staat liche Vorbildfunktion Chinas, prüfte, konkretisierte - Journal-dl

Werbung
286
Der chinesische Kaiser als Vorbild
staat­liche Vorbildfunktion Chinas, prüfte, konkretisierte und erweiterte das Bild jedoch
aus kameralistischer Perspektive auf seine Taug­lichkeit.282
Medienanalytisch hat sich damit gezeigt, dass Justis Decodierung der Informationen
der Jesuiten zum Wirken der chinesischen Kaiser grundlegend adaptiv erfolgte, weil er
von den Jesuiten vorgegebene Interpretationsrahmen beibehielt.
Wenn Humes Gedanke von der Anziehungskraft der Ideen nun stimmte, dann musste
Justis Modell aus seiner Sicht zurückwirken: Mit der Wahl und Vermittlung des außereuropäischen chinesischen Modells des ersten Landmannes im Staat trug Justi zu der von
Leibniz angemahnten Sammlung und Aktualisierung von Regierungswissen in Europa
bei. Er konnte hoffen, dass diese neue Sicht auf das Wirken von Chinas Monarchen
die zeitgenössische Diskussion um das Verhältnis von Staat und Wirtschaft belebte.
Zugleich nahm das neue Bild sowohl eine Vorbild- (Modell-) bzw. eine Kritik-Funktion hinsicht­lich der bestehenden Verhältnisse ein. Das Modell konnte helfen, auch die
deutschen und europäischen Staaten an den Sieger seines Staatenvergleichs anzunähern.
4.2 Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
4.2.1 Die Bedeutung der Landwirtschaft in der Physiokratie
Das mouvement physiokratique 283 setzte als Reaktion auf die Misserfolge des Merkantilismus in Frankreich in der Regierungszeit Ludwigs XV. sowie als Folge der franzö­
sischen Gebietsverluste in Übersee (Nordamerika und Indien) durch den Siebenjährigen
282 Im Vorwort des dritten Bandes von Astleys Collection wird Chinas als Vorbildfunktion gepriesen:
Such is the Difference between Africa and Asia. The Contrast will be the more sensible, as our Method
leads us to begin with China, the Country, most eminent not only in this Quarter, but the whole World;
whether we regard the Advantages of its Soil and Situation, or the Beauty of its Manufactures, and
Richness of its Commerce, the Industry and Ingenuity, or Civility of its Inhabitants, the Excellence of
its Government, or the Grandeur of its Monarchs. Here the Reader will meet with every Thing that is
splendid and noble; every Thing that can gratify the Pride and Luxury of Mankind. Here Art vies with
Nature; and the most surprising Wealth is mixed with the most surprising Plenty. Civility and Politics
are here cultivated to their utmost Perfection and Use. Here the Sovereign’s whole study is employed to
gain the Hearts of his People; and here perfect Freedom exists under the most absolute Monarchy on
Earth. In short, China may be called the Terrestrial Paradise of the present world. Astley, Thomas: A
new General Collection of Voyages and Travels. Bd. 3. London 1746. S. VI.
283 Der Begriff physiocratie war erstmals in einem Traktat von Baudeau zum Thema Principes de tout
gouvernement verwendet worden, der 1767 in den Ephémérides du Citoyen erschienen war. Geprägt
hatte ihn Quesnay. Im Gegensatz dazu stand das systeme mercantile, das Quesnay und Mirabeau als
Begriff in ihrer 1763 erschienen Philosophie rurale anwandten. Vgl. Oncken, August: Geschichte
der Nationalökonomie. Die Zeit vor Adam Smith (Hand- und Lehrbuch der Staatswissenschaften).
Leipzig ³1922. S. 334f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
287
Krieg (1756 – 1763) und der dadurch fehlenden Beteiligung am Fernhandel ein.284 Das
merkantilistische Ziel, durch die enge Verbindung von Staat und Wirtschaft die Staatseinnahmen zu sichern, war in Frankreich durch die einseitige Fokussierung auf Manufakturwesen und Handel verfehlt worden. Die Physiokraten forderten deshalb eine
vollkommen gegenteilige Wirtschaftspolitik, in der sie die bisher politisch stark vernachlässigte Landwirtschaft als den wichtigsten Faktor identifizierten. Zu den Physio­
kraten zählten u. a. François Quesnay 285 (1694 – 1774), Victor de Riqueti Marquis de
Mirabeau (1715 – 1789), Paul Pierre Le Mercier de la Rivière (1720 – 1774), Nicolas
­Baudeau (1730 – 1792), Guillaume François Le Trosne (1728 – 1780), Vincent de Gournay
(1712 – 1759) und Pierre Samuel Du Pont de Nemours (1739 – 1817). Als Sympathisanten
standen der Bewegung in Frankreich beispielsweise Minister Bertin und – deut­lich distanzierter – der spätere Generalkontrolleur der Finanzen Anne Robert Jacques Turgot
(1727 – 1781)286 sowie Pierre Poivre nahe. Freunde und Gönner fanden die économistes
auch in höfischen Kreisen durch Madame de Pompadour, Louis-Joseph de Bourbon,
den Prinz von Condé und den Schwiegervater Ludwigs XV., den polnischen Exilkönig Stanislas Leszczynski.287 Zwar außerhalb des Kreises der Physiokraten stehend, aber
inhalt­lich durch ihre Werke zu den Sympathisanten zu rechnen, sind der Autor von
Landwirtschaftsbüchern Jean-Baptiste Dupuy-Demportes (?-1770) und der Reimser
Deputierte in Paris Simon Philibert La Salle de l’Etang (1700 – 1765), der sich ebenfalls
als Verfasser landwirtschaft­licher Traktate profilierte. Die Bewegung der Physiokraten
284 Zur Wirtschaftspolitik unter Ludwig XV. vgl. Braudel, Fernand/Labrousse, Ernest (Hg.): Histoire
économique et sociale de la France. Bd. 2: Des derniers temps de l’âge seigneurial aux préludes
de l’âge industriel 1660 – 1789. Paris 1970. Kaplan, Bread, Politics and Political Economy, Bd. 1.
S. 48ff. Clark, Henry: Grain Trade Information: Economic Conflict and Political Culture under
Terray, 1770 – 1774. In: The Journal of Modern History 76/4 (2004). S. 793 – 834. Zur Kritik an
der Landwirtschaftspolitik unter Ludwig XIV., insbesondere zur Verarmung der Bevölkerung, der
urbanen Konzentration des Luxus, zu fehlenden Reaktionen des Königs auf den Preisverfall nach
schlechten Ernten sowie zu zahlreichen Vorschlägen für Reformen vgl. Rothkrug, Lionel: Opposition to Louis XIV. The Political and Social Origins of the French Enlightenment. Princeton 1965.
S. 234 – 298.
285 Zu Quesnays Biografie vgl. Oncken, Geschichte der Nationalökonomie, S. 314ff. Schelle, Gustave:
Le Docteur Quesnay: chirurgien, médecin de Mme de Pompadour et de Louis XV, physiocrate.
Paris 1907. Quesnay wurde für seine medizinischen Verdienste 1752 in den Adelsstand erhoben.
Lettres de Noblesse en faveur du D. Quesnay. Archives nationales, Paris, O1 96, fol. 330 – 332.
286 Zu seiner Verbindung zu den Physiokraten vgl. Weulersse, Georges: La physiocratie sous les ministères de Turgot et de Necker (1774 – 1781). Paris 1950. Schelle, Gustave: Turgot, sa vie et ses oeuvres.
In: Ders. (Hg.): Oeuvres de Turgot et documents le concernant. Bd. 1. Paris 1919. S. 60f.
287 Chapotot, Stéphanie: Les Jardins du Roi Stanislas en Lorraine. Metz 1999. S. 93ff. Sein Architekt Richard Mique war es, der nach dem Tod des polnischen Exilkönigs das Hammeau für Marie
­Antoinette in Versailles im Stil eines Dörfchens aus der Zeit Heinrichs IV. errichtete. De Raissac,
Muriel: Richard Mique. Architecte du roi de Pologne Stanislas Ier, des Mesdames et de Marie Antoinette (Les dix-huitièmes siècles, Bd. 154). Paris 2011.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
288
Der chinesische Kaiser als Vorbild
fand auch über Frankreich hinaus zahlreiche Anhänger im Alten Reich, insbesondere
in der Markgrafschaft Baden,288 in Schweden,289 der Toskana, in Polen und Russland.290
Die Ziele der Physiokraten und die Bedeutung der Landwirtschaft für diese Bewegung
sind hinläng­lich erforscht und sollen hier nur äußerst knapp zum besseren Verständnis
der nachfolgenden Überlegungen, zur physiokratischen Vermittlungsstrategie für diese
Ideen ins Gedächtnis gerufen werden. Ausgespart wurde hingegen in der Forschung
bisher weitgehend, dass die theoretischen Ansätze der Physiokraten ab Ende der 1750er
bis in die 1780er Jahre in einem umfassenden Kommunikationsprozess der zunehmend
entstehenden bürger­lichen Öffent­lichkeit, einem ökonomisch interessierten Fachpublikum sowie maßgeb­lichen Adressaten wie dem König von Frankreich, dem Dauphin
(dem künftigen Ludwig XVI.) und zentralen Ministern, aber auch ausländischen Fürsten
gezielt vermittelt wurden, um ein neues Bewusstsein für die Rolle der Landwirtschaft in
Staat und Gesellschaft zu erreichen. Neben der Vermittlung des neuen Bewusstseins von
der produktiven Natur ging es ihnen auch um die langfristige Verankerung und Etablierung ihrer Vorstellungen sowie um deren Umsetzung in die Praxis. Deshalb erhofften
sich die Physiokraten in erster Linie Gesetze zu grundlegenden Reformen im Bereich der
Landwirtschaft sowie eine künftige Ausrichtung der Wirtschaft auf diesen Sektor. Die
Initiative dafür sahen sie beim Monarchen. Realisiert werden konnte die erhoffte Aktivität aus ihrer Sicht deshalb nur durch die Vermittlung und Etablierung eines erweiterten
Herrschaftsverständnisses, nach dem der Monarch zugleich auch der erste Landmann
seines Staates sein sollte. Daher spielte in der Argumentation der Physiokraten auch
die Person des Königs selbst und die Sichtbarkeit seiner Handlungen eine bedeutende
288 Eine zeit­lich leicht versetzte Auseinandersetzung mit den physiokratischen Ideen in Deutschland bot
beispielsweise Dohm, Christian Wilhelm: Über das physiokratische Sistem [sic!]. Wien 1782. Ders.:
Über das physiokratische System. In: Deutsches Museum (1778). S. 289 – 324. Einen Überblick
über die literarische Debatte bietet Priddat, Birger P. Bibliographie der phyiokratischen Debatte in
Deutschland 1759 – 1799. In: Das Achtzehnte Jahrhundert 9 (1985). S. 128 – 149. Zusammenfassend Braunreuther, Kurt: Über die Bedeutung der physiokratischen Bewegung in Deutschland in
der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Wissenschaft­liche Zeitschrift der Humboldt-Universität zu Berlin, Gesellschafts- und Sprachwissenschaft­liche Reihe 5 (1955/56). S. 15 – 65. Metzler,
Guido: Markgraf Karl Friedrich von Baden und die französischen Physiokraten. Betrachtungen
eines Rezeptionsprozesses. In: Francia 28/2 (2001). S. 35 – 62. Emminghaus, Arwed Karl: Carl
Friedrichs von Baden physiokratische Verbindungen, Bestrebungen und Versuche, ein Beitrag zur
Geschichte des Physiokratismus. In: Jahrbücher für Nationalökonomie und Statistik 38 (1872).
S. 1 – 63. Merkle, Hans: Der ‚Plus-Forderer‘: Der badische Staatsmann Sigismund von Reitzenstein
und seine Zeit. Leinfelden-Echterdingen 2006.
289 Alimento, Antonella: Entre “les moeurs des Crétois et les loix de Minos”: la pénétration et la réception du mouvement physiocratique français en Suède. In: Histoire, économie, société 1 (2010).
S. 68 – 80. Guy, Basil: The French Image of China before and after Voltaire (Studies on Voltaire
and the Eighteenth Century, Bd. 21). Genève 1963. S. 351.
290 Larivière, Charles de: Mercier de la Rivière à Saint-Pétersbourg en 1767. D’après de nouveaux documents. In: Revue de l’histoire littéraire de la France 4 (1897). S. 581 – 602.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
289
Rolle: Sie wählten für die Visualisierung und bessere Verbreitung ihrer Argumentation
das Motiv des pflügenden chinesischen Kaisers aus dem Ritual, das jeweils zu Beginn
des Frühlings zu Ehren des Ackerbaugottes Shennong abgehalten wurde.
Im Mittelpunkt der nachfolgenden Betrachtungen soll die Vermittlungsstrategie der
Physiokraten für die neue Herrschaftsauffassung stehen. Gefragt wird nach den von
ihnen gewählten Kommunikationsmedien und -formen. Berücksichtigt werden muss
dabei insbesondere die Frage nach mög­lichen Leitmotiven, welche die Vorstellungen
und Ziele der Physiokraten adäquat nach außen widerspiegelten und zugleich auch
innerhalb der Bewegung im Sinne einer frühen Form der Corporate Identity genutzt
wurden. Damit wird von der These ausgegangen, dass die Physiokraten bestrebt waren,
ihre Ziele und Reformhoffnungen in einen öffent­lichen Diskurs einzuschalten und
die zeitgenössische Medienkultur für die Propagierung eigener Ziele zu nutzen. Eine
zweite Annahme besteht darin, dass sich die Bewegung der Physiokraten zunehmend
als Schule zu konstituieren versuchte und sich ihre Mitglieder als „Erzieher der Nation“,
insbesondere aber des Herrschers verstanden wissen wollten.
Als wichtigster Vertreter der Bewegung der philosophes économiques ging der Arzt
und Physiokrat François Quesnay davon aus, dass der Wohlstand eines Staates vom
Reichtum und dem Erhalt der Natur sowie von der erfolgreichen Kultivierung der Erde
abhinge.291 Den Naturbegriff hatte Quesnay ausdifferenziert: Zum einen verstand er
unter Natur den Gegensatz zur Kultur. Die Natur bot dem Menschen die Ressourcen
für seinen Lebensunterhalt. Er musste sie nur kennen und sorgfältig nutzen. Diese
Maxime hatte Quesnay als Sohn eines Landmannes u. a. durch eigene Arbeit auf seinem kleinen Mustergut gewonnen, auf dem er zahlreiche Versuche mit neuen Pflanzen
und Anbaumethoden unternahm. Im Sinne von Landwirtschaft und Agrarproduktion
verstand Quesney Natur als gegensätz­lich zur Manufaktur- und entstehenden Industrieproduktion. Zugleich offenbarte sich die Natur als produktive Kraft, weshalb der
Landwirtschaft von den Physiokraten die Komponente der Urproduktion zugeschrieben
291 Quesnay, François: Despotisme de la Chine. In: Oncken, Auguste (Hg.): François Quesnay. Œuvres économiques et philosophique. Accompagnées des éloges et d’autres travaux biographiques sur
Quesnay par différents auteurs. Francfort 1888 (Reprint Aalen 1965). S. 563 – 660. Hier 8. Kapitel.
§ 5. S. 643. Muhlack, Ulrich: Art. „Physiokratismus“. In: Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus
in Europa. Herrscher-Denker-Sachbegriffe. Köln 2005. S. 472 – 477. Hier S. 475. Muhlack, Ulrich:
„Physiokratie und Absolutismus in Frankreich und Deutschland“. In: Zeitschrift für Historische
Forschung 9 (1982). S. 14 – 46. Stiehl, Martina: Legaler Despotismus – Soziales Königtum. Lorenz
von Stein und der Physiokratismus. (Diss.) Marburg 1988. S. 125f. Insbesondere zu de la Rivières
Vorstellungen vom despotisme personnel et légal vgl. Hensmann, Folkert: Staat und Absolutismus
im Denken der Physiokraten. Ein Beitrag zur physiokratischen Staatsauffassung von Quesnay bis
Turgot. (Diss.) Frankfurt/M. 1976. S. 175 – 188. Gerteis, Klaus: Physiokratismus und aufgeklärte
Reformpolitik. In: Birtsch, Günter (Hg.): Der Idealtyp des aufgeklärten Herrschers (Aufklärung,
Jg. 2, Heft 1). Hamburg 1987. S. 75 – 94. Zum Wandel des Naturverständnisses im 18. Jahrhundert
grundsätz­lich: Groh, Ruth und Dieter: Weltbild und Naturaneignung. Zur Kulturgeschichte der
Natur (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 939). Frankfurt/M. 1991.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
290
Der chinesische Kaiser als Vorbild
wurde: La terre est l’unique source des richesses et c’est l’agriculture qui les multiplie.292
Darüber hinaus galt ihm die Natur als Weltordnung, in welcher der Naturzustand
der Menschen und das Naturrecht ihren Ursprung hatten. In Abgrenzung zu Thomas
Hobbes (1588 – 1679) und in starker Anlehnung an John Lockes (1632 – 1704), David
Humes, Montesquieus und Voltaires (1694 – 1778) positive Sicht des Naturzustandes
implizierte die natür­liche Weltordnung für Quesnay wesent­liche Werte wie Freiheit,
Gleichheit, Frieden, Eigentum und Sicherheit. Staat und Wirtschaft hatten sich aus seiner
Sicht den naturgesetz­lichen Abläufen unterzuordnen.293 Wirtschaft konstituierten die
Physiokraten erstmals als einen eigenständigen Bereich, aus dem sich auch eine eigene
Staatslehre ergab. Quesnay stellte die Wirtschaft im Sinne des Naturrechtsdenkens des
18. Jahrhunderts als naturgesetz­lich geregelten Ablauf dar, von dem der Staat profitieren, den der Staat aber kaum in Abhängigkeit zu sich bestimmen könne. Vielmehr sei
es die Aufgabe des Staates, den ungehinderten Ablauf der natür­lichen Prozesse und die
effiziente Nutzung der Erträge – etwa durch den Ausbau von Verkehrswegen oder die
Schaffung von Rechtssicherheit – zu gewährleisten.
In seinem dreiseitigen Tableau économique 294 entwarf Quesnay 1758 die Vorstellung eines künftigen optimalen Gesellschafts- und Wirtschaftsmodells, das auf zwei
Sektoren beruhte: einem produktiven und einem sterilen. Zum produktiven Bereich
zählte nach Quesnay neben der Landwirtschaft auch der Bergbau, die Jagd und die
Fischerei, erschloss sich doch daraus die Natur mit ihren Roh- und Grundstoffen, auf
deren Basis die Weiterverarbeitung der hieraus gewonnenen Erzeugnisse mög­lich war.
Für Quesnay gab es kein besseres, lohnenderes und angemesseneres Mittel für eine
292 Quesnay, François: Maximes générales du gouvernement économique d’un royaume agricole, 1767.
In: Oncken, Auguste (Hg.): François Quesnay. Œuvres économiques et philosophique. Accompagnées des éloges et d’autres travaux biographiques sur Quesnay par différents auteurs. Francfort
1888 (Reprint Aalen 1965). S. 330 – 337. Hier S. 337.
293 Jöhr, Walter A.: Geschichte der Volkswirtschaftslehre. St. Gallen 1971. S. 12.
294 Gustave Schelle bietet im Anhang seiner Biographie zu Quesnay Briefe Quesnays an Victor de
Riqueti, Marquis de Mirabeau über das Tableau. Schelle, Docteur Quesnay, S. 389 – 399. Im Jahr
1758 erhielt Mirabeau das fertige Tableau Quesnays zur Ansicht mit der Bitte um einen Kommentar. Ein deutscher Kommentar stammt von Isaak Iselin. Iselin, Isaak: Ueber die wirthschaft­liche
Organisation der Gesellschaft, oder Versuch einer Erläuterung der wirthschaft­lichen Tafel. In:
Ephemeriden der Menschheit 1780. Bd. 1. S. 3 – 34.
Ausführ­lich erläutert ist das Tableau bei Genovese-Fox, Elizabeth: The Origins of Physiocracy: Economic Revolution and Social Order in Eighteenth Century France. Ithaca 1976. S. 246ff. Kuczynski,
Marguerite: Einleitung. In: Dies. (Hg.): Tableau économique. Nach der 3. Ausgabe von 1759. Berlin
1965. S. VII. Bürgin, Alfred: Zur Soziogenese der politischen Ökonomie. Wirtschaftsgeschicht­liche
und dogmenhistorische Betrachtungen. Marburg 1996. S. 327 – 356. Berg, Richard van den: “Un
état de pleine concurrence”: Old and new Controversies about Physiocratic Theory of Value. In:
Economies et Sociétiés 38/8 (2004). S. 1431 – 1457. Perrot, Jean-Claude: Une histoire intellectuelle
de l’économie politique. XVII-XVIII siècle (Civilisations et sociétés, Bd. 85). Paris 1992. S. 217ff.
Bourde, .Agronomie et agronomes, Bd. 1, S. 367ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
291
Einzelperson ebenso wie für einen Staat, Vermögen zu erwerben, als durch Ackerbau.
