vollkommen richtig, dass sein Bericht Du Pont als Herausgeber der Ephémérides du C ­ itoyen besonders freuen musste, bestätigte er doch, dass dem künftigen Herrscher Frankreichs die Bedeutung der Landwirtschaft offensicht­lich geläufig war. Mit ihm war ein, wenn nicht der wichtigste Adressat der physiokratischen Theorie erreicht worden: der künftige Herrscher. Die Bemühungen der physiokratischen Vermittlung, so bewies der Bericht, zeigten Spuren. Spuren, die allerdings kaum wahrgenommen oder sofort verwischt worden wären, hätte nicht der anonyme Bericht die Öffent­lichkeit darüber informiert und so eine Kenntnisnahme und mediale Weiterverbreitung initiiert. Erst durch die schrift­lichen Berichte und visuellen Fixierungen, so lautet deshalb die These für die nachfolgenden Untersuchungen, fand das Geschehen überhaupt öffent­liche Beachtung und avancierte im Nachhinein zu einer erwähnenswerten und zunehmend bekannten höfischen Angelegenheit. Wer initiierte die öffent­liche Berichterstattung über die praktischen landwirtschaft­lichen Versuche des Dauphin? Wem nützte das Wissen darüber? Wie war das Pflügen einzuordnen?507 Der anonyme Autor des Berichts musste entweder selbst dem engeren Zirkel des Kronprinzen angehören oder zumindest für seine Informationen Zugang zu einer Person dieses Kreises besessen haben, denn er war offensicht­lich mit dem Tagesablauf und den üb­lichen Spaziergängen oder -fahrten des Dauphin vertraut. Dies ergibt sich aus einem Blick in das Tagebuch des Kronprinzen. Der Eintrag im Diarium weist nicht auf eine größere höfische Interaktion hin, bei der ihm eine maßgeb­liche Rolle zugedacht gewesen wäre. Im Gegenteil, er notierte zum Mittwoch, dem 15. Juni 1768 nur seine alltäg­liche Promenade. Eine Unterbrechung des Spaziergangs oder der Ausfahrt und seine Erfahrungen am Pflug blieben hingegen unerwähnt. Im Spiegel der äußerst knappen, immer stichwortartigen Einträge seines Journals schien sich die Promenade vom 15. Juni in keiner Weise von denen der vorangegangenen Tage unterschieden zu 507 Vgl. dazu das nachfolgende Kapitel. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 351 haben.508 Auch wenn die Aufzeichnungen von Louis Auguste zu seinen Interessen oder Vorlieben außerhalb der Jagd und der Spaziergänge ebenso wie zu seinen Versuchen bäuer­licher Arbeit beharr­lich schweigen, ist dennoch nicht davon auszugehen, dass es sich bei der Pflugszene um eine Fiktion handelt. Die fehlenden Reflexionen des Prinzen zum eigenhändigen Pflügen müssen nicht als Indiz für die geringe persön­liche Bedeutung des Geschehnisses gewertet werden, da im Diarium auch keine Bezüge zu seinen bevorzugt ausgeübten Handwerken hergestellt werden. Der Blick in das Tagebuch des Dauphin bestätigt aber immerhin den Kontext, in dem das Pflügen laut des Berichts in den Ephémérides du Citoyen stattgefunden haben muss: im Rahmen einer der üb­lichen Promenaden.509 Ein Anhaltspunkt lässt dennoch auf eine gezielte Veröffent­lichung des eigenhändigen Pflügens aus dem Kreis der Physiokraten schließen: Der Anonymus hatte seinen Brief an den Herausgeber der Ephémérides du Citoyen mit der üb­lichen Grußformel Je suis, &c. und einer Initiale A beendet. Quesnay war die Initiale A oder Alpha für Artikel in der Zeitschrift zugeordnet.510 Es kann also berechtigt angenommen werden, dass Quesnay selbst den Bericht für die Publikation in der Zeitschrift verfasst hatte. 508 Beauchamp, Raymond de (Hg.): Journal de Louis XVI. o. O. [1902]. S. 35. Es handelt sich dabei um eine unvollständige Edition des Tagebuchs Ludwigs XVI., 1766 – 1778. Louis Auguste nutzte über viele Jahre, auch später als König, sein Diarium zur Dokumentation für die Bereiche der eigenen Lebensführung, die ihm eine Unterbrechung oder einen partiellen Rückzug von den offiziellen Pf­lichten seiner Funktion ermög­lichten. So dominieren die Aufzeichnungen die regelmäßigen Spaziergänge oder -fahrten bzw. die Jagden, seine Abwesenheiten von Versailles bzw. wenige Theaterstücke und gewähren damit einen Blick auf ein vorsichtiges Maß an Individualität des jugend­lichen Prinzen, der das eigene Ich mit spezifischen Vorlieben zum bevorzugten Gegenstand seiner Notizen erhob. Tagebücher fallen unter die Gattung der Selbstzeugnisse. Vgl. Jacobsen, Roswitha: Fürstentagebücher als Quellengattung, ihre Edition und Erforschung. In: Dies.: Friedrich I. von Sachsen-Gotha und Altenburg. Tagebücher 1667 – 1686. Bd. 1. Weimar 1998. S. 11 – 47. Hier S. 11. In Selbstzeugnissen stellen sich Personen in Wort und Bild dar, sei es in Momentaufnahmen, sei es in längeren oder kürzeren Längsschnitten durch das eigene Leben. Selbstzeugnisse sind somit Quellen, in denen der Verfasser sich als Gegenstand des Interesses thematisiert. Der Verfasser tritt in den Text selbst handelnd ein, tritt darin in Erscheinung oder nimmt darin auf sich Bezug. Klaus Arnold/Sabine Schmolinsky/Urs Martin Zahnd (Hg.): Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit (Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden Neuzeit, Bd. 1). Bochum 1999. Einleitung. S. 13ff. 509 Der Aufenthalt und die Bewegung an frischer Luft erhielt ab Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue Bedeutung für die Gesundheit. Vgl. dazu Oxenius, Katharina: Vom Promenieren zum Spazieren: Zur Kulturgeschichte des Pariser Parks (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 79). Tübingen 1992. König, Gudrun: Eine Kulturgeschichte des Spazierganges: Spuren einer bürger­lichen Praktik 1780 – 1850 (Kulturstudien, Sonderband, Bd. 20). (Diss.) Wien/ Köln/Weimar 1996. 510 Sgard, Dictionnaire des journaux, Nr. 377, S. 353. Die Vermutung, dass es sich um Quesnay handeln könnte, findet sich schon bei Weulersse. Weulersse, Mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 161f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 352 Der chinesische Kaiser als Vorbild Es ging einigen Mitgliedern aus dem Kreis der Physiokraten, insbesondere Quesnay und Du Pont, gerade im Jahr 1768 gezielt darum, dem Dauphin ihr wichtigstes Publikationsorgan, die Epémérides du citoyen, zu dedizieren und ihn wegen der zunehmenden Kritik an den Freihandelsgesetzen für Getreide und den Hungersnöten als Protektor der Zeitschrift bzw. der gesamten physiokratischen Lehre zu gewinnen.511 Ihre Bestrebungen, den König bzw. seinen Sohn Louis Ferdinand von der öffent­lichen Protektion ihrer Lehren zu überzeugen, waren gescheitert. Ludwig XV. verhielt sich gegenüber der Bitte um eine offizielle Protektion der économistes passiv.512 Es war ihnen zwar bisher gelungen, mit dem König und seinem Umfeld rege zu kommunizieren, doch es fehlte der entscheidende Schritt, ihre agrarökonomischen Ansichten in das Bewusstsein des Herrschers einzugliedern und nachhaltig in seinem Handeln zu etablieren. Quesnay und Du Pont erkannten, dass sie nicht nur die öffent­liche Meinung argumentativ von der Richtigkeit ihrer Lehre überzeugen, sondern dieser Öffent­lichkeit den Beweis erbringen mussten, dass ihre Argumente an höchster Stelle willkommen waren und ernsthaft gehört wurden. Erst dann konnten sie sich erhoffen, mit ihrer Lehre wirksam im politischen und ökonomischen Feld korrigierend eingreifen zu können, um die Effizienz der Landwirtschaft so schnell wie mög­lich zu steigern. Die beiden Physiokraten beabsichtigten deshalb, die erhoffte könig­liche Förderung dadurch zu erlangen, indem sie den Kronprinzen sichtbar an die Spitze ihrer Bewegung stellten. Dafür bedurfte es eines Aktes, der die Neigung des Prinzen für die Landwirtschaft glaubhaft und plakativ offenbarte. Mit dem Tod von Madame de Pompadour war offensicht­lich der Kontakt zum König schwieriger geworden. Die Verbindung zum Dauphin knüpften die Physio­kraten über Zugleich folgt die äußerst knappe Darstellung und monotone Wiederholung der Promenaden und Jagden kaum der sich im 18. Jahrhundert etablierenden ausführ­lichen Reflexionen des Individuums in Tagebüchern, sondern noch eher den stereotypen, stichwortartigen und oft formalisierten Notizen der Schreibkalender des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Doch auch mit den knappen Bemerkungen der Schreibkalender erfolgte nach Helga Meise eine individuelle Aneignung und jederzeit mög­liche Vergegenwärtigung von Ereignissen, von denen der Verfasser die Details ja sehr genau kannte. Die Aufzeichnungen dienten primär der eigenen Erinnerung oder der Konstituierung von Kontinuitäten und zielten nicht auf ein Lesepublikum in späteren Generationen der Dynastie. Vgl. zur Form der Einträge in Schreibkalendern Meise, Helga: Das archivierte Ich. Schreibkalender und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624 – 1790 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission, N. F. 21). (Habil.) Darmstadt 2002. S. 31ff und S. 93f. 511 Schelle, Docteur Quesnay, S. 341. Es ging ihnen nicht um das allgemeine könig­liche Privileg, als Blatt überhaupt erscheinen zu dürfen, sondern um ein ausdrück­liches Wohlwollen der Krone gegenüber den Inhalten. Zu den Abhängigkeiten von Presseerzeugnissen von den Privilegien der Krone vgl. grundsätz­lich Schultheiß-Heinz, Sonja: Politik in der europäischen Publizistik. Eine historische Inhaltsanalyse von Zeitungen des 17. Jahrhunderts (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte, Bd. 16). (Diss.) Wiesbaden 2004. S. 52ff. Zu den Diskussionen um Formen und Ziele öffent­licher Meinungsäußerungen in Frankreich ab den 1750er Jahren vgl. Baker, Keith Michael: Politics and Public Opinion Under the Old Regime. In: Censer, Jack R./Popkin, Jeremy D. (Hg.): Press and Politics in Pre-Revolutionary France. Berkeley/Los Angeles 1987. S. 204 – 246. Hier S. 213ff. 5 12 Oncken, Quesnay, FN 1 zu Lettre du propriétaire à son fermier, S. 693ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 353 den Sohn des Prinzenerziehers, Paul François de Quelen de La Vauguyon (1746 – 1828), den späteren Duc de Saint-Mesgrin.513 Er war zugleich einer der so genannten Menins, einer der sechs Ehrenkavaliere des Kronprinzen. Abbé Baudeau bat ihn, für die Ephémérides du Citoyen im Januar 1768 eine Kritik zu der gerade erschienenen Komödie Les Moissonneurs von Charles Simon Favart zu verfassen.514 Der junge Mann schrieb die gewünschte Kritik für die Zeitschrift und vermittelte sehr wahrschein­lich auch den Kontakt zwischen den Physiokraten und seinem Vater. Mit dem jungen Paul François Duc de La Vauguyon hatte der Kreis der Physiokraten eine wichtige Kontaktperson am Hof und vor allem im engsten Umkreis des künftigen Königs erhalten. Unklar ist, ob Quesnay dem Erzieher des Kronprinzen, Antoine de Quelen Duc de La Vauguyon, das eigenhändige Pflügen des künftigen Königs vorgeschlagen bzw. die Voraussetzungen dafür mitorganisiert hatte und ob er selbst dabei anwesend war.515 Die Strategie, den Dauphin so offen in die Verbreitung der physiokratischen Lehre einzubinden und ihm mittels des gezielt gesetzten Berichts über sein eigenhändiges Pflügen in den Ephémérides zu huldigen, spaltete die Gruppe der économistes. Abbé Nicolas Baudeau vewehrte sich gegen dieses Vorgehen, denn ihm lag als Herausgeber stark an der Unabhängigkeit des Publikationsorgans.516 Die geteilten Auffassungen über das strategische Vorgehen hinsicht­lich der Eigenwerbung und der Formen, wie die Protektion durch den künftigen König zu erlangen sei, führten zu einem Wechsel in der Position des Herausgebers im Mai 1768.517 Der anonyme Brief aus Versail5 13 Kurz erwähnt bei Weulersse, Mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 157 und S. 161. 514 Favart, Charles Simon: Les moissonneurs: comédie en trois actes et en vers […]. Paris 1768. Die Kritik Paul François de La Vauguyons, als Brief d’un jeune Seigneur de la Cour konzipiert, findet sich in den Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Février 1768. S. 203 – 212. La Vauguyon hob hervor, dass es sich bei dem Stück um ein neues Dramengenre handle, in dem die Rolle der Natur betont werde, die den Menschen zum Edlen und Guten erziehe sowie die Richtlinien für einen funktionierenden Staat aufstelle. Der junge Rezensent erhielt die Initiale „D“ für Artikel in den Ephémérides du Citoyen. Ibd. S. 204. 515 Der Blick in die Honorarzahlungen, die an Personen entrichtet wurden, welche im Rahmen der Erziehung des Dauphins Dienstleistungen vollbrachten, zeigt, dass die Physiokraten nicht aufgeführt sind. Bei der Organisation und Durchführung des eigenhändigen Pflügens von Louis Auguste handelte es sich somit nicht um einen Auftrag des Hofes an Quesnay oder Du Pont. Archives nationales, Paris, O1 3744, 3785f. 516 Hans Erich Bödeker betont, dass sich im deutschen und französischen Pressewesen Ansätze zu Vorstellungen von Pressefreiheit etablierten, welche die öffent­liche Meinung vor allem als gegengouvernementale Gewalt und die Zeitungen als Medien der unabhängigen Willensbildung betrachteten. Bödeker, Hans Erich: Zeitschriften und politische Öffent­lichkeit. Zur Politisierung der deutschen Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Ders./François, Etienne (Hg.): Aufklärung/Lumières. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung (Deutsch-französische Kulturbibliothek, Bd. 5). S. 209 – 234. Leipzig 1996. Hier S. 229. 517 Der Wechsel fiel zeitgleich auch mit dem Angebot Baudeaus zusammen, als Berater nach Polen zu gehen. Weulersse, Mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 103 – 106, S. 128, S. 169 – 164. Oncken, Quesnay, S. 693. Skrzypek, Marian: Baudeau historien et réformateur de la Pologne. In: Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 354 Der chinesische Kaiser als Vorbild les mit dem Bericht über das Pflügen des Dauphin erschien also bereits unter der Herausgeberschaft von Du Pont. Das Vorgehen Quesnays und Du Ponts entsprach jedoch genau dem chinesischen Vorbild, das Quesnay in seinem Werk Despotisme de la Chine bewundernd skizziert hatte: Der Monarch stand mit sichtbaren Handlungen an der Spitze der Gesellschaft und brachte der Landwirtschaft seine Verehrung und Förderung entgegen. Zugleich unterrichtete er sein Volk durch öffent­liche Vermittlung über Publikationen zu entsprechendem Verhalten. Somit ist verständ­lich, dass Quesnay in den Ephémérides du Citoyen weniger ein freies als ein intentionales Organ sah, das gezielt die physiokratische Lehre unter könig­licher Protektion vermitteln und damit nach chinesischem Vorbild instruierend wirken bzw. zur Nachahmung animieren sollte. Quesnays und Du Ponts Ziel bestand darin, mit der Zeitschrift ein wirtschaft­liches und politisches Publikationsorgan zu installieren, das sich vollkommen in den Dienst der Krone stellte. Es handelte sich somit um eine physiokratische Legitimations- und Lenkungsstrategie gegenüber der öffent­lichen Meinung, für die sie den künftigen König zu instrumentalisieren suchten. Die Physiokraten vermittelten nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihre Interessen. Ihre Intention war jedoch nicht sichtbar von Erfolg gekrönt: Der Dauphin übernahm nach seinem eigenhändigen Pflügen die erbetene Protektion der Zeitschrift der Physiokraten nicht. Er hatte somit dem Bedürfnis der Schule nicht entsprochen, sie durch seine landwirtschaft­ liche Tätigkeit öffent­lich zu würdigen.518 An der angewandten Strategie zeigt sich aber, dass Quesnay und Du Pont in den physio­kratischen Lehren nicht nur eine gesellschaft­liche und wirtschaft­liche Utopie sahen, sondern nach ernsthaften Mög­lichkeiten ihrer Realisierung suchten. Dafür schien ihnen die schützende und fördernde Gewalt des Monarchen und insbesondere des Thronfolgers die beste Voraussetzung.519 Es ging Quesnay und Du Pont mit der Veröffent­lichung des Briefes darum, den künftigen König Frankreichs an die Spitze der Lehre zu stellen und so die Physiokratie zu einer Staatswissenschaft und Staatspraxis zu erheben. Der junge Kronprinz sollte dem Staat mit der Förderung der Landwirtschaft Clément, Alain (Hg.): Nicolas Baudeau: un philosophe économiste au temps des Lumières. Paris 2008. S. 345 – 357. Die Ephémérides du Citoyen thematisieren den Wechsel an der Spitze des Blattes nicht. Er wurde kommentarlos vollzogen. Zum Streit innerhalb der Physiokraten über die Protektion des Dauphins vgl. auch Loménie, Louis de: Les Mirabeau: nouvelles études sur la société française au XVIIIe siècle. Bd. 2. Paris 1879. S. 279. 