Quesnay schrieb: L’agriculture est la source de toutes les richesses de l’Etat, et de celles de
tous les citoyens.295 Gewerbe, Manufaktur und Handel subsumierte er unter den sterilen
(unproduktiven) Sektor, der die vom produktiven Bereich der Natur abgerungenen
Produkte nur tauschte, verfügbar machte oder transportierte, ohne noch etwas hinzuzufügen. Die Produktivität einer Wirtschaft maß sich aus Sicht Quesnays jedoch
allein am produktiven Sektor und ergab sich aus dem Reinertrag (produit net) bzw. dem
Mehrwert der Natur. Anhand dieser beiden Sektoren sowie in Abhängigkeit von den
Eigentumsverhältnissen und den damit verbundenen Tätigkeitsfeldern teilte Quesnay
in Anlehnung an Richard Cantillons (1680 – 1734) Essai sur la nature du commerce en
général (1734/1755) die Bevölkerung in drei Kategorien ein.296 Im Tableau finden sich
die bäuer­lichen Pächter als classe productive, in der classe des propriétaires sah Quesnay
die länd­lichen Grundeigentümer und unter die classe stérile subsumierte er die Händler
und Manufakturbesitzer.297 Innerhalb dieser drei Bevölkerungsgruppen sollte es zu einem
Wirtschaftskreislauf kommen, der von der produktiven Gruppe ausging und wieder zu
ihr zurückführte. In dieser Gruppe lag der Schlüssel zur Bildung des wirtschaft­lichen
Reinertrags, der Ausgangspunkt zur Umverteilung und Neubildung sowie zur Steigerung des Ertrags. Aus diesen Annahmen leitete Quesnay die Schlussfolgerung ab, dass
alles, was der Landwirtschaft schade, auch dem Staat und der Gesellschaft schäd­lich
sei: Pauvre paysan, pauvre royaume; pauvre royaume, pauvre roi!298 Umgekehrt sei alles,
was den Ackerbau begünstige, gleichermaßen für den Staat und die Gesellschaft günstig. Deshalb bildete das Tableau ein harmonisches Verhältnis von Natur, Wirtschaft
und Gesellschaft ab, das es künftig umzusetzen galt. Orientiert war es an der Kugellaufbzw. Tableau-Uhr von Grollier de Servière, die dieser 1733 im Recueil d’ouvrages curieux
de mathématique et de mécanique ausführ­lich beschrieben hatte.299 Im Tableau bildete
Quesnay ein gesellschaft­liches und wirtschaft­liches Reformprogramm, ein boussole
du gouvernement oder livret du ménage ab, das Orientierung zur Realisierung bieten
sollte. Den Bauern gestand Quesnay den ökonomischen Vorrang zu, doch konstatierte
er aufgrund der Besitzlosigkeit der meisten Bauern und der Bewirtschaftung durch die
2 95 Quesnay, Maximes générales, S. 331.
296 Vgl. zu Cantillons Geldtheorie, seinen Zirkulationsvorstellungen und zum Einfluss auf die Physiokraten Schumpeter, Joseph A.: Geschichte der ökonomischen Analyse. Bd. 1 (Grundriß der Sozialwissenschaft, Bd. 6). Göttingen 1965. S. 403ff.
297 Muhlack, Art. „Physiokratismus“, S. 474.
298 Diese Sentenz wird Quesnay zugeschrieben. Oncken, Quesnay, S. 128.
299 Vgl. Rieter, Heinz: Zur Rezeption der physiokratischen Kreislaufanalogie in der Wirtschaftswissenschaft. In: Scherf, Harald (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökonomischen Theorie. Bd. 3
(Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., 115,3). Berlin 1983. S. 55 – 99. Ders.: Quesnays Tableau
Economique als Uhren-Analogie. In: Scherf, Harald (Hg.): Studien zur Entwicklung der ökono­
mischen Theorie. Bd. 9 (Schriften des Vereins für Socialpolitik, N. F., 115,9). Berlin 1990. S. 57 – 94.
Bürgin, Zur Soziogenese der politischen Ökonomie. S. 35, FN 41.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
292
Der chinesische Kaiser als Vorbild
so genannte Halbscheidpacht (métayage) für das gesamte Agrarsystem Frankreichs eine
ungenügende Produktivität. Für ihn hing der Wohlstand einer Gesellschaft wesent­lich
davon ab, dass die Bauern selbst Boden besaßen: Le Royaume doit être bien peuplé de
riches cultivateurs.300 Die Herausbildung eines freien und besitzenden Pächterstandes sah
Quesnay deshalb als eine der dring­lichsten Aufgaben des Herrschers an. Beziehungen
zwischen den Bevölkerungsgruppen bildet das Tableau nicht ab. Es ging aber davon
aus, dass alle Gruppen aufeinander bezogen agieren. Doch entgegen der Annahme
Adam Smiths von den sich selbst regulierenden Kräften bedurfte es nach Quesnay eines
Anstoßes wie bei der Uhr.301 Diesen sollte der Monarch geben. Somit sah Quesnay den
Handlungsbedarf des Herrschers darin, die gesellschaft­lichen Beziehungen herzustellen bzw. zu beeinflussen. Sein Gesellschaftsideal bestand in der Nation agricole, die aus
seiner Sicht schon einmal im Frankreich Heinrichs IV. ansatzweise verwirk­licht war.302
Frankreich bot auch die besten Voraussetzungen dafür: Es verfügte über ein großes
Staatsterritorium und eine angemessene Bevölkerungszahl.303 Da die Besitzenden an
das Land gebunden seien, müsse die Funktion dieser Gruppe im Aufbau der Nation
a­ gricole bestehen. Was dafür jedoch in Frankreich fehle, war nach Quesnay die fördernde
Staatsmacht und ein aktiver Herrscher, der durch entsprechende Rahmenbedingungen
den Aufbau einer Nation agricole unterstütze. Sein formuliertes Ideal bestand deshalb
aus einem souveränen Monarchen, der sich den Naturgesetzen freiwillig unterordnete
und sie respektierte.304 Die Vorbilder für dieses Herrscherideal entlehnte Quesnay nicht
mehr aus dem bekannten Fundus antiker oder christ­licher Monarchen der europäischen
300 Quesnay, Maximes, S. 333. Vgl. auch Zank, Wolfgang: Reiche Bauern, reiches Land. In: Piper,
­Nikolaus (Hg.): Die großen Ökonomen. Leben und Werk der wirtschaftswissenschaft­lichen Vordenker. Stuttgart ²1996. S. 20 – 25.
301 Einen Vergleich zwischen Quesnay und Smith bietet Karmann, Friedrich: Agrarwesen und Agrarpolitik in den Systemen der Physiokratie und des Adam Smith. In: Jahrbuch der Dissertationen der
Philosophischen Fakultät der Friedrich-Wilhelms-Universität Berlin 1921/22. S. 177 – 187. Hier
S. 180f.
302 Tichauer-Menck, Clara: François Quesnay als politischer Oekonom. (Diss.) Wertheim/M. 1927.
S. 5ff, S. 16.
303 Für Stadtstaaten oder Nations commerçantes wie die Niederlande prognostizierte er aufgrund des
fehlenden Territoriums den Untergang. Tichauer-Menck, François Quesnay als politischer Oekonom, S. 4.
304 Priddat, Birger P.: Le concert universel. Die Physiokratie. Eine Transformationsphilosophie des
18. Jahrhunderts. Marburg 2001. S. 92.
Es ist nach der vorliegenden Untersuchung davon auszugehen, dass die Physiokraten mit ihrer Vorstellung von der Nation agricole ein sehr eigenes und funktionales Verständnis von der Verknüpfung
von Nation und Natur besaßen. Es ging ihnen um die Schaffung einer neuen kulturellen Identität
der Menschen im Einklang mit der Natur. Dies betraf in erster Linie, jedoch nicht ausschließ­lich die
Franzosen. Die Nation agricole musste somit nicht nur auf Frankreich beschränkt bleiben, sondern
schloss all jene ein, die sich auf ihre Lehren und Ideen beriefen – eine Nation Gleichgesinnter. Zu
Vorstellungen von Natur und Nation am Beispiel der Niederlande im 16. und 17. Jahrhundert vgl.
Michalsky, Tanja: Die Natur der Nation. Überlegungen zur „Landschaft“ als Ausdruck nationaler
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
293
Fürstenspiegel. Er wählte stattdessen ebenso wie Justi ein außereuropäisches Vorbild:
das chinesische Kaisertum. Es ging ihm dabei nicht um die Qualitäten einzelner Persön­
lichkeiten, sondern um die Institution des Kaisertums an sich mit einem ausgewählten
Teil seiner Funktionen, Rechte und Pf­lichten. Ausschlaggebend war für Quesnay die
histoire d’une monarchie agricole seit den premiers souverains de la Chine, les Fo-hi (Fuxi)
et les Yao.305 Der chinesische Kaiser avancierte über Quesnay hinaus auch bei anderen
französischen Physiokraten zu einem Modell der Harmonie von Herrschaft und Natur
und damit zu einem bedeutenden Argument innerhalb der physiokratischen Vermittlungsstrategie und Propaganda,306 was im nachfolgenden Kapitel gezeigt werden soll.
4.2.2 Die Rolle Chinas in der Physiokratie
Die ausgeprägte Sinophilie Quesnays war ausschlaggebend für die bedeutende Rolle, die
Chinas Landwirtschaft künftig für die Physiokraten als Argument und Vorbild spielen
sollte. Quesnay nannte in seinem 1767 publizierten Werk Despotisme de la Chine zahlreiche Berichterstatter aus China, auf die er sich inhalt­lich bezogen hatte. Allen voran
war dies Du Haldes Kompendium Description de la Chine (1735),307 Le Comtes Nouveaux memoires sur l’état present de la Chine (1696), die Lettres Édifiantes et ­Curieuses
(1702 – 1776), die Schriften des Dominikaner-Missionars Domingo Fernandez Navarrete (1618 – 1686), Berichte des neapolitanischen Juristen Giovanni Francesco Gemelli
Careri (1651 – 1725) und des schwedischen Ingenieurs Laurent Lange, Gesandtschaftsberichte wie die des Dänen Evert Ysbrant Ides (1657 – 1708) und des Admirals George
Anson (1697 – 1762) sowie die Beschreibungen von Pierre Poivre.308 Quesnay griff also
Identität. In: Bußmann, Klaus/Werner, Elke Anna (Hg.): Europa im 17. Jahrhundert. Ein politischer
Mythos und seine Bilder. Stuttgart 2004. S. 333 – 354. Hier S. 337.
305 Quesnay, Despotisme de la Chine, 1. Kapitel, § 2, S. 566ff und 2. Kapitel, § 9, S. 603f. In seiner Argumentation zog er die chinesische Geschichte ebenso wie die jüngere Vergangenheit bzw. Gegenwart
aus den Berichten von Poivre heran.
306 Der Begriff „Propaganda“ ist zeitgenössisch gewählt, zumal er u. a. in Verbindung mit den zahlreichen Artikeln Gelehrter in Zeitungen und Journalen gebracht wurde. Vgl. Reinalter, Helmut: Art.
„Propaganda“. In: Lexikon zum Aufgeklärten Absolutismus in Europa. Herrscher, Denker, Sachbegriffe (UTB, Geschichte, Bd. 8316). Köln 2005. S. 495f.
307 Quesnay nannte ihn selbst in seinem Vorwort als Gewährsmann seiner Ausführungen. Quesnay,
Despotisme de la Chine, 1. Kapitel, § 1, S. 566. Zum Einfluss der Schriften von Navarrete vgl.
­Cummins, James S.: Fray Domingo Navarrete: A Source for Quesnay. In: Bulletin of Hispanic
Studies 36 (1959). S. 37 – 50. Zur Sinophilie Quesnays allgemein vgl. Li, La Chine et les Chinois.
S. 47f.
308 Ibd. § 1, S. 566. Teile aus Poivres Reisebericht zu Chinas Landwirtschaft sowie zum Ackerbau in
Cochinchina wurden auch in den Ephémérides du Citoyen unter dem Titel Voyages d’un Philosophe
publiziert. Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Juin 1768. S. 166 – 217.
Die Hervorhebung der Landwirtschaft Chinas insbesondere S. 213. Einen Überblick über die von
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
294
Der chinesische Kaiser als Vorbild
im Wesent­lichen auf die Informationen zurück, die sich – wie bereits im dritten Kapitel
dargestellt – den zeitgenössischen Veröffent­lichungen entnehmen ließen.
Poivres Berichte aus Asien zirkulierten ebenso wie seine 1763 und 1764 in Lyon gehaltenen Vorträge zur Landwirtschaft außerhalb Europas in handschrift­lichen Kopien im Kreis
der Physiokraten. Quesnay entlehnte aus ihnen wichtige Informationen, mit denen er die
Vorbildhaftigkeit Chinas für Europa in seinen Despotisme de la Chine in der ersten Veröffent­
lichung in den Ephémérides du Citoyen im Jahr 1767 darstellte. Ganze Passagen wurden von
Quesnay aus Poivres Beschreibungen und Vorträgen entlehnt.309 Vor allem Informationen
zur Stellung der Landwirtschaft in Staat und Gesellschaft in China waren für Quesnay von
besonderer Bedeutung. Zudem richtete er seinen Blick auf Poivres Beschreibungen von
Kaiser und Untertanen als Interessengemeinschaft sowie auf China als Staat, in dem das
Naturrecht herrschte. Auch die anderen Mitglieder der Gruppe um Quesnay zitierten in
ihren Abhandlungen rege aus Poivres Berichten, da sich bei ihm das zeitgenössisch aktuellste Wissen über China fand.310 Für Quesnays Beschäftigung mit dem Wu-wei-Konzept
der Chinesen ist hingegen ganz besonders die Wirkung von François Noëls Übersetzung
der chinesischen Klassiker Sinensis imperii libri classici sex aus dem Jahr 1711 von Bedeutung.311 Daneben prägten ihn stark Beschreibungen der richesses immenses in China und der
ökonomische Erfolg Chinas auf der Basis geltenden Naturrechts im vierten und fünften
Band von Jacques Philibert Rousselot de Surgys Mélanges intéressans et curieux ou Abrégé
d’histoire naturelle, morale, civile et politique, de l’Asie, l’Afrique, l’Amérique et des Terres
polaires, die ab 1763 in Paris erschienen.312 Rousselot de Surgys hatte sich ebenfalls auf Du
Haldes Description de la Chine bezogen.313
309
310
311
312
313
Quesnay stark rezipierten China-Berichte und Übersetzungen gibt Priddat, Le concert universel,
S. 116f. Kurz auch bei Clarke, John: Oriental Enlightenment: The Encounter between Asian and
Western Thought. London/New York 1997. S. 50. Maverick, China, S. 315. Guy, Basil: The French
Image of China, S. 356. Immer noch Ly, Siou Y.: Les grands courants de la pensée économique
­chinoise dans l’antiquité et leur influence sur la formation de la doctrine physiocratique. Paris 1936.
Quesnay, François: Despotisme de la Chine. In: Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée
des Sciences. Mars-Juin 1767. S. 5 – 88. Dazu Maffey, Aldo: Un plagio di F. Quesnay: il Despotisme
de la Chine. In: Il pensiero politico 6 (1973). S. 37 – 56.
Osterhammel, Pierre Poivre, S. 32. Gerlach, Christian: Wu-wei in Europe. A Study of Eurasian
Economic Thought (online unter: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/daten/2005/gerlach_­
christian_wu-wei.pdf, gesehen: 11.08.2012). S. 27ff.
Maverick, China, S. 26. Reichwein, Adolf: China und Europa. Geistige und künstlerische Beziehungen im 18. Jahrhundert. Berlin 1923. S. 116.
Den Hinweis dazu gibt Quesnay ebenfalls selbst im ersten Kapitel. Quesnay, Despotisme de la
Chine, 1. Kapitel, § 2, S. 570. Quesnay nennt den Titel, nicht jedoch den Autor. Rousselot de Surgy,
Jacques Philibert: Mélanges intéressans et curieux ou Abrégé d’histoire, naturelle, morale, civile et
politique, de l’Asie, l’Afrique, l’Amérique et des Terres polaires. Bd. 6. Paris 1764. S. 236ff.
Rousselot de Surgy hatte nach eigener Aussage in Bd. IV, S. 5 und S. 10, Anm. c Du Halde als
wichtigsten Autor seiner Mélanges interéssans curieux zugrunde gelegt, daneben aber auch weitere
Berichte konsultiert.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
295
Quesnays Werk Le Despotisme de la Chine gab zunächst einen Überblick über das
segensreiche Wirken der ersten Kaiser wie Shennong. Im Anschluss widmete er sich
auf einigen Seiten dem Leben und den Lehren des Konfuzius. Die Vorstellungen von
Harmonie und innerem Frieden als Grundlagen einer guten und funktionierenden
Regierung prägten Quesnay wesent­lich.314 Aufgrund seiner Begeisterung für die klassischen Lehren der Chinesen nannten ihn seine Kollegen ehrenvoll Confucius européen,
was auch seinem Selbstbild entsprach.315 Da die Physiokraten vom ordre naturel, der
natür­lichen, gottgegebenen Ordnung und der vom Menschen bedingten, oft fehlerhaften und unzureichenden ordre positif ausgingen, waren sie bestrebt, den natür­lichen
Zustand als Ausgangssituation wiederherzustellen.316 Quesnay begeisterte sich deshalb
anhand der genannten Lektüre der Berichte aus China für das taoistische Wu-wei-Konzept und damit für die Vorstellung des Tuns ohne zu tun bzw. des Nichteingreifens durch
den Menschen. Lao Tse hatte den chinesischen Kaisern die Natur als autorité souveraine vor Augen gehalten. Deshalb sollten sie den Kreislauf der Natur nicht stören oder
lenken, sondern respektieren.317 Für die Physiokraten galt deshalb das ökonomische
Prinzip der bienfaisance de la nature und des laissez faire, das im 19. Jahrhundert zum
Grundsatz marktwirtschaft­licher Ökonomie erhoben wurde. Schon vor ihnen hatte
der französische Ökonom Pierre de Boisguilbert (1646 – 1714) das Prinzip des laissez
faire für wirtschaft­liche Belange geprüft und festgestellt, dass die Natur wie ein Blutkreislauf in einem Körper funktioniere. Man müsse der Natur nur erlauben, tätig zu
sein. Sein Einfluss auf die Physiokraten ist umfassend nachgewiesen.318 Doch auch die
3 14
315
3 16
317
318
Vgl. auch Rousselot de Surgy, Jacques Philibert u. a.: Agronomie & industrie. 4 Bde. Paris 1762.
Anonymus: Catalogue des livres de la bibliothéque de Madame la Marquise de Pompadour. Dame
du Palais de la Reine. Paris 1765. Kurzer Hinweis darauf bei Maverick, China, S. 123, S. 128ff.
Quesnay, Despotisme de la Chine, 1. Kapitel, § 2, S. 566ff.
Neuerdings Finkelstein, Andrea: Harmony and Balance. An Intellectual History of Seventeenth-­
Century English Economic Thought. Ann Arbor 2000. S. 33ff. Guy, Basil: The French Image
of China, S. 347. Grundsätz­lich Priddat, Birger P.: Ist das „laisser-faire“ Prinzip ein Prinzip des
Nichthandelns? Über einen chinesischen Einfluß in Quesnay’s „Despotisme de la Chine“ und das
physiokratische Denken. Discussion Paper 16. Institut für Finanzwissenschaft. Hamburg 1984.
Genovese-Fox, Origins of Physiocracy, S. 74. Pinot, Virgile: Les physiocrates et la Chine au XVIIIe siècle. In: Revue d’histoire moderne et contemporaine 8 (1906/07). S. 200 – 214. Hier S. 214.
Oncken, August: Die Maxime des laissez faire et laissez passer. Ihr Ursprung, ihr Werden. Bern
1886. Den enormen Einfluss Chinas und der Lehre des Wu-wei auf Quesnay unterschlagen zahlreiche Forschungen zu Quesnay. So etwa Banzhaf, Spencer H.: Productive Nature and the Net Product: Quesnay’s Economies Animal and Political. In: History of Political Economy 32/3 (2000).
S. 517 – 551. Roll, Eric: A History of Economic Thought. London 51999. S. 111 – 120.
Quesnay, Despotisme de la Chine, 8. Kapitel, § 8 – 14, S. 645ff.
Zu den klassischen Büchern Quesnay, Despotisme de la Chine, 2. Kapitel, § 2f, S. 590ff. Grundsätz­
lich zum Taoismus in der Vorstellung des Wu-wei vgl. McCormick, Ken: The Tao of Lassez faire.
In: Eastern Economic Journal 25 (1999). S. 331 – 341.
Faccarello, Gilbert: Aux origins de l’économie politique libérale. Pierre de Boisguilbert. Paris 1986.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
296
Der chinesische Kaiser als Vorbild
französischen Skeptiker wie Michel de Montaigne (1533 – 1592) und François de la Mothe
le Vayer (1588 – 1672) – er wirkte und schrieb im direktem Umfeld Richelieus – hatten
trotz ihrer Stellungnahmen für das System des Merkantilismus immer wieder auf die
Bedeutung der Natur verwiesen. Aus Le Vayers skeptischer Betrachtung der Politik, in
der er das situationsbedingte bewusste Nichteingreifen in Vorgänge oder Strukturen
als wesent­liche Tugend eines Herrschers konstatierte, und seinen Studien der französischen Übersetzungen der Lehren des Konfuzius sowie buddhistischer Maxime
resultierte die Einsicht, dass dies auch für Mensch und Natur gelte. Bisher ist nur eine
indirekte Rezeption von Le Vayers Werken durch Mirabeau über Bayles Dictionnaire
nachgewiesen.319 Es zeigt sich aber hier, dass die Auseinandersetzung mit dem Wirken
der Natur und der Übertragbarkeit ihrer Prinzipien auf politisches Handeln sowie die
Bedeutung der Natur an sich ebenso wie ein Studium der Rolle der Natur in China
nicht erst mit den Physiokraten in Frankreich einsetzt. Vielmehr begann die Beschäftigung bereits während der merkantilistisch orientierten Wirtschaftstätigkeit. China
galt somit bereits als diskutables Beispiel.
Die Physiokraten sahen im Prinzip des laissez faire nicht nur einen ökonomischen,
sondern auch einen politischen Grundsatz. Die Politik hatte sich an der Natur und
ihren Gegebenheiten zu orientieren. Es bedurfte nach Quesnay der unumschränkten
Macht eines Monarchen, der sich einsichtig und freiwillig im Einklang mit den Naturgesetzen befand, sie befolgte, an seine Untertanen vermittelte und ihre Einhaltung
kontrollierte. Zugleich hatte er nach taoistischen Vorstellungen als Hüter und nicht
als Beherrscher der Natur zu fungieren. Seine Aufgabe bestand darin, alles wachsen zu
lassen und nur darauf zu achten, dass dafür die Bedingungen gegeben seien.320 Dieser
Aufgabenbereich des chinesischen Kaisers war aus Sicht der Physiokraten leicht und
sinnvoll auf die europäischen Fürsten zu übertragen, denn nur die Herrscher waren
es, die immer noch im status naturalis und libertatis verblieben waren. In den Fokus
der Physiokraten geriet die Ausübung der chinesischen Herrschaft nach den Naturgesetzen, einem ordnungserhaltenden Prinzip, das ruhe- und friedenserhaltend wirkte.
Das chinesische Kaiserreich funktionierte wie eine große Familie unter der fürsorg­
lichen Herrschaft eines Vaters.321 Quesnay schrieb im Despotisme de la Chine: Suivant
les interprètes chinois, Tien est l’esprit qui préside au ciel, et ils regardent le ciel comme le
319 Schüßler, Rudolf: Laissez faire, Early Modern Skepticism and a “China-Connection”. Unveröffent­
lichtes Diskussionspapier der Universität Bayreuth, Mai 2011. S. 8f, S. 11, S. 13ff. Zu Le Vayer im
Wörterbuch von Pierre Bayle vgl. Scheele, Meta: Wissen und Glaube in der Geschichtswissenschaft.
Studien zum Historischen Pyrrhonismus in Frankreich und in Deutschland (Beiträge zur Philosophie, Bd. 18). (Diss.) Heidelberg 1930. S. 27ff.
320 Priddat, Birger P.: Le concert universel, S. 87 – 117. Gerlach, Wu-wei in Europe, S. 9ff, S. 27ff. Poirier,
Turgot, Einleitung. Häufle, Heinrich: Aufklärung und Ökonomie. Zur Position der Physiokraten im
siècle des Lumières (Münchener romanistische Arbeiten, Bd. 48). (Diss.) München 1978. S. 120ff.
321 China beeindruckte Quesnay, da es sich um ein riesiges Reich handelte, das durch seine Ordnung
vorbild­lich für Frankreich wirken konnte und in dem es nach den Reiseberichten kaum zu Unruhen
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
297
plus parfait ouvrage de l’auteur de la nature. Car l’aspect du ciel a toujours attiré la vénération des hommes attentifs à la beauté et à la sublimité de l’ordre naturel, […]. Les Chinois
disent que le père est le Tien d’une famille, le vice-roi, le Tien d’une province; l’empereur, le
Tien de l’empire.322 Der amerikanische Sinologe Herlee Creel spricht vom chinesischen
Herrscher als „Schiedsrichter“ über alle nach den von ihm kontrollierten Gesetzen aus­ ontesquieu
geführten Handlungen der Untertanen.323 In deut­licher Abgrenzung zu M
identifizierte Quesnay die chinesische Herrschaft in ihrer Übereinstimmung mit den
Naturgesetzen als despotisme légal.324 Aus seiner Sicht war diese Herrschaftsform in
Frankreich realisierbar. Zudem schien das taoistische Wu-wei-Konzept angesichts der
deistischen Strömungen in Europa akzeptabel und umso leichter kommunizierbar.
Wenn Gott nicht mehr stetig aktiv handelte, sondern sich durch seine Gesetze vertreten
ließ, galt dies auch für seine Schöpfung und ihre Gesetzmäßigkeiten. Quesnay schuf
aus den konfuzianischen und taoistischen Gedanken in Anlehnung an deistische und
antike Grundlagen Ansätze zu einer eurasischen Synthese.325 Diese Auffassung korrespondierte darüber hinaus mit der aktuellen und in Frankreich diskutierten Vorstellung vom Funktionieren eines zunehmend entpersonalisierten und institutionalisierten
Staates, der wie eine Maschine arbeitete.326
Faszinierend war für die Physiokraten auch die Übereinstimmung der Interessen zwischen Herrscher und Untertanen in China. Gemeinsam und harmonisch befolgten sie
aus Sicht Quesnays die lois naturelles zwischen Himmel und Erde. Daraus resultierte, dass
die Kaiser Chinas als souverains d’une nation essentiellement agricole herrschen konnten.
Für Frankreich zog Quesnay den Schluss, dass die Menschen Gottes Absicht und damit
ebenfalls den Naturgesetzen folgen sollten.327 Dass es sich dabei jedoch auch in Europa
um ein gemeinsames Interesse von Herrschern und Untertanen handeln sollte, musste
erst vermittelt werden. Dies bedingte ein modifiziertes Gesellschaftsverständnis in
komme. Weulersse, Georges: Le mouvement physiocratique en France de 1756 à 1770. Paris 1910.
Bd. 2. S. 48ff und S. 136ff.
322 Quesnay, Despotisme de la Chine, 2. Kapitel, § 1, S. 585.
323 “The ruler holds the control, the ministers carry on routine functions.” Creel, Herlee: The Fa-chia:
“Legalists or “Administrators”? In: Ders.: What is Taoism? And other Studies in Chinese Cultural
History. Chicago/London 1970. S. 92 – 120. Hier S. 98.
324 Quesnay, Despotisme de la Chine, Vorwort, S. 563f.
325 Gerlach, Wu-wei in Europe, S. 22. Deut­lich wird dies in Quesnays kleiner Abhandlung Le droit
naturel aus dem Jahr 1765.
326 Quesnay, François: Sur les travaux des artisans, in: Oncken, Auguste (Hg.): François Quesnay.
­Œuvres économiques et philosophique. Accompagnées des éloges et d’autres travaux biographiques
sur Quesnay par différents auteurs. Francfort 1888 (Reprint Aalen 1965). S. 526 – 554. Hier S. 532.
Vgl. dazu Kapitel 4.1.3.c).
327 Priddat, Le concert universel, S. 107. Pinot, Les physiocrates et la Chine au XVIIIe siècle, S. 211.
Goutte, Pierre-Henri: Les Éphémérides du citoyen, instrument périodique au service de l’ordre
naturel (1765 – 1772). In: Le Dix-huitième siècle 26 (1994). S. 139 – 162. Hier S. 142f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
298
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Anlehnung an die aus dem Naturrecht resultierende Freiheit des Einzelnen.328 ­Quesnay
schrieb: […] et dans tout l’empire les enfants héritent des biens de leurs pères et de leurs
parents selon l’ordre naturel du droit de succession.329 In den Mélanges intéressans et curieux fand Quesnay den entscheidenen Hinweis zur Einteilung der chinesischen Gesellschaft: Le seconde division de la nation chinoise, comprend tous ceux qui n’ont pas pris de
degrés littéraires: les laboureurs, les marchands et en général tous les artisans. C’est ce qui
compose le menu peuple.330 Quesnay hielt in seinem Werk Despotisme de la Chine fest:
Le second ordre des citoyens comprend tous ceux qui n’ont pas pris de degrés littéraires. Les
laboureurs tiennent le premier rang, puis les marchands et géneralement tous les artisans,
les paysans, manouvriers, et tout ce qui compose le menu peuple.331 Vor der Aufforderung,
Strukturreformen durchzuführen und auch die französischen Eliten auf eine notwendige Nation agricole und die agriculture éclairée zu verpf­l ichten, scheute Quesnay ebenso
wenig zurück wie die Mitglieder seines Kreises.332 Gleiches galt auch für die Vermittlung an das Volk 333 und die Erhebung der Landwirtschaft zur science économique. Dafür
rühmte Quesnay die chinesischen Landwirtschaftsakademien.334 Quesnay diskutierte
328 Vaggi, Gianni: Structural Change and Social Transformation in Physiocracy. In: Schefold, Bertram/
Barens, Ingo/Caspari, Volker (Hg.): Political events and economic ideas. Cheltenham/UK/Northhampton/MA 2004. S. 150 – 172. Zorn, Wolfgang: Die Physiokratie und die Idee der individualistischen Gesellschaft. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 47/4 (1960).
S. 498 – 507. Berg, Un état de pleine concurrence.
329 Quesnay, Despotisme de la Chine, 2. Kapitel, § 7, S. 599f.
330 Rousselot de Surgy, Mélanges intéressans et curieux, Bd. 5, S. 224.
331 Quesnay, Despotisme de la Chine, Kap. 2, § 4, S. 581.
332 Die Ablehnung physiokratischer Ideen im Adel und die befürchteten Konsequenzen für diesen
Stand diskutiert Goulemot, Jean-Marie: Reflexions sur la culture politique des lumières. In: Bödeker,
Hans Erich/François, Etienne (Hg): Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der
deutschen und französischen Aufklärung (Deutsch-französische Kulturbibliothek, Bd. 5). Leipzig
1996. S. 435 – 446.
333 Mirabeau hatte beispielsweise am 14. Juni 1772 an den badischen Markgrafen geschrieben, dass die
Einsichten in die physiokratischen Ansätze auch an das Volk vermittelt werden müssten: Ce point
décisif, Monseigneur, c’est l’instruction populaire. Vainnement ferez-Vous instruire Votre auguste famille;
vainnement Vos mesures à cet égard seraient-elles appuyées du consentement actuel de Vos courtisans et
de Vos officiers. Ces derniers n’auront jamais de principes que la volonté du prince et d’objet comme tous
autres que leurs intérêt momentané. Ne jugez d’après les difficultés que Vous trouvez à faire le bien de
celles, qui se rencontreront à laisser tout languir et se détruire. […] C’est le peuple seul, c’est l’universalité
des opinions et des volontés qui peut veiller à la garde de Vos institutions paternelles, et la première de
toutes doit être le soin d’initier dès son enfance le moindre d’entre Vos sujets à la connaissance de l’intérêt
personnel qu’il a à l’inauguration et à la conservation de Vos principes. […] Oui, Monseigneur, les vrais
insituteurs des princes, ce sont les moeurs de leurs sujets, l’appui des moeurs sont les principes, et les principes constants et fondés sur l’ordre naturel doivent être appris en naissant, doivent former la religion
domestique de chaque famille. Je supplie Votre Altesse Sérénissime de faire réflexion à ceci, que je ne fais
que Lui répéter. Knies, Carl (Hg.): Carl Friedrich von Baden. Brief­licher Verkehr mit Mirabeau und
Du Pont. Bd. 1. Heidelberg 1892. S. 59f.
334 Weulersse, Le mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 377.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
299
und zitierte in diesem Kontext ausführ­lich das Heilige Edikt des Kangxi-­Kaisers, das
er dem Kompendium von Du Halde entnommen hatte. Die Achtung der gesamten
chine­sischen Gesellschaft gegenüber der Landwirtschaft hob er gezielt hervor. Zugleich
unterstrich er die wichtige Funktion des Monarchen und in Anlehnung an den Kaiser
die Funktion der Mandarine, das Volk zu unterweisen und zu erziehen. Der Monarch
trete in China, so Quesnay, wie am Beispiel des Heiligen Edikts des Kangxi-­Kaisers zu
sehen sei, als Lehrer seiner Untertanen auf.335 Daneben werde das Volk auch durch die
schrift­liche Publikation von ethischen Richtlinien und Verhaltensmaßregeln in den
gazettes chinoises belehrt: La gazette du gouvernement intérieur de l’empire est encore,
pour le public, une instruction historique journalière, qui lui présente des exemples de
tous genres qui inspirent de la vénération pour la vertu, de l’amour pour le souverain, et
de l’horreur pour le vice.336 Damit formulierte Quesnay ein Programm für die Vermittlung der physiokratischen Lehre. Publikationsmedien sollten wie in China als Vermittlungsorgane für die Erziehung des Volkes zur Landwirtschaft und fürst­liche Personen
als Trägerschicht des Vermittlungsziels dienen. Dies bedeutete für Quesnay auch, die
Publikationsorgane der Physiokraten zu offiziellen Medien der Regierung zu erheben.
4.2.3 Die physiokratische Propaganda und ihre Adressaten
Nachfolgend sollen die grundlegenden Vermittlungsstrategien der Physiokraten, aber
auch die der Krisenzeit von 1768/69 untersucht werden, die sich auf unterschied­liche
Medien und Kommunikationsformen konzentrierten. Daneben finden die Reaktionen
der Fürsten eingehende Beachtung, denn es kann von übereinstimmenden Interessen und
gemeinsamen Handlungszielen zwischen den Physiokraten und einzelnen Herrschern
ausgegangen werden. Es soll dabei die Annahme gelten, dass durch die Vermittlung
physiokratischen Wissens an das Königshaus das kulturelle und symbolische Kapital
Ludwigs XV. und seines Nachfolgers steigen und umgekehrt die Lehre der Physiokraten
durch die Rezeption der könig­lichen Schüler in gleicher Weise an Bedeutung gewinnen
konnte.337 Da auch seitens der französischen Krone die Herrschaftsauffassung durch
gezielte Propaganda verbreitet wurde, deckten sich aus Sicht der Physiokraten ihre
Interessen mit denen des Hofes.
335 Quesnay, Despotisme de la Chine, Kap. 2, § 5, S. 596.
336 Ibd. S. 597. Vgl. auch Maverick, China, S. 129.
337 Bourdieu, Pierre: Die Regeln der Kunst. Genese und Struktur des literarischen Feldes (Suhrkamp-Taschenbuch Wissenschaft, Bd. 1539). Frankfurt/M. 2001. S. 340ff. Die Beziehungen der
Physiokraten nach Baden, Schweden und die Toskana untersucht Abrosimov. Abrosimov, Kiril:
Wissenstransfer und Austausch symbolischen Kapitals. Das europäische Fürsten-Netzwerk der
französischen Physiokraten. In: Discussions 7 (2012). S. 1 – 41.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
300
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Die Physiokraten waren bei der Vermittlung ihres Wissen immer daran interessiert,
dass ihre Ideen nicht ausschließ­lich akademisch-theoretische Übungen blieben, sondern sich in die Praxis umsetzen ließen und sich dort bewährten. Sie stellten deshalb
grundsätz­liche Überlegungen an, durch welche Personenkreise und Mittel oder welches
Vorgehen ihre theoretischen Ansätze schnell und zielgerichtet zu realisieren seien. Im
Mittelpunkt ihres Interesses standen die Monarchen. Die Umsetzung ihrer Lehre bedurfte
eines im ökonomischen bzw. agrarischen Bereich wissenden, kenntnisreichen Monarchen
im Sinne des chinesischen Kaisers. Die économistes bedienten sich damit eines etablierten Musters der Verbindung von Wissen und Macht und der Akkumulation sowie der
Monopolisierung von Wissen durch die Macht. Dieses Muster war über die Jahrhunderte trotz allen Wandels der Wissensinhalte, -anforderungen und der Methoden der
Wissensgenerierung gleich geblieben.338 In den christ­lichen europäischen Vorstellungen
der Fürstenerziehung waren das Ideal des allwissenden und alles sehenden Monarchen
festgeschrieben und über Jahrhunderte pädagogische Praktiken für die Annäherung an
das gött­liche Vorbild perfektioniert worden.339 Nun stand aus Sicht der Physiokraten
wiederum ein solcher Wandel bzw. notwendiger Zuwachs im Herrschaftswissen an. Er
schien machbar, denn einerseits verfügte die eigene antike Tradition über genügend Beispiele einer engen Verflechtung von landwirtschaft­lichem Wissen und Fähigkeiten bei
Monarchen. Andererseits bewies China durch seine historischen und aktuellen Kaiser
die Mög­lichkeit einer erfolgreichen Verbindung von Herrschaft und Landwirtschaft,
ja sogar die Realisierung des lernenden und lehrenden Philosophen auf dem Thron.
Hier schien die Durchdringung der eigenen (chinesischen) Welt durch den umfassend
gebildeten und somit allwissenden Herrscher gelungen. Dieses Allwissen eines Königs
hatte in Frankreich durchaus Tradition. Arndt Brendecke betont, dass das être informé
338 Zu Rolle von Wissen im frühneuzeit­lichen Staatsbildungsprozess grundsätz­lich Soll, Jacob: Jean-­
Baptiste Colberts geheimes Staatsinformationssystem und die Krise der bürger­lichen Gelehrsamkeit in Frankreich 1600 – 1750. In: Brendecke, Arndt/Friedrich, Markus (Hg.): Information in der
Frühen Neuzeit. Status, Bestände, Strategien (Pluralisierung & Autorität, Bd. 16). Münster 2008.
S. 359 – 374. Gottschalk, Karin: Wissen über Land und Leute. Administrative Praktiken und Staatsbildungsprozesse im 18. Jahrhundert. In: Collin, Peter/Horstmann, Thomas (Hg.): Das Wissen
des Staates. Geschichte, Theorie, Praxis (Schriften zur Rechtspolitologie, Bd. 17). Baden-Baden
2004. S. 149 – 174. Hier S. 150ff. Spittler, Gerd: Abstraktes Wissen als Herrschaftsbasis. Zur Entstehungsgeschichte bürokratischer Herrschaft im Bauernstaat Preußen. In: Kölner Zeitschrift für
Soziologie und Sozialpsychologie 32 (1980). S. 574 – 604. Friedrich, Markus: Government and
Information-Management in Early Modern Europe. The Case of the Society of Jesus (1540 – 1773).
In: Journal of Early Modern History 12 (2008). S. 539 – 563.
339 Neben der Erfahrung durch Reisen wurde immer wieder die normative Orientierung an Exempla
als didaktisches Mittel der Perfektionierung der Persön­lichkeit des Herrschers aufgeführt. Das Auge
Gottes war immer auch als ein Symbol der Herrscher etabliert, was die Beobachtungsfähigkeit und
Wachsamkeit des Monarchen herausstellte. Müller, Rainer A.: Die deutschen Fürstenspiegel des
17. Jahrhunderts. Regierungslehre und politische Pädagogik. In: Historische Zeitschrift 240 (1985).
S. 571 – 597. Hier S. 583.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
301
de tout bei Ludwig XIV. als Voraussetzung politischer Rationalisierung erkannt und
Wissensdefizite als Grund politischer Fehler eingestuft wurden.340 Diese Auffassung im
Herrscherhaus galt es, von den Physiokraten für ihre Ziele zu nutzen, indem sie sich als
Praeceptores erwiesen und als Berater der Krone etablierten. Sie benötigten dafür eine
Strategie der erfolgreichen Vermittlung ihres Wissenskanons an die Monarchie sowie
eine Form der Eigenpropaganda, welche die erfolgreiche Vermittlung des Wissens im
Königshaus in der Öffent­lichkeit belegte.
Daneben befanden sich die Physiokraten seit 1763 in einer immer drängender werdenden Rechtfertigungssituation: Am 5. Mai 1763 war durch den König auf ihr Betreiben hin die Freiheit des Binnenhandels mit Getreide eingeführt worden. Ein Jahr später, am 18. Juli 1764, folgte das Gesetz des unbeschränkten Exports. Aus dieser neuen
Handelsfreiheit erwuchsen Spekulation und in den Jahren zwischen 1765 – 1768 immer
wiederkehrende Hungersnöte, die in Rouen und Paris zu Unruhen führten.341 Das
Freihandelsgesetz hatte die Defizite und die Rückständigkeit der französischen Landwirtschaft eindrück­lich aufgedeckt, die den freien Markt nur ungenügend bedienen konnte.
Es bestand daher in den Jahren 1768 und 1769 seitens der Physiokraten unbedingter
Handlungsbedarf, die Landwirtschaft zu stärken und so den Erhalt der neuen Gesetze
nicht zu gefährden, gleichzeitig aber auch den Hungersnöten entgegenzuwirken. Die
entstandene Disharmonie zwischen landwirtschaft­licher Produktion und dem Bedarf
des Marktes musste durch den König als Gesetzgeber ausgeg­lichen werden. Die Krone
musste je nach Situation bremsend oder beschleunigend, also regulierend wirken. Es
ging den Physiokraten darum, schnellstens Harmonie zwischen Markt und Landwirtschaft herzustellen, wobei sich auch die Glaubwürdigkeit ihrer Lehre auf dem Prüfstand
befand. Ein schneller Erfolg hinsicht­lich der Reformen für eine ertragreichere und
modernere Landwirtschaft schien notwendig. Aber auch sie selbst als Schule bedurften bei der kritischen Stimmung gegen die Freihandelsgesetze einer stärkeren und vor
allem sichtbaren Protektion durch die Krone. Um dies zu erreichen, suchten sie gerade
1768/69 nach speziellen Strategien der Annäherung an das Königshaus.
Die Bewegung der Physiokraten zielte darauf, mit ihrer Lehre nicht nur ein umfassendes Gegenstück zum Merkantilismus, sondern darüber hinaus, basierend auf der
universalen Gültigkeit der Naturgesetze, das wissenschaft­liche Programm einer neuen
Wirtschafts-, Staats- und Gesellschaftsordnung theoretisch und terminologisch fixiert
zu haben. Sie beanspruchten, ihre Lehre als nouvelle science, die Zusammenkünfte ihrer
Bewegung als Académie économique und sich selbst als philosophes zu etablieren. Sie
stellten ihre Bewegung mit dieser Anspruchshaltung neben die britische Royal Society
340 Brendecke, Arndt: Imperium und Empirie. Funktion des Wissens in der spanischen Kolonialherrschaft. Köln/Weimar/Wien 2009. S. 38f.