518 Unklar ist, warum die Dedikation erfolglos blieb. Es finden sich keine Quellen dazu. Weulersse, Mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 202. 5 19 Um 1774 erweitert Du Pont die Vorstellung von der Schutzfunktion des Staates über die Monarchen auch auf Magistrate und Vertreter des Volkes, welche die Gesamtheit aller Willensäußerungen vertreten. Priddat, Die Änderung der physiokratischen Konzeption 1775, S. 121. Zu den Versuchen Mirabeaus, die Kontakte der Physiokraten zu ausländischen Potentaten zu intensivieren, vgl. Théré/ Loïc, The Writing Workshop of François Quesnay, S. 23ff. Abrosimov, Wissenstransfer und Austausch symbolischen Kapitals, S. 17ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 355 dienen, so wie die Physiokraten ihr Wissen der Krone zur Verfügung stellten.520 Die Ephémérides du Citoyen zielten auf Belehrung und gegenseitige Unterstützung zwischen der physiokratischen Schule und dem Monarchen. Mit Erfolg, denn sie hatten mit der Publikation des Briefes landwirtschaft­liche Fähigkeiten und Interessen des Kronprinzen belegt und ihren Einfluss darauf geltend gemacht. Sie bewiesen gegenüber der lesenden Öffent­lichkeit ihrer eigenen Zeitschrift, dass ihre Lehre und die Interessen des künftigen Monarchen in Übereinstimmung gebracht worden waren. Auch wenn der Dauphin die Protektion des Publikationsorgans abgelehnt hatte und sich die Physiokraten nicht als Sprachrohr des Kronprinzen darstellen konnten, war es dennoch seitens der économistes noch mög­lich, auf den Dauphin als hoffnungsvollen künftigen Garanten der Realisierung ihrer Ideen zu hoffen. Schließ­lich boten sie dem künftigen französischen König ein erweitertes Modell monarchischen Selbstverständnisses und herrscher­licher Selbstdarstellung. Die Initiative zu dieser neuen Herrschaftsrepräsentation als roi ­paysan in Anlehnung an den chinesischen Kaiser ergriff Quesnay persön­lich, indem er das eigenhändige Pflügen des Dauphin durch seine überbordende öffent­liche Würdigung zu einem Ereignis stilisierte. Die Vermittlungsstrategie der Physiokraten stellte die neue Selbstdarstellung für den Dauphin nicht nur inhalt­lich zur Verfügung, sondern gab diese dem Kronprinzen geradezu vor.521 Sie eröffneten dem neuen Herrscher Frankreichs die Chance, seinem Volk zu zeigen, dass er dem Zeitgeist folgend über aktuell notwendiges Wissen und Können verfügte und dennoch im Einklang mit der Herrschaftstradition stand. Das von den Physiokraten gewählte Motiv ihrer Lehre implizierte eine Herrschaftsdarstellung, die auf dem antiken und traditionellen paternalistischen Rollenmodell aufbaute, es jedoch um neue Komponenten erweiterte und damit aktualisierte: der pflügende Monarch als erster Landmann des Staates. Der künftige König zeigte sich damit als ein Diener und régénérateur des Staates gemäß der Vorstellungen der Physiokraten. Der Pflug war im Sinne Vicos wieder zu einem Herrschaftszeichen erhoben worden und zeugte von der Landwirtschaft als einem alten und neuen Wirkungsressort des Monarchen. Die von Vico und den Physiokraten konstatierte langanhaltende Trennung zwischen Herrschaft und Landwirtschaft schien fortan überwind­lich zu sein und durch den künftigen König auch überwindbar. Frankreich hatte, so vermittelte die Interpretation der Pflugszene durch Quesnay, den richtigen Weg eingeschlagen, um sich dem idealen Zustand der Monarchie durch die Erfüllung der Herrscherpf­lichten anzunähern, die der Physiokrat 1758 in seinem 520 Die Intention der Physiokraten, sich als Berater des Königs zu empfehlen, betont Goutte, Ephémérides du Citoyen, S. 148, S. 156. 521 Es handelt sich nicht um die tatsäch­liche Nachahmung der Pflugszene des chinesischen Kaisers durch den Dauphin, die Walter Demel im zeitnahen Kontext des Erscheinens von Quesnays Despotisme de la Chine konstatierte. Demel, Walter: Abundantia, Sapientia, Decadencia. Zum Wandel des China-Bildes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Bitterli, Urs/Schmitt, Eberhard (Hg.): Die Kenntnis beider „Indien“ im frühneuzeit­lichen Europa. München 1991. S. 129 – 154. Hier S. 146. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 356 Der chinesische Kaiser als Vorbild Traité de la monarchie aufgestellt hatte.522 Die Beschreibung der Pflugszene vermittelte dem Leser der Ephémérides du Citoyen, dass dem Herrscherideal ein Augenschein von Realität verliehen worden war. Bemerkenswert ist die Propagandastrategie, die Quesnay und Du Pont für die Ephémérides du Citoyen vorgegeben hatten: mit der bewussten Hervorhebung des Guten und Erfolgreichen zielten sie darauf, das mög­liche Bessere zu fördern. Die pädagogische Maxime der positiven Verstärkung im Sinne des Lobes und der Belohnung mündete in einen dieser Zeitschrift eigenen positiven Journalismus, der schon Zeitgenossen als Konzept auffiel und europaweit kopiert wurde.523 Die Propaganda der Physiokraten wirkte: Im Umfeld des Königs fand das Pflügen des Dauphin Niederschlag in einer Tuschezeichnung des Malers Jean-Baptiste le Paon (1738 – 1785). Le Paon stand unter der Protektion des Prinzen Louis Joseph de Bourbon-­Condé (1736 – 1818).524 Er schuf eine Federzeichnung auf beigem Chinapapier, die den Dauphin am Pflug inmitten seiner Brüder, seines Gefolges und jubelnder Bauern fixierte (Abb. 16: Federzeichnung von Le Paon). Das Blatt befindet sich heute im Crocker Art Museum in Sacramento/Kalifornien und trägt den Titel: A Prince ­Ploughing with Peasants Watching Him.525 Der Zeitpunkt der Entstehung ist ebenso unklar wie der Auftraggeber. Mög­licherweise geht die Zeichnung aber auf eine Anregung des Prinzen Condé zurück, der selbst ein maßgeb­liches Interesse an Landwirtschaft hegte, Mustergüter anlegen ließ und in seinem Schloss Chantilly selbst der Gartenarbeit nachging. Mög­licherweise war er in seiner Funktion als Grand Maître de France sogar Teil des Gefolges und somit während des Pflügens durch den Kronprinzen anwesend. Ein Hinweis auf „an event in the life of Le Paon’s chief mentor“ (des Prinzen Condé) findet sich in einer Kurzbeschreibung des Bildes im Katalog des Crocker Art Museums, allerdings ohne einen Beleg für diese Überlegung.526 Sie erscheint jedoch durchaus nachvollziehbar, da sowohl Condés Nähe zur könig­lichen Familie als auch seine 522Zum Traité de la monarchie vgl. Gerteis, Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik, S. 83ff. 523 Reinhart Siegert stellt den Gothaer Publizisten Rudolph Zacharias Becker vor, der sich in Anlehnung an die Ephémérides du Citoyen einer ähn­lichen positiven Berichterstattung bediente. Siegert, Reinhart: Positiver Journalismus. Aufklärerische Öffent­lichkeit im Zusammenspiel des Publizisten Rudolph Zacharias Becker mit seinen Korrespondenten. In: Jäger, Hans-Wolf (Hg.): „Öffent­ lichkeit“ im 18. Jahrhundert (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, Bd. 4). Göttingen 1997. S. 165 – 185. Hier S. 165, S. 172 und S. 177. 524 Zum Mäzenatentum der Prinzen von Condé vgl. Béguin, Katja. Les princes de Condé. Rebelles, courtisans et mécènes dans la France du Grand Siècle. Paris 1999. S. 329ff. 525 Crocker Art Museum, Inv. no. 1871.448. Die Maße des Bildes betragen 35.2 x 53.4 cm. Das Bild ist in der unteren rechten Seite in dunkelbrauner Tinte mit Le Paon signiert und in der linken unteren Ecke in Graphit mit den Initialen D Pa bezeichnet. Unklar ist, welche der beiden Signaturen vom Maler stammt. Ich danke Dr. William Breazeale, dem Kurator des Museums für europäische Kunst, für eine anregende Diskussion zu dem Blatt. 526 Mahey, John A.: Master Drawings from Sacramento. The Edwin Bryant Crocker Art Gallery Sacramento/California. Exhibition Catalogue. Sacramento 1971. Nr. 90. Ausgezeichnete Abbildung Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 357 Vorlieben für länd­liche Genre- und bäuer­liche Arbeitsszenen in seiner umfangreichen Kunstsammlung nachgewiesen sind. Es ist leicht denkbar, dass der landwirtschaft­lich interessierte und versierte Prinz das eigenhändige Pflügen des künftigen Königs für einen bemerkenswerten Moment hielt, den er zumindest für sich zur Erinnerung fixiert haben wollte. Ob ursprüng­lich eine umfangreichere Ausführung in Öl angedacht war, bleibt unklar. Die Annahme von David W. Steadman und Carol M. Osborne, es handle sich mög­licherweise um den Prinzen von Condé selbst hinter dem Pflug, kann durch die eindeutig sichtbaren Wappen des Kronprinzen an den Wagenverschlägen der Kutsche auf der Zeichnung widerlegt werden.527 Le Paons Zeichnung folgt exakt der Beschreibung von Quesnay aus den Ephémérides du Citoyen. Sie zeigt den Dauphin am Wegesrand, offensicht­lich die Spazierfahrt kurz unterbrechend, beim Pflügen. Im Vordergrund findet sich auf der Chaussee ein Grenzstein, dessen Markierungen jedoch so undeut­lich sind, dass er bzw. der Ort nicht zu identifizieren ist.528 f. Erziehung zur Landwirtschaft? Zu fragen bleibt nun, was sich hinter der öffent­lichen Darstellung der Pflugszene durch Quesnay in den Ephémérides du Citoyen verbarg. Maverick spricht ohne weitere Einordnung von der Imitation des Frühjahrsrituals des chinesischen Kaisers durch den Dauphin.529 Das erscheint sehr unwahrschein­lich, da weder in Quesnays Brief zum Ablauf der Pflugszene von einer Imitation die Rede ist, noch der Ablauf als höfisches Ereignis gestaltet worden war. S. 131. Kurz beschrieben und abgebildet ebenfalls bei Rosenberg, Pierre: Twenty French Drawings from Sacramento. In: Master Drawings 8/1 (Spring 1970). S. 31 – 39. Hier S. 36. Crocker hielt sich im 19. Jahrhundert für mehrere Jahre in Europa, insbesondere in Deutschland auf. In Dresden erwarb er im Zeitraum zwischen 1869 und 1871 vom Kunsthandelshaus Rudolph Weigel zahlreiche französische, niederländische und italienische Werke, u. a. nachgewiesen auch L. Le Paon, Landschaft mit König Ludwig XVI. pflügend, umgeben von Gefolge und Landleuten. Zur Provenienz des Blattes vgl. Breazeale, William: Old Masters in Old California: The Origins of the Drawings Collection at the Crocker Art Museum. In: Master Drawings 46/2 (Summer 2008). S. 205 – 226. Hier S. 222. Bei Weigel findet sich das Blatt im Kunstlagerkatalog. Weigel, Rudolph: Kunstlagerkatalog, 35 Teile, 5 Bde. Leipzig 1838 – 66. Nr. 16176. Bei Weigel finden sich jedoch keine weiteren Angaben zur Herkunft der Zeichnung. Nach Deutschland kann das Blatt mit dem Prinzen von Condé gelangt sein, der sich während der Französischen Revolution als Exilant zunächst in Koblenz und später in England aufhielt. 527 Steadman und Osborne waren bei ihrer Fehldeutung dennoch richtig vom landwirtschaft­lichen Interesse Condés ausgegangen. Steadman, David W./Osborne, Carol: Eighteenth-Century Draw­ ings from California Collections. Exhibition-Catalogue. Claremont 1976. Nr. 40. S. 31. 528 Überlegungen hinsicht­lich des Ortes und der von Seiten des Hofes intendierten Absicht sollen im nachfolgenden Kapitel angestellt und untermauert werden. 529 Maverick, China, S. 125. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 358 Der chinesische Kaiser als Vorbild Da das eigenhändige Pflügen des Dauphin weder in der Gazette de France oder in anderen französischen Periodika als offizielle Veranstaltung des Hofes angekündigt oder zeitnah besprochen wurde noch in der höfischen Memoirenliteratur Erwähnung fand, ist vielmehr davon auszugehen, dass es sich – so lautet die These für die nachfolgende Untersuchung – um eine intern vorbereitete, praktische Lehrunterweisung im kleinen Kreis der Erzieher und könig­lichen Schüler gehandelt haben mag, die durch eine mög­liche Initiative der Physiokraten stattfand, zumindest aber durch die bewusste Publikation der économistes zum öffent­lichen Ereignis im Nachhinein avancierte.530 Dies soll zunächst anhand mög­licher Erziehungsmaximen des französischen Hofes geprüft werden. Im Anschluss soll ein Blick auf die Einordnung und Bewertung der Pflugszene, die der Öffent­lichkeit durch Quesnays Brief zugäng­lich geworden war, sowie die Weiterverarbeitung der Information als Stoff in der bild­lichen Darstellung geworfen werden. Als Erzieher des Dauphin fungierte, wie bereits angesprochen, Antoine de Quelen Duc de La Vauguyon (1706 – 1772).531 Geprägt durch die Grundsätze François ­Fénelons (1651 – 1715) aus seinem Erziehungswerk Les Aventures de Télémaque und überzeugt von der natür­lichen Gleichheit der Menschen bzw. einer patriarcha­lischen Auffassung von Herrschaft, zielte die Erziehung La Vauguyons darauf, aus dem ­Dauphin einen mündigen 530Die Gazette de France erwähnte am 17. Juni 1768 für den 15. Juni Ereignisse wie die Vorstellung des Fürsten von Monaco bei Hof. Auf das Pflügen von Louis Auguste ging sie nicht ein. Gazette de France vom 17. Juni 1768. Nr. 49. S. 204. Zur Gazette de France und ihren Berichten vom Hof vgl. Schultheiß-Heinz, Politik in der europäischen Publizistik, S. 154ff. Zu Formen der gezielten Versorgung der Gazette mit Informationen durch den französischen Hof vgl. Klaits, Joseph: Printed Propaganda under Louis XIV. Absolute Monarchy and Public Opinion. Princeton 1976. S. 7ff und S. 31ff. In der Memoirenliteratur wurden u. a. durchgesehen: Nolhac, Pierre de: Correspondance du comte d’Argenson, ministre de la Guerre, publiée par le marquis d’Argenson: lettres de Marie Leczinska et du cercle de la reine. Paris 1922. Argenson, René-Louis de Voyer de Paulmy, marquis d’: Mémoires et journal inédit du marquis d’Argenson, ministre des Affaires étrangères sous Louis XV. 5 Bde. Paris 1857 – 1858. Grouchy, Emmanuel-Henri de/Cottin, Paul (Hg.): Journal inédit du duc de Croÿ, publié d’après le manuscrit autographe conservé à la bibliothèque de l’Institut, avec introduction, notes et index. 4 Bde. Paris 1906 – 1907. La Gorce, Louis-Scipion de Merle, comte de: Souvenirs d’un homme de cour; ou Mémoires d’un ancien page. Contenant des anecdotes secrètes sur Louis XV et ses ministres, des observations sur les femmes, les moeurs, etc. Suivis de notes historiques, critiques et littéraires. Écrits en 1788. 2 Bde. Paris 1805. Dussieux, Louis/ Soulié Eudore (Hg.): Mémoires du duc de Luynes sur la cour de Louis XV (1735 – 1758). 17 Bde. Paris 1860 – 1865. Boysse, Ernest (Hg.): Journal de Papillon de La Ferté, intendant et contrôleur de l’argenterie, menus plaisirs et affaires de la Chambre du roi (1756 – 1780). Paris 1887. 531 Er war schon vom verstorbenen Vater des Dauphins als Gouverneur seines Sohnes bestallt und mit vollem Vertrauen bedacht worden. Nach dem Tod von Louis Ferdinand setzte der Herzog die Erziehung in Abstimmung mit der Mutter des Prinzen eigenverantwort­lich fort. Unklar ist noch immer, ob es Erziehungsanweisungen des Königs für seinen Enkel gegeben hat. Girault de Coursac, Pierette: L’éducation d’un Roi, Louis XVI. Paris 1972. S. 109 – 115. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 359 Monarchen zu formen, der, um die Liebe seiner Untertanen bemüht, regieren sollte.532 Fénelon hatte die Bedeutung der Landwirtschaft für ein gesundes Staatswesen betont und die Fürsten aufgefordert, wie Triptolemos den Landbau zu fördern und zu achten: Peu de temps après lui, on vit paraître dans la Grèce le fameux Triptolème, à qui Cérès avait enseigné l’art de cultiver les terres, et de les couvrir tous les ans d’une moisson dorée. Ce n’est pas que les hommes ne connaissent déjà le blé, et la manière de le multiplier en le semant: mais ils ignoraient la perfection du labourage; et Triptolème, envoyé par Cérès, vint, la charrue en main, offrir les dons de la déesse à tous les peuples qui auraient assez de courage pour vaincre leur paresse naturelle, et pour s’adonner à un travail assidu. Bientôt Triptolème apprit aux Grecs à fendre la terre, et à la fertiliser en déchirant son sein: bientôt les moissonneurs ardents et infatigables firent tomber, sous leurs faucilles tranchantes, les jaunes épis qui couvraient les campagnes: les peuples même sauvages et farouches, qui couraient épars çà et là dans les forêts d’Épire et d’Étolie pour se nourrir de gland, adoucirent leurs mœurs, et se soumirent à des lois, quand ils eurent appris à faire croître des moissons et à se nourrir de pain. Triptolème fit sentir aux Grecs le plaisir qu’il y a à ne devoir ses richesses qu’à son travail, et à trouver dans son champ tout ce qu’il faut pour rendre la vie commode et heureuse. Cette abondance si simple et si innocente, qui est attachée à l’agriculture, les fit souvenir des sages conseils d’Érichthon. Ils méprisèrent l’argent et toutes les richesses artificielles, qui ne sont richesses qu’en imagination, qui tentent les hommes de chercher des plaisirs dangereux, et qui les détournent du travail, où ils trouveraient tous les biens réels, avec des mœurs pures, dans une pleine liberté. On comprit donc qu’un champ fertile et bien cultivé est le vrai trésor d’une famille assez sage pour vouloir vivre frugalement comme ses pères ont vécu. Heureux les Grecs, s’ils étaient demeurés fermes dans ces maximes, si propres à les rendre puissants, libres, heureux, et dignes de l’être par une solide vertu! Mais, hélas! ils commencent à admirer les fausses richesses, ils négligent peu à peu les vraies, et ils dégénèrent de cette merveilleuse simplicité. O mon fils, tu régneras un jour; alors souviens-toi de ramener les hommes à l’agriculture, d’honorer cet art, de soulager ceux qui s’y appliquent, et de ne souffrir point que les hommes vivent ni oisifs, ni occupés à des arts qui entretiennent le luxe et la mollesse. Ces deux hommes, qui ont été si sages sur la terre, sont ici chéris des dieux. Remarque, mon fils, que leur gloire surpasse autant celle d’Achille et des autres héros qui n’ont excellé que dans les combats, qu’un doux printemps est au-dessus de l’hiver glacé, et que la lumière du soleil est plus éclatante que celle de la lune.533 532 Malettke, Klaus: Die Bourbonen. Bd. 2: Von Ludwig XV. bis zu Ludwig XVI. 1715 – 1789/92. Stuttgart 2008. S. 115ff. Girault de Coursac, L’éducation d’un Roi. Weulersse, Mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 370. Le Brun, Jacques: Du Privé au public: L’éducation du prince selon Fénelon. In. Halévi, Ran: Le savour du prince. Du Moyen Age aux Lumières (L’esprit de la cite). Paris 2002. S. 235 – 260. Halévi, Ran: Le Testament de la royauté: l’éducation politique de Louis XVI. Le savoir du prince, du Moyen Âge aux Lumières sous la direction. Hg. von Ran Halévi. Paris 2002. S. 311 – 361. 533 Salignac de La Mothe-Fénelon, François de: Les Aventures de Télémaque (Œuvres choisies de Fénelon). Paris o. J. S. 339f. Fénelon hatte über sein pädagogisches Werk hinaus in zahlreichen Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 360 Der chinesische Kaiser als Vorbild Das Vorbild des antiken Kulturheros Triptolemos war somit einigen Generationen französischer Kronprinzen nahegebracht worden. Der Duc de La Vauguyon ließ seinen könig­lichen Schüler aus den Maximen Fénelons 1766 Exzerpte zu einzelnen Themen anfertigen, die er mit ihm im Einzelnen besprach.534 Das 20. Exzerpt des Dauphin behandelte die Frage: Estime qu’un roi doit faire des cultivateurs. In der Zusammenfassung erläuterte der Prinz den hohen Wert landwirtschaft­licher Arbeit: La condition des laboureurs doit être honorée comme une des plus utiles à l’État: on doit faciliter des soldats qui abandonneraient leur poste dans la guerre; […] La profession de laboureur ne sera plus méprisée, n’étant plus accablée de tant de maux.535 Im Kontext dieser Erziehungsmaxime ist es durchaus denkbar, dass der Duc de La Vauguyon gegenüber einer praktischen Unterweisung des Kronprinzen auf dem Feld nicht abgeneigt war. Nicht unwahrschein­lich ist auch die Annahme, dass La Vauguyon seinem könig­ lichen Zögling neben der grundsätz­lichen Bedeutung des Landbaus für den Staat auch für die eigenen Erholungsphasen nach dem Unterricht ein zeitgenössisch aktuelles, englisches Lebensideal des „happy man“ in Anlehnung an Horaz’ „Lob des Landlebens“ zu vermitteln suchte. Die mit dem „rural life“ verbundenen Aktivitäten bestanden in langen Spaziergängen oder Ausritten durch die Natur und die kultivierte bzw. im Garten gestaltete Natur. Ästhetische Naturerfahrungen sollten der Seele eines – in diesem Fall künftigen – homo politicus Ruhe und Beständigkeit von den rein zweck­ orientierten und kräftezehrenden Tätigkeiten des politischen Alltags bringen.536 Im Denkschriften und Briefen an König Ludwig XIV. Vorschläge zur Verbesserung der Landwirtschaft eingereicht. Vgl. Rothkrug, Opposition to Louis XIV, S. 267ff. 534 Der Dauphin druckte diese Maxime selbst und verteilte 25 Exemplare der Exzerpte an ausgewählte Höflinge. Ludwig XVI: Maximes Morales et Politiques tirées du Télémaque sur la science des rois et le bonheur de peuple imprimées en 1766 par Louis Auguste Dauphin. Paris 1814. Vorwort, S. 7. 5 35 Ibd. S. 47. In einem Gespräch, das offensicht­lich zum Ende der Erziehungszeit zwischen dem Kronprinzen und dem Erzieher Duc de La Vauguyon stattfand, wurde die Rolle der Arbeit thematisiert: L’étude des hommes ne demande pas, comme celle des autres sciences, une vie solitaire et retirée: ce n’est point en fuyant les hommes, mais plutôt en vivant au milieu d’eux, en raisonnant, en conversant avec eux, en leur parlant, et encore plus en les faisant beaucoup parler, que l’on apprend è les connaître; c’est en se communiquant à eux, que le prince leur ouvre le cœur, pour en faire éclore leurs véritables sentiments. Cette connaissance s’acquiert insensiblement par l’usage, pourvu que l’on soit attentif à réfléchir sur ce que l’on voit et sur ce que l’on entend ; elle est le fruit de l’expérience. La meilleure ou plutôt la seule école où l’on en doit prendre des leçons, c’est le monde […]. Il ne faut qu’ouvrir les yeux sur ce qui se passe, observer avec un peu d’attention la contradiction perpétuelle qui se trouve entre les discours et les actions de la plupart des hommes […]. Alors le prince devient savant à peu de frais de la connaissance des hommes, un mot, un clin d’œil suffit pour les dévoiler, et il n’a que la peine de le remarquer, de le saisir, et d’en profiter. Louis XVI: Réflexions sur mes entretiens avec M. le duc de la Vauguyon. Hg. v. Louis Falloux. Paris 1851. S. 188 – 190. 536 Roestvig, Maren Sofie: The Happy Man. 1700 – 1760. Studies in the metamorphoses of a Classical Ideal. 2 Bde. (Oslo studies in English, Bd. 7). Oslo ²1962. S. 43f. Mingay, Gorgon E.: A Social History of the English Countryside. London/New York 1990. S. 141 – 168. Chartres, John/Hey, David Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 361 Zusammenhang mit diesem Lebensideal standen in England landwirtschaft­liche Betätigungen auf eigenen Gütern sowie in Deutschland die Errichtung und die Führung von Mustergütern durch die Fürsten.537 Auch in Frankreich lässt sich in der weiteren könig­lichen Familie, etwa bei dem Prinzen von Condé, die Leidenschaft für eigenhändige Gartenarbeit, etwa den Gemüseanbau nachweisen. Im Hameau in Chantilly war der Prinz maßgeb­lich an der Anlage des Gemüsegartens beteiligt und leistete darin täg­lich einige Arbeitsstunden. Er ließ sich mit seiner jungen Gemahlin 1757 von François-Hubert Drouais als Gärtner und Gärtnerin mit Arbeitsgeräten und eigenen Ernteerträgen porträtieren.538 Mit der eigenhändigen Landarbeit auf Mustergütern oder Gemüsegärten kam die pädagogische Maxime der vergnüg­lichen Belehrung durch Praxis in der angenehmen Natur statt einer trockenen theoretischen Unterweisung zum Tragen. Insofern konnte die Gelegenheit zum Pflügen für den jugend­lichen Prinzen auch als Erholungsmaßnahme und erster sichtbarer Ausdruck eines neuen, nun auch vom Kronprinzen gelebten Ideals des temporären Rückzugs auf das Land gedeutet werden. Während das Landleben im Alten Reich zu einem im Adel diskutierten alternativen Existenzentwurf avancierte, der den Verzicht auf Macht und Prestige implizierte und seine Qualität in freundschaft­ licher Geselligkeit und ästhetischen Naturerfahrungen fand, wechselte für den englischen Adel das höfische, öffent­liche und das länd­lich-private Leben auf den Gütern (Hg.): English Rural Society, 1500 – 1800. Essays in Honour of Joan Thirsk. Cambridge 1990. Zu länd­lichen Aktivitäten der Gentlemen vgl. Cliffe, John T.: The World of the Country House in Seventeenth-Century England. New Heaven/London 1999. S. 146ff. Hammerschmidt, Valentin/ Wilke, Joachim: Die Entdeckung der Landschaft. Englische Gärten des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1990. S. 9 – 17. Panowsky, Erwin: Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen. In: Ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (DuMont-Kunst-Taschenbücher, Bd. 33). Köln 1975. S. 351 – 378. Butlar, Adrian von: Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und der Romantik. Köln 1989. Für den deutschsprachigen Raum erschien 1767 in Bern Christian Cay Lorenz Hirschfelds Schrift „Das Landleben“. Das Werk erreichte binnen kürzester Zeit vier Auflagen, setzte es sich doch mit der Realisierung individueller Normen und Bedürfnisse außerhalb gesellschaft­licher Lebensformen auseinander. Breckwoldt, Michael: Das Landleben als Grundlage für eine Gartentheorie (Arbeiten zur sozialwissenschaft­lich orientierten Freiraumplanung, Bd. 14). München 1995. S. 33ff. Zum Garten als Rückzugsort vgl. Ariès, Philippe/Chartier, Roger (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Von der Renaissance zur Aufklärung. Bd. 3. Nördlingen 1991. S. 217 – 221. 537 Zu Mustergütern in England, die in Deutschland als Vorbilder dienten, vgl. Robinson, John Martin: Georgian Model Farms. A Study of Decorative and Model Farm Buildings in the Age of Improvement, 1700 – 1846. Oxford 1983. Zur Bedeutung der Landwirtschaft im Adel vgl. S. 11ff. Eine Auflistung der Mustergüter Englands findet sich ab S. 113. Zu den Mustergütern der Markgräfin Karoline Luise von Baden vgl. Lauts, Jan: Karoline Luise von Baden. Ein Lebensbild aus der Zeit der Aufklärung. Karlsruhe ²1990. S. 191ff. 5 38 Abgebildet bei Martin, Dairy Queens, S. 180. Abb. 4.7. Vgl. zu Chantilly S. 184ff. Zu antiken Vorbildern gärtnernder Könige vgl. Stähler, Der Herrscher als Pflüger und Säer, S. 135ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 362 Der chinesische Kaiser als Vorbild automatisch in der Winter- und Sommersaison.539 Doch für einen amtierenden oder künftigen Monarchen stellte das Landleben keinen alternativen Lebensentwurf dar, sondern musste entweder mit seiner Funktion als Landesherr im ökonomischen Sinne verbunden werden (etwa durch die Anlage von Mustergütern) oder die Mög­lichkeit zu einem temporären Rückzug an einen von der Residenz entfernten Ort eröffnen, um im Sinne von Horaz das Schöne mit dem Nütz­lichen zu verbinden.540 Der eigenhändigen Landarbeit eines Fürsten kam dann ein ähn­licher Charakter zu wie den üb­lichen fürst­ lichen Handwerksberufen, die zum allgemeinen Erziehungskanon gehörten und vor allem darauf zielten, die Geschick­lichkeit der Hände zu verbessern und einen Ausgleich zur Arbeit des Regierens zu schaffen. Mit der Ausübung eines Handwerks war dem Monarchen ein temporärer Rückzug aus der öffent­lichen in eine eher private Sphäre gewährt.541 „Privatus“ stand zeitgenössisch im Gegensatz zu „publicus“ und implizierte 539 Vgl. dazu auch grundlegend Lohmeyer, Anke M.: Das Lob des adeligen Landlebens in der deutschen Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Lohmeier, Dieter (Hg.): Arte et Marte. Studien zur Adelskultur des Barockzeitalters in Schweden, Dänemark und Schleswig-Holstein (Kieler Studien zur deutschen Literaturgeschichte, Bd. 13). Neumünster 1978. S. 173 – 191. Dies.: Beatus ille. Studien zum „Lob des Landlebens“ in der Literatur des absolutistischen Zeitalters (Hermaea, N. F., Bd. 44). (Diss.) Tübingen 1981. 540 Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci. Horaz: Sämt­liche Werke. Lateinisch und deutsch. Hg. v. Hans Färber. München 101985. S. 564, Vers 343. Dieser Maxime folgend kaufte Ludwig XVI. als König 1783 das Gut Rambouillet außerhalb von Versailles. Es verfügte über eine Meierei und einen Gemüsegarten, der nicht nur der Dekoration diente. Martin, Dairy Queens, S. 216ff. Schon sein Urgroßvater, Stanislas Leszczynski, hatte mit Malgrange in der Nähe seiner Residenz Lunéville die Idee eines Mustergutes mit dem Wunsch nach einer Einsiedelei verbunden und im Stil eines Kartäuserklosters mehrere Separatgärten von je 1,12 ha mit kleinen Häuschen anlegen lassen. Er betätigte sich selbst darin gärtnerisch. Chapotot, Les Jardins du Roi Stanislas, S. 94. 541 Im Rahmen des Rückzugs aus der öffent­lichen Sphäre stellte der Monarch dennoch mit der Beherrschung von Werkzeug oder von Maschinen seine Fähigkeiten auf dem Gebiet des Handwerks unter Beweis. Während sich der Monarch als Gesetzgeber in Anlehnung an Gott als Schöpfer der öffent­ lichen Ordnung zu beweisen hatte, zeigte er sich als kunsthandwerk­licher Schöpfer wertvoller ästhetischer Gegenstände einem eingeweihten Kreis von kunstverständigen Betrachtern. Als könig­liches bzw. fürst­liches Handwerk galten insbesondere das Drechseln, das Schneiden von Gemmen nach antiken Mustern und die Schlosserei. Nicht selten wurden dafür in frühneuzeit­lichen Schlössern eigene Werkstätten als Refugien der Fürsten eingerichtet und Meister des jeweiligen Kunsthandwerks zur fach­lichen Anleitung und Weiterbildung der Monarchen in Dienste genommen. Hablot, Laurent: La devise, mise en signe du prince, mise en scène du pouvoir. Les devises et l’emblématique des princes en France et en Europe à la fin du Moyen Âge. Bd. 2: Les devises des princes. Unveröffent­lichte Diss. Poitiers 2001. S. 324. Haenel, Erich: Die Drahtziehbank des Kurfürsten August im Musée de Cluny zu Paris. In: Mitteilungen aus den Sächsischen Kunstsammlungen 5 (1914). S. 31 – 43. Maurice, Klaus: Sovereigns as Turners. Materials on a Machine Art by Princes. Zürich 1985. Walcher-Molthein, Alfred: Die Drechselbank Kaiser Max des Ersten. In: Belvedere. Kunst und Kultur der Vergangenheit. Zeitschrift für Sammler und Kunstfreunde 7 (1925). S. 17 – 22. Plumier, Charles: L’art de Tourneur. Lyon 1701. Louis Auguste wurde zunächst wie sein Großvater, König Ludwig XV. in der Elfenbeindrechselei unterrichtet, wandte sich aber mit großer Leidenschaft der Schlosserei, Uhrmacherei und Tischlerei Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 363 nicht nur ein „abgesondert sein“ bzw. ein aktives „sich absondern“ von öffent­lichen und staat­lichen Angelegenheiten, sondern in einem erweiterten negativen Sinne sogar ein „beraubt sein“ sowie in der hier passenden positiven Auslegung ein „befreit sein“.542 Genau diese, allerdings temporäre Befreiung bot der länd­liche Aufenthalt. Neben den etablierten handwerk­lichen Tätigkeiten besaß die Beschäftigung mit dem Landbau seitens des Fürsten nicht weniger Tradition als Zeitvertreib und Passion. So kam der Landwirtschaft als mög­lichem fürst­lichen Ausgleich im theoretischen Erziehungskanon der französischen Könige ein gewisser Stellenwert zu, wie die Schrift I­ nstruction de Monseigneur le Dauphin von François de la Mothe le Vayer aus dem Jahr 1640 beweist. Sie war von Le Vayer für Ludwig XIV. als Dauphin mit der Absicht geschrieben worden, die Erzieherstelle des Kronprinzen einnehmen zu können.543 Le Vayer ging als Skeptiker (Anhänger des Pyrrhonismus) stark von der Unvorhersehbarkeit der Politik aus. Da der Zufall häufig die Richtung politischer Entscheidungen prägte, könnte Politik nach Le Vayer keinen sicheren und erlernbaren Prinzipien folgen. Dennoch müsse ein Monarch in seiner Erziehung für alle Eventualitäten vorbereitet und fähig sein, abschätzen zu können, wann er aktiv und regelnd eingreifen oder besser passiv bleiben müsse.544 Im Kontext der umfassenden Vorbereitung auf die monarchische Würde diskutierte Le Vayer die Bedeutung des Landlebens und der Landwirtschaft für den künftigen König. Zunächst betonte er die lange Tradition könig­licher Kompetenzen im Landbau und führte zahlreiche biblische Beispiele wie den Weinreben pflanzenden Osias, König von Judäa, oder zu. Er ließ sich in Versailles unter dem Dach ein Cabinet de Serrurerie als privaten Rückzugsort einrichten. Darüber hinaus erlernte er auch das Maurerhandwerk. 542 Vgl. die Bedeutungen des lateinischen „privatus“ und „privare“, in: Georges, Karl Ernst (Bearb.): Ausführ­liches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 2. Hannover 1962. Sp. 1928f. Die Problematik des privaten Status oder der privaten Sphäre eines Herrschers wurde von den bisherigen Forschungen zum privaten Leben ausgespart. In Ariès’ und Chartiers Studie zur Geschichte des privaten Lebens wurden nur die Krankheiten Königs Ludwigs XIV. im Tagebuch seines Arztes im Zusammenhang mit der Privatsphäre des Monarchen thematisiert. Mög­liche Sphären des Privaten französischer Könige fehlen. Vgl. Foisil, Madeleine, „Die Sprache der Dokumente und die Wahrnehmung des privaten Lebens“. In: Ariès, Philippe/Chartier, Roger (Hg.): Geschichte des privaten Lebens. Von der Renaissance zur Aufklärung. Bd. 3. Nördlingen 1991. S. 333 – 367. Hier: S. 364. Weniger zu den englischen Gärten, aber grundlegend zur Rolle des Privaten im vormodernen England sowie zu den mit dem Privaten verbundenen Wohnsituationen in London (das Refugium oder das Closet) vgl. Heyl, Christoph: A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürger­lichen Privatsphäre in London 1660 – 1800 (Veröffent­lichungen des Deutschen Historischen Instituts London, Bd. 56). München 2004. 543 De la Mothe le Vayer, François: Instruction de Monseigneur le Dauphin (François de la Mothe le Vayer. Œuvres, Bd.1,1). Dresde [sic!] 1766. Das Kapitel zur Agriculture: S. 185 – 189. 544 Grundsätz­lich zur Le Vayer vgl. Schüßler, Rudolf: Skeptizismus und politisches Denken – François de la Mothe le Vayer. In: Kremer, Markus/Reuter, Hans-Richard (Hg.): Macht und Moral: Politisches Denken im 17. und 18. Jahrhundert (Theologie und Frieden, Bd. 31). Stuttgart 2007. S. 250 – 273. Hier S. 257, S. 262f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 364 Der chinesische Kaiser als Vorbild den botanisch versierten Salomon als Beispiele für Herrscher an. Mit Verweis auf die Antike bezog er sich auf die Könige bei Homer, die allesamt gute Pflüger gewesen seien sowie den könig­lichen Sämann, dem die Menschen den Ackerbau zu verdanken hätten. Weiter schrieb er: L’occupation des Rois de Perse étoit l’Agricluture, si la guerre ne les divertissoit. Le Cyrus de Xenophon, et les Pharaotes de Philostrate, deux originaux faits exprès pour nous représenter l’idée d’un Prince accompli, avoient le meme soin de leurs Jardins que de leurs Provinces. Il y a eu des Empereurs & des Généraux de toutes sortes de Nations, qui ont préferés la culture des champs au maniment de l’Etat, & pris plus de contentement à ordonner de la disposition d’un verger, que de celle d’une armée.545 Le Vayer verwies den Dauphin auf die tugendsamen Freuden des Land­lebens, die für Abwechslung und Erholung von der Last der Regierungsgeschäfte sorgen könnten. Zudem schade der Aufenthalt auf dem Land einem künftigen Monarchen nicht, denn er führe zu einer robusten Körperkonstitution. Als Beispiel führte Le Vayer Heinrich IV. an. Die Thematik der Körperertüchtigung durch Landleben und Landbau nutzte Le Vayer zur Überleitung in das nächste Kapitel im Rahmen seiner Erziehungsinstruktion, der Jagd. Inwieweit die landwirtschaft­lichen Fähigkeiten des künftigen Königs sich aber positiv auf die Agrarpolitik auswirken oder sonst den Untertanen nützen könnten, thematisiert die Schrift nicht. Sie geht zwar davon aus, dass Landwirtschaft im Erziehungskanon für Monarchen eine Rolle spielen müsse, rekurriert dabei aber ähn­lich wie bei der Jagd in erster Linie auf den Aspekt der Körperertüchtigung und des Ausgleichs an der frischen Luft. Eine Nütz­lichkeit des Wissens für die (Landwirtschafts-)Politik wird von Le Vayer jedoch (noch) nicht erörtert. Dass es sich bei dem eigenhändigen Pflügen des jugend­lichen Louis Auguste 1768 um eine praktische Lehranweisung oder um eine Maßnahme zur Entspannung im länd­lichen Bereich gehandelt haben kann, ist durch die vorgestellten Lehr- und Erholungsmaxime am französischen Hof bekräftigt worden. Zugleich konnte durch die Kontaktaufnahme der Physiokraten mit dem Erzieher des Kronprinzen ein direkter Einfluss der économistes auf die Erziehung des Dauphin nachgewiesen werden. Diesen Erziehungserfolg stellten die Physiokraten in ihrem Publikationsorgan, den Ephémérides du Citoyen, umfassend in mehreren Nummern der Zeitschrift vor. Das eigenhändige Pflügen wurde darüber hinaus auch in anderen Medien bewertet, dargestellt und gefeiert, die den Bericht aus den Epémérides du Citoyen bereitwillig aufgriffen und verwerteten. Somit erfolgte die zeitgenössische Einordnung des Pflügens als Lehrunterweisung ausgehend von der physiokratischen Interpretation einheit­lich. 545 De la Mothe le Vayer, Instruction de Monseigneur le Dauphin, S. 187. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 365 g. Visualisierung des könig­lichen Pflügens: Der Dauphin als neuer Triptolemos und Vorbild für die Herrscher Europas Im August 1769 berichteten die Ephémérides du Citoyen enthusiastisch, dass dem eigenhändigen Pflügen des Dauphin im Vorjahr nun ein Monument d’une Action louable gesetzt worden sei: Monseigneur le Dauphin est peut-être le premier prince de nos contrées occidentales qui ait manié la charrue. Il faut espérer qu’il ne sera pas le dernier. Peut-être ne l’a-t-il pas fait pour la dernière fois. Et ce qu’il y a certainement lieu de croire, c’est que la haute protection dont il honorera l’agriculture en assurera le succès, fera passer le soc sur les terres qui ne le connaissent plus depuis longtemps et rendra les travaux champêtres plus faciles et plus doux pour les cultivateurs plus riches et plus heureux […].546 Der Artikel erklärte, dass Monsieur Poulin de Fleins 547 gemeinsam mit dem Pariser Architekten, Maler und Kupferstecher François-Marie-Antoine Boizot (1739 – 1781) die Würdigung dieser großartigen Handlung des Kronprinzen für die Nation bild­lich in einem neuen Genre de Gravure festhalten wolle. Er habe dafür eigens einen Entwurf erstellt: Cette espece de Gravure imite parfaitement les desseins lavés à l’encre de la Chine.548 Poulin de Fleins selbst war jedoch beim eigenhändigen Pflügen des Dauphin nicht anwesend, sondern erfuhr davon durch die Lektüre des anonymen Briefs in den Ephémérides du Citoyen.549 Ein Kupferstich war ein relativ preiswertes Massenmedium, das vor allem von bürger­ lichen Kunstliebhabern gekauft wurde. Es handelte sich nicht primär um ein Medium, das Hof- und Adelskreise erreichte. Poulin de Fleins erhoffte sich deshalb wohl darüber hinaus die Fixierung des könig­lichen Pflügens durch den Genremaler Jean-­Baptiste Greuze (1725 – 1805) oder durch la touche de Loutherbourg, so der Artikel in den Ephémérides. Philippe Jacques de Loutherbourg (1740 – 1812) galt als herausragender Landschaftsmaler, dessen Werke Denis Diderot in seiner Salonkritik 1767 in Form eines imaginären Spaziergangs durch die Bilder beschrieb.550 Der bild­lichen Fixierung der Pflugszene des Dauphin auf dem Stich von Boizot (Abb. 17: Kupferstich von Boizot) folgte eine Welle der Berichterstattung, die das Pflügen endgültig zu einem Ereignis stilisierte und in Wort und Bild als gelungene 546 Les Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Août 1769. S. 164 – 168. Hier S. 168. 547 Es handelt sich sehr wahrschein­lich um den Schriftsteller und Correcteur des Comptes (ab 1774) Henri-Simon-Thibault de Poullin de Fleins (1745 – 1823). Er hatte neben panegyrischen Gedichten auch den Almanach Dauphin mit einem Überblick über die französische Literatur zusammengestellt. Almanach Royal auf das Jahr 1778. Paris 1778. S. 284. Roux, Marcel: Inventaire du fonds français, graveurs du dix-huitième siècle/Bibliothèque nationale, département des estampes. Bd. 3. Paris 1934. S. 121. Hébrail, Jacques/Laporte, Joseph de: La France littéraire. Bd. 4. Paris 1784. S. 271. 548 Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Août 1769. S. 167, FN 6. 549 Ibd. S. 166. 550 Diderot, Denis: Der Salon von 1767. In: Ders.: Ästhetische Schriften. Bd. 2. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1968. S. 169 – 172. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 366 Der chinesische Kaiser als Vorbild Erziehung des künftigen Königs inszenierte.551 Der Mercure de France griff das Ereignis vom Vorjahr unter Bezugnahme auf das Pflügen des chinesischen Kaisers schon im September 1769 wieder auf und berichtete: […] M. le Dauphin labourant dans une campagne, comme l’empereur de la Chine fait tous les ans, pour ouvrir les labours et rendre honneur à l’agriculture, le plus noble et le premier des arts, parce qu’il est le plus utile.552 Derartige Nachrichten über den Fortgang der Erziehung des künftigen Königs druckte der M ­ ercure de France regelmäßig, wenn sie im Rahmen des Repräsentationsprogramms und damit außerhalb der könig­lichen Studierzimmer wahrnehmbar waren. So erhielten die Leser Informationen über Truppenbesuche des Dauphin oder seine Teilnahme an Manövern ebenso wie über seine Anwesenheit in Messen der Pariser Kirchen.553 Nun war der Leser, wenn auch mit einiger zeit­licher Verzögerung, darüber informiert, dass der französische Kronprinz ebenfalls in der Lage sei, der ersten und edlen Kunst des Pflügens nachzugehen. Einen Monat später kündigte der Mercure de France parallel zu den Ephémérides du Citoyen den Kupferstich von François-Marie-Antoine Boizot nach dem Entwurf von Poulin de Fleins unter dem Titel Monseigneur le Dauphin labourant an, der das Pflügen des Kronprinzen darstellen sollte.554 Gemäß der Oktoberausgabe des Mercure de France hatte Abbé de Fleury den Stich vor dem König und der gesamten könig­lichen Familie 551 In einem Gedicht Vers à l’occasion d’une Estampe où Monseigneur LE DAUPHIN, est réprésenté labourant von Brissard heißt es: Mortels infortunés & chéris à la fois, / Utiles Citoyens qui nourrissez les Rois, / Que l’allégresse enfin succéde à vos allarmes. / Vous ne tremperez plus sillons de vos larmes, / J’ai vu du bon Henri le jeune rejetton, / Héritier de son cœur & digne de son nom, / Dans nos champs étonnés essayant son courage, / Soulever la charrue; & fier de son ouvrage, / Enfoncer un sillon, de cette même main, / Qui doit porter le sceptre & régler le destin… / On verra donc un jour, au Temple de Mémoire, / Un Roi Cultivateur, un Prince dont la gloire, / N’aura point épuisé le sang et ses sujets; / Qui n’aura rien conquis qu’à force de bienfaits. / Il aura pour appui Cérès & non Bellonne; / Pour sceptre un olivier; ses vertus pour couronne. / L’airain n’offrira pas, aux yeux épouvantés, / D’attributs teints de sang, de rébelles domptés, / De captifs enchainés une foule éperdue;/ Mais des gerbes, des socs, une simple charrue, / D’utiles Laboureurs & de bons Paysans, / Et leurs chastes moitiés & leurs nombreux enfans, / Tont un Peuple à genoux bénissant sa mémoire, / Embrassant sa Statue; & la France à sa gloire, / Au lieu d’éloges vains, de titres fastueux, / Y gravant ces seuls mots: Il les rendit heureux. Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Novembre 1769. S. 174f. 552 Mercure de France. Septembre 1769. Bd. 1. S. 167. 553 Girault de Coursac, L’Education d’un roi, S. 72f. 554 Mercure de France. Septembre 1769. Bd. 1. S. 167. Boizot, François-Marie-Antoine: Le Dauphin labourant. Kupferstich, 43 x 54,5 cm. 1769. Bibliothèque nationale de France, Paris. Estampes, Qb-1 (1769). Eine weitere sehr kurze Ankündigung des Boizot-Stichs findet sich auch in der Gazette de France vom 29. September 1769: Gazette de France 1769. Nr. 78. S. 318. Zu diesem und den folgenden Kupferstichen vgl. aus kunsthistorischer Perspektive Lechtreck, Hans-Jürgen: Herrscher im „royaume agricole“. Das kaiser­liche Pflügen als Gegenstand reformabsolutistischer Bildsprache. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 64/3 (2001). S. 364 – 380. Clavilier, Cérès et le laboureur, S. 114f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 367 am 10. September 1769 in Versailles präsentiert.555 König und Dauphin besaßen somit Kenntnis von der Bedeutung, die dem eigenhändigen Pflügen Louis Augustes in der Öffent­lichkeit beigemessen wurde. Reaktionen aus dem Kreis der könig­lichen Familie auf den Stich und seine Aussage konnten jedoch nicht ermittelt werden. Der Stich Boizots nahm dann deut­lich den von den Physiokraten gewünschten Bildungs- und Erziehungsaspekt des Landbaus in den Fokus und inszenierte gleichzeitig die neue Rolle des Monarchen als erster Landmann. Das Blatt spiegelt dabei genau das Anliegen der Physiokraten wider: einen Monarchen, der sein Wissen um praktische und theoretische Landwirtschaftskenntnisse erweiterte. So schreitet der Duc de La Vauguyon als Gouverneur neben dem pflügenden Dauphin einher.556 Mit der Anwesenheit des Erziehers wurde dem Betrachter vermittelt, dass die Landwirtschaft zum Herrscherwissen zählt und an den künftigen Monarchen des Landes sowie die könig­ lichen Prinzen vermittelt wird. Die Darstellung der Brüder des Erbprinzen, die in Begleitung zweier eleganter adeliger Kavaliere hinter dem Pflug schreiten, machte dem Betrachter des Stichs auch deut­lich, dass die Begleiter ihren Zöglingen aufgrund ihrer Gestik offensicht­lich gerade Unterricht erteilen oder deren Fragen beantworten. Der Dauphin ist in höfischer Kleidung mit Dreispitz, Degen und dem Orden vom Heiligen Geist dargestellt, seine jüngeren Brüder ebenfalls durch die Schärpe herausgehoben. Die Pferde des Pfluges schmücken eine Decke mit dem angedeuteten Wappen des Dauphin. Geführt werden die Pferde durch einen Bauern. Drei Gruppen von Berittenen rahmen die Pflugszene des Dauphin ein und verweisen den Betrachter darauf. In gebührendem Abstand scheinen sich Teile der Darstellungen des Vordergrunds zu wiederholen. Hinter den könig­lichen Personen steht ein Bauer mit seinem Sohn, der ebenfalls auf dieses Geschehen verweist, zugleich aber seinen Sohn anhand des könig­lichen Beispiels auch belehren könnte. Oberhalb der herrscher­lichen Pflugszene findet eine zweite Szene mit ackerbau­licher Arbeit statt. Ein Bauer geht seiner gewohnten Tätigkeit nach und bearbeitet sein Feld mit der Egge. Für den Betrachter des Stichs wurde deut­lich: Der Bauer und der Kronprinz üben eine ähn­liche und sich ergänzende Tätigkeit aus. Sie besitzen offensicht­lich gleiche Fähigkeiten. Die Arbeit des Bauern erfuhr mit dieser Darstellung eine einzigartige Beachtung und Wertschätzung durch den zukünftigen Landesherrn, der sich gleichzeitig mit seiner Person an die Spitze der Landwirtschaft stellt. 555 L’abbé de Fleury eut l’honneur de présenter au Roi et à la Famille Royale une estampe représentant Monseigneur le Dauphin labourant, dédiée à ce prince, composée et exécutée par le Sieur Boizot. Mercure de France. Octobre 1769. Bd. 1. S. 224. 556 Haushofer ist bei der Interpretation des Stichs von Boizot ein gravierender Fehler unterlaufen. Er schreibt als Erläuterung des Stichs unter Abb. 2 „Der Dauphin (später Ludwig XVI.) pflügt unter den Augen seines Vaters Ludwig XV.