341 Im Juli 1770 wurde der freie Getreideexport vorerst wieder abgeschafft, 1774 durch Turgot wieder
mög­lich. Kaplan, Bread, Politics and Political Economy, S. 164ff und S. 252ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
302
Der chinesische Kaiser als Vorbild
oder die französische Académie des sciences.342 Eine neue Wissenschaftsdisziplin bedurfte
jedoch einer angemessenen Verbreitung, des akademischen Austauschs, der Diskussion
und Akzeptanz. Allerdings war nur Quesnay in die Académie des sciences aufgenommen
worden, den anderen philosophes blieb die Zugehörigkeit verwehrt.343 Die renommierten Einrichtungen in Paris oder im Ausland nahmen kaum Notiz von ihnen. So blieb
ihre Lehre auch dort verankert, wo sie als Wissenschaft entstanden war: an einem vollkommen neuen Ort von Gesprächskultur und Wissenschaftspraxis, dem Salon. Die
Assembléen der Physiokraten waren eine der wichtigsten Mög­lichkeiten, in direktem
Kontakt Gästen aus ganz Europa ihre Lehre zu vermitteln.344 Den Gästen, selbst Fürsten wie dem Markgrafen Karl Friedrich von Baden (1728 – 1811), ging es darum, dazuzugehören. Die économistes gaben ihrem Kreis und ihren Zusammenkünften damit das
Siegel großer Exklusivität. Doch dies allein genügte nicht.
Ronald Meek spricht dezidiert von der „Propaganda“ der physiokratischen Bewegung, die etwa 1763 ihren Anfang nahm. Er geht dabei jedoch vor allem von den Publi­
kationsorganen aus, in denen sie ihre Artikel schalteten und ihre Ideen verbreiteten.345
Doch schon früher sind Maßnahmen zu erkennen. So diente den Physiokraten, vor
allem Quesnay, die entstehende Encyclopédie Denis Diderots (1713 – 1784) als eine
Plattform, um in ausgewählten Artikeln die physiokratischen Standpunkte zu fixieren
und zu veröffent­lichen. Quesnay verfasste 1756 den Artikel Fermiers, ein Jahr später
die Abhandlung zu Grains und 1759 seine Gedanken zur Population.346 Den Artikel zur
Agriculture hatte Diderot bereits geschrieben (Abb. 13: Frontispiz der Enzyklopädie). Er
ging dabei auf die Rolle alter Kulturheroen wie Triptolemos aus der Mythologie ein und
bedauerte in Anlehnung an Plinius, dass die Erde früher ihre Früchte im Überfluss gab,
weil sie das Vergnügen empfing, von könig­lichen Pflügen und von fürst­lichen Händen
342 Jobert, Ambroise: Magnats polonaise et physiocrates français (1767 – 1774) (Collection historique
de l’institut français de Varsovie, Bd. 8). Paris 1941. S. 69f.
343 Die Aufnahme erfolgte 1751. Schelle, Docteur Quesnay, S. 151.
344 Abrosimov, Wissenstransfer und Austausch symbolischen Kapitals, S. 65.
345 Meek, Ronald L.: The Economics of Physiocracy. Essays and Translations. London 1962. Introduction. S. 31. Die Einordnung der Vermittlung der physiokratischen Lehre durch gezielte Propaganda
greift auch Liana Vardi in ihrem Artikel auf. Vardi, Liana: Physiocratic Visions. In: Edelstein, Dan
(Hg.): The Super-Enlightenment: During to Know too Much (SVEC, Bd. 2010,01). Oxford 2010.
S. 97 – 122. Hier S. 104ff.
346 Quesnay schrieb im Artikel „Population“: A la Chine on est si convaincu que la tranquillité de l’état,
sa prospérité & le bonheur des peuples dépendent de la tolérance de l’administration en ma tière religieuse, que pour être mandarin, & par conséquent magistrat, il faut par une condition absolue, n’être
attaché à aucun culte particulier. Quesnay, François: Art. „Population“, in: Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers. Bd. 13. Neufchatel 1765. S. 88 – 103. Pinot,
Les physiocrates et la Chine au XVIIIe siècle, S. 202. Zu Quesnays Artikeln Grains und Fermiers
vgl. Kaplan, Bread, Politics and Political Economy, S. 113f. Fox-Genovese, The Origins of Physiocracy, S. 118ff. Von Turgot sind die Artikel Étymologie, Existence, Expansibilité, Foire und Fondation
nachgewiesen. Schelle, Turgot, Bd. 1, S. 48ff und S. 55ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
303
kultiviert zu werden. Um dieser Ehre gerecht zu werden, so Diderot, habe sie mit aller
Kraft ihre Erträge vervielfacht. Diderot betonte, dass dies gegenwärtig nicht mehr so sei.
Die Gegenwart, so mahnte er, habe diese Ehre allein an die armen Bauern abgegeben.
Die Erde, so könne man versucht sein zu glauben, empfinde diese Schmach. Wie anders
sei es in China: Le Père du Halde nous apprend que l’Empereur, pour en inspirer le goût
à ses sujets, met la main à la charrue tous les ans une fois; qu’il trace quelques sillons; &
que les plus distingués de sa Cour lui succèdent tour à tour au même travail & à la même
charrue.347 Der Artikel Diderots entsprach in wesent­lichen Aussagen den Vorstellungen
der Physiokraten und konnte somit die Vermittlungsstrategie der économistes stützen.
Da jedoch der öffent­liche Verkauf der Encyclopédie verboten war, erreichte das Werk
in der ersten Auflage vor allem über 4000 Leser außerhalb Frankreichs. Die Käufer der
nachfolgenden, nicht autorisierten Drucke entstammten in der Regel dem zweiten und
dritten Stand. Die höchsten Käuferzahlen konnten nach Robert Darnton in Städten
mit Parlamenten und Akademien, also Städten mit einem erhöhten Aufkommen gebildeter Bürger in Frankreich verzeichnet werden. Dennoch, so betont Darnton, sei die
Encyclopédie so teuer gewesen, dass damit nur ein begrenzter Leser- und Nutzerkreis
erreicht werden konnte.348 Die Physiokraten setzten sich durch ihre Mitarbeit an der
Encyclopédie mit der sozialen, didaktischen und identitätsstiftenden Funktion der Künste
auseinander, die insbesondere Diderot konstatiert hatte.349 Sie folgten der Auffassung,
dass unter­schied­liche Kunst- und Textgattungen die Vermittlung von Inhalten
347 Diderot bezeichnete die Landwirtschaft als die erste, die nütz­lichste, die verbreitetste und vielleicht
die wichtigste der Künste. Die Ägypter, so Diderot, verehrten Osiris wegen seiner Erfindung des
Ackerbaus, die Griechen Ceres und ihren Sohn Triptolemos wegen ihrer Kunst, den Ackerbau zu
betreiben und der Vermittlung der Kunst an die Menschen, die Römer Saturn oder ihren König
Janus, den sie in den Rang eines Gottes in Anerkennung seiner Wohltaten erhoben. Die Landwirtschaft war fast die einzige Beschäftigung der Patriarchen, die von allen Menschen am meisten respektierte wegen der Einfachheit ihrer Sitten, der Güte ihrer Seele und die Erhöhung ihrer Gefühle.
Sie gereichte den größten Männern bei den anderen alten Völkern zur Freude. Diderot, Denis: Art.
„Agriculture“. In: Diderot, Denis/Le Rond d’Alembert, Jean-Baptiste (Hg.): Encyclopédie, ou Dictionnaire raisonné des sciences, des arts et des métiers, par une société de gens de letters. Bd. 1. Paris
1751. S. 183 – 190. Hier S. 183f.
348 Erst über die Drucke in Genf, Neuchâtel, Lyon und Grenoble wurden nach 1777 weitere Leserkreise auch in Frankreich erreicht. Am Beispiel von Besançon zeigt Darnton die Sozialstruktur der
Käufer der Encyclopédie auf. Die Mehrheit der Käufer entstammte dem zweiten und dritten Stand.
Darnton, Robert: Neue Aspekte zur Geschichte der Encyclopédie. In: Gumbrecht, Hans-Ulrich/
Reichardt, Rolf/Schleich, Thomas (Hg.): Sozialgeschichte der Aufklärung in Frankreich. Bd. 2:
Medien und Wirkungen (Ancien Régime, Aufklärung und Revolution, Bd. 4). München/Wien
1981. S. 35 – 66. Hier S. 36f, S. 54ff, S. 57.
349 Zumal dieser davon ausgegangen war, dass die Natur die erste Künstlerin sei. Leith, James A.: The
Idea of Art as Propaganda in France 1750 – 1799. A Study in the History of Ideas (University of
Toronto Romance Series, Bd. 8). Toronto 1965. S. 27ff und S. 60ff. Grieger, Astrid: Kunst und Öffent­
lichkeit in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Jäger, Hans-Wolf (Hg.): „Öffent­lichkeit“ im
18. Jahrhundert (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, Bd. 4). Göttingen 1997. S. 117 – 136.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
304
Der chinesische Kaiser als Vorbild
begünstigen oder sogar erleichtern konnten.350 Doch sie bedienten sich dieser Gattungen nicht nur selbst, sondern stellten fest, dass ihre Lehre außerhalb ihres Kreises in
unterschied­lichste Medien Eingang fand und weitergetragen wurde.
Zunehmend setzten die Physiokraten aber auf eigene Publikationsorgane. Als bekannteste Zeitschrift der physiokratischen Bewegung dienten ab 1765 die Ephémérides du
Citoyen ou Chronique de l’Esprit national, die als politisches Journal nach dem Vorbild des britischen Spectator konzipiert worden waren und bis 1772 in einer Auflage
von ca. 400 bis 500 Exemplaren in 63 Bänden erschienen. Die Zeitschrift wurde 1768
von 169 Personen aus ganz Europa abonniert 351 und redaktionell bis 1768 von Abbé
Baudeau und bis zum Verbot 1772 von Du Pont betreut.352 Im selben Jahr, 1768, übernahmen die Physiokraten die Aufsicht über das Journal de l’Agriculture, du Commerce
et des Finances. In beiden Titeln spiegeln sich die Ziele und die Adressaten der Physiokraten wider: Sie wandten sich damit neben den Monarchen an ein ökonomisch
interessiertes Fachpublikum innerhalb und außerhalb des Hofes. Mit den Zeitschriften
behielten sie immer die Untertanen als Begünstigte eines vernünftigen sowie eines mit
ihren Interessen übereinstimmenden Herrscherwillens und zugleich als fähige Helfer
des Herrschers im Auge. Die Physiokraten sahen somit in der Bevölkerung nicht mehr
nur das Objekt der Regierungshandlungen des Königs, sondern Subjekte hinsicht­lich
der Kommunikation, Verbreitung und Umsetzung ihrer – vor allem ökonomischen –
Interessen. Mit diesen stimmte aus Sicht der Physiokraten der Erbmonarch stärker
überein als der gewählte Herrscher. Nur der Erbmonarch konnte ein propriétaire am
gemeinsamen produit net sein, der gewählte Fürst nur ein usufruitier.353 Quesnay und
sein Kreis formulierten das Ideal des interessierten und von seinen Interessen geleiteten Individuums, das die Themen analysierte und sich eine Meinung dazu bildete bzw.
letzt­lich einen Nutzen aus dem Wissen zog.354 Somit erkannten sie in der öffent­lichen
Meinung die Reine du monde.355 Die öffent­liche Meinung musste sich aber erst herausbilden, sie musste geschult werden. Es ging Quesnay und seinem Kreis um eine umfassende
éducation civique.356 Für notwendig erachteten sie dafür die breite Kenntnis des ordre
350 Sie bedienten sich deshalb auch der Lobreden, Widmungsbriefe, Elogen oder der bild­lichen Darstellung.
351 Goutte, Éphémérides du citoyen, S. 156.
352 Sgard, Jean (Hg.): Dictionnaire des journaux (1600 – 1789). Paris 1991. Nr. 377. S. 354
353 Le Mercier de la Rivière, Pierre-Paul: L’ordre naturel et essentiel des sociétés politiques. Londres
1767. S. 238 – 240.
354 Zur Rolle des Individuums und des Individualismus bei den Physiokraten vgl. Zorn, Physiokratie
und die Idee der individualistischen Gesellschaft, S. 499f.
355 Le Mercier de la Rivière, L’ordre naturel, S. 104. Holldack, Heinz: Der Physiokratismus und die
absolute Monarchie. In: Historische Zeitschrift 145/3 (1932). S. 517 – 549. Hier S. 539.
356 Grosperrin, Bernard: Faut-il instruire le peuple? La réponse des physiocrates. In: Cahiers d’histoire
21 (1976). S. 157 – 169. Hier S. 159f. Gourdon, Henri: Les physiocrates et l’éducation nationale au
XVIIIe siècle. In: Revue pédagogique 38 (1901). S. 577 – 589. Hier S. 578.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
305
naturel in allen Ständen. Dies bedurfte nicht zuletzt eines vom Herrscher initiierten
Unterrichts über die Naturgesetze und die Einrichtung eines état agricole, in dem jedes
Individuum seine Funktion erhielt.357 Dafür musste der Monarch aber auch selbst die
Gesetze der Natur kennen, akzeptieren und als Träger der Souveränität anwenden. Der
Herrscher hatte als Exekutive des ordre naturel zu fungieren. Dem ordre naturel rechneten die Physiokraten somit eine herrschaftsregelnde und begrenzende Funktion zu.
Als Gegenkraft zu einer mög­licherweise ausartenden, die Naturgesetze ignorierenden
fürst­lichen Gewalt sollte die Öffent­lichkeit (bestehend aus den von ihren Interessen
geleiteten Individuen) fungieren.358 Die Publikationsorgane der Physiokraten zielten
deshalb darauf, die entstehende Öffent­lichkeit durch Belehrung zu konstituieren und
von ihren Vorstellungen einer Agrarnation zu überzeugen.
Als Träger und Motoren der praktischen Umsetzung ihrer Vorstellungen identifizierten die Physiokraten die Monarchen nicht zuletzt deshalb, weil sie davon ausgingen,
dass die Interessen von Fürsten stärker mit denen der Allgemeinheit verbunden seien
als die der Herrschenden in einer Republik. So wie der Monarch an der Steigerung
des Wohlstandes beteiligt sein sollte, so sollte sein Wohlstand vom Wohlergehen der
Untertanen abhängen. Den Herrschern kam damit, wie schon Klaus Gerteis betont
hatte, eine wichtige Funktion als Personen zu, galten sie den Physiokraten doch als
Amtsträger, als dépositaire der Souveränität und damit als Verkünder der natür­lichen
Ordnung im Sinne etwa eines von ihnen angestrebten royaume agricole.359 Die Physiokraten zielten darauf, langfristig für die Landwirtschaft eine „privileged position under
government protection“ zu erlangen.360 Nur so konnte die notwendige Modernisierung
der Landwirtschaft erreicht und zeitnah das notwendige Gleichgewicht zwischen den
landwirtschaft­lichen Rohstoffen, den Bedürfnissen des freien Handels und der Verarbeitung in den Manufakturen hergestellt werden.361
3 57 Zorn, Physiokratie und die Idee der individualistischen Gesellschaft, S. 501.
358 Ne voyez-vous pas dans cette instruction génerale une contreforce naturelle oppose aux volontés usurpatrices et vexatoires, contreforce d’autant plus puissante que la conviction sera plus intime, la lumière
plus vive, le sentiment plus enraciné? Baudeau, Nicolas: Premiere introduction a la philosophie economique, ou, Analyse des etats polices. Paris 1771. S. 138.
359 Gerteis, Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik, S. 87 – 89.
360 Guy, The French Image of China before and after Voltaire, S. 349.
361 Mirabeau hatte in einem undatierten Schreiben die Landwirtschaft als wesent­lichen Wirkungsbereich der Regierung beschrieben und zum Handeln aufgefordert: Il faudroit bien so garder de vouloir le régir et gouverner. Cette meprise des gouvernements trop organisés, nuit a toutes les parties qu’ils
embrassent […]. En mettant donc toujours pour base de la deffense absolue de toute gêne ni contrainte
en cette matiere, il faudroit donc donner a l’agriculture une voye pour se faire connoitre du gouvernement. Die Lösung sah er in der Schaffung der Stelle eines Directeur général de l’agriculture, der als
Anprechpartner und Verbindungsmann der Bauern zum Fürsten selbst Inspektionsreisen unternehmen sollte, um sich ein umfassendes Bild von den Zuständen zu machen. Undatiertes Schreiben
Mirabeaus ohne Adressat, Archives nationales, Paris, K 906, Nr. 24.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
306
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Von großer Bedeutung war deshalb der persön­liche Kontakt zu Ludwig XV. sowie zu
amtierenden Ministern, den Quesnay durch seine Stellung als Leibarzt von Madame de
Pompadour am Hof in Versailles aufbauen konnte. Madame de Pompadour brachte den
Physiokraten großes Interesse entgegen und war selbst von deren Zielen vollkommen überzeugt. Im Jahr 1766, kurz nach ihrem Tod, wurden in Lüttich gefälschte Memoiren der
könig­lichen Mätresse veröffent­licht. Die Mémoires de Madame Marquise de Pompadour
galten bis ins 19. Jahrhundert als gesicherte Quelle.362 Ungeachtet der fehlenden Authentizität spiegeln diese wider, wie Madame de Pompadour von Zeitgenossen wahrgenommen
wurde. Da sich die politisch und wirtschaft­lich interessierte Mätresse des Königs immer
auch als dessen politische Beraterin verstand, gezielt in ihrem Schloss Crécy Zusammenkünfte des Staatsrates organisiert und mit Ministern 363 sowie dem Kreis der Physiokraten
im Austausch gestanden hatte, war es aus Sicht der oder des Verfassers ihrer Mémoires keineswegs abwegig, kritische Diskussionen und eindeutige politische und wirtschaft­liche
Stellungnahmen mit ihr in Verbindung zu bringen.364 So berichten ihre Mémoires von
einer anonymen Denkschrift, die sie fi[t] lire au Roi. Das Memorandum, offensicht­lich
zu Beginn der 1750er Jahre verfasst, habe Vorschläge zur Steigerung des Steueraufkommens und zur Begleichung der Staatsschulden enthalten. Es habe kritisch analysiert, dass
unter der Regierung Ludwigs XIV. die Einrichtung von Manufakturen im Vordergrund
gestanden habe, während die Felder unbestellt geblieben seien, weil die Arbeitskräfte in
die städtische Industrie abgezogen worden wären: Le royaume se trouva rempli de métiers;
un grand luxe, qui en est une suite nécessaire, se forma, & dès lors la France, à qui son climat heureux devoit donner une richesse supérieure à celle de tous les autres états de l’Europe,
devint pauvre. Cependant le Ministère, qui a suivi depuis le plan de Monsieur Colbert, a
continué de multiplier les arts, aux dépens du produit de l’agriculture. On dit pour raison
que cette industrie met à contribution tous les états de l’Europe: mais la France ne voit point
qu’elle commence par se taxer elle-même, en diminuant le produit de ses prémières matières;
désavantage, qui porte directement sur la puissance de l’état, puisqu’il arrête les progress de la
362 Zur Aufdeckung der Fälschungen sowie zur Rolle unterschied­licher „Memoiren“ von könig­lichen
Mätressen oder Ludwigs XV. selbst als äußerst beliebte zeitgenössische Lektüre vgl. Darnton, Robert:
The Forbidden Best-Sellers of Prerevolutionary France. New York 1995. S. 62ff und S. 337ff. Eva
Dade verweist darauf, die Marquise habe es vermieden, ihre Einflüsse und Meinungen zu politischen Angelegenheiten in großem Stil schrift­lich zu fixieren. Sie habe nicht gegen das Rollenbild
einer Frau verstoßen wollen. Dade, Eva Kathrin: Madame de Pompadour. Die Mätresse und die
Diplomatie (Externa, Bd. 2). (Diss.) Köln/Weimar/Wien 2010. S. 235.
363 Eva Dade analysiert die Einflüsse der Mätresse auf die Personalpolitik im Kabinett. Dade, Madame
de Pompadour, S. 42 – 60 und S. 202ff, S. 208.
364 Auf ihren Porträts hatte sie sich häufig mit Büchern, Notizen bzw. Briefen und Schreibzeug darstellen lassen, um ihre Intellektualität zu unterstreichen. Darin sah sie auch die Legitimation ihrer
freundschaft­lichen Verbindung zum König. Zu den Bildern und ihrer Einordnung vgl. Weisbrod,
Andrea: Von Macht und Mythos der Pompadour. Die Mätressen im politischen Gefüge des französischen Absolutismus. Königstein/Taunus 2000. S. 151 – 197.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
307
population, &c. &c.365 Der Verfasser der Mémoires der Marquise diskutierte die bestehenden
gegensätz­lichen, merkantilistisch und zunehmend physiokratisch geprägten Auffassungen
bei Hofe. So ist zu lesen, dass Monsieur de Belle-Isle 366 der Ansicht sei, dass Geld nur durch
das produzierende Gewerbe zirkulieren könne. Seiner Protagonistin legte der Autor der
Mémoires hingegen eine ganz andere Meinung in den Mund: […] mais il prétendoit mal.
De grands économes m’ont démontré depuis que les productions de la terre créent une richesse
réelle, au lieu que l’industrie n’en forme qu’une fiction.367 Die gefälschten „Memoiren“ boten
ihren Lesern kritische Einschätzungen politischer Tendenzen und Ereignisse, die aber für
die Zeitgenossen offensicht­lich glaubwürdig und authentisch zum etablierten Bild von
den Ansichten und dem Wirken der könig­lichen Mätresse passten. Insofern können die
Mémoires als ein Spiegel ihrer öffent­lichen Außenwahrnehmung gelten.