“ Haushofer, Das kaiser­liche Pflügen, S. 177. Ludwig XV. ist der Großvater des Prinzen und auf dem Stich nicht abgebildet. Diese Fehlinterpretation übernimmt auch Telesko, Werner: Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Wien/Köln/Weimar 2006. S. 119. Ebenso falsch bei Stähler, Der Herrscher als Pflüger und Säer, S. 12f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 368 Der chinesische Kaiser als Vorbild Damit folgte der Entwurf der Darstellung von Boizot und Poulin de Fleins tatsäch­ lich den Beschreibungen der Pflugszene am kaiser­lichen Hof in China. Der französische Kronprinz führte den Pflug wie sein kaiser­licher Kollege in Anwesenheit der Prinzen von Geblüt, adeliger Höflinge und Bauern. Die Handlung fand wie in China im Beisein von Vertretern unterschied­licher Stände und Schichten statt – wenn auch nicht während eines offiziellen Anlasses oder in Form eines Rituals. Im Motiv des chinesischen Rituals hatten Reiseberichterstatter, Kameralisten und Physiokraten ein Indiz für eine Gesellschaft entdeckt, in der dem Wert der Arbeit eine große Bedeutung beigemessen wurde. Im Pflügen aller Schichten war eine gegenseitige Annäherung über die Arbeit und den Nahrungserwerb gesehen worden. Die gleiche Interpretation einer gesellschaft­ lichen Annäherung wurde nun auf die Pflugszene des Dauphin übertragen: Während der Kronprinz pflügte, vollführte ein Bauer die anschließende Tätigkeit des Eggens. Symbolisch bearbeiteten der künftige Monarch und der Bauer als Nährstand das Feld damit in ähn­licher Form gemeinsam wie beim Akt des gesellschaftsübergreifenden Pflügens in China. Poulin de Fleins stellte mit seinem Entwurf dar, wie die umstehenden Bauern über die länd­liche Arbeit ihres künftigen Landesherrn jubelten. Er griff somit auf die gewünschten Deutungen der Physiokraten und die Einschätzungen der Reiseberichte zurück, die von der Wertschätzung des Ackerbaus und der Bauern als Effekt des eigenhändigen Pflügens des chinesischen Kaisers gesprochen hatten. Der Dauphin wirkte in Poulin de Fleins Entwurf durch seine praktischen ackerbau­lichen Fähigkeiten wie der chinesische Kaiser als Vorbild – für Monarchen, für den Adel und die Bauern. Durch dieses Vorbild belehrte und motivierte er, dem Landbau getreu und fleißig nachzugehen. Wenn die Bildgestaltung auch durchaus in Anlehnung an das Modell des chinesischen Kaisers entstand, griff der Stich in der Bildunterschrift jedoch im Gegensatz zu dem anonymen Bericht in den Ephémérides du Citoyen nicht auf das Beispiel des chinesischen Kaisers als Vergleich und Kontextualisierung der Handlung des Dauphin zurück, sondern feierte den künftigen König als neuen Triptolemos. Auf der Bildunterschrift heißt es: Quel est Donc, Ô Cères, ce nouveau Triptolème? / D’un Père bien faisant c’est le plus doux Emblême / Quelles mains de ton art Essaïent les Leçons? L’image de Louis l’heritier des Bourbons. Und darunter: Dedié à Monseigneur Le ­Dauphin, l’an 1769, pas son très humble et très respectueux Serviteur Poulin de Fleins.557 Boizots Blatt rekurrierte so gezielt auf die antike mythische Tradition, griff dabei aber nicht auf etablierte Muster in der Herrschaftsdarstellung wie Herkules oder Alexander den Großen 558 zurück, sondern wählte den kaum in der französischen Repräsentation verankerten Triptolemos. In der 5 57 Boizot, Le Dauphin labourant. Bildunterschrift. 558 Insbesondere Ludwig XIV. sah sich als Nachfolger Alexanders. Seine imitatio Alexandri bezog sich aber vor allem auf die Darstellungen als tapferer und siegreicher Kämpfer sowie als großer König. Ein Bezug zu Alexander als Ernährer des Volkes findet sich in Ludwigs Anlehnung an den makedonischen König nicht. Zur Rolle Alexanders in Ludwigs XIV. Herrschaftsverständnis und -darstellung vgl. Grell/Michel, L’École des Princes, S. 12ff und S. 65ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 369 Wahl des Triptolemos steckt darüber hinaus auch ganz klar der Hinweis auf die Tradition der antiken Kaiser wie etwa Claudius, der den Titel Neos Triptolemos als Kornspender und Ernährer des Volkes erhalten hatte.559 ­Boizot bediente sich mit der erläuternden Bildunterschrift einer Kommunikationsstrategie, die das Motiv in einen bestimmten Verständniskontext setzte, belehrte und über wenig bekannte Inhalte informierte. Er lenkte das Verständnis des Betrachters gezielt in die erwünschte Richtung des Künstlers und ließ keinen Raum für andere Assoziationen. Die Beschriftung von Kunstwerken schien aus Sicht von Zeitgenossen wie dem Kunsttheoretiker Jean-Baptiste Dubos in Verbindung zur Darstellung die Betrachtung des Bildes zu perfektionieren und zu einem vollständigen fruchtbaren pädagogischen Augenblick für den Betrachter werden zu lassen.560 Der eleusische Ackerbau-Heros, der selbst in der physiokratischen Literatur und Propaganda neben dem chinesischen Kaiser nur eine untergeordnete Rolle gespielt hatte, avancierte mit Boizots Kupferstich zu einem optimalen Vergleichspunkt für den Dauphin. Wie der mythische Triptolemos von Ceres im Ackerbau unterwiesen worden war und in ihrem Namen den Landbau verbreitete, erwies sich aus Sicht Poulin de Fleins und Boizots Louis Auguste als neuer Triptolemos Frankreichs und als gelehriger Schüler auf diesem Gebiet. Zugleich führte er als künftiger französischer Monarch die antike Tradition ruhmreicher römischer Kaiser fort, die sich der cura annonae angenommen hatten. Mit Boizots Stich und der Deutungsvorgabe für die dargestellte fürst­liche Szene etablierte sich für die Dauer von etwa zwei Jahrzehnten eine weitere Herrschertugend mit ihrer traditionellen Verankerung im antiken Mythenspektrum. Hatte das Pflügen des chinesischen Kaisers in der Vermittlung der Notwendigkeit ackerbau­licher Interessen eines Monarchen erfolgreich als Vorbild gewirkt, so eignete sich der fremde Potentat nicht mehr dazu, die vollzogene Tat des französischen Kronprinzen würdigend einzuordnen. Dafür musste auf den mythologischen Bereich zurückgegriffen werden, der Louis Auguste in die Nachfolge von Göttern oder Halbgöttern stellte und nicht in den Schatten eines fremden, allzu erfolgreichen Monarchen und Zeitgenossen. Wenn es sich zudem beim eigenhändigen Pflügen des Dauphin um eine geplante Lehrunterweisung seitens seines Erziehers gehandelt hat, welche die Exzerpte aus Fénelons Telemaque zur Landwirtschaft praktisch stützen sollten, dann war die Einordnung des könig­lichen Handelns durch den Text des Fürstenspiegels und die Wahl der Identifikationsfigur mit Triptolemos ohnehin vorgegeben. Dennoch ist der Wandel in der Interpretation und Einordnung des Motivs auffällig: Während das Beispiel des chinesischen Kaisers ein Ideal prägte und die Vermittlung des Ideals maßgeb­lich dominierte, spielte es in der Rezeption des Ideals durch die französische Öffent­lichkeit und die Monarchen selbst kaum mehr eine Rolle. 5 59 Vgl. dazu Kap. 2.1.3 c) in dieser Studie. 560 Zu Jean-Baptiste Dubos theoretischen Vorstellungen, den Betrachter zu belehren oder zu rühren, vgl. Kernbauer, Platz des Publikums, S. 106f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 370 Der chinesische Kaiser als Vorbild Der junge Thronfolger hatte sich, wie die Bildunterschrift unter Boizots Stich mitteilte, nicht nur als neuer Triptolemos, sondern auch als ein rühm­liches Beispiel seiner Dynastie erwiesen, der für alle sichtbar und würdig in der Tradition des père bien faisant, des guten und fürsorg­lichen, väter­lichen Königs Heinrich IV. stand. Dies verhieß dem Untertanen in der nächsten Herrschergeneration ein gutes, bedachtes und wohlmeinendes Regiment und damit eine glück­liche Zukunft.561 Nachdem die landwirtschaft­liche Betätigung von Louis Auguste außerhalb des Hofes so viel Beachtung gefunden hatte, erkannte auch Versailles das Potential des Motivs des pflügenden Dauphin und den Wert des Kupferstichs von Boizot. Der Stich wurde deshalb auch zeitnah seitens des Hofes verbreitet. In einer kolorierten Prachtausgabe erhielt den Stich beispielsweise die künftige Braut des Kronprinzen, die 14-jährige Erzherzogin Maria Antonia (Marie Antoinette) von Österreich: L’estampe du « Dauphin labourant » envoyée à Antonia.562 Erst wenige Monate zuvor, im Juni 1769, war in Wien die offizielle Eheanfrage für die Prinzessin seitens des französischen Hofes eingegangen.563 Die Frage nach der beabsichtigten Aussage des Stichs gegenüber der künftigen Dauphine soll vorerst noch zurückgestellt werden, denn Boizots Stich blieb nicht der Einzige, der die Pflugszene visualisierte und als Präsent Marie Antoinette erreichte. Ein weiterer Kupferstich, der bisher Michael Wachsmuth (1705 – 1775) zugeschrieben wurde,564 sehr wahrschein­lich aber von dem Straßburger Stecher Martin Wachsmuth 561 Zur Rolle Heinrichs IV. als bon roi Henri le Grand während der Regierungszeiten Ludwigs XV. und Ludwigs XVI. in der Herrscherkritik, aber auch in der Selbstdarstellung vgl. Malettke, Klaus: Dynastischer Aufstieg und Geschichte. Charakterisierung der Dynastie durch bourbonische Könige und in der zeitgenössischen Historiographie. In: Kampmann, Christoph/Krause, Katharina et al. (Hg.): Bourbon, Habsburg, Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700. Köln/Weimar/Wien 2008. S. 13 – 26. Hier S. 18ff. Die physiokratische Argumentation zielte eher auf den Minister Heinrichs IV., Sully. Sie trugen nicht unwesent­lich zur Stilisierung seiner Person als grand ministre bei. Vgl. Avezou, Sully à travers l’Histoire, S. 225ff. Zu Sully in den Ephémérides ibd. S. 230ff. Auch der Schwiegervater Ludwigs XV., Stanislas Leszczynski, hatte sich mit einem Image eines roi bienfasant geschmückt, als er mit dem Garten von Malgrange ein Mustergut hatte anlegen lassen und darüber hinaus sein landwirtschaft­liches Interesse auch in der Förderung der Bauern in Lothringen zeigte. Chapotot, Les Jardins du Roi Stanislas, S. 95ff. Im Juli 1762 wurde ihm zu Ehren an der Kirche St. Catherine eine Inschrift befestigt, die dem König den Surnommé le Bienfaisant zugestand. De Raissac, Richard Mique, S. 80. Die zeitgenössische aristokratische Auffassung von bienfaisant war somit als Sensibilität für eine Sache bzw. für Bedürfnisse zu verstehen. Martin, Dairy Queens, S. 181. 562 Lever, Evelyne: Marie-Antoinette. La dernière reine. Paris 2000. S. 17. 563 Malettke, Bourbonen, S. 117. 564 Michael Wachsmuth war als Kupferstecher in Schaffhausen um 1760/1770 tätig. Vgl. dazu Hans Vollmer (Hg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart. Bd. 35. Leipzig 1942 (Reprint Leipzig 1999). S. 5. Ihm sind die beiden Kupferstiche zugeschrieben, allerdings erscheint eine Zuordnung angesichts des Wirkens von Martin Wachsmuth als Stecher in Straßburg logischer. Diese Vermutung stützt die Bildunterschrift, die in diesem Kapitel noch ausführ­lich diskutiert wird. Eine indirekte Bestätigung bietet auch das elsässische Künstlerlexikon. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 371 oder von seinem Augsburger Kollegen Jeremias Wachsmuth stammt, fixierte das Pflügen des Dauphin etwa ein reich­liches Jahr nach dem Geschehen, um 1770, unter dem gleichen Titel wie Boizots Stich: Monseigneur le Dauphin labourant.565 Auch ­Wachsmuth (Abb. 18: Kupferstich von Wachsmuth) bediente sich einer Beschriftung seines Stichs, welche die Deutung vorgab. Die Bildunterschrift bildet einen Reim und lautet: O Terre! ouvre ton sein, l’utile agriculture/ l’humanité sourit et toute la Nature/ l’objet de nos dedains s’annoblit en ce jour/ en voyant travailler l’objet de notre amour.566 Das Bild ist ähn­lich wie Boizots Stich aufgebaut. Vor allem fällt die Ähn­lichkeit der Landschaft und der Gebäude ins Auge. Diese Tatsache begünstigt die Annahme, dass es sich nicht um eine rein dekorative blühende Kulturlandschaft handelt, welche die Szene passend umrahmen soll, sondern um einen realen Ort, an dem das Pflügen stattgefunden haben kann. Die abgebildete Architektur verweist wegen des auffälligen Dachreiters auf eine Zisterzienserabtei. Die Recherche nach einer entsprechenden Abtei, die sich im näheren Umkreis von Versailles befand und somit als mög­liches Ziel einer Spazierfahrt infrage kam, ergab tatsäch­lich einen Befund: Es handelt sich sehr wahrschein­lich um die Abbaye des Vaux de Cernay in der Nähe von Rambouillet. Eine Rekonstruktion der Abtei von L. Morize (Abb. 19: Gebäudestruktur der Abtei) aus dem Jahr 1889 im bau­lichen Zustand vor der Französischen Revolution zeigt die Gebäudestruktur.567 Sowohl die Kirche mit Dachreiter, die Abbildung des Chores und die Verteilung weiterer Gebäude weisen eine große Übereinstimmung mit Boizots und Wachsmuths Stichen auf. Auch eine Mühle, die sich auf dem Kupferstich Boizots unweit der Abtei befindet, kann am Weg süd­lich des Es ordnet die beiden Stiche mit dem pflügenden und jagenden Dauphin einem Elsässer Stecher M. Wachsmuth zu. Dies ist ein Indiz, dass es sich um Martin, nicht jedoch um den in Schaffhausen tätigen Michael handeln muss. Reiber, Ferdinand: Catalogue de la Collection d’Alsatiques (Estampes et Livres) de Ferdinand Reiber. Strassburg 1896. S. 341. Nr. 5325f. Francois-Louis Bruel ordnet den Stich Jeremias zu, ohne jedoch einen Nachweis zu erbringen. Bruel, Francois-Louis: Collection de Vinck. Inventaire analytique. Bd. 1, Paris 1770. S. 76f. Eine eindeutige Zuordnung zu einem Stecher kann somit nicht erfolgen. M. könnte einfach auch nur für Monsieur stehen. Eckehardt löst die Initiale M. Wachsmuth nicht auf. Budde, Europa und die Kaiser von China, S. 68, Abb. 62. Clavilier verzichtet auf eine genaue Zuordnung und gibt nur den Hinweis auf Wachsmuth. Clavilier, Cérès et le laboureur, S. 120f. 565 Die BnF hat seit Juli 2012 die Zuschreibung der Stiche an Michael gelöscht und stattdessen kommentarlos Jeremias Wachsmuth (1711 – 1771) eingetragen. Die Gazette de France kündigte am 26. Oktober 1770 die Stiche an: Deux nouvelles estampes représentant, l’une, Monseigneur le Dauphin labourant, et l’autre, Monseigneur le Dauphin chassant. Chez Croisey, graveur et marchand d’estampes, rue Dauphine, vis à vis de la rue Christine. Eine Ankündigung findet sich auch in: Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Juin 1770. S. 210f. 5 66 Wachsmuth, Michael (?): Le Dauphin labourant. Kupferstich Maße: 34,5 x 51,5 cm. Signatur: Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, RESERVE QB-370 (2)-FT 4. 567 Abbildung bei Aubert, Marcel M.: L’Abbaye des Vaux de Cernay. Paris 1931. S. 7. Grundsätz­lich kurz zur Geschichte der Abtei vgl. ders.: L’Abbaye des Vaux de Cernay. Paris 1934. Peugniez, Bernard: Routier cistercien (Collection Le monde cistercien). Moisenay 2003. S. 177 – 179. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 372 Der chinesische Kaiser als Vorbild Klosters zusammen mit einer Brauerei und einem Bauernhof nachgewiesen werden.568 Die Abtei wurde ab 1766 bis zu ihrer Auflösung 1791 von Louis II. Charles du Plessis d’Argentré geleitet, der zugleich als Bischof von Limoges fungierte.569 Er pflegte mit Turgot, dem Intendanten von Limoges und späteren Minister für Finanzen, gute Beziehungen. Ob der Abt schon darüber hinaus Kontakte zu den Physiokraten unterhielt, war nicht zu ermitteln. Unklar bleibt auch, ob die Abtei gezielt aus- bzw. aufgesucht wurde, oder ob es sich um einen Zufall handelte. Eine mög­licherweise gezielte Auswahl der Zisterzienserabtei würde sich hinsicht­lich eines beabsichtigten Erziehungsaspekts für den Dauphin als sinnvoll erwiesen haben, denn der Orden hatte es sich seit seiner Gründung durch Bernhard von Clairvaux zum Ziel gesetzt, Täler in der Wildnis zu besiedeln und zu kultivieren. Die Zisterzienser rodeten Wald und legten Ackerflächen und Gemüsegärten an, auf denen sie sich über Jahrhunderte der Entwicklung und Verbreitung landwirtschaft­lichen Wissens widmeten.570 Die Übereinstimmung der Gebäude auf den Kupferstichen von Boizot und ­Wachsmuth muss jedoch nicht zwangsläufig ein Indiz für die Darstellung einer realen Landschaft sein. Mög­lich ist auch, dass Wachsmuth den Hintergrund von Boizots Stich einfach kopiert oder sich gestalterisch zumindest eng daran angelehnt hat. Der Stich Wachsmuths zielte ebenfalls auf den Ausbildungs- und Erziehungsaspekt von Landwirtschaft in der könig­lichen Familie. Der Dauphin, im höfischen Rock mit Dreispitz bekleidet, führt den Pflug mit beiden Händen, während ein Bauer im Kittel die Zügel der Pferde hält. Die Decke des vorderen, weißen Pferdes weist die Initialen A. L. für Auguste Louis auf. Einem der jüngeren Prinzen und Bruder des Dauphin wird durch einen der Erzieher die Tätigkeit des Älteren erläutert. Über dem Kronprinzen, als zweiter Mittelpunkt der gesamten Darstellung, steht am bereits gepflügten Feld ein Bauer, der mit der Aussaat beschäftigt ist. Am Rande des Feldes beobachtet neben der könig­lichen Kutsche das Gefolge des Dauphin stehend die Szene, während aus der Gegenrichtung jubelnde Bauern herbeilaufen. Am rechten Bildrand betrachtet eine bäuer­liche Familie mit einer Egge ebenso glück­lich wie erstaunt die Szene. Damit sind auch alle notwendigen ackerbau­lichen Arbeitsschritte des Pflügens, des Eggens und der Saat auf dem Bild vertreten. Der Kupferstecher M. [Michael/Martin oder Jeremias?] Wachsmuth schuf noch einen weiteren Stich (Abb. 20: Kupferstich von Wachsmuth) als Pendant.571 Er zeigt den Dauphin in einer kleineren Gesellschaft auf einer der in Frankreich üb­lichen und 568 569 570 571 Aubert, L’Abbaye des Vaux de Cernay, 1931, S. 72. Ibd. S. 61. Ders., L’Abbaye des Vaux de Cernay, 1934, S. 29. Grundsätz­lich dazu: Nagel, Eigenarbeit der Zisterzienser. Wachsmuth, Michael (?): Monseigneur le Dauphin chassant. Kupferstich. Maße: 34,5 x 52 cm. Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, RESERVE QB-370 (2)-FT 4. Abgebildet und kurz besprochen bei Clavilier, Cérès et le laboureur, S. 120f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 373 unter Ludwig XV. besonders beliebten Parforcejagden.572 Der Stich Wachsmuths stellt jedoch nicht das „Handwerk“ der Jagd oder die Körperertüchtigung in den Vordergrund, sondern entweder die Belehrung oder das bereits vorhandene Wissen des Kronprinzen, Jagden für die Landwirtschaft so schonend wie mög­lich und zur passenden Jahreszeit durchzuführen: Der Stich fixiert einen Moment, in dem das kleine Jagdgefolge des Dauphin an einem Feldrand angehalten hat. Der Blick des Betrachters, der Jäger und dreier am linken Bildrand stehenden Bauern mit Sensen folgt einem auf eine blühende Agrarlandschaft weisenden Begleiter des könig­lichen Gefolges, der die in vollem Wachstum stehenden Felder vor Augen führt. In der Kutsche, die das Wappen des Dauphin trägt, ist der Kronprinz in Begleitung eines jüngeren Mannes, mög­licherweise seines Bruders, zu sehen. Offensicht­lich hatte der Dauphin befohlen, die Kutsche bzw. den ganzen Jagdzug am Feldrand halten zu lassen. Sehr wahrschein­lich gehen die Motive von Wachsmuths beiden Stichen Le Dauphin labourant und Le Dauphin chassant auf den Bericht aus dem anonymen und Quesnay zugeschriebenen Brief zurück, den die Ephémérides du Citoyen in ihrer Juliausgabe 1768 publiziert hatten. Text und Bilder passen auffällig zusammen, ohne dass die Stiche einen Hinweis auf die mög­liche Quelle geben oder gar auf ein Ereignis Bezug nehmen. Neben der Beschreibung des eigenhändigen Pflügens hatte der Brief Quesnays noch eine weitere Begebenheit vom Herbst des Jahres 1767 eröffnet, in der sich der junge 572 Insbesondere die Hohe Jagd, das Erlegen von Hochwild, stellte ein fürst­liches Privileg dar. Rösener, Werner: Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit. Düsseldorf 2004. S. 257ff. Unter Ludwig XI. (1423 – 1483) wurde die Parforcejagd am französischen Hof fest etabliert. D’Anthenaise, Claude: Chasses aux toiles, chasses en parc. In: Chantenet, Monique/D’Anthenaise, Claude (Hg.): Chasses princières dans l’Europe de la Renaissance. Paris 2007. S. 73 – 100. Hier S. 74f. Zum Ablauf der Parforcejagden nach zeitgenössischen Jagdlehrbüchern vgl. Pirl, Uwe: Von mancherley Arten der Lust-Jagten und Jagt-Divertissements. In: Richter, Susan (Bearb.): Die Lust am Jagen. Jagdsitten und Jagdfeste am kurpfälzischen Hof. Ubstadt-Weiher 1999. S. 33 – 43. Hier S. 37ff. Der Jagd an sich kam ein erheb­licher Erziehungsaspekt für fürst­liche Söhne zu, konnte doch dabei das Töten bzw. die Macht über Leben und Tod ebenso erlernt werden wie die Orientierung im Gelände oder das strategische Vorgehen beim Stellen des Wildes. Zudem gelang es bei der Jagd, den eigenen Körper an der frischen Luft spielerisch an Strapazen zu gewöhnen, was im Krieg für einen Prinzen von Vorteil sein konnte. Salvadori, Philippe: La chasse sous l’Ancien Régime. Paris 1996. S. 138ff und S. 161ff. In einem zeitgenössischen deutschen Jagdlehrbuch, dem Geheimen Jäger=Kabinett, heißt es: Es ist unstreitig die Jägerey eine von den schönsten Lustbarkeiten und grossen Herren und Standes=Personen vor allem sehr anständig, sintemahl nicht allein dadurch der Leib zu allen Kriegs= Exercitien fertig und dauerhaft gemacht wird. Anonymus: Geheimes Jäger=Cabinet. Leipzig 1701 (Reprint Berlin 1990). S. 837. Friedrich II. hatte 1739 als Kronprinz in seinem Antimachiavell die Verrohung des mensch­lichen Charakters durch die Jagd kritisiert: Es liege nahe, daß ihre Unempfind­lichkeit, die sie beim Tiere an den Tag legen, auch gegen Menschen zu erweisen, zum mindesten, daß ihre grausame Gewöhnung, kalten Bluts das Leiden der Kreatur anzusehen, ihr Mitgefühl mit dem Leide ihresgleichen abstumpft. Preußen, Friedrich, König von: Der Antimachiavell. Hg. v. Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Jena 1922. S. 55. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 374 Der chinesische Kaiser als Vorbild Thronfolger während einer Jagd im Beisein seiner Brüder als besonnener Jäger und als Schützer der Landwirtschaft erwiesen hatte. Der Prinz hatte, so der Bericht Quesnays, der eigenen Kutsche und dem gesamten Jagdgefolge angesichts eines Feldes, auf dem das Korn erntereif stand, zu halten befohlen und die Änderung der Route vorgegeben, um die Ernte nicht zu zerstören. Sein Bruder, der Comte d’Artois, soll dem Brief Quesnays zufolge die Situation des umsichtigen Dauphin mit den Worten kommentiert haben: Ah! Que la France est heureuse d’avoir un Prince si rempli de Justice.573 Der Text in den Ephémérides du Citoyen verwies den Leser auf einen wohlunterrichteten künftigen König. Genau diese Aussage griff Wachsmuths Stich auf: Mit der Jagd war jahrhundertelang die sichtbare Aneignung von Land und die Beherrschung von unbebautem Raum durch den Fürsten mittels der Hatz verbunden, immer aber auch die Landpflege des Agrarraumes, welche die ungestörte und fried­liche Kultivierung des Landes ermög­ lichen sollte.574 Damit war dem Herrscher eine Verfügungsgewalt über die Natur, aber auch eine Schutzfunktion über kultivierte Natur zugesprochen worden. Doch gerade die Landpflege wurde zugunsten einer oft willkür­lichen Landbesetzung bei und durch herrscher­liche Jagden im 17. und 18. Jahrhundert immer mehr vernachlässigt und damit gegen normative Muster fürst­licher Pf­lichten zur Sicherung des Agrarraumes verstoßen.575 Der Stich Wachsmuths verwies auf die massive zeitgenössische Kritik an den höfischen Jagden, die oftmals ohne Rücksicht auf die frische Aussaat auf den Feldern oder zur Erntezeit das Wild willkür­lich über die Äcker trieben und billigend in Kauf nahmen, dass dabei die Feldfrüchte zerstört und die landwirtschaft­lichen Nutzflächen ruiniert sowie Vieh der Bauern von den Parforcehunden gerissen wurde. Der Stich zeigt den künftigen König und damit auch den künftigen Jagdherrn, der sich seiner Verantwortung gegenüber seinen Untertanen und der Bedeutung des Landbaus für die gesamte Versorgung mit Nahrungsmitteln bewusst war, die er vor Zerstörung durch die Jagd oder durch den Wildbestand im Wald, der sich oft sein Futter auf den umliegenden 573 Anonymus [Quesnay, François]: Lettre à l’Auteur des Éphémérides, de Versailles, ce 16 juin 1768. In: Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Juillet 1768. S. 9 – 11. Hier S. 11. 574 Morsel sieht in der Wildverfolgung eine räum­liche Bewegung und eine damit verbundene Raumbelegung bzw. herrschaft­liche Durchdringung der Wildnis. Wildnis wird durch die Jagd zum herrschaft­lichen Raum. Morsel, Joseph: Jagd und Raum. Überlegungen über den sozialen Sinn der Jagdpraxis am Beispiel der spätmittelalter­lichen Franken. In: Rösener, Werner (Hg.): Jagd und höfische Kultur im Mittelalter (Veröffent­lichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 135). Göttingen 1997. S. 255 – 288. Hier S. 282ff. 575 Birgit Franke verweist auf Piero de Crescenzis Liber ruralium commodorum aus dem frühen 14. Jahrhundert, das im 15. und 16. Jahrhundert in französischer Übersetzung am Hof Frankreichs weit verbreitet war und insbesondere die Jagd unter dem Aspekt der Landpflege diskutiert. Franke, Birgit: Jagd und herrscher­liche Domäne. Bilder höfischer Repräsentation in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. In: Martini, Wolfram (Hg.): Die Jagd der Eliten in den Erinnerungskulturen von der Antike bis in die Frühe Neuzeit (Formen der Erinnerung, Bd. 3). Göttingen 2000. S. 189 – 217. Hier S. 202. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 375 Feldern suchte, zu schützen hatte. Dass der künftige Herrscher das Jagdregal vernünftig und maßvoll ausübte, wollte Wachsmuth mit seinem Stich darstellen. Die Stärke des Prinzen lag nicht in der Demonstration beispielhaften Mutes oder jagd­licher Kunst wie auf Darstellungen seiner könig­lichen Vorfahren, etwa den Bildern Ludwigs XIV. auf Treibjagd,576 sondern gerade darin, auf der Jagd die erntereifen Felder zu schonen und nicht hindurchzufahren. Betont wurde der Verzicht auf die Jagd in einer Situation, in welcher die Fortführung dem Gemeinwohl geschadet hätte. Wachsmuths Stich ­Monseigneur le Dauphin chassant kommunizierte dem Betrachter die Aussage ­Monseigneur le ­Dauphin non chassant in einem Moment, wo Jagd nur Schaden für den Untertanen angerichtet hätte. Die Bildunterschrift unter dem Kupferstich unterstützt diese Interpretation, setzte sie doch ähn­lich wie die unter dem Stich Boizots den Thronfolger in die Tradition seiner Vorfahren als guter und gerechter König, der die Ernte respektierte: Digne héritier du trône & du sang des Bourbons, que j’aime à voir tes pas respecter nos moissons!/ Ce trait d’humanité m’annonce Prince Auguste, les vertus d’un Ayeul [aïeul], d’un bon Roy, d’un Roy juste.577 Mit dem Bezug auf den Vorfahren mag wiederum Heinrich IV. gemeint sein, doch auch vom Vater Louis Augustes wurde berichtetet, dass er bei Jagden die Felder geschont habe.578 Der Stich machte aber durchaus auch die Notwendigkeit der Jagd und die damit verbundene herrscher­liche Protektion der Landwirtschaft aus einem anderen Blickwinkel deut­lich. Wenn der Wildbestand in einer Gegend ohne Jagd unkontrolliert zunahm, bestand für die Bauern die Gefahr, dass das Wild ebenfalls die Felder zerstörte. Da es von den Bauern nicht geschossen werden durfte, brachten die fürst­lichen Jagden den Bauern Erleichterung und Hilfe. Doch dies bedurfte eines verständigen und maßvollen, eines edlen und gerechten Jagdherrn, der sein Vergnügen zum Nutzen und nicht zum noch größeren Schaden der Landwirtschaft einsetzte. Die Kritik an der Willkür und Zerstörung der fürst­lichen Jagden transportierten neben zeitgenössischen Jagdlehrbüchern insbesondere die Hausväterliteratur und Agrarhandbücher, aber auch die Kunst in Wort und Bild.579 Wachsmuths Stich Monseigneur le Dauphin chassant 576 Als Beispiel sei Adam Frans Van der Meulens (1632 – 1690) Bild Louis XIV et la Cour chassant en vue du château de Meudon genannt. Öl auf Leinwand, 0,77 x 1.270 m. Versailles, Châteaux de Versailles et de Trianon, Inv. Nr. MV5630. 577 Die gereimte Bildunterschrift gab dem Stich den Titel bzw. bezeichnete den Gegenstand des Bildes. Zu Bildunterschriften oder -inschriften vgl. Sparrow, John: Visible Words. A Study of Inscriptions in and as Books and Works of Art (The Sandars Lectures, Bd. 1964). Cambridge 1969. S. 83. 578 Proyart, Vie du Dauphin, père de Louis XVI, S. 151ff. 579 Im bereits angesprochenen Gedicht von Georg August Bürger heißt es in der dritten und vierten Strophe Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen: Wer bist du, daß durch Saat und Forst, Das Hurra deiner Jagd mich treibt, Entatmet, wie das Wild? – Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 376 Der chinesische Kaiser als Vorbild lässt sich dieser Kritik insofern zuordnen, indem er darin das Ideal eines belehrbaren und einsichtigen jungen Jagd- und Landesherrn darstellte. Wenn der Kronprinz selbst die Mühen landwirtschaft­licher Arbeit kennengelernt hatte, musste ihm umso mehr ihr Schutz vor den Verwüstungen durch die Jagd am Herzen liegen. Mit seinen beiden Kupferstichen hatte Wachsmuth ebenso wie Boizot auf den Erziehungskanon des Dauphin Bezug genommen und der etablierten Jagd die Landwirtschaft an die Seite gestellt. Neben der Darstellung des fürst­lichen Jagdprivilegs konnte der Ackerbau als geadelte, der Jagd gleichrangige oder entsprechende und notwendige Tätigkeit des Prinzen bewertet werden. Zugleich hatte er die Abhängigkeit des Landbaus von einem verständigen Jäger und einem geschulten Landmann aufgezeigt. Das Blatt Wachsmuths löste sich von der traditionellen Auffassung der Jagd, indem es nicht einen tapferen Jäger mit ansehn­licher Beute, sondern stattdessen einen fürst­lichen Jäger darstellte, der nach den Geboten der Vernunft das richtige Maß des fürst­lichen Vergnügens abwog und sich selbst zugunsten des Gemeinwohls in seinem Jagdprivileg beschränkte. Es handelt sich bei dieser Darstellung der fürst­lichen Jagd um eine ikonographische Aussage, die später nicht tradiert wurde oder sich etablieren konnte. Die Jagd zählte zu den wichtigsten höfischen Lustbarkeiten, die sowohl der Entspannung und Abwechslung, aber auch der Repräsentation und der Versorgung des Hofes Die Saat, so deine Jagd zertritt, Was Roß, und Hund, und Du verschlingst, Das Brot, du Fürst, ist mein. Bürger, Gedichte, S. 58. Die Meuten der fürst­lichen Parforcehunde wurden am Hof in Versailles und in den deutschen Territorien nach französischem Vorbild den Müllern zur Betreuung mit der Maßgabe überlassen, sie täg­lich mit Brot zu füttern. Es kam bei französischen und deutschen Müllern immer wieder zu Beschwerden, dass sie selbst kaum über genug Brot für sich verfügen würden und deshalb baten, von der Last der Hunde befreit zu werden. Richter, Susan: Der Kurfürst­liche Parforce-Park in Käfertal. In: Dies. (Bearb.): Die Lust am Jagen. Jagdsitten und Jagdfeste am kurpfälzischen Hof (Ausstellungskatalog). Ubstadt-Weiher 1999. S. 43 – 54. Hier S. 51. Zur Kritik während der Regierung Ludwigs XVI. und in der Revolution vgl. D’Anthenaise, Claude: Images de la chasse à courre. In: Dies. (Hg.): À Courre, à cor et à Cri. Images de la Vénerie au XIX siècle. Paris 1999. S. 8 – 17. Hier S. 9. Zur Wilddichte in europäischen Wäldern Mitte des 18. Jahrhunderts sowie zu Wildschadensklagen der Bauern vgl. Rösener, Die Geschichte der Jagd, S. 275ff. Der Fürstenspiegelautor Johann Michael von Loen schilderte in seinem Werk Freye Gedanken vom Adel, Hofe, Gerichtshöfen aus dem Jahr 1760 das große Elend in den Dörfern und klagte die Fürsten an, dass der Bauer nicht nur in Unwissenheit bleibe, sondern auch noch durch Frondienste bei Treibjagden, Schanzen graben oder Botenlaufen geängstigt werde. Wehe denen Fürsten! Die durch ihre Tyranney, ihre Wolllüste, und durch ihre üble Haushaltung den Jammer so vieler Menschen verursachen. Loen, Johann Michael von: Freye Gedanken vom Adel, Hofe, Gerichtshöfen […]. Ulm/Frankfurt/M. 1760. S. 29. Ein Kupferstich von Johann Elias Ridinger aus seiner so genannten Großen Jagd- und Tierserie zeigt die bäuer­liche Jagdfron bei Parforcejagden mit Treiberdiensten, Fuhrleistungen des geschossenen Wildes zur Strecke etc. Sächsische Landesbibliothek, Deutsche Fotothek. Abgebildet in: Jacobeit, Wolfgang/Jacobeit, Sigrid: Illustrierte Alltagsgeschichte des deutschen Volkes. Bd. 1: 1550 – 1810. Leipzig/Jena 1985. S. 45, Abb. 45. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 377 mit Fleisch dienten.580 Dauphin Louis Auguste galt als junger Mann als begeisterter Jäger, dem das Vergnügen, durch den Wald zu reiten, viel bedeutete.581 Als Strafe für Vergehen des Prinzen verbot ihm sein Vater einige Male die Teilnahme an Jagden.582 Wenn also mit Wachsmuths Kupferstich des jagenden Dauphin neben den erzieherischen Aspekten auch die Darstellung einer der Leidenschaften des künftigen Königs gelungen war, so muss gefragt werden, ob die Landwirtschaft mög­licherweise auch zu den bevorzugten Interessen des jungen Mannes zählte. Einen Rückschluss auf diese Annahme ergibt sich aus der Tatsache, dass Ludwig XVI. als König später außerordent­lich gern allein oder in Begleitung von wenigen Vertrauten mit Bauern und Handwerkern Gespräche führte und er auch von den Bauern geliebt werden wollte.583 Darüber hinaus kaufte er sich 1783 das Gut Rambouillet außerhalb von Versailles und begleitete dort die Zucht von Moufflons mit großem Interesse.584 Die Stiche verhießen somit dem Betrachtenden die erfolgreiche Belehrung des Kronprinzen, der sich die Lehrinhalte zu eigen machte. Die beiden Kupferstiche von Wachsmuth waren als Geschenk für die fest­liche Übergabe Marie Antoinettes als Braut des Dauphin an den französischen Hof in Straßburg am 7. Mai 1770 hergestellt worden. In der Bildunterschrift heißt es: Présenté à son Alteresse Royale, Marie-Antoinette d’Autriche, Dauphine de France. Par son très humble, très-obéissant serviteur Perrier. A Strasbourg chez l’Auteur. Unklar ist jedoch, ob sie im Kontext der Fest­lichkeiten wirk­lich überreicht worden waren oder ob es sich nur um eine Dedizierung bzw. Widmung im Rahmen der Hochzeit handelte. Da das Domkapitel unter der Leitung des fürstbischöf­lichen Koadjutoren Louis René Édouard de RohanGuéméné (1734 – 1803) nicht als Auftraggeber des Stichs genannt ist, wurden die Kupfer sicher nicht im Zusammenhang mit den offiziellen Geschenken im Bischofs­palais 580 Zum fürst­lichen Vergnügen der Jagd vgl. Salvadori, La chasse sous l’Ancien Régime, S. 225ff. Eckardt, Hans Wihelm: Herrschaft­liche Jagd, bäuer­liche Not und bürger­liche Kritik (Veröffent­lichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 48). (Diss.) Göttingen 1976. S. 62. Rösener, Geschichte der Jagd, S. 310ff. Hohberg bezeichnete die Jagd 1682 als gute und reiche Küchenmeisterin. Hohberg, Georgica curiosa, S. 688. Der französische Hof ließ sich zum Vergnügen zahlreiche exotische Jagden nach chinesischen und osmanischen Beschreibungen auf Tiger, Löwen und Elefanten in Ölbildern darstellen. Ein Beispiel ist das Bild von Jean-Baptiste Pater La chasse chinoise aus dem Jahr 1756. Salmon, Xavier: Versailles. Les chasses exotiques de Louis XV. Paris 1995. S. 58. Zur bild­ lichen Darstellung von höfischen Jagdfesten im 18. Jahrhundert vgl. Richter, Susan: Ein Zyklus und seine Pendants – die Schwetzinger Jagdbilder. In: Dies. (Bearb.): Die Lust am Jagen. Jagdsitten und Jagdfeste am kurpfälzischen Hof im 18. Jahrhundert. (Ausstellungskatalog). Ubstadt-Weiher 1999. S. 77 – 95. 