Die könig­liche Mätresse fungierte tatsäch­lich bis zu ihrem Tod 1764 immer wieder aus
eigener Überzeugung als Vermittlerin und Förderin der Ideen Quesnays und seines Kreises: Brief­lich äußerte sie Quesnay über ihre Beziehung: La confiance dont vous m’honorez
me donne un avantage sur tous ceux qui, comme moi, vous adressent leurs respects. Elle me
met à portée de voir chaque jour le principe même de ces sentiments généreux dont les autres
ne ressentent que les effets. Oui, Madame, j’admire sans cesse cette bonté d’âme qui s’étend à
tous et qui met tant d’attention à saisir les instants de faire le bien, et tant de souci à en éviter
l’éclat. C’est à ce trait qui vous distingue singulièrement que je consacre mon hommage et le
respect infini avec lequel je suis, etc.368 Im Frühling des Jahres 1749 gelang es ihr, Quesnay
als médecin consultant du roi zu etablieren, wenig später war er sogar für die Position des
ersten Leibarztes des Königs im Gespräch. Auch wenn er letzt­lich die Stelle nicht erhielt,
erwarb er sich über Jahre doch das Vertrauen des Monarchen ebenso wie das des Dauphin
durch stetige persön­liche Nähe und zahl­reiche G
­ espräche, die Madame de Pompadour
zwischen den könig­lichen Personen und dem Arzt anregte.369 Dies gelang umso leichter, weil Quesnay im entresol unter den Vorzimmern des Appartements von Madame de
­Pompadour wohnte und ihm uneingeschränkter Zugang zu ihren Räumen sowie ihrem
Salon eingeräumt worden war.370 Er gehörte zu ihrem engsten Kreis und somit mittelbar
auch zu dem des Königs. Über ihn profitierten neben dem engeren Kreis der Physiokraten
auch die Enzyklopädisten wie Diderot und D’Alembert und Minister Bertin von dieser
365 Pompadour, Jeanne-Antoinette Poisson, Marquise de: Mémoires de Madame Marquise de ­Pompadour.
Bd. 2. Lüttich 1766. S. 32.
366 Es handelt sich um Marschall Belle-Isle, den Kriegsminister. Zu seiner Verbindung mit der Marquise
vgl. Dade, Madame de Pompadour, S. 223.
367 Pompadour, Memoires de Madame Marquise de Pompadour, Bd. 2, S. 39.
368 Schelle, Docteur Quesnay, S. 101.
369 Ibd. S. 112ff.
370 Zu den Apartement du Sieur Quesnay, bestehend aus zwei Räumen, einen kleinen Vorzimmer
sowie einer Garderobe und der Ausstattung bzw. der Lage vgl. Cordey, Jean: Inventaire des biens
de Madame de Pompadour rédigé aprés son décès. Paris 1939. S. 110.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
308
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Nähe, wenn sie sich in Quesnays Räumen zu regelmäßigen Gesprächen trafen und zuweilen sogar in den Salon der Pompadour Eintritt fanden.371 Quesnay war deshalb davon
überzeugt, König und Kronprinz für die physiokratischen Ideen gewinnen zu können und
sie an die Spitze der Bewegung zu stellen. Die Gründung der Société d’Agriculture, die vor
allem Ministern wie Bertin und Turgot sowie dem Reisenden Poivre ein großes Anliegen
war, sollte durch den Monarchen gefördert und legitimiert werden. Doch bevor sich ein
Herrscher an die Spitze der physiokratischen Bewegung stellen konnte, mussten durch den
direkten Kontakt der amtierende Monarch und sein Nachfolger vom Wert, vom Umfang
und vom Inhalt der Vorstellungen unterrichtet werden.
Nach dem Tod der Marquise de Pompadour verloren die Zusammenkünfte der Physiokraten im entresol Quesnays an Bedeutung und verlagerten sich ab 1767 nach Paris in
die Wohnung von Mirabeau. Mit der neuen Gastgeberrolle avancierte Mirabeau zum
organisatorischen und strategischen Kopf der physiokratischen Schule. Er knüpfte und
koordinierte maßgeb­lich neue, oft auch persön­liche Kontakte zu Fürsten und strukturierte bzw. bündelte das physiokratische Wissen für die Außenwirkung.372 In den 1770er
Jahren war es somit immer weniger Quesnay, sondern mehr Mirabeau, der die Lehren der
französischen économistes in der Öffent­lichkeit vertrat und propagierte. Zudem waren die
Physiokraten nun darauf angewiesen, neue Vermittler aus den engsten Kreisen um den
König und den jungen Dauphin Louis Auguste, den zukünftigen Ludwig XVI., zu finden.
4.2.4 Von der Bedeutung eines Motivs – Das Pflugritual als Bestandteil physiokratischer Vermittlungsstrategien
Wenn die Physiokraten auf die Umsetzung ihrer Ansätze zielten, mussten sie zur Vermittlung entgegen Klaus Gerteis’ Auffassung kein utopisches Gegenbild zur eigenen
Realität konstruieren und sich damit vollkommen von der Realität lösen,373 sondern
371 Lever, Evelyne: Madame de Pompadour. Paris 2000. S. 120. Quesnay hatte seiner Gönnerin zum
Dank für die Unterstützung eines seiner Werke Traité des fièvres gewidmet. Die könig­liche Mätresse
bedachte den Arzt und Ökonomen in ihrem Testament vom 15. April 1764 mit einer Pension von
4000 Louis d’or. Testament der Pompadour. In: Malassis, M. A. P. (Hg.): Correspondance de Mme
de Pompadour avec son père, M. Poisson et son frère, M. de Vandières. Paris 1878. S. 217 – 224.
Hier S. 218. Allgemein zum Vertrauensverhältnis zwischen Quesnay und der Pompadour sowie zur
Protektion durch die Mätresse vgl. Schultz, Uwe: Madame de Pompadour oder die Liebe an der
Macht. München 2004. S. 79f. Weisbrod, Macht und Mythos der Pompadour, S. 113ff.
372 Théré, Christine/Loïc, Charles: The Writing Workshop of François Quesnay and the Making of
Physiocracy. In: History of Political Economy 40/1 (2008). S. 1 – 44. Hier S. 23ff.
373 Gerteis geht davon aus, dass sich die Physiokraten mit ihren praxisfernen revolutionären Konzepten
vollkommen von der Realität lösten, maximal in einem Schwebezustand zwischen Realitätsbezug
und Abbildungscharakter verharrten. Gerteis, Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik,
S. 82f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
309
ihre philosophie rurale als praktische Wissenschaft beweisbar, argumentativ leicht nachvollziehbar und verständ­lich kommunizieren können. Insbesondere bedurfte es eines
Beispiels für die Rolle und das Aufgabenspektrum des Monarchen, das überzeugend
und problemlos übertragbar war und somit zur Orientierung dienen konnte. Nötig
waren dafür Beispiele aus der geprüften Praxis. Die Physiokraten fanden solche Beispiele
jedoch kaum in den Staaten Europas und entlehnten sie deshalb aus andereren Erdteilen, insbesondere aus China. Darüber hinaus griffen sie im Gegensatz zu Justi auf die
Antike zurück. Sie wählten für die Darstellung und sogar für die Visualisierung ihrer
Argumentation das Motiv des pflügenden chinesischen Kaisers aus dem Ritual, das zu
Beginn des Frühlings zu Ehren des Ackerbaugottes Shennong abgehalten wurde. Ein
solches Ritual, wie es der Kaiser in China vornahm, war bis Ende der 1750er Jahre nie
Gegenstand der Belehrung oder der Diskussion über die Form fürst­licher Landwirtschaftsförderung in Frankreich oder in Europa gewesen.
Die Physiokraten verbreiteten in ihren Schriften in gleicher Weise wie in direktem
Kontakt zum König den Ablauf der Pflugszene des Kaisers von China gezielt mit der
Intention, den französischen Monarchen, aber auch andere europäische Fürsten an ihre
Aufgabe – die Förderung der Landwirtschaft – zu erinnern und gleichzeitig zur Nachahmung anzuregen. Die Annahme oder Ausführung des Rituals durch europäische
Monarchen setzte voraus, dass das vorbildhafte Konstrukt oder Modell des chinesischen
Kaisers und seiner engen Beziehung zum Bauernstand bzw. zur Landwirtschaft den europäischen Fürsten erst einmal nahegebracht und in der Öffent­lichkeit verbreitet wurde.
Es soll deshalb im Folgenden untersucht werden,
•• warum Elemente aus einer fremden Kultur in die physiokratische Theorie Eingang
gefunden haben,
•• warum sich ein Ritual und warum sich speziell das Ritual des kaiser­lichen Pflügens
als Vorbild eignete, und
•• auf welche Weise die Idee des pflugführenden Monarchen als Bestandteil der physiokratischen Theorie verbreitet und von den französischen Königen Ludwig XV.
und dem künftigen Ludwig XVI. rezipiert wurde.
a. Vico, die Einheit der Kulturen und die visualisierte Philosophie
Methodisch erscheint es sinnvoll, nach Ansätzen zu suchen, die aus dem zeitgenössischen
Kontext erklären, wieso überhaupt Elemente aus der chinesischen Kultur in die Vorstellungen der Physiokraten und somit auch in die künftige französische Herrschaftsauffassung übertragen werden konnten. Frankreich war im Siebenjährigen Krieg militärisch
gedemütigt worden und hatte wesent­liche wirtschaft­liche Einbußen durch den Verlust
von Kolonien zu verzeichnen. Es bedurfte deshalb einer Zeit der Orientierung, die von
einer Diskussion zwischen Intellektuellen und adeligen Eliten um die Frage des Lernens
von anderen Staaten geprägt war. Stellten Vergleiche mit anderen Gemeinwesen und
die Nachahmung in bestimmten Bereichen, die als vorbild­lich erkannt worden waren,
mög­liche Lösungsansätze für die eigenen Defizite dar? Drohten eher Gefahren vor dem
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
310
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Unbekannten, dem Neuen, bzw. bargen Modifikationen oder Anpassungen der erkannten Vorbilder und ihre Einbindung in eventuelle Reformen Risiken für Frankreich in
sich? Fragen nach den Auswirkungen auf einzelne Stände und Gruppen wurden laut.
Fremdes Wissen wurde in diesen Debatten als antifranzösisch und antipatriotisch diffamiert. Es bedurfte also einer Rechtfertigung des Fremden, wenn es als Modell dienen
sollte. China erschien den Physiokraten geeignet, da europäische Modelle wie England
oder Preußen 374 eher als europäische Konkurrenz, als deut­lich gefähr­licher für die
Selbstwahrnehmung angesehen werden mussten.375 Zudem konnte China der Aspekt
einer allzu fremden Kultur dadurch genommen werden, indem, wie im Kapitel zum
Kameralismus beschrieben, auf die Ähn­lichkeiten rekurriert und darüber hinaus die
Vorstellung von der grundsätz­lichen Einheit der Kulturen von den Physiokraten betont
wurde. Dies erleichterte die Annäherung an China als Modell und half den é­ conomistes,
die mög­lichen Einwände, das gewählte Vorbild sei unfranzösisch, zu entschärfen.
Um den Aspekt der Einheit der Kulturen zu konkretisieren, ist ein Blick in
­Giambattista Vicos (1668 – 1744) geschichtsphilosophischen Entwurf in seiner ­Principj
di una scienza nuova d’intorno alla commune natura delle nazioni aus dem Jahr 1725
notwendig. In endgültiger, überarbeiteter Form erschien das Werk kurz nach seinem
Tod 1744.376 Einen wichtigen und bisher kaum beachteten Hinweis auf die mög­liche
Rolle Vicos und seiner Geschichtsphilosophie in der Theorie der Physiokraten gab der
Philosoph und Theologe Johann Georg Hamann (1730 – 1788) im Jahr 1777 in einem
Brief an Johann Gottfried Herder (1744 – 1803). Hamann berichtete Herder, er habe
sich Vicos Scienza nuova (in der Ausgabe von 1730) aus der Bibliothek kommen lassen,
um die Quellen der Science nouvelle der Physiokraten zu finden.377 Hamann fertigte
zwar ein ausführ­liches Exzerpt an und beschrieb das Frontispiz, stellte jedoch nach der
Lektüre schrift­lich keine vergleichenden oder analysierenden Bezüge zu den Lehren der
374 Zum Wissensaustausch zwischen Frankreich und Preußen sowie zum französischen Preußenbild
die unpublizierte Habilitationsschrift meiner Kollegin Isabelle Deflers (Heidelberg/Freiburg) mit
dem Titel: „Der reflektierte Staat. Preußen im Spiegel französischer Reformdiskurse (1763 – 1806)“.
375 Vgl. dazu Schulze, Winfried: Die Entstehung des nationalen Vorurteils. Zur Kultur des Wahrnehmung fremder Nationen in der Europäischen Frühen Neuzeit. In: Geschichte in Wissenschaft und
Unterricht 46 (1995). S. 642 – 665.
376 Vico, Giambattista: La Scienza nuova. Hg. v. Fausto Nicolini. 2 Bde. Bari 1928/1931. In deutscher
Übersetzung vgl. Giovanni Battista Vico: Prinzipien einer neuen Wissenschaft über die gemeinsame Natur der Völker. Hg. v. Vittorio Hösle/Christoph Jermann. Bd. 1 (mit einer Einleitung „Vico
und die Kulturwissenschaft“ von Vittorio Hösle) (Philosophische Bibliothek, Bd. 418a). Hamburg
1990. S. CXLVI und S. CLXI.
377 Hamann, Johann Georg: Briefwechsel. Hg. v. Walther Ziesemer/Arthur Henkel. Bd. 3: 1770 – 1777.
Wiesbaden 1957. S. 381. Zu den ersten Anzeigen des Werks in deutschen Periodika oder im Gelehrtenlexikon von Jöcher und den deutschen Übersetzungen vgl. Trabant, Jürgen: Vico in Germanien
1750 – 1850. In: Hausmann, Frank-Rutger (Hg.): Italien in Germanien. Deutsche Italien-Rezeption
von 1750 – 1850. Tübingen 1996. S. 232 – 274. Hier S. 234f. und S. 237f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
311
Physiokraten her.378 Doch seine Vermutung eines Einflusses, dem ebenfalls bisher in der
Forschung kaum Aufmerksamkeit geschenkt wurde,379 erscheint keinesfalls abwegig
und soll hier geprüft werden.
Als Vermittler der geschichtsphilosophischen Lehren Vicos in Frankreich kann mit
großer Wahrschein­lichkeit Ferdinando (Abbé) Galiani (1728 – 1787) gelten, der zwischen 1759 und 1769 als neapolitanischer Gesandtschaftssekretär in Paris weilte und
Kontakte zum Kreis der Physiokraten unterhielt. Er war Vico mehrfach begegnet und
hatte sich seit seinem 16. Lebensjahr intensiv mit der Scienza nuova auseinandergesetzt.
Zahlreiche philosophische, aber auch moralische Ansätze zu guter Herrschaftsführung
und ökonomische Vorstellungen Vicos zur Rolle der Arbeit in verschiedenen Kulturen
diskutierte Galiani in seinen Schriften, etwa in seinem noch anonym publizierten Traktat Della Moneta (1750), der übersetzt De la Monnaie 1751 in Paris erschien.380 Durch
Galianis Abhandlungen und seine Präsenz in verschiedenen Salons wurde Vico in
Paris bekannt. Galiani verfolgte intensiv die landwirtschaftspolitischen Einflüsse der
Physio­kraten auf die französische Gesetzgebung und deren Wirkung auf die Hungersnöte Ende der 1760er Jahre. Dies veranlasste ihn dazu, seine kritische Position zum
Edikt von Export- und Importfreiheit von 1764 im Dialogue sur le commerce des blés
(1768) zu fixieren.381
378 Albus, Weltbild und Metapher, S. 124f. Berlin, Isaiah: Vico and Herder. Two Studies in the History
of Ideas. Chato/Windass 1976. S. 76, S. 91, S. 147.
379 Eine kurze Erwähnung von Vico im Zusammenhang mit Turgot findet sich bei Bödeker, Hans-Erich:
Entstehung der Soziologie. In: Glaser, Horst Albert/Vajda, György Mihály (Hg.): Die Wende von
der Aufklärung zur Romantik 1760 – 1820: Epoche im Überblick. Bd. 1 (A Comparative History of
Literatures in European Languages, Bd. 14). Amsterdam/Philadelphia 2001. S. 259 – 292. Hier S. 281.
380 Zum Verhältnis und Einfluss von Vico auf Galiani vgl. Nicolini, Fausto: Giambattista Vico e
­Ferdinando Galiani. In: Giornale storico della Letteratura Italiana. 71/2 (1918). S. 137 – 207. Zu
den Verbindungen Galianis in Frankreich vgl. Venturi, Franco: Galiani entre les encyclopédistes et
les physiocrates. In: Ders. (Hg.): Europe des lumières. Recherches sur le 18e siècle. (Civilisations
et sociétés 23). Paris 1971. S. 171 – 192. Eisermann, Gottfried: Galiani. Ökonom, Soziologe, Philosoph. Frankfurt/M. 1997. S. 17ff, S. 54, S. 67. Dongili, Paola/Einaudi, Luigi: Über Galianis „Della
moneta“. Vademecum zu einem frühen Klassiker. Darmstadt 1986. Einleitung.
381 Galiani schlüpft im Dialogue in die Rolle des Chevalier Zanobi, der zu dem Ergebnis kommt, dass
Frankreich kein Agrarstaat sei und auch keiner sein würde, selbst wenn alle brach liegenden Anbau­
flächen bearbeitet würden. Überflüssige Kornmengen würden nicht erwirtschaftet. Als Chevalier
Zanobi unterbreitet er im siebten Dialog den Vorschlag, das Edikt von 1764 zu modifizieren und
die Aus- und Einfuhr von eigenem und fremden Getreide jeweils mit einen Zoll zu belegen. In
den Dialogues überlegten Galianis diskutierende Protagonisten, welche Vorbilder für Frankreich
dien­lich seien. England und das römische Fürsorgeprogramm der Annona wurden als nicht taug­
lich verworfen. Modelle sollten danach ausgesucht werden, wie viel Ähn­lichkeit sie böten. Galiani,
Ferdinando: Dialogue sur le commerce des blés: In: Scrittori Classici Italiani di Economia Politica.
Bd. 5. Milano 1848. Hier S. 269ff. Galianis Dialogue wurden kontrovers diskutiert. Die Aprilausgabe des Mercure de France von 1770 enthielt eine scharfe Kritik. Eisermann, Galiani, S. 76. Die
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
312
Der chinesische Kaiser als Vorbild
In Frankreich setzten sich insbesondere Voltaire in seiner Philosophie sur l’histoire
universelle (1754) und in seinem Essai sur les mœurs et l’esprit des nations (1756) sowie
Anne Robert Jacques Turgot in seinem Werk Tableau philosophique des progrès successifs
de l’ésprit humain (1750) und in seinen Réflexions sur la formation et la distribution des
riches (1766) mit Vicos Ansichten auseinander.382 Über Voltaire und Turgot gelangten
bedeutende Axiome Vicos, etwa die Vorstellung von der Einheit der Kulturen, seine
Auffassung vom Menschen als Schöpferwesen und Gestalter der Geschichte, seine
Vorstellungen eines notwendigen sozialen Wandels, die er in seinem Konzept zum historischen Wandel geäußert hatte, und seine Gedanken von der historischen Wahrheit
des Mythos in die physiokratische Theorie.383 Von besonderer Bedeutung sind aber die
strukturellen und geschichtsphilosophischen Übereinstimmungen, die sich in Anlehnung an den Neapolitaner in Turgots und Quesnays Schriften ergaben. Der spätere
Minister Anne Robert Jacques Turgot war es, der die Natur- und Wirtschaftslehren
der Physiokraten durch seine Studien (u. a. zu Vico) historisierte und Quesnays Wirtschaftskreislauf im Tableau économique um gesellschaftstheoretische Komponenten
ergänzte.384 Nachfolgend sollen zunächst Vicos Vorstellungen zusammengefasst und im
Anschluss gezeigt werden, welche seiner Ansätze die physiokratische Argumentation
und Vermittlungsstrategie bereicherten und unterstützten. Damit wird der bisher in
der Forschung noch immer geltenden Annahme widersprochen, Vico sei nicht zeitgenössisch, sondern erst zu Beginn des 19. Jahrhunderts rezipiert worden.385
382
383
384
385
Physiokraten reagierten schon 1769 in einer rechtfertigenden Stellungnahme auf Galianis Schrift
in den Ephémérides du citoyen. Venturi, Galiani, S. 177ff.
Michelet, Jules (Hg.): Œuvres choisies de Vico: contenant ses mémoires, écrits par lui […]. Bd. 1.
Paris 1835. S. 128. Turgot, Anne Robert Jacques: Über die Fortschritte des mensch­lichen Geistes. Hg. v. Johannes Rohbeck/Lieselotte Steinbrügge (Suhrkamp-Taschenbuch, Bd. 657). Frankfurt/M. 1990. Einleitung. Jolink, Albert: The Evolutionist Economics of Léon Walras. New York
1996. S. 16 – 24. Zur Rezeption Vicos im deutschsprachigen Raum sind vor allem Isaak Iselin und
Herder zu nennen. Vgl. Trabant, Vico in Germanien, S. 232 – 251.