581 Louis Nicolardot hat aus den Tagebüchern des Dauphin bzw. späteren Königs Ludwig XVI. für jedes Jahr die Anzahl der Jagden ermittelt. Nicolardot, Louis: Journal de Louis XVI. Paris 1873. S. 164f. 582 Girault de Coursac, L’Education d’un roi, S. 70, S. 255ff. Malettke, Bourbonen, S. 115. 583 Ibd. S. 125. 584 Martin, Dairy Queens, S. 216ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 378 Der chinesische Kaiser als Vorbild übergeben.585 Marie Antoinette berichtete in ihrem Brief an Maria Theresia vom 8. Mai 1770 insbesondere von dem freund­lichen Empfang durch das Domkapitel, äußerte sich in diesem Schreiben aber nicht konkret zu Geschenken.586 Die gesamten Feier­ lichkeiten waren jedoch hinsicht­lich ihrer Dekoration und Aussage auf ihre Funktion als Dauphine sowie die Repräsentation des Dauphin ausgerichtet. So wurde das Paar etwa als Mars und Minerva stilisiert, während Putten huldvolle Grüße des Gatten an die Gemahlin übermittelten. In diesen Zusammenhang bettete sich das Geschenk von zwei Kupferstichen mit der Darstellung eines dem Ideal gemäßen Verhalten des 585 Am Stadttor von Straßburg wurde die Dauphine am 7. Mai 1770 durch Maréchal de Contades, à la tête de l’Etat major empfangen, im Anschluss durch den Stadtrat. Darauf folgte die Fahrt durch die Stadt. Vor dem bischöf­lichen Palais wurde sie durch Kardinal de Rohan begrüßt: Après son dîner en grand concert, Madame la Dauphine permit au Magistrat de lui présenter les vins de la ville; cette cérémonie fut suivie d’une fête de Bacchus, donnée par les Tonneliez et suivant l’usage du pays. Archives nationales, Paris, O1 1043, Nr. 4, Bl. 3v. Im Wiener HHStA, AZA (Ältere Zeremonialakten) 80 findet sich eine Liste zu Geschenken, die Marie Antoinette in Straßburg übergeben wurden. Aufgeführt sind einige Porträts von Mitgliedern des Domkapitels und Honoratioren, Kameen sowie reich verzierte Etuis und Tabatieren. Einzelne Personen, von denen die jeweiligen Präsente überreicht wurden, sind jedoch nicht genannt. Fol. 158v-172v. Erhalten haben sich darüber hinaus im Karton 82 AZA zahlreiche gedruckte Gedichte und Ansprachen an Marie Antoinette, die sie während ihrer Brautfahrt und insbesondere in Straßburg erhielt bzw. die an sie gerichtet wurden. Ein Hinweis auf die Übergabe der Kupferstiche als Geschenk oder eine andere Liste von Präsenten findet sich darin nicht. Auch der Blick in den Bestand Staatenabteilung Frankreich Varia, Karton 34, in dem sich die Reiseprotokolle befinden, blieb hinsicht­lich der Übergabe der Kupferstiche ergebnislos. Die gewählte Aussage der beiden Stiche erhält vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Dauphine sieben Tage vor ihrer Ankunft in Straßburg im Praemonstratenserreichsstift Marchtal im Rahmen eines grundsätz­lich fröh­lichen, aber durchaus auch nicht unkritischen Festspiels zu Ehren des durchreisenden Gastes durch drei Bauern die Härte der Fron im Straßenbau und ihrer daraus folgenden Vernachlässigung der Feldbestellung vor Augen gehalten worden war, eine eigene Bedeutung. Nachdem die Bauern ihr Problem der Kaisertochter zu Gehör gebracht hatten, ließen sie sich von einem auftretenden Geist­lichen beschwichtigen, der ihnen mitteilte, sie hätten ihr schweres Werk für Marie Antoinette vollbracht. Daraufhin fielen in das allgemeine Vivat alle anderen Darsteller mit ein. Es handelt sich um Sebastian Sailers Stück Beste Gesinnungen schwäbischer Herzen. Ulm 1770. Gerade im Vorfeld der Reise der könig­lichen Braut waren in den Reichsteilen, durch welche die Reiseroute in 17 Tagesstrecken führte, die Instandsetzung der Straßen und Wechselstationen sowie das Streichen der Häuser an den Chausseen von Wien aus angeordnet worden. Übertragen wurden diese Arbeiten vor allem den fronleistenden Bauern, die somit im Frühling nicht zur Feldarbeit kamen. Die Bauern informierten die Prinzessin über ihre Last, doch bekundeten sie ihr danach, die Mühen für ihre Person willig auf sich genommen zu haben. Grundsätz­lich zum Hochzeitszug Beck, Gertrud: Die Brautfahrt der Marie Antoinette durch die vorderösterreichischen Lande. In: Barock in Baden-Württemberg. Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Französischen Revolution. Ausstellung des Landes Baden-Württemberg 1981. Bd. 2. Karlsruhe 1981. S. 311 – 324. Hier S. 320. Zur Brautfahrt und Übergabe der Prinzessin auf dem Rhein kurz Campan, Jeanne Louise Henriette: The Private Life of Marie Antoinette. Stroud 2008. S. 83f. Nolhac, Pierre de: Marie-Antoinette, Dauphine (Versailles et la cour de France). Paris 1929. S. 79 und S. 83. 586 Feuillet de Conches, Félix-Sébastien (Hg.): Louis XVI, Marie-Antoinette et Madame Élisabeth. Lettres et documents inédits. Bd. 1. Paris 1864. Brief Nr. 1, S. 1f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 379 künftigen Monarchen durchaus gut in die Gesamtthematik ein.587 Die beiden Stiche Wachsmuths präsentierten der Prinzessin einen wohlinstruierten Gatten und künftigen Herrscher Frankreichs, dem das Wohl seiner Untertanen mit dem Schutz der Landwirtschaft am Herzen lag.588 Ludwig XV. griff den Aspekt der Repräsentation des landwirtschaft­lich unterwiesenen Kronprinzen auf. Ein solcher Erziehungsakt, wie ihn die beiden Stiche von B ­ oizot und Wachsmuth zeigen, spiegelt sich in dem von Ludwig XV. im Jahr 1769 für den Speisesaal des Petit Trianon bei Louis Jean François Lagrenée (1724 – 1805) in Auftrag gegebenen und 1770 fertiggestellten großformatigen Werk Cérès enseignant l’agriculture à Triptolème wider (Abb. 21: Gemälde von Lagrénee).589 Das Thema des Bildes unterstrich die Bedeutung des Petit Trianon, dessen Garten Pflanzenexperimenten und der botanischen Dokumentation gewidmet war. Der Auftrag des Königs zu dem Gemälde erfolgte nach dem eigenhändigen Pflügen des Dauphin und steht sehr wahrschein­lich mit dem Ereignis in unmittelbarer Verbindung, hatte doch Boizots Stich in seiner Bildunterschrift bereits einen Hinweis auf das Wirken des Prinzen zu Ehren der Ceres und des Triptolemos gegeben. Mit bildgestalterischen Mitteln ist es Lagrenée gelungen, die physiokratischen Grundforderungen wie die Herrschaft der Natur und einen ihr dienenden Monarchen sichtbar zu machen. Eine Interpretation nach physiokra­tischen Gesichtspunkten ist bisher nicht unternommen worden und soll an dieser Stelle nachgeholt werden: Ceres sitzt in einem getreidegelben Gewand an der linken Seite des Bildes und führt als personifizierte Natur eine gütige und alle Bedürfnisse befriedigende, fruchtbare Herrschaft, wie das Kind an ihrer Brust mit Ähren im Arm beweist. Ihr zu Füßen rasten Bauern nach der offensicht­lich reichen Ernte (die Sichel wurde einstweilen abgelegt) und stärken sich mit Brot, Äpfeln und Wasser. All diese reichen Gaben verdanken die Menschen der Natur. Diese wiederum, nun in realistischer Darstellung, bildet den Mittelpunkt des Bildes. Dem Betrachter wird ein Blick von einem halb abgeernteten Getreidefeld mit arbeitenden Bauern und idyllisch unter einem Busch ausruhenden Müttern in die sich öffnende, freie, hügelige Natur gewährt. Mit dem linken Arm unterweist Ceres als personifizierte Natur den mit könig­licher roter Toga bekleideten und mit einer Krone ausgestatteten Herrscher Triptolemos im Landbau. Ihr 587 Zum Ablauf der Feier­lichkeiten in Straßburg und der Dekoration vgl. Gruber, Alain-Charles: Les grandes Fêtes et leurs décors à l’époque de Louis XVI. (Histoire des idées et critique littéraire, Bd. 122). (Diss.) Genève/Paris 1972. S. 40 – 47. 588 Thematisch parallel wurde ihr auf der Weiterreise in Châlons ein Stück präsentiert, das noch einige Male später auch im Beisein Ludwigs XV. gespielt wurde: La Partie de Chasse de Henri IV. Es geht in der Komödie um die Verherr­lichung des guten Königs Heinrich IV., der während einer Jagd von seinem Gefolge getrennt wurde und bei einem Müller die Gastfreundschaft genoss. Dupuit, Jean-Sébastien: Plaisiers de Rois: Les Fêtes de Louis XIV à Louis XVI. Versailles 1998. S. 34. 589 Öl auf Leinwand, 339 x 234 cm. Musée National du Château, Versailles. MV 7416; INV. Nr. 5553. Zum Maler vgl. Sandoz, Marc: Les Lagrenée: Louis, Jean, François Lagrenée, 1725 – 1805. Bd. 1. Paris 1983. Nr. 268. Das Bild ist kurz erwähnt bei Guy, The French Image of China before and after Voltaire, S. 358. Abgebildet und besprochen auch bei Clavilier, Cérès et le laboureur, S. 118f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 380 Der chinesische Kaiser als Vorbild willig und wissbegierig zugeneigt, hört er ihre Anleitung und weist selbst mit der Sichel auf die Erntearbeiten. Wie beim eigenhändigen Pflügen des Thronfolgers 1769 hatte der Maler nun den mythischen Monarchen mit einem bäuer­lichen Arbeitsgerät, der Sichel dargestellt, die er wohl, der Weisung der Göttin bzw. der Natur gemäß, auch gleich selbst zu führen im Begriff war. Ehrfürchtig schaut auch ein ruhendes Bauern­pärchen zu Triptolemos und seiner versprechenden Geste, gleich mit der Arbeit zu beginnen, empor. Lagrenée hatte zweimal das gleiche Erntegerät, die Sichel, in das Bild aufgenommen: als ruhendes Attribut der rastenden Bauern und als gerade aktiv einzusetzendes Attribut des Königs. König und Bauern waren bei der Ernte vereint und widmeten sich der gleichen Arbeit. Sie führten das gleiche Ackergerät. Hiermit war in das antikisierende Bild Lagrenées eine Aussage aus dem Kontext der chinesischen Reiseberichte geflossen. Die Darstellung des lernbegierigen Kulturheroen und Königs Triptolemos nach dem griechischen Mythos, den übrigens Voltaire 1756 noch ausführ­lich in seinem Essai sur les mœurs geschildert hatte,590 konnte wie der pflügende chinesische Kaiser im Kreis seiner Bauern zur gleichen Deutung des Betrachters anleiten, dass die lange Entfremdung von Herrschaft und Landwirtschaft bzw. Bauernstand nun erfolgreich überwunden sei. Die Anknüpfung an die eigene europäische Tradition war mit diesem Bild neu hergestellt. Die Erziehung des Monarchen durch die Natur bzw. Ceres war offensicht­lich erfolgreich und versprach mit dem Bild, künftig auch Früchte zu tragen. Das Bild spiegelt wesent­liche Kernpunkte der physiokratischen Lehre und Forderungen an den französischen König bzw. seinen Nachfolger hinsicht­lich der Landwirtschaft wider. Es lässt sich als erfolgreiche Belehrung sowie vorsichtige Bekräftigung einer neuen Herrschaftsaufgabe und damit als gewisse Akzeptanz der physiokratischen Ansätze durch Ludwig XV. und den Dauphin verstehen. Das Bild erhielt jedoch seinen Platz im Trianon und damit in einer eher persön­lichen Sphäre des alten Königs. So ist es primär als Repräsentation der eigenen Interessen Ludwigs XV., weniger als eine des franzö­ sischen Königtums anzusehen, auch wenn mit der Darstellung eines sehr jugend­lichen Triptolemos im Kontext der Hochzeit des Dauphin der Hinweis auf eine entstehende Tradition im Haus Bourbon verbunden sein mag. Dennoch unterstreicht es die zeitgenössisch aktuelle Präsenz des Triptolemos-Mythos im engsten Umfeld des Königs. Immer wieder wurde der neue Wirkungsbereich der Landwirtschaft an die französische Krone herangetragen: Das eigenhändige Pflügen des Kronprinzen Louis Auguste sowie die Betonung der Rolle der Landwirtschaft im politischen Handeln fand beispielsweise auch ihren Platz in der Panegyrik auf die Vermählung des Dauphin mit Marie Antoinette im Jahr 1770.591 Abbé Thomas-Maurice du Rouzeau (1726 – 1788) übersandte an den Hof 590 Voltaire: Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis Charlemagne jusqu’à Louis XIII. Hg. v. René Pomeau. Bd. 1. Paris 1963. Introduction, Kap. XXXVII: Des Mystères de Cérès-Éleusine. S. 130 – 135. 591 Panegyrische Gedichte, die zu einer hohen Fest­lichkeit als Gelegenheitsdichtung entstanden, wurden seitens der Fürsten als ein papirnes Geschencke entgegengenommen, aber auch als Untertanenpf­licht Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 381 seine Ode sur le mariage de monseigneur le Dauphin, die noch im selben Jahr auch in Paris gedruckt wurde.592 In der Ode verschmolzen die üb­lichen Topoi des Herrscherlobes mit einigen wenigen individuell herausgehobenen Charakterzügen des Dauphin. Dabei ging der Autor aber auch durchaus kritisch auf Probleme und Defizite der französischen Politik ein. So sprach er in seinen Versen vom Schrei der Mutter Erde nach ihren undankbaren Söhnen, die sich ihr und der Natur lange verweigert und ihre Bedeutung verkannt hatten. Doch nun seien den Königen und dem Volk die Augen end­lich geöffnet worden: Enfin il est un Art, l’honneur de la Nature, Que l’Orgueil accabloit d’un fastueux dédain. Longtems il attendit qu’on vengeât son injure, Le Vengeur a paru, son triomphe est certain. […] Pressé sous une main Royale, Le soc de Triptolême a repris sa splendeur […], Nobles Agriculteurs, Ah! Votre gloire égale, De vos jours vertueux, le paisible bonheur. In der nachfolgenden Fußnote stellte der Abbé die Metapher des könig­lichen Triptolemos in den direkten Bezug zum eigenhändigen Pflügen des Dauphin im vergangenen Jahr: L’on a gravé Monseigneur le Dauphin s’essayant à la charrue; C’est avoir consacrée un des traits de sa vie, qui honore le plus un Prince.593 Du Rouzeau wählte in seinem Gedicht wie Boizot nicht das Beispiel des ackernden Kaisers von China zum Vergleich mit dem gerade entstehenden neuen herrscher­lichen Selbstverständnis in Versailles, sondern bediente sich des antiken Beispiels des könig­lichen Pflügers Triptolemos, unter dem der Ackerbau auf Geheiß der Demeter/Ceres verbreitet und die Länder dadurch zivilisiert und zum Blühen gebracht wurden. Das Gedicht lobte den Glanz, den die Landwirtschaft nun wieder erhalte, wenn ein König wie einst Triptolemos den Pflug führte. Zugleich drückte der Verfasser seine Hoffnung aus, dass die Protektion der Herrscher für den Landbau Bestand haben möge. In der Fürstenanalogie zwischen Triptolemos und Louis Auguste fand ein poetischer und zugleich optimistischer Transformationsakt vom Mythos zur zeitgenössischen Gegenwart statt. Es zeigte sich darüber hinaus, dass sowohl die antike europäische Tradition als auch der neue Motivschatz des pflügenden chinesischen Kaisers zu den vom französischen Hof adaptierten Motivkomplexen zählten. verstanden. Casualpoesie und gereimte Grußadressen entsandten in der Regel die Stände- und Stadtvertreter, Kirchen, religiösen Minderheiten oder Professoren der Universitäten an den Jubilar aus der fürst­lichen Familie. Richter, Susan: Und ehre Sie in dieser Helden=Frauen – Markgräfin Sibylla Augusta von Baden-Baden im Spiegel piaristischer Hofpanegyrik. In: Heid, Hans (Hg.): Die Rastatter Residenz im Spiegel von Beständen der Historischen Bibliothek. Begleitbuch zur Ausstellung „300 Jahre Residenz Rastatt“. Rastatt 2007. S. 295 – 304. 592 Du Rouzeau war verschiedent­lich mit Trauergedichten und panegyrischen Werken zu Ereignissen in der Herrscherfamilie in Versailles in Erscheinung getreten. So auch mit einem Gedicht auf die 1767 verstorbene Dauphine. Du Rouzeau, Thomas-Maurice: Oraison funèbre de très-haute, très-puissante et très-excellente princesse Marie-Josephe de Saxe, dauphine de France: prononcée dans l’eglise premiere archipresbiterale de la Magdelaine de Paris, le 4 septembre 1767. 5 93 Du Rouzeau, Thomas-Maurice: Ode sur le mariage de monseigneur le Dauphin, Paris 1770. S. 9f. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 382 Der chinesische Kaiser als Vorbild 4.2.5 Fazit Anhand der Untersuchung der physiokratischen Vermittlungsstrategie ist festzustellen, dass sich die Wahl des Motivs des pflügenden chinesischen Kaisers zunächst als erfolgreich erwies. Es diente den économistes als Motto und zugleich als visualisierte Essenz einer neuen Herrschaftsauffassung. Nach dem Pflügen des Dauphin 1768 ersetzten Quesnay und sein Kreis die Vorbildfunktion des fremden Kaisers durch die des eigenen Kronprinzen und installierten ein neues, nun französisches Bild des pflügenden Monarchen als künftigen Regenten eines royaume agricole. Da insbesondere der französische König seit dem Siebenjährigen Krieg auf neue patriotische Weise das Vaterland verkörperte,594 hatte Frankreich nun im eigenen künftigen König einen würdigen Träger dieses neuen Herrschaftsideals erhalten. Das neue Bild des ersten Landmannes des Staates ermög­lichte weitere Vergleiche und Einordnungen der Handlung in antike und historische, sogar eigene dynastische Kontexte des Hauses Bourbon. Der Dauphin wurde mit dem Kulturheros Triptolemos, aber auch seinem Ahnen, dem guten König Heinrich IV. gleichgesetzt. Unterschied­liche Text- und Bildmedien feierten einen wohl belehrten und gütigen künftigen König Frankreichs, der sich zeitgemäß den wirtschaft­ lichen und politischen Anforderungen und Notwendigkeiten gestellt zu haben schien. Aus der Perspektive der Medienanalyse von Stuart Hall waren die Jesuitenberichte zum Verhältnis von Landwirtschaft und Herrschaft Anstoß und Interpretationsansatz für die theoretischen Vorstellungen der Physiokraten gewesen. In der Praxis änderte sich ihr Decodierungsverhalten vom Adaptiven zum Oppositionellen, denn mit der Kommunikation des Vergleichs des Dauphin mit antiken Heroen oder französischen Königen stellten sie ein neues Deutungsmodell daneben, was wirkmächtig kommuniziert und rezipiert wurde. Somit finden wir bei den Physiokraten zunächst eine Decodierung, welche durch die Annahme der Inhalte und Deutungen der Jesuitenberichte gekennzeichnet ist und diese ledig­lich in eigene Interessen einbaut. Im Anschluss an das eigenhändige Pflügen des Dauphin sind mit den gezielten Berichten darüber eigene Encodierungsvorgänge zu verzeichnen. Für die Fortsetzung des eigenhändigen könig­lichen Pflügens in den kommenden Jahren oder die offizielle Aufnahme der herrscher­lichen Handlung in das französische Hofzeremoniell gibt es jedoch keine Quellen. Es scheint vielmehr ein einmaliger Vorgang gewesen zu sein, der bei aller schrift­lichen und bild­lichen Dokumentation nur eine Momentaufnahme geblieben ist und eine Hommage an den künftigen König als Ausdruck der Hoffnung auf einen Wandel im Herrschaftsverständnis darstellte. Auch eine konsequente Aufnahme des Pflugmotivs und der Metaphern des neuen Triptolemos bzw. der Ceres in die könig­liche bzw. kronprinz­liche Repräsentation konnten 594 Bell, David: The Cult of the Nation on France: Inventing Nationalism, 1680 – 1800. Cambridge/ Mass. 2003. S. 63. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 383 nicht nachgewiesen werden. Sie scheint sich vielmehr auf die Verbreitung des Kupferstichs von Boizot durch das Königshaus zu beschränken. Allerdings wurde der Stich durch Ludwig XV. ganz gezielt nach Wien übersandt und diente so der offiziellen Darstellung des Dauphin gegenüber der Braut und den kaiser­lichen Schwiegereltern. Es kann somit von der Kenntnis und der Akzeptanz des neuen, seitens der Physiokraten sowie von einer inzwischen auch größeren Öffent­lichkeit erwünschten Herrschaftsverständnisses durch Ludwig XV. und seinen Nachfolger ausgegangen werden. Dem Wunsch nach dieser Herrscherauffassung konnte entsprochen werden, indem die Vergleiche und Darstellungen huldvoll durch König und Dauphin entgegengenommen wurden. Kommuniziert wurde durch die Krone, dass theoretische und praktische Kenntnisse im Landbau zukünftig als selbstverständ­liches Herrschaftswissen zu gelten hatten. Die sichtbare Akzeptanz der Herrschaftsauffassung als erster Landmann konnte schließ­lich König und Kronprinz helfen, Fragen, Zweifel bzw. Defizitanalysen und Debatten um notwendige oder gar ausbleibende Reformen der französischen Regierung oder Entscheidungen wie die zum Getreidefreihandel zu beenden. Die nachweisbare Kenntnis des amtierenden und des künftigen Königs fungierte als „Stopp-Signal“, das nicht mehr so leicht infrage zu stellen war. Vielmehr bewies sie das Problembewusstsein des Herrschers und vermittelte den Untertanen die Sicherheit, der künftige König wisse Bescheid und kümmere sich um die Belange der Landwirtschaft. Diese Annahme wird durch Georg Schmidts überzeugenden Hinweis gestützt, der ein Grundvertrauen der Untertanen in obrigkeit­liche Fürsorge konstatierte.595 Da die Herrscher mit diesem Grundvertrauen rechneten, musste die Handlung des Pflügens und ihre mediale Verbreitung diese Haltung der Untertanen unterstützen. Die Frage nach der Realisierung der von den Physiokraten gewünschten und geforderten Veränderungen trat in der Wahrnehmung der breiten Öffent­lichkeit in den Hintergrund, weil der positive Effekt der öffent­lichen Darstellungen des landwirtschaftsinteressierten Dauphin zugunsten des Könisghauses bedingte, mög­liche Kritik an der Monarchie und ihrem Nichthandeln zu besänftigen bzw. einzudämmen. Die Öffent­lichkeit beschwichtigte sich somit selbst.596 Dieses „Stopp-Signal“ kam kurzzeitig auch dem Ansehen der Physiokraten in Frankreich zugute, die wegen ihrer Initiative für den Getreidefreihandel in die Kritik geraten und in die Mitverantwortung für die Hungersnöte genommen worden waren. Während sie mit der Öffnung des Getreidehandels die Praktiken des traditionellen patriarchalischen Versorgungssystems gestört hatten, spiegelte der mediale Erfolg ihrer Beschreibung vom pflügenden und somit landwirtschaft­lich instruierten Dauphin die öffent­liche Meinung: die Hoffnung auf Lösung der Versorgungsprobleme durch den künftigen König. 5 95 Schmidt, Frühneuzeit­liche Hungerrevolten, S. 280. 596 Dieses Ergebnis ist durch die Forschungen der Medienanalyse gestützt, die davon ausgeht, dass die Öffent­lichkeit als Bedeutungsempfänger selbst auch Bedeutungsproduzent ist und somit auch Deutungs- und Wirkungsmacht erhält. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 384 Der chinesische Kaiser als Vorbild Die breite Kenntnis des Pflugrituals und einer damit verbundenen erweiterten Herrschaftsauffassung ist nicht nur der schrift­lichen Propaganda physiokratischer Autoren oder der Reiseberichterstatter zu verdanken. Das eigenhändige Pflügen des Dauphin avancierte, obwohl nicht als Inszenierung des Hofes geplant, durch die gezielte Berichterstattung der Physiokraten zu einem zeitgenössisch bedeutenden Ereignis. Es verselbständigte sich zu einem Medienereignis, das vor allem die gelungene Erziehung des künftigen Königs inszenierte. Die Verwendung des Begriffes Medienereignis erscheint in diesem Kontext sinnvoll, weil sich am Beispiel des pflügenden Dauphin sehr gut zeigen lässt, wie aus einem Geschehen durch den Einsatz unterschied­licher Medien im Auftrag unterschied­licher Personenkreise ein Ereignis wurde, das durch einen Kommunikationsprozess für die Zeitgenossen und auch für spätere Generationen einen überraschenden, nicht alltäg­lichen oder gar einzigartigen und außergewöhn­lichen politischen Sinn transportierte.597 Es handelt sich um die erste Anwendung dieser Strategie durch die Schule der économistes, ihre Vorstellung von einem idealen despot légal und seinem landwirtschaft­lichökonomischen Wirken für den eigenen künftigen König in eine Metapher zu fassen. In ihren Korrespondenzen mit ausländischen Potentaten, die sich ihrer Lehre nicht abgeneigt zeigten, trugen sie diesen in den 1770er Jahren ebenfalls blumige Ehrentitel an. So erhoben sie Leopold von Toskana zum Prince pasteur und Gustav III. von Schweden zum Salomon du midi.598 Das Motiv des pflügenden chinesischen Kaisers spielte in diesen Entwürfen aber keine Rolle mehr. Es war ausschließ­lich als Anstoß und Vergleich auf Louis Auguste als Dauphin und späteren König Frankreichs übertragen worden. Zugleich wurde es durch ihn kurzzeitig abgelöst und durch sein Beispiel in der Propaganda der Physiokraten ersetzt. Doch der ersehnte Erfolg im Sinne einer nachhaltigen und spürbaren Protektion der Landwirtschaft blieb in Frankreich aus, weshalb sich die Physiokraten allmäh­lich anderen Monarchen Europas zuwandten. Das eigenhändige Pflügen des Dauphin geriet in Vergessenheit. In Frankreich blieb die Förderung des Bauernstandes und die Durchführung a­ ktiver Reformen in der Landwirtschaft durch einen weisen Monarchen vorerst nur eine Hoffnung, die nach dem Regierungsantritt Ludwigs XVI . unerfüllt blieb. Dabei waren beim jungen französischen Königspaar, Ludwig XVI. und Marie Antoinette, durchaus 597 Zum Begriff des Ereignisses vgl. Sahlins, Marshal: Die erneuerte Wiederkehr des Ereignisses. Zu den Anfängen des großen Fidschi-Krieges zwischen den Königreichen Bau und Rewa 1843 – 1855. In: Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur historischen Anthropologie. Hg. v. Rebecca Habermas/Nils Minkmar (Wagenbachs Taschenbuch, Bd. 212). Berlin 1992. S. 84 – 129. Hier S. 89. Vgl. auch Andreas Suter: Kulturgeschichte des Politischen – Chancen und Grenzen. In: Zeitschrift für Historische Forschung 2005 Beiheft 35. S. 27 – 56. Hier S. 30. Zentrale Untersuchungen zu Medienereignissen finden sich in dem Sammelband: Europäische Wahrnehmungen 1650 – 1850. Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse (The formation of Europe, Bd. 3). Hg. v. Joachim Eibach/Carl Horst. Hannover 2008. 598 Metzler, Markgraf Karl Friedrich von Baden und die französischen Physiokraten, S. 54. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie 385 Einsichten zur Bedeutung der Landwirtschaft erreicht worden. Sie äußerten sich jedoch nicht in der ständigen offiziellen könig­lichen Repräsentation und konsequentem entsprechenden politischen Handeln, sondern insbesondere in einem persön­lichen und teilweise sogar spielerischen Kontext wie etwa dem Hameau in Versailles 599 oder den Mustergütern, die der König in der Umgebung seiner Residenz anlegen ließ. Das Landleben im Versailler Hameau diente beispielsweise im ganz klassischen Sinne der Hofflucht und dem Individualisierungsprozess der jungen Königin. Landwirtschaft­liche Betätigung wurde im künst­lichen Dörfchen zu einer Privatangelegenheit und zu einem Vergnügen, nicht zur Wahrnehmung der notwendigen offiziellen Aufgabe des Königs oder der Königin. In der ausschließ­lich spielerischen Nachahmung bäuer­licher Tätigkeiten Marie Antoinettes sahen Zeitgenossen deshalb eher eine Ab- und Entwertung von Landarbeit, die den Versuch der Physiokraten und anderer ökonomischer Denker, den Ackerbau im Bewusstsein der französischen Monarchie wieder in ihrer alten wichtigen Bedeutung zu verankern, ironisch konterkarierte. Sie schien mit ihrem künst­lichen Dörfchen diesen Versuch in die Lächer­lichkeit zu ziehen und zur reinen Mode zu degradieren, wenn sie ihre Kühe molk und fütterte bzw. sich mit Kartoffelblüten schmückte.600 Die Königin brüskierte mit ihren eigenhändigen Arbeiten eher den Bauernstand, als ihn aufzuwerten.601 Ihr Hameau war Ausdruck einer bukolischen Schäferkomödie und nicht der Wahrnehmung ihrer offiziellen Funktion als Reine bienfaisante.602 Aufgrund der nicht erfüllten Erwartung, dass der neue König sich aktiv und öffent­lich als Förderer der Landwirtschaft darstellte, wurde schon nach kurzer Zeit in der belehrenden Literatur unterschied­licher Gattungen wieder auf die Vorbilder des chine­sischen Kaisers oder – deut­lich seltener – des Heros Triptolemos zurückgegriffen. Gerade der Rückgriff auf das Pflugritual des Kaisers in China zeigte, dass eine dauerhafte Implementierung der antiken Beispiele oder der aktuellen Monarchen als Vorbilder einer 599 Gorgus, Nina: Der „Weiler der Königin“ in Versailles. Eine Rezeptionsgeschichte. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde. LVII/106 (2000). S. 303 – 324. Martin, Dairy Queens, S. 158ff. 600 Auch der Versuch eines Stilwandels in der könig­lichen Garderobe stieß in der Öffent­lichkeit auf Unverständnis und Kritik. Indem die Königin nunmehr leichte, fast bäuer­liche Leinenkleidung favorisierte, brach sie mit der Tradition der könig­lichen Repräsentation und einem festgefügten, gesellschaft­lichen Regelwerk. Eine ausführ­liche Beschreibung des Stilwandels und der Hintergründe der öffent­lichen Reaktionen findet sich bei Weber, Caroline: Queen of Fashion. What Marie ­Antoinette Wore to the Revolution. London 2007. S. 131 – 163. 601 Zu den Kritiken vgl. Hunt, Lynn: The Many Bodies of Marie-Antoinette: Political Pornography and the Problem of the Feminine in the French Revolution. In: Goodman, Dena (Hg.): Marie-Antoinette. Writings on the Body of a Queen. New York 2003. S. 117 – 138. Sherriff Mary D: The Portrait of the Queen. In: ebd. S. 45 – 72. Thomas, Chantal: The Heroine of the Crime: Marie-Antoinette in Pamphlets. In: ebd. S. 99 – 116, und schließ­lich Wolff, Lary: Habsburg Letters: The Disciplinary Dynamics of Epistolary Narrative in the Correspondence of Maria Theresa and Marie-Antoinette. In: ibd. S. 25 – 44. 602 Hierzu erklärend: Wagner, Gärten und Utopien, S. 85 – 89 sowie Clavilier, Cérès et le laboureur, S.122 – 126. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM 386 Der chinesische Kaiser als Vorbild neuen Rolle durch die Physiokraten nicht gelungen waren, sondern noch immer der Bedarf zur Mahnung bestand. Der Dichter Jean-Antoine Roucher (1745 – 1794) widmete sich in seinem Gedichtzyklus Les Mois, Poème en douze chants aus dem Jahr 1779 den zwölf Monaten des Jahres. Er verherr­lichte darin nach physiokratischem Vorbild die Landwirtschaft als erste und wichtigste Kunst. Roucher eröffnete sein Gedicht mit dem Frühling. Begeistert und ermahnend schilderte er das Pflugritual des chinesischen Kaisers in der Strophe zum Monat März: Tandis que du boucher la flamme étincelante Devore en pétillant la victime sanglante, Le maître de l’Empire, armé d’un aiguillon, Guide le sac poudreux, ouvre un premier sillon, Et d’une main prodiguée y dépose en semance Ces grains, dont le Cathay nourrit un peuple immense. Jour rayonnant de gloire, où ce sage Empereur, Au rang de Mandarin place le Laboureur, Qui soumit une plaine inculte, et fit éclarer De nouvelles moissons sur un sol vierge encore.603 Das Gedicht zeigt, dass sich gut zehn Jahre nach dem Versuch, den Dauphin von der Notwendigkeit einer neuen Rolle als erstem Landmann des Staates zu überzeugen, sämt­ liche Hoffnungen der Physiokraten auf einen roi paysan zerschlagen hatten. 4.3 Imperator arans – Joseph II. als pflügender Monarch im kollektiven Gedächtnis Ein reich­liches Jahr, nachdem das eigenhändige Pflügen des Dauphin in Frankreich zu einem Medienereignis stilisiert worden war, führte auch sein künftiger Schwager, Kaiser Joseph II. (1741 – 1790), am 19. August 1769 im mährischen Dorf Slawikovice den Pflug. Auf seiner Reise nach Olsany und Neisse erlitt seine Kutsche einen Achsbruch und der Monarch nutzte die Zeit der Reparatur, um sich von dem Knecht des Halblehnbauern 604 Andreas Trnka, Jan Kartos, den Pflug zu leihen und selbst einen Teil des 603 Roucher, Jean-Antoine: Les Mois, Poème en douze chants. Bd. 1. Paris 1779. S. 24. 604 Die länd­liche Bevölkerung der Kronländer machte etwa 80 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Sie bestand aus den eigent­lichen Bauern als Inhabern von Viertel-, Halb- oder Ganzhuben bzw. Lehen und den länd­lichen Unterschichten wie Häuselleuten, Inleuten und dem Gesinde. Im 18. Jahrhundert nahm durch Verarmung und Hungersnöte die Zahl der Menschen in Armut rapide zu. Zur Struktur der länd­lichen Bevölkerung vgl. Bruckmüller, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. Wien ²2001. S. 137ff. Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services Authenticated Download Date | 12/15/16 9:30 PM