Turgot las fließend italienisch und übersetzte auch aus dem Italienischen. Schelle, Turgot, Bd. 3,
S. 406.
Bezüge finden sich in seinen Réflexions sur la formation et la distribution des richesses (1766) oder
den Lettres sur la liberté du commerce des grains (1770). Insbesondere Quesnay galt als Lehrer und
Freund Turgots. Sehr gute Kontakte pflegte Turgot auch zu Vincent de Gournay und Du Pont. Zu
Letzterem veränderte sich sein Verhältnis jedoch, als dieser Turgots Réflexions sur la formation et la
distribution des richesses für die Publikation in den Ephémérides du citoyen ablehnte. Schelle, Turgot,
Bd. 1, S. 595ff. Turgot setzte sich sehr stark mit landwirtschaft­lichen Fragen auseinander. Er stellte
das Gesetz vom abnehmenden Bodenertrag auf. Vgl. Heyke, Hans-Eberhard: Antike und chinesische Stimmen zur landwirtschaft­lichen Produktion. Vorstellungen von Turgot, dem Begründer
des Bodenertragsgesetzes. In: Vierteljahrschrift für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 56 (1969).
S. 145 – 161. Hier S. 147.
Johnson Kent Wright schreibt 2009: “Two unusual works influenced by natural law theory made
contributions to stadical theory. The first was of long-term importance; the second of immediate
significance. The former was The New Science, by the Naepolitan jurist and philosopher ­Giambattista
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
313
Vico hielt ähn­lich wie Montesquieu die Annahme der Isolation verschiedener Kultursphären voneinander für verfehlt. Er fand vielmehr zahlreiche Indizien für die Einheit
der Kulturen bzw. für ihre typologische Verwandtschaft. Solche Übereinstimmungen
beruhten nach Auffassung von Vico nicht auf einem mög­lichen gemeinsamen Ursprung
aller Kulturen. Im Wesent­lichen sah er die Gemeinsamkeiten in der mensch­lichen Natur,
die bei räum­lich getrennten, kulturell voneinander unabhängigen Völkern dennoch
ähn­liche Strukturen ausgebildet habe. Dies seien nach Vico beispielsweise die Entstehung von Religionen, die Institution der Ehe und die rituelle Bestattung von Toten. Er
ging davon aus, dass die gleichen Ideen und Strukturen in unterschied­lichen Völkern
einen Hinweis auf die Wahrheit dieser Ideen und den Gemeinsinn (senso comune) der
Menschen geben würden, da in ihnen offensicht­lich eine einheitsstiftende Komponente
erkannt werden konnte. Die Wahrheit und Bedeutung dieser Ideen ergab sich für ihn
aus der Übereinstimmung über verschiedene Völker und Kulturen hinweg: Idee uniformi nate appo intieri popoli tra essoloro non conosciuti debbon avere un motivo comune
di vero. Questa degnitá è un gran principio, che stabilisce il senso comune del gener umano
esser il criterio insegnato alle nazioni dalla provvedenza divina per diffinire il certo d’intorno al diritto natural delle genti, del quale le nazioni si accertano con intendere l’unitá
sostanziali di cotal diritto, nelle quali con diverse modificazioni tutte convengono.386 Vico
hob sich damit deut­lich von Descartes ab, ging Ersterer doch davon aus, dass der senso
comune vermittelnd zwischen dem Wahrschein­lichen und dem Wahren wirkte und zur
Erkenntnis im Sinne praktischer Vernunft führte.387 Zugleich war der senso comune für
Vico der Filter, durch den die vom Einzelnen erzeugten Gewissheiten durch den Konsens
der Menschen zu allgemeinen Gewissheiten wurden und der somit allgemeinverbind­
liche Normen der Zivilisation schuf. Darüber hinaus handelte es sich um gemeinsame
Gewissheiten, die für ihn über die Zeit hinweg Bestand hatten.388 Hugo Grotius hatte eine
Vico (1668 – 1744), who developed a highly idiosyncratic theory of stadial social evolution out of
a critical confrontation with contemporary natural lawyers. Almost entirely ignored by his contemporaries, Vico was immedieately claimed as one of the percursors of “historicism” when his work
was rediscovered early in the nineteenth century.” Wright, Johnson Kent: Historical Writing in the
Enlightenment. In: Fritzpatrick, Martin/ Jones, Peter/ Knellwolf, Christa/ McCalman Iain (Ed.):
The Enlightenment World. Oxfordshire/New York 2004. S. 207 – 216. Hier S. 209.
386 Vico, Scienza nuova, 3. Aufl. 1740, § 144f. Vgl. Erny, Nicola: Theorie und System der neuen Wissenschaft von Giambattista Vico. Eine Untersuchung zu Konzeption und Begründung (Epistemata,
Reihe Philosophie, Bd. 144). (Diss.) Würzburg 1994. S. 86.
387Descartes bon sens ließ die Erkenntnis der Wahrheit nur im rationalen Urteil zu. Bei Vico ergab
sich die Wahrheit aus der Tatsache, dass alle Menschen hinsicht­lich der bereits genannten Prinzipien wie Ehe, Totenbestattung und Religion übereinstimmten. Amoroso, Leonardo: Erläuternde
Einführung in Vicos Neue Wissenschaft. Würzburg 2006. S. 51. Zur Kritik an Vicos Form der
Wahrheitserkenntnis. Ibd. S. 100.
388 Ibd. S. 53 und S. 64. Or, poiché questo mondo di nazioni egli è stato fato dagli uomini, vediamo in
quail cose hanno con perpetuitá convenuto e tuttavia vi convengono tutti gli uomini, perche tali cose
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
314
Der chinesische Kaiser als Vorbild
ähn­liche Annahme geäußert, die Vico beeinflusst haben könnte: Quod ubi multi diversis
temporibus ac locis idem pro certo affirmant, id ad causam universalem referri debeat.389
Vico erhob in seiner Scienza nuova den senso comune zu einem gemeinschaftsstiftenden Prinzip und zugleich zu einem Spiegel, der die Prinzipien der Gemeinschaftsbildung
offenbarte und erforschbar machte. Somit stellte sein Werk eine Ideengeschichte der
Zivilisation dar. Heinz Schlaffer hat darauf verwiesen, dass mit Vico das hermeneu­
tische Zeitalter begonnen und der Neapolitaner Geschichtsphilosoph den Blick seiner Zeitgenossen auf das gerichtet habe, was der Mensch selbst geschaffen und erreicht
hätte. Vico habe das Feld mensch­licher Phänomene abgesteckt und gezeigt, dass der
Mensch Initiator und Autor seiner Geschichte gewesen sei.390 Dabei kam es Vico darauf
an, dass die Transformation der Natur durch den Menschen in eine soziale und zivilisierte Umgebung als schöpferisches Wirken des Menschen anzusehen sei, worin sich
sein natür­liches Wesen offenbare. Durch dieses schöpferische Wirken des Menschen
erlerne er auch die Prinzipien der Natur. Für Vico war Natur somit Entstehungs- und
Wirkungskategorie. Diese Erkenntnis war für die Physiokraten von größter Bedeutung und avancierte zur Grundaussage ihrer Lehre.391 Zu diesem Schöpfungsprozess
des Menschen zählte für Vico auch die Entwicklung von Zeichen und Sprache bei
allen Völkern als Form der Kommunikation, als Grundlage zur Schaffung politischer
Organisation und zur Konstituierung von Recht. Der Untersuchung von Etymologien
widmete sich Vico umfassend.392
Worin bestanden nun die einheitsstiftenden Prinzipien, die nach Vico alle Völker und
Kulturen gemeinsam als wahr und richtig erkannt und eingeführt hatten? In erster Linie
handelte es sich um die Ausbildung von Religion.393 Die historische Rolle der Religio-
389
390
391
392
393
ne potranno dare I principi universali ed eterni, quail devon essere d’ogni scienza, sopra I quail tutte
sursero e tutte vi si conservano in nazioni. Vico, Scienza nuova, § 332.
Grotius, Hugo: De iure belli ac pacis. Hg. v. Bernardina J. A. de Kanter-van Hettinga Tromp. Leiden 1939. § 40. S. 21. Vgl. auch Cacciatore, Giuseppe: Metaphysik, Poesie und Geschichte. Über
die Philosophie von Giambattista Vico. Berlin 2002. S. 77.
Schlaffer, Heinz: Poesie und Wissen. Die Entstehung des ästhetischen Bewußtseins und der philologischen Erkenntnis. Frankfurt/M. 1990. S. 184ff. Fritzsch verweist auf Vicos Analyse mensch­
licher Gedanken und sozialer Kognitionen, durch die der Mensch nach Vico zu Wissenschaft der
Natur und der mensch­lichen Dinge gelangt sei. Fritzsch, Walter: Vicos Begründung objektiven
Sinnverstehens geistiger Operationen und ihr aktualer Bezug als Strukturanalyse der Entwicklung
von Weltbildern, Handlungsentwürfen und das Selbst. (Diss.) Bern 1985. S. 17.
Turgot kritisierte die Missachtung der weisen Ökonomie der Natur durch die Menschen, insbesondere Gesetzgeber im gesamten Verlauf der Geschichte. Turgot, Discours sur les avantages que
l’établissement du christianisme a procurés au genre humain, S. 207.
Cacciatore, Metaphysik, Poesie und Geschichte, S. 13, S. 61. Vico ging davon aus, dass es eine allen
Völkern gemeinsame Sprache gäbe, die existentielle Dinge abbilde. Ibd. S. 78. Vgl. auch Albus,
Weltbild und Metapher, S. 42ff.
Vico ging davon aus, dass alle Völker die Vorstellung von einer vorsehenden Gottheit besäßen.
Berichte von Reisenden, die von Menschen ohne die Kenntnis eines Gottes erzählten, verwarf
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
315
nen im Zivilisationsprozess der Menschen aller Kulturen betonte auch Turgot. Er setzte
sich aber insbesondere mit dem Christentum auseinander. In der christ­lichen Religion
erkannte Turgot die Bestätigung eines natür­lichen moralischen Gefühls von Menschen
und ihrer natür­lichen Rechte. Im Christentum sah er grundlegende natür­liche Elemente
wie die Gleichheit aller Menschen und die Liebe als Handlungsmotivation verankert.
Diesen Komponenten hatte sich aus Sicht Turgots auch ein Monarch zu unterwerfen.394
Vicos Vorstellung von der grundlegenden Bedeutung der Religion in allen Kulturen
wurde von ihm nicht nur sprach­lich, sondern auch bild­lich zusammengefasst. Er hatte
für die zweite Ausgabe seiner Scienza nuova die Dipintura entworfen und vom Neapolitaner Maler und Bildhauer Domenico Antonio Vaccaro (1678 – 1745) als Frontispiz
seines Werkes zeichnen lassen. Da für Vicos Vorstellung von der Entwicklung der Kultur das Bildhafte am Anfang steht, setzte er seinem Werk ein Bild voran, das es erlaubte,
sich dem Inhalt nicht nur durch das Wort, sondern auch im Wortsinne anschau­lich zu
nähern. Die Scienza nuova setzte methodisch auf eine Verflechtung von Wort und Bild,
die der Autor seinem Leser wortreich erläuterte.395 Mit der Idee, seine Philosophie in
einem Bild zu fixieren und seine Lehren auch visuell zu vermitteln, hatte Vico einen
ungewöhn­lichen Weg beschritten. Die Visualisierung von komplexen Theorien oder
Gedankengängen war im Gegensatz zur philosophischen Dichtung nicht etabliert. Doch
genau der Wirkung philosophischer Dichtung suchte Vico mit seinem Bild als Idea
dell’Opera zu entsprechen. Epikur oder Lukrez boten ihre Lehren in verständ­lichen und
gut lernbaren Versen als Lebensphilosophie. Es ging ihnen mit der Wahl des Mediums
Gedicht nicht nur um Belehrung, sondern auch um Überredung bzw. Überzeugung.396
Das beabsichtigte Vico auch mit seinem Bild. Auf einem Bild konnten Gegenstände
leicht in Beziehung gesetzt und so gut zur Anschauung gebracht werden, deren Verhältnis sonst nur umständ­lich verbal konstruiert werden musste. Vico beabsichtigte, mit
dem Bild eine knappe „Vorstellung vom Ganzen“ zu geben.397 Ein philosophisches Bild
394
395
396
397
Vico. Vico, Scienza nuova, § 334. Amoroso, Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft,
S. 80ff.
Rohbeck, Johannes: Turgot als Geschichtsphilosoph. In: Turgot. Über die Fortschritte des mensch­
lichen Geistes. Hg. von Johannes Rohbeck/Lieselotte Steinbrügge (Suhrkamp-Taschenbuch,
Bd. 657). Frankfurt/M. 1990. S. 7 – 87. Hier S. 35f.
Eine umfassende Erläuterung zur Dipintura und zum Bildverständnis von Vico findet sich erstmals
bei Thomas Gilbhard: Vicos Denkbild: Studien zur ‚Dipintura‘ der Scienza Nuova und der Lehre
vom Ingenium (Actus et Imago, Bd. 3). (Diss.) Berlin 2012. S. 32ff. Zum missverständ­lichen Begriff
der Dipintura ibd. S. 29.
Brandt, Reinhard: Philosophie in Bildern. Von Giorgione bis Magritte. Köln 2000. S. 19ff. Zu
Vico insbesondere S. 331 – 345. James A. Leith macht darauf aufmerksam, dass einige Reformer
des 18. Jahrhunderts, etwa auch Diderot und d’Alembert, zur Vermittlung ihrer Ziele neue Wege
beschritten und die Bildkunst einbezogen. Leith, Idea of Art as Propaganda in France, S. 15.
Er erreichte allerdings wohl auch viel Ratlosigkeit mit seinem Frontispiz, da er zahlreiche allego­
rische Darstellungen umdeutete. Brandt, Philosophie in Bildern, S. 334.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
316
Der chinesische Kaiser als Vorbild
kam auch den Physiokraten entgegen und mag ihr Bestreben, sich gezielt des Motivs des
pflügenden chinesischen Kaisers als Visualisierung ihrer Lehre zu bedienen, maßgeb­lich
unterstützt haben. Da Quesnay selbst auch ausgebildeter Kupferstecher war,398 ist ihm
die Wirkung von bild­lichen Darstellungen an sich, aber auch die Bedeutung, die einem
Motiv zugrunde liegen konnte, bekannt gewesen. Die économistes verfügten mit Quesnay
nicht nur über einen der maßgeb­lichen Theoretiker der Schule, sondern zugleich auch
über jemanden, dem die Wirkungs- und Funktionsweise der zeitgenössischen Medien
vertraut war. Die Gründe für die Auswahl des Motivs durch die Physiokraten werden
im nachfolgenden Kapitel eingehend untersucht.
Auf seinem Frontispiz ließ Vico die drei grundlegenden Prinzipien der Menschheit
in Hieroglyphen, also Symbolen abbilden. Sinnbild­lich für die wahre christ­liche Religion
steht der Altar, für die heidnischen ein Krummstab als Symbol für Weissagungen.399 Mit
der Religion in engem Zusammenhang stand für Vico die Bestellung von Feldern, die
in allen Kulturen einen wichtigen Platz einnahm. Die Vielzahl der Völker und Kulturen fand er in der Weltkugel abgebildet. Sichtbar wurde die Landwirtschaft in zwei den
Globus umlaufenden Tierkreiszeichen: dem Löwen, den Vico als N
­ emeischen Löwen
verstanden wissen wollte, der von Herkules getötet Feuer spie und somit das Land bebaubar machte, sowie der Jungfrau, deren Haar mit Ähren, dem wahren Gold im Zeitalter Saturns, geschmückt ist.400 Dazu wurde, wie Vico bemerkte, in allen Kulturen zum
Landbau ein gleichartiges Werkzeug gebraucht: der Pflug. Dieses Gerät und die damit
verbundene Landwirtschaft stellte für ihn ein Produkt des senso comune dar, weshalb er
den Pflug auf seinem Frontispiz unmittelbar vor dem Altar platzierte. Er schrieb dazu:
L’aratro appoggia con certa maestá il manico in faccia all’altare, per darci ad intendere che
le terre arate furono i primi altari della Gentilità. Vico erläuterte weiter, dass Heroen als
Väter der ersten Stämme, die den Ackerbau eingeführt hätten, gleichzeitig über das Recht,
die Wissenschaft und die religiöse Macht mit der Verwaltung der gött­lichen Dinge verfügten.401 Er verwies dezidiert auf den Ackerbau als bedeutsame kulturstiftende Leistung
von Heroen und ihre könig­liche bzw. priester­liche sowie ökonomische Macht über die
Stämme. Der Pflug stellte für ihn in erster Linie ein Herrschaftszeichen und ein Symbol
für gött­liche Nähe dar. Dieses Arbeitsgerät spielte aus Sicht Vicos zudem in allen Völkern für die Familienbindung und für die wirtschaft­liche Führung eines Hauses unter
väter­licher Aufsicht eine gleich bedeutende Rolle. Seine Position neben dem Altar sollte
auf die Tugenden der Väter und ihre quasi gött­liche Autorität in allen Kulturen verweisen. Schließ­lich sei der Pflug auch ein Instrument, das die Gründung von Städten und
3 98 Schelle, Docteur Quesnay, S. 15.
399 Eine gute Zusammenfassung bei Amoroso, Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft,
S. 29ff.
4 00 Vico, Scienza nuova, § 3.
4 01 Vico, Scienza nuova, § 15. Dazu vgl. Amoroso, Erläuternde Einführung in Vicos Neue Wissenschaft,
S. 34.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
317
Staaten markiert habe, wurden doch aus Vicos Sicht Stadtgrenzen zuerst mit dem Pflug
gezogen.402 Daneben stand der Pflug für Vico aber auch symbolisch für die sesshafte,
landbesitzende, ackerbautreibende, den Göttern verbundene und herrschaftsausübende
Aristokratie als Nachfolger der kulturstiftenden Heroen, während das Steuerruder abseits
vom Altar in Vicos Verständnis einmal nicht die Herrschaft darstellte, sondern bild­lich
auf landlose, wandernde bzw. umherfahrende Knechte verwies, die nicht an den aristokratischen Tätigkeiten und den gött­lichen Dingen teilhatten.403 Vico hatte mit dieser
Erkenntnis einen frühen Blick auf das Phänomen von Gesellschaft geworfen, die sich
für ihn aus unterschied­lichen Segmenten bzw. Gebilden zusammensetzte und vor allem
sozial fassbar wurde.404 Während Vico ein Bild von ursprüng­licher Zusammengehörigkeit von Herrschaft und Landwirtschaft, von kultischer und gesetzgeberischer Macht
und Landbesitz zeichnete, deutete er zugleich auf seinem Frontispiz die bedroh­liche
Entfernung von Pflug und Steuerruder an, die er später in seinem Text explizit ausführt.
Da die Knechte keinen Anteil am Besitz des Landes besaßen, aber bei der Landarbeit
dienen mussten, hätten sie sich nach Vico aufgelehnt (contese Agrarie).405 In der Entfernung von Pflug und Steuerruder, von Herrscher und Knecht, von Landbesitzenden und
Landlosen, von denen, die dem Altar nahe, und denen, die entfernt stehen, erkannte
Vico eine Dychotomie von Staat und Teilen der Gesellschaft sowie einen wesent­lichen
Grund für inneren Unfrieden in den Gemeinschaften der Menschen.
Eben diese zunehmende Trennung oder stetige Auseinanderentwicklung von Staat
und Gesellschaft konstatierte auch Turgot in Frankreich. Gesellschaft bedeutete für ihn
längst nicht mehr die Einheit von Ständen und Korporationen, sondern in Anlehnung
an Quesnays Tableau économique ein kollektives Konzept oder Verständnis, das sich insbesondere durch soziale und ökonomische Zusammenhänge definierte. Aus Q
­ uesnays
politischer Ökonomie und Vicos Beobachtungen der Scienza nuova entlehnte Turgot
moral­philo­sophische Erklärungsmuster für ein theoretisches und praktisches Verständnis von Gesellschaft.406 Dabei folgte er Vico hinsicht­lich der Erkenntnis, dass die Aus-
4 02 Vico, Scienza nuova, § 16. In den Städten und Staaten habe die staat­liche Gewalt mit der Ausübung
von Gerechtigkeit ihren Ursprung. Ibd. § 18.
4 03 Ibd. § 18.
4 04 Ibd. § 915. Vico eröffnete mit seinen Beobachtungen den Blick für eine Wissenschaft von „Gesellschaft“, die sich jeweils in unterschied­lichen Stadien und nach Gesetz­lichkeiten entwickelt hatte.
4 05 Finalmente il timone è in lontanza dall’aratro, ch’in faccia dell’altare gli si mostra infesto e minaccevole
con la punta, perché I famoli, non avendo parte, come si è divisato, nel dominio de’ terreni, ce tutti eran
in signoria de’ nobili, ristucchi di dover servire sempre a’ signori, dopo lunga etá finalmente, faccendone
la pretension e perciò ammutinati, si rivoltarono contro gli eroi in sí fatte contese agrarie, che si truoveranno assai piú antiche e di gran lunga diverse da quelle che si leggono sopra la storia romana ultima.
Ibd. § 20. Vgl. dazu auch Gilbhard, Vicos Denkbild, S. 104ff. Amoroso, Erläuternde Einführung
in Vicos Neue Wissenschaft, S. 36.
4 06 Vorstellungen zur Gesellschaft entwickelte er bereits 1750 in seinem Tableau philosophique und in
seinem Artikel Existence für die Enzyklopädie im Jahr 1757. Schelle, Turgot, Bd. 1, S. 48ff. Rohbeck,
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
318
Der chinesische Kaiser als Vorbild
einanderentwicklung von Staat und Gesellschaft die Grundlage sozialer Spannungen
oder sogar Unruhen sein könnte. Turgot und Quesnay zielten mit ihren theoretischen
Werken ebenso wie der Minister später in der Regierungspraxis auf eine Verhinderung
mög­licher Konflikte.407 Turgot wie der gesamte Kreis der Physiokraten appellierten an
die Fähigkeit der Monarchie zur Anpassung an veränderte politische, wirtschaft­liche
und gesellschaft­liche Gegebenheiten und an den Reformwillen des monarchischen Herrschaftssystems. Dies implizierte für Turgot wie für die Mitglieder des physiokratischen
Kreises in einem ersten Schritt die Versöhnung aller unterschied­lichen Interessen der
einzelnen Stände. In einem zweiten Schritt sollte es durch die verbindende Kategorie
des Glücks zu einer Annäherung und Vergemeinschaftung der Menschen kommen.408
Vicos Annahme einer typologischen Verwandtschaft aller Kulturen, die sich in der
Ausbildung gleicher und grundlegender Prinzipien offenbarte, bildet einen wichtigen
theoretischen Anhaltspunkt für den mög­lichen Kulturvergleich und für die Idee der
Ähn­lichkeit grundlegender Dinge in allen Kulturen. Für die Physiokraten, insbesondere
für Turgot und Quesnay, die sich mit Vico beschäftigt hatten, bedeutete dies, dass ein
Kulturgegenstand wie etwa der Pflug und der damit verbundene Ackerbau nicht nur
zwischen China und Europa wechselseitig vergleichbar war, sondern dass dieser in beiden Kulturen den gleichen oder zumindest einen ähn­lichen Stellenwert besitzt. Deshalb
konnte von der universalen oder relativen Gültigkeit einer Kategorie – im vorliegenden
Fall einer Handlung, des Pflügens und der Funktionalität von Landwirtschaft nach
ähn­lichen Kriterien – ausgegangen werden.409 Vicos strukturgeschicht­licher Ansatz
ermög­lichte den Physiokraten eine Legitimation dafür, China und die eigene antike
Tradition in ihrer Argumentation zusammenfließen zu lassen. Der Blick auf China und
Turgot als Geschichtsphilosoph, S. 67.
Zur Entstehung der Vorstellungen von „Gesellschaft“ vgl. Acham, Karl: Art. „Soziologie“. In:
Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 9. Basel 1995. Sp. 1270 – 1282. Hier Sp. 1270. Baker,
Keith: Enlightenment and the Institution of Society. Notes for a Conceptual History. In: Melching,
Willem/Wyger, Velma (Hg.): Main Trends in Cultural History. Ten Essays. Amsterdam 1994.
S. 95 – 120. Head, Brian W.: The Origins of “La Science Sociale” in France, 1770 – 1800. In: Australian Journal of French Studies 19 (1982). S. 115 – 132.
4 07 Schelle, Turgot, Bd. 1, S. 412.
4 08 Turgot, Discours sur les avantages que l’établissement du christianisme a procurés au genre humain,
S. 205 – 207.
4 09 Werner, Michael: Dissymmetrien und symmetrische Modellbildungen in der Forschung zum Kulturtransfer. In: Lüsebrink, Hans-Jürgen (Hg.): Kulturtransfer im Epochenumbruch: Frankreich –
Deutschland 1770 – 1815. Bd. 1 (Ausstellungskataloge der Herzog-August-Bibliothek, Bd. 55).
Leipzig 1997. S. 87 – 101. Hier S. 87 und 89. Turgot ging ebenso von grundlegenden einheit­lichen
Entwicklungen aller Kulturen aus. Rohbeck, Johannes: Kulturtheorie und Geschichtsphilosophie.
Lafitau und Turgot. Zur aufgeklärten Gegenaufklärung in Frankreich. In: Georg-Forster-Studien
2 (1998). S. 57 – 77. Hier S. 66. Gisi, Lucas: Einbildungskraft und Mythologie. Die Verschränkung
von Anthropologie und Geschichte im 18. Jahrhundert (Spectrum Literaturwissenschaft, Bd. 11).
(Diss.) Berlin/New York 2007. S. 134ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
319
seine Landwirtschaft bedeutete damit für die Physiokraten nicht mehr den Blick auf
ein fremdes, höchstens exotisches Beispiel, sondern auf eine Kultur zu richten, die im
allgemeinen mensch­lichen Konsens die gleichen wesent­lichen kulturellen Maximen
und Prinzipien hervorgebracht hatte. Wie Europa stand China somit nicht außerhalb,
sondern war Teil einer eigenen, gemeinsamen Tradition.
Eine wesent­liche Wahrheit der Geschichte aller Kulturen bestand für Vico beispielsweise in der Erkenntnis des materiellen Lebenszusammenhangs aller Menschen mit der
Natur. Diese bedeutende, aus der Geschichte der Völker abgeleitete Erkenntnis entsprach
der physiokratischen Annahme von der Natur als gebende und bedürfnisbefriedigende
Kraft. Bei Vico fanden sie nicht nur den historischen Beweis für die Gültigkeit ihrer
Annahme in Europa, sondern sogar für alle Völker. Es entstand daraus eine grundlegende
Wahrheit für ihre Theorie. Der strukturgeschicht­liche Rückblick in die Vergangenheit
ergab für China und die europäische Antike hinsicht­lich der Landwirtschaft – wenn
die Physiokraten dem Blick Vicos folgten – eine gleichermaßen hohe Bedeutung des
Ackerbaus als Entstehungs- und Wirkungskategorie mensch­lichen Überlebens (etwa als
Ressource für Nahrung und Kleidung) sowie als Entstehungs- und Wirkungskategorie
mensch­lichen Lebens in einer politischen Gemeinschaft. Die Erkenntnis Vicos, dass die
Landwirtschaft in allen Kulturen auf gleichen Ursprüngen basierte, bedeutete für die
Physiokraten eine legitime und wissenschaft­lich fundierte Mög­lichkeit, Bezüge herzustellen, auf Ähn­lichkeiten und Parallelen zu verweisen oder die Antike und China als
gleichberechtigte Beispiele nebeneinander heranzuziehen: König­liche Heroen hatten,
wie in Kapitel 2.1 und 2.2 herausgearbeitet, in chinesischen wie in den europäischen
Mythen die Landwirtschaft gestiftet und verbreitet sowie die Menschen auf die Achtung
des Landbaus verpf­lichtet.410 Aus China war über die Reiseberichte und Kompendien
ebenfalls bekannt, dass ackerbaustiftende Kulturheroen wie Shennong als historische
Kaiser betrachtet wurden. Vico hatte somit für alle Völker einen konstitutiven Zusammenhang von Entstehung und Tradierung des Landbaus erkannt. Die Mythen, welche
diese Ursprünge fixierten und tradierten, hatte Vico als Geschichte von Ideen identifiziert.411 Die Mythen deckten für ihn den wahren Hintergrund des Denkens und der
Vorstellungen der Alten in Übereinstimmung mit ihrem Handeln auf.412
Vico nahm mit seinem Mythenverständnis innerhalb der seit dem 17. Jahrhundert entstandenen neuen Mythentheorien in Europa eine für die Ziele und Argumentation der
Physiokraten passende Position ein. In England, Frankreich und Deutschland gewannen
410 Vico betonte zwar das segensreiche Wirken zahlreicher ackerbaustiftender Heroen, ging jedoch nur
auf Herkules detaillierter ein. Vico, Scienza nuova, § 543f. Momigliani, Arnaldo: Römische Hünen
und Helden in Vicos Scienza nuova. In: Ders. (Hg.): Ausgewählte Schriften zur Geschichte und
Geschichtsschreibung. Bd. 2: Spätantike bis Spätaufklärung. Stuttgart/Weimar 1999. S. 195 – 219.
Hier S. 202.
411 Vico, Scienza nuova, § 347.
412 Ibd. § 150. Vgl. dazu auch Fritzsch, Vicos Begründung objektiven Sinnverstehens, S. 25ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
320
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Auseinandersetzungen um die Einordnung der eigenen Zeit und des zeitgenössischen
Geschichtsverständnisses in Bezug auf die Antike wieder zunehmend an Bedeutung. In
der Querelle des Anciens et des Modernes gingen die Anhänger der Anciens von einer von
Raum und Klima abhängigen Entwicklung des Menschen und der damit verbundenen
kulturellen Unterschiede aus, während die Modernes die anthropologische Prämisse einer
einheit­lichen Natur des Menschen erkannten. Aus dieser Diskussion ergab sich auch die
Frage nach der Antike als orientierungsstiftender Leitfunktion sowie der Verwendung
der antiken Mythologie in der Dichtung, der bildenden Kunst oder Abhandlungen zur
Politik im christ­lichen Europa der zeitgenössischen Gegenwart des ausgehenden 17. und
18. Jahrhunderts.413 Insbesondere ging es in dieser Diskussion um die Positionierung der
Aufklärungsströmungen zum Mythos und seinem Nutzen für die einzelnen Positionen.
Inwieweit blieb die Antike vorbildhaft und Inspiration zur Imitation oder war sie eher
als ein Affront gegen die Vernunft zu werten? In den unterschied­lichen Strömungen
der Aufklärung wurde ein wissenschaft­liches Interesse am Ursprung des Mythos und
seiner Aussage wach sowie die Erforschung seiner kulturgeschicht­lichen Bedeutung
forciert. Julie Boch sprach sich daher vollkommen richtig gegen die vorherrschende
Forschungsmeinung aus, die Aufklärung sei mythenfeind­lich gewesen.414
Francis Bacon (1561 – 1626) hatte in Mythen Allegorien und Sinnbilder gesehen,
die nur verborgene Weisheiten statt rationaler Erkenntnis transportierten.415 Bernard
Le Boyer de Fontenelle (1657 – 1757) hatte schon im ausgehenden 17. Jahrhundert,
jedoch auch in seiner erst 1724 erschienen Abhandlung De l’origine des fables Mythen
grundsätz­lich allen Kulturen zuerkannt.416 Für ihn stellten diese erste Erklärungen für
Naturerscheinungen dar: On trouve aussi chez les anciens Chinois la méthode qu’avaient les anciens Grecs d’inventer des histoires pour rendre raison des choses naturelles.417 Im
413 Einen guten Überblick zu den Standpunkten hinsicht­lich der Mythendeutung seit dem 17. Jahrhundert bietet Burke. Burke, Peter: Vico. Philosoph, Historiker, Denker einer neuen Wissenschaft. Berlin 2001. S. 55ff. Jauss, Hans Robert: Mythen des Anfangs. Die geheime Sehnsucht der Aufklärung.
In: Kemper, Peter (Hg.): Macht des Mythos – Ohnmacht der Vernunft? (Fischer-Taschenbücher,
Sozialwissenschaft, Bd. 6643) Frankfurt/M. 1989. S. 53 – 77. Zum deutsch-schweizerischen Literaturstreit um die Rolle der Antike unter Berücksichtigung der französischen Diskurse vgl. Gisi,
Einbildungskraft und Mythologie, S. 40ff.
414 Boch, Julie: Les dieux désenchantés. La fable dans la pensée française de Huet à Voltaire (1680 – 1760)
(Le dix-huitièmes siècles, Bd. 68). Paris 2002. S. 14f., S. 106 – 110. S. 532. Gisi, Einbildungskraft und
Mythologie, S. 192ff. So formuliert etwa bei Jauss, Mythen des Anfangs, S. 53.
415 Bacon, Francis: Weisheit der Alten. Übers. v. Marina Münkler, hg. v. Philipp Rippel. Frankfurt/M. 1991. S. 10ff.
416 Fontenelle ging trotz ihrer Herkunft aus unterschied­lichen Klimazonen und Gegenden grundsätz­
lich nicht von einem natür­lichen Unterschied zwischen den Völkern aus. Gisi, Einbildungskraft
und Mythologie, S. 17, S. 131ff.
417 Fontenelle, Bernard Le Bouyer de: De l’origine des fables. In: Œuvres de Fontenelle. Bd. 4. Paris
1825. S. 294 – 310. Hier S. 306. Bemerkenswert war jedoch die anthropologische Einordnung der
Mythen durch Fontenelle, die Vico teilte.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
321
Wesent­lichen brachte Fontenelle aber eher mensch­liche Irrtümer mit Mythen in Verbindung als historische Wahrheit wie Vico, auch wenn Fontenelle wie Vico davon ausging,
dass die Menschen zu allen Zeiten über gleiche geistige Fähigkeiten verfügten.418 Diesen Ansatz teilte auch Turgot. Für ihn war jeder Mensch, unabhängig seiner Herkunft,
geschichtsgestaltendes Subjekt und mit der gleichen mensch­lichen Gattungsvernunft
ausgestattet.419 Für Vico offenbaren die Mythen hingegen nicht analoge, sondern eindeutige Ideen und das schöpferische Wirken der Menschen hinsicht­lich ihrer sozialen
und politischen Praktiken. Vicos Metaphernbegriff geht über die Ähn­lichkeit als verbindendes Element hinaus. Er basiert vielmehr auf der Annahme von Identität.420 In
Mythen erkannte Vico eine sozial und politisch regulative Kraft.421 Den Mythen und
ihren Protagonisten gestand er deshalb Modellcharakter zu, Allgemeinbegriffe und
damit die Allgemeingültigkeit politischer Weisheit zu transportieren.422
Zunächst folgte das Mythenverständnis Turgots eher dem Fontenelles als dem Vicos.
Turgot hatte in seinem Tableau philosophique des progrès succesifs de l’esprit humain
formuliert, dass alle Gegenstände der Natur in Gestalt von Gottheiten auftraten. Die
Mythologie offenbarte ihm eher den Aberglauben der Antike.423 Dennoch gestand er
den Mythen wenig später in seinem Plan d’un ouvrage sur la géographie politique (1751)
Ansätze rationaler Vorstellungen von Menschen zu und ließ sie als historische Leistungen gelten.424 Er folgte somit dem Ansatz Vicos. Dieses Verständnis von der Historizität der Mythen eröffnete den Physiokraten einen Pool von wichtigen Argumenten zur
Vermittlung ihrer Lehre. Sie konnten, wie in diesem Kapitel noch zu zeigen sein wird,
ihre neue Herrschaftsvorstellung unmittelbar zu mythischen Heroen in Beziehung
setzen und eine „Nachfolge“ konstruieren.
Die économistes verstanden ihre Vorstellung von der Herrschaft und Produktivität der
Natur sowie dem Wirtschaftsverlauf im Tableau économique Quesnays auf der Basis der
418 Fontenelle wandte sich damit gegen den Ansatz der Entwicklungsstadien in der Lebensaltermetapher, die etwa Gottsched vertrat. Gisi, Einbildungskraft und Mythologie, S. 18f.
419 Rohbeck, Turgot als Geschichtsphilosoph, S. 78f.
420 Albus, Weltbild und Metapher, S. 67.
421 Mali, Joseph: The Rehabilitation of Myth. Vico’s New Science. Cambridge 2002. S. 11ff. Fellmann,
Ferdinand: Alles ist voller Götter. Philosophische Mythos-Theorien und ethnologische Erfahrung.
In: Kämpf, Heike/Schott, Rüdiger (Hg.): Der Mensch als homo pictor? Die Kunst traditioneller
Kulturen aus der Sicht von Philosophie und Ethnologie (Zeitschrift für Ästhetik und allgemeine
Kunstwissenschaft, Beiheft, Bd. 1). Bonn 1995. S. 1 – 19. Hier S. 13. Jauss, Mythen des Anfangs,
S. 56ff.
422 Vico, Scienza nuova, § 209.
423 Gisi, Einbildungskraft und Mythologie, S. 135. Rohbeck, Turgot als Geschichtsphilosoph, S. 11.
424 Gisi, Einbildungskraft und Mythologie, S. 136. Zum Mythenverständnis in der Aufklärung als
„mythistory“ vgl. auch Edelstein, Dan: Introduction to the Super-Enlightenment. In: Ders. (Hg.):
The Super-Enlightenment: During to Know too Much (SVEC, Bd. 2010,01). Oxford 2010. S. 1 – 34.
Hier S. 10ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
322
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Landwirtschaft einerseits als eine Entdeckungsgeschichte, welche die zeitgenössische
Gegenwart unweiger­lich mit der Vergangenheit verbinden musste. Zugleich sahen sie
darin ein Fortschrittsmodell, dessen Wurzeln ebenfalls in der Geschichte verankert
lagen. Das Konzept der Anknüpfung an die Antike zeigte sich schon an der Wahl des
Namens der französischen économistes als Physiokraten. Natur folgte aus ihrer Sicht
der ursprüng­lichen Physis, dem Prinzip der natura naturans. Der Mensch wirkte in der
Landwirtschaft als Co-Operateur der Natur. Das Co-Verhalten von Mensch und Natur
verweist auf die aristotelische Ökonomie und die griechische Antike als Ursprung naturaler Produktionstheorien.425 Parallelen im erhofften Wirken von Natur und Herrschaft
sowie Gesellschaft hatte Turgot in Anlehnung an Vicos Paradigma von der Natur als
Entstehungs- und Wirkungskategorie mit der Metapher des segenspendenden Wassers bestens auf den Punkt gebracht: Voyez cet agent universel de la nature: L’eau qui,
filtrée par mille canaux insensibles, distribue aux productions de la terre leurs sucs nourriciers, couvre sa surface de verdure, et porte partout la vie et la fécondité; qui recueille en
plus grand amas dans les rivières et dans la mer, est le lien du commerce des hommes et
réunit toutes les parties de l’Univers; également répandue sur toute la surface de la terre,
elle n’en ferait qu’une vaste mer; les germes seraient étouffés par l’élément bienfaisant qui
doit les développer. Il a fallu que les montagnes portassent leurs têtes au-dessus des nuages
pour rassembler autour d’elles les vapeurs de l’atmosphère. Et qu’une pente variée à l’infini,
depuis leurs sommets jusqu’aux plus grandes profondeurs, en dirigeant le cours des eaux,
distribuât partout leurs bienfaits.
Voilà l’image de la souveraineté, de cette subordination nécessaire entre tous les ordres
de l’Etat, de cette sage distribution de la dépendance et de l’autorité qui en unit toutes les
parties. De là, les deux point surs lesquels roule la perfection des sociétés politiques, la s­ agesse
et l’équité des lois, l’autorité qui les appuie. Des lois qui combinent tous les rapports que
la nature ou les circonstances peuvent mettre entre les hommes, qui balancent toutes les
conditions, et qui, de même qu’un pilote habile sait avancer presque à l’opposite du vent
par une adroite disposition de ses voiles, sachent diriger au bonheur public les intérêts, les
passions et les vices mêmes des particuliers.426
Vicos Annahme von der Historizität der Mythen und ihr allgemeingültiger Wahrheitsgehalt, der durch gemeinsame Prinzipien, die von allen Völkern als prinzipiell
425 Priddat, Birger P.: Ökonomie und Natur. Der Gebrauchswert der Natur. Über Hans Immlers Natur
in der ökonomischen Theorie. In: Ökonomie und/oder Natur. Zur Abschätzung ökonomischer
Reichweiten ökologischer Ideen. Paper des Instituts für Ökologische Wirtschaftsforschung. Schriftenreihe des IÖW 1/88. S. 48 – 70. Hier S. 53.
426 Turgot, Anne Robert Jacques: Discours sur les avantages que l’établissement du christianisme a
procurés au genre humain, prononcé en latin à l’ouverture des Sorbonique par M. l’abbé Turgot,
prieur de Sorbonne, le vendredi 3 juillet 1750. In: Œuvres de Turgot et documents le concernant.
Avec Biographie et Notes. Hg. v. Gustave Schelle. Bd. 1. Paris 1913 (Reprint Glashütten im Taunus
1972). S. 194 – 214. Hier S. 206.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
323
zustimmungswürdig empfunden und somit bestätigt worden waren, bot nicht nur
ein überkulturelles, sondern auch ein überzeit­liches Argument für die Bedeutung der
Landwirtschaft. Der Mythos als Träger von Wahrheiten allgemeiner Gültigkeit musste
Raum und Zeit überwinden. Der Verweis auf Mythen oder mythologische Figuren in der
physiokratischen Argumentation konnte von Kritikern nicht mehr als bloße, erdichtete
Sinnbilder mit verschleiernder Aussage oder inhaltsleerer Dekoration abgetan werden.
Mythen beleuchteten die Ursprünge mensch­licher Ideen und skizzierten Bedingungen
zu ihrer Erhaltung. Somit ermög­lichten sie Legitimation und boten einen geeigneten
Anknüpfungspunkt, Rückbezüge zu den von ihnen transportierten allgemeingültigen
mensch­lichen Wahrheiten herzustellen. Sie konnten den Physiokraten als historisch-­
belehrendes und zugleich als aktuelles Argument gelten. Mythen und ihre Protagonisten,
die als etablierte Medien und als Symbole von Herrschaftsauffassung bekannt waren,
boten sich den Physiokraten nun an, mit ihrem bekannten Potential bestehende Defizite zu entlarven und darzustellen oder alte Ideale wiederzubeleben. Das mythische
Figurenprogramm galt bis dahin als bewährtes Instrumentarium der versteckten oder
indirekten, oft auch fehlenden Botschaften. Mit einem neuen Mythenverständnis als
Ideengeschichte konnten die oft als inhaltsleer und als reine Dekoration verstandenen
mythischen Gestalten innerhalb der Darstellung des Herrschaftsverständnisses mit einer
neuen Ernsthaftigkeit versehen werden. Es ergab sich eine neue Nutzung des Mythos
als historisches Argument mit einem anderen Wahrheitsgehalt.427 Die Mythen ermög­
lichten einen historischen Blick auf mensch­liches Leben in unmittelbarer Nähe und
Erfahrung der Natur und seiner systematischen Entfremdung. Vico zeigte mit seiner
Geschichte vom Ursprung den ökonomischen Sündenfall, den die Physiokraten zu
beheben versuchten.
Die Kulturen folgten also einem Schema, was sie grundsätz­lich wegen gemeinsamer
und ähn­licher Prinzipien vergleichbar machte, aber auch Unterschiede in ihrer späteren Entwicklung umso klarer aufdeckte. Wenn nach Vico in allen Kulturen die Nähe
von Herrschaft und Ackerbau zu den wesent­lichen zivilisations-, gemeinschafts- und
staatsbildenden Prinzipien gehört hatte, musste auffallen, dass es in der europäischen
Geschichte einen Bruch mit dieser Tatsache gab oder diese Verflechtung in Vergessenheit geraten war, während diese Verbindung im zeitgenössischen China traditionell
noch immer bestand. Zudem war sie von den meisten europäischen Berichterstattern
als ein traditionelles und zugleich immer auch aktuelles Fundament erfolgreicher Politik der chinesischen Kaiser hinsicht­lich des Staatswohls erkannt und eingestuft worden. In China war also scheinbar etwas immer noch oder wieder verwirk­licht, was in
Europa inzwischen als Mangel oder Defizit erkannt wurde und auf einer verlorenen
427 So legitimierte beispielsweise der Naturphilosoph Paul-Henri Thiry d’Holbach in seinem Werk
La Morale universelle mythologische Szenen […] quelques traits mémorables de grandeur d’ame, de
bonté, de justice, d’amour pour la Patrie. Thiry d’Holbach, Paul-Henri: La Morale Universelle, ou
Les devoirs de l’homme fondés sur la Nature. Bd. 2. Amsterdam 1776. S. 234.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
324
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Tradition basierte. Die Kritik bezog sich dabei insbesondere auf die verlorene griechische, römisch-republikanische und römisch-kaiser­liche Tradition des Königs oder
Staatsmanns als Bauern. Wenn sich die Kulturen miteinander vergleichen ließen und
sogar essentielle Gemeinsamkeiten aufwiesen, dann musste auch ein Transfer von Ideen
oder Instrumenten – etwa von Herrschaft oder Herrschaftsausübung – mög­lich und
fruchtbar sein. Somit konnte die bestehende und erfolgreiche Tradition in China ein
stichhaltiges Argument für die von den Physiokraten für notwendig erachtete Anknüpfung an die antike Verbindung von Herrschaft mit Landwirtschaft darstellen. Am Beispiel der Kontinuität Chinas konnte schließ­lich der Beweis erbracht werden, dass die
Entfremdung von Herrschaft und Landwirtschaft in Frankreich zu Fehlentwicklungen
geführt hatte und eine Wiederbelebung der Tradition nach dem Vorbild Chinas und
in Anlehnung an die antike Tradition die einzige mög­liche Lösung darstellte.428 Einen
wesent­lichen Faktor für die Realisierung dieser Vorstellungen im Sinne eines Fortschritts
bei gleichzeitiger Anknüpfung an den eigenen Ursprung erkannten die Physiokraten
in den geistigen Fähigkeiten und Kenntnissen eines Monarchen.429 Diese Fähigkeiten
galt es zu vermitteln.
428 Einen ähn­lichen Ansatz verfolgt Friedrich Schillers Rätsel aus Turandot. Für die 15 Rätsel seiner
Prinzessin aus Turandot wählte er grundsätz­lich allgemeine bzw. alltäg­liche Dinge, die in der chinesischen und europäischen Kultur ähn­lich wichtige oder sogar existentielle Funktionen einnahmen.
In einem der Rätsel entschied sich Schiller für den Pflug als kulturübergreifenden und weltweit
bekannten Gegenstand und spielte zudem auf das offenbar inzwischen recht bekannte Pflugritual
chinesischer Kaiser an.
Rätsel aus Turandot
Wie heißt das Ding, das wenige schätzen,
Doch zierts des größten Kaisers Hand,
[…] Es hat den Erdkreis überwunden, [Hervorhebung durch Susan Richter]
Es macht das Leben sanft und gleich.
[…]
Dies Ding von Eisen, das nur wenige schätzen,
Das Chinas Kaiser selbst in seiner Hand
Zu Ehren bringt am ersten Tag des Jahrs,
Dies Werkzeug, das unschuld’ger als das Schwert
Dem frommen Fleiß den Erdkreis unterworfen –
[…] Und ehrte nicht das köst­liche Geräte,
Das allen diesen Segen schuf – den Pflug? [Hervorhebung durch Susan Richter]
Das Gedicht entstand 1801/02. Im Januar 1802 brachte Schiller das Stück Turandot in Weimar
zur Uraufführung. Es basierte auf einer Vorlage Carlo Gozzis, die allerdings geographisch eher in
Persien angesiedelt war. Schiller, Friedrich: Sämt­liche Werke. Bd. 1: Gedichte. Dramen. München
³1962. S. 443f. Vgl. eine kurze Einordnung zu dem Gedicht bei Tan, Der Chinese in der Literatur,
S. 54f. Berger, Willy Richard: China-Bild und China-Mode im Europa der Aufklärung (Literatur
und Leben, N. F., 41). Köln/Wien 1990. S. 224 – 233.
4 29 Turgot, Discours sur les avantages que l’établissement du christianisme a procurés au genre humain,
S. 211 – 214.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
325
b. Das eigenhändige Pflügen des Monarchen –
Gründe für die Auswahl eines Motivs
Die Wahl der Physiokraten für das zu dokumentierende Vorbild fiel auf das Motiv
des monarchischen eigenhändigen Pflügens aus dem chinesischen Pflugritual, weil
Rituale als Instrumente symbolischer Kommunikation von Macht oder symbolischer
Demonstration der Herrscherauffassung gleichermaßen zum europäischen wie zum
chinesischen Herrschaftsverständnis gehörten. Ein Ritual bot vor allem visuelle und
symbolische Elemente von Handlungen, die wiederkehrend nachvollziehbar Inhalte
verbreiteten und eine Form von Praxis im Sinne aktiver Ausführung implizierten.
Dabei ging es ihnen nicht darum, das Ritual an sich und den Anlass – die Eröffnung
der landwirtschaft­lichen Arbeiten im Jahreszyklus im zeitigen Frühjahr – aus dem Konfuzianismus zu übernehmen. Der Fokus der Physiokraten richtete sich lösgelöst von
aller sakralen Grundbedeutung rein auf die eigenhändige landwirtschaft­liche Tätigkeit
des Monarchen und die damit verbundene Aussage der Wertschätzung des Ackerbaus.
Damit folgten sie, wie in Kapitel 3 ausführ­lich beschrieben, den größtenteils sozialen
Deutungen der Reiseberichterstatter, welche die religiösen Einordnungen des Rituals
weitgehend vernachlässigt hatten. Das Motiv des Pflügens aus diesem Ritual war somit
das geeignete Element, die von den Physiokraten für den Monarchen angedachte neue
Funktion kompakt zu fassen und zu visualisieren. Es bot die beste Voraussetzung, auch
für Frankreich und das übrige Europa, eine neue Herrschaftsauffassung wie die des ersten
Landmannes eines Staates zu kommunizieren und sichtbar bzw. einfach verständ­lich
für jedermann darzustellen. An der Wahl des Motivs zeigt sich deut­lich, welche Bedeutung die Praxis bzw. die praxistaug­liche und praxisgeprüfte Handlungsanleitung für
Herrscher bei den Physiokraten, aber auch die erhoffte Wirkung praktischer Beispiele
einnahm. Da das Ritual als eine herausragende Handlung des chinesischen Kaisers in
zahlreichen Reiseberichten kommuniziert und stetig wiederholt worden war, konnte
von einer guten Vorkenntnis der Adressaten ausgegangen werden, von der die économistes zu profitieren hofften.
Die Physiokraten trafen ihre Wahl des Rituals mit Bedacht, denn nur wenige außereuropäische Rituale eigneten sich zur Umcodierung und zur Instrumentalisierung als
Vorbild, insbesondere für den physiokratischen Kontext. Hinsicht­lich der Motivwahl
von europäischer Seite vollkommen unbeachtet blieben zahlreiche andere Rituale, in
denen die Beziehung eines asiatischen Herrschers zur Natur hergestellt und symbolisch
kommuniziert wurde, wie etwa die Ceremonien, mit denen die Könige in Siam dem
Wasser zu befehlen pflegen.430 Johann Christian Lünig beschreibt in seinem Theatrum
C
­ eremoniale Historico-Politicum den jähr­lichen fest­lichen Konvoi von könig­lichen Barken
auf dem Fluss der siamesischen Hauptstadt Bangkok, die der König mit Priestern und
430 Lünig, Johann Christian: Theatrum Ceremoniale Historico-Politicum oder historisch=und politischer Schau=Platz des Europäischen Canzley=Ceremoniels. Bd. 2. Leipzig 1720. S. 1462f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
326
Der chinesische Kaiser als Vorbild
seinem Gefolge unternahm, um das Wasser in sein Bett zu zwingen und die Stadt vor
Hochwasser zu schützen. Die kurze Darstellung dieses Rituals und die damit öffent­lich
dargestellte Macht des Königs kommentierte Lünig leicht ironisch: Wie der König in
Siam in denen Tituln, die er gebrauchet, einen Meister des Wassers nennet, weil er seiner
Einbildung nach, die Gewalt hat, das Wasser steigen und fallen zu lassen, wann es ihm
beliebet, also thut er folgendes, seine Unterthanen wegen dieser praetendirten Gewalt zu
überzeugen.431 Den Elementen zu gebieten, oblag nach christ­lich-europäischer Tradition
ausschließ­lich Gott. Die angeb­liche Macht und Funktion des siamesischen Gottkönigs
über eine Naturgewalt war somit nicht auf ein welt­liches oder geist­liches Herrscheramt
in Europa übertragbar. Aber auch das Ritual der chinesischen Kaiserin, die traditionsgemäß im Frühling die ersten Blätter der Maulbeerbäume zu pflücken hatte, um die
Seidenraupen zu füttern, fand trotz der der großen Begeisterung der Europäer für den
Seidenanbau sowie der fürst­lichen Protektion der Seidenmanufakturen keine Nachahmung. Und das, obwohl sich auch in diesem Ritual die physiokratische Maxime bestätigte, dass ein agrarisches Produkt als Grundlage diente und dazu beitrug, neue Waren
zu schaffen. Dieses Ritual war zwar neben dem kaiser­lichen Pflügen immer wieder von
den Reiseberichten aufgegriffen und vermittelt worden, eignete sich aber nicht für die
physiokratischen Belange. Beim Anbau von Maulbeerhainen zur Fütterung von Seidenraupen handelte es sich nicht um einen in Frankreich heimischen und allseits bekannten,
sondern neuen, sogar fremden Landwirtschaftszweig, der ausschließ­lich der Herstellung
eines Luxusproduktes diente und nicht wie in China als Grundstoff der Kleidung an
sich galt. Die Thematisierung des Seidenanbaus hätte wegen der aufwändigen Zucht
von Maulbeerbäumen, die in einigen Gegenden Frankreichs zur Vernachlässigung des
Anbaus anderer Produkte geführt hatte, in Fachkreisen und Öffent­lichkeit nicht nur
extrem polarisiert, sondern die Ziele der Physiokraten sogar konterkariert. In der Seidenproduktion fand sich eben kein solch kulturübergreifendes Element wie der Pflug
als allgemein bekanntes und grundsätz­lich notwendiges Ackergerät.
Es kann deshalb angenommen werden, dass ein Transfer von Motiven aus Ritualen 432
fremder Kulturkreise nur dann gelang, wenn einzelne Elemente den Akteuren, aber
431 Ibd. Als kleiner Exkurs soll hier angeführt werden, dass auch der siamesische König in Anlehnung an
buddhistische und hinduistische Traditionen den Frühling mit dem eigenhändigen Ziehen der ersten
Furche auf dem Feld eröffnete: Der König war vormahls gewohnt, sich vier oder fünffmahl im Jahr in seiner Pracht sehen zu lassen. Er pflegte auch alle Jahr mit großen Solennitäten zu pflügen, und das Erdreich
zuerst zu brechen, und ebenfalls nach verstrichener Regen=Zeit mit öffent­licher Solennität, dem Strom zu
befehlen, daß er wieder in sein Ufer kehren sollte. Salmon: Die heutige Historie oder der gegenwärtige
Staat von allen Nationen. Ersten Theils andern Stücks, aus dem Holländischen des Herrn D. van Goch
ins Teutsche getreu­lich übersetzt. Eine umständ­liche Beschreibung der Königreiche Siam, Pegu und
Arrakan. Altona 1735. S. 71. Siam eignete sich aufgrund einer deut­lich geringeren Berichterstattung
und der einhelligen Beurteilung der Reisenden, eine Despotie zu sein, nicht so gut als Vorbild.
432 Zum Ritualtransfer vgl. Chaniotis, Angelos: Der Kaiserkult im Osten des Römischen Reiches im
Kontext der zeitgenössischen Ritualpraxis. In: Hubert Cancik/Konrad Hitzl (Hg.): Die Praxis der
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
327
auch den Zuschauern oder passiven Teilnehmern, bereits aus dem eigenen kulturellen
Kontext vertraut waren. Dies bedeutete für den Motivtransfer als Teil des Kulturtransfers, dass die Gegenstände nicht nur miteinander vergleichbar sein, sondern in beiden
Kulturen den gleichen oder zumindest einen ähn­lichen Stellenwert besitzen mussten,
also von der universalen oder relativen Gültigkeit einer Kategorie – im vorliegenden
Fall einer Handlung, des Pflügens – ausgegangen werden konnte. Auswahl und Transfer
des Motivs des eigenhändigen Pflügens des Kaisers als Teil des chinesischen Pflugrituals
nach Europa erfolgten nach dem Gehalt seiner Symbolwirkung bzw. dem allgemeinen
Bekanntheits- und Wiedererkennungswert derselben.
c. Die Verbreitung der Idee des pflugführenden Monarchen als Bestandteil der
physiokratischen Theorie
Das Vorbild Chinas in der Landwirtschaft wurde durch die Physiokraten intensiv vermittelt: Marquis de Mirabeau schrieb 1756 in seinem Werk L’Ami des hommes: L’agriculture
en un mot est l’art universel, l’art de l’innocence & de la vertu, l’art de tous les hommes & de
tous les rangs.433 Er verwies dabei auf die Antike, in der diese Sicht die Menschen vereint,
gemeinsam ernährt und zur Tugend angeleitet habe. Bedauernd stellte Mirabeau fest,
dass dieser wünschenswerte Zustand der Vergangenheit angehöre und gegenwärtig die
Landwirtschaft vernachlässigt werde. Anders sei dies in China: Les Chinois, dit-on, persuadés que l’emploi des terres dépend, comme on n’en peut douter, les moyens de subsistance
qu’on en retire, que l’étendue des moyens de subsistance est l’exacte mesure de la Population,
& que la Population est l’unique richesse réelle d’un Etat, regardent comme un crime l’emploi des terres en maisons & jardins de plaisance, comme si l’on faudroit par-là les hommes
de leur nourriture.434 In Frankreich, so kritisierte Mirabeau, liege viel Land ungenutzt
und brach oder werde ganz aufgegeben. Aber gerade in der Nutzung des gesamten
Staatsgebietes als Anbaufläche liege das Glück des Landes. Je mehr die nütz­liche Kunst
der Landwirtschaft in allen Ständen gelehrt und angeregt werde, könne die Produktion
agrarischer Güter vervielfacht werden. Dann werde sich Frankreich immer mehr vom
Zustand des Verfalls und der Schwächung entfernen. Enthusiastisch rief Mirabeau seine
Landsleute auf, schnell zurück zum Fundamentalprinzip landwirtschaft­licher Tätigkeit
aller Stände zu finden. Je mehr sich die Menschen auf die Erde und ihre Früchte beziehen würden, desto mehr könne sie bevölkert werden.435 Im Anschluss daran erläuterte
er ausführ­lich die besondere Eignung Frankreichs für eine blühende Landwirtschaft
Herrscherverehrung in Rom und seinen Provinzen. Tübingen 2003. S. 3 – 28. Hier S. 4.
433 Mirabeau, Victor de Riqueti, Marquis de: L’Ami des hommes, ou traité de la population. Bd. 1.
Avignon 1756. S. 142. Vgl. grundsätz­lich zu Mirabeau als Physiokrat: Genovese-Fox, The Origins
of Physiocracy, S. 134ff. Perrot, Histoire intellectuelle de l’économie politique.
434 Mirabeau, L’Ami des hommes, ou traité de la population, Bd. 1, S. 61.
435 Ibd. Bd. 1, S. 26 – 28.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
328
Der chinesische Kaiser als Vorbild
durch naturräum­liche Vorteile des Landes.436 Doch auch die Stellung der Bauern müsse
der neuen Bedeutung des Landbaus angepasst werden: Dans un Etat constitué comme
la France, il faut que […] le Laboureur enfin & l’agriculteur, cet ordre d’hommes précieux
par lesquels j’aurois dû commencer soit infatiable, honoré, chéri, protégé, soulagé, encouragé
de façon qu’il fasse envie à tous les autres états par son bonheur, sa liberté, sa joie, sa tranquillité, & par cette pureté Patriarchale de mœurs, dont la campagne est la véritable &
l’unique patrie.437 Damit skizzierte Mirabeau den Wirkungsbereich des französischen
Königs, diese Bedingungen für die Bauern nach dem Vorbild des chinesischen Kaisers
zu schaffen.438 Er stellte allerdings noch keinen direkten Bezug zum Motiv des eigenhändigen Pflügens des Kaisers von China her.
Offensicht­lich war es Quesnay, der das Potential dieses Motivs für die Argumentation bzw. für die Verbreitung der physiokratischen Lehre erkannte. Mirabeau stand
mit Quesnay sowohl in persön­lichem als auch in brief­lichem Kontakt. Quesnay hatte
von Mirabeau ein Exemplar seiner Ami des hommes erhalten und sich intensiv mit den
Thesen beschäftigt. Darüber hinaus hoffte Mirabeau, dass Madame de Pompadour das
Buch lesen und die Inhalte an den König vermitteln würde.439 Mirabeaus Werk prägte
nicht nur Quesnay stark, der Freund unterstützte ihn auch bei seinen eigenen Publikationen.440
Im Jahr 1763 erschien in Amsterdam zunächst anonym die Philosophie rurale ou, Économie générale et politique de l’agriculture, reduite à l’ordre immuable des loix physiques &
morales, qui assurent la prospérité des empires. Verfasst worden war der Band gemeinsam
von Mirabeau und Quesnay mit dem Ziel, eine ausführ­liche und allgemeinverständ­
liche Erläuterung des Tableau économique von Quesnay zu bieten.441 Das erste Kapitel
des Buches wurde von einer Vignette.442 in Form eines kleinen Kupferstichs bekrönt.
Er zeigte in einer idealisierten Landschaft den chinesischen Kaiser am Pflug, wie er,
eingerahmt von Mandarinen und Bauern mit Gefäßen von Saatgut, die erste Furche
zog. Der Stich nahm zusammengefasst, komprimiert und visualisiert den Inhalt des
Werks von der Bedeutung des Bodens und der Landwirtschaft sowie die Idee eines
436 Ibd. S. 34 – 41. J’en reviens pourtant à mon principe fondamental: Aimez, encouragez l’agriculture; il
n’y a rien de grand & d’utile où vous ne puissiez atteindre par cette attention. S. 34.
437 Ibd. Bd. 1, S. 100.
438 Ibd. Bd. 1, S. 151.
439 Schelle, Docteur Quesnay, S. 226f, S. 231. Dumaih, Pascal (Hg.): Madame du Hausset. Mémoires
sur la Marquise de Pompadour. Écrits par sa femme de chambre. Paris 2009. S. 78.
4 40 Schelle, Docteur Quesnay, S. 299.
4 41 Dieses Werk hatte die Gönnerin der Physiokraten, Madame de Pompadour, in ihre Bibliothek aufgenommen. Anonymus, Catalogue des livres de la bibliothéque de Madame la Marquise de Pompadour, S. 31, Nr. 320.
4 42 Es handelt sich um Buchverzierungen, die oft zu Beginn oder am Ende eines Kapitels standen. Eine
kurze Erläuterung zu diesen kleinteiligen Verzierungen geben Müller, Silke/Wess, Susanne: Studienbuch neuere deutsche Literaturwissenschaft, 1720 – 1848. Basiswissen. Würzburg ²1999. S. 191.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
329
royaume agricole mit dem Herrscher an der Spitze vorweg. Auch wenn im gesamten
nachfolgenden Text kein Bezug zu China mehr hergestellt wurde und die Pflugszene
keine verbale Einordnung erfuhr, stand sie einleitend und richtungsweisend als Devise
an exponierter Stelle des Buches.443 Mit ihr war dem Leser das Modell einer durch den
Monarchen optimal geförderten Landwirtschaft und einer Gesellschaft, welche der
Landwirtschaft einen hohen Stellenwert beimaß, visuell kommuniziert. Die Vignette
nahm somit wesent­liche Bestandteile der physiokratischen Lehre vorweg und präsentierte sie anschau­lich. Das Motiv avancierte zum Motto der Physiokraten, das bild­lich
und verbal einen Wiedererkennungseffekt – etwa in den Ephémérides du Citoyen – mit
sich bringen sollte. Es ging ihnen mit der Visualisierung auch um den Versuch, ihre
Grundaussagen schnell fassbar und überzeugend darzustellen, denn gerade Quesnays
Tableau hatte mit der zeitgenössischen Kritik der Unverständ­lichkeit und uneinheit­
lichen Terminologie zu kämpfen.444 Die Abbildung folgt keiner Vorlage, sondern stellt
vielmehr eine der frühesten europäischen Darstellungen der Pflugszene des chinesischen
Monarchen dar, die nach den Beschreibungen der Reiseberichte in Europa angefertigt
wurde. Der Stecher ist unbekannt.445
4 43 Anonymus [Quesnay, François/Mirabeau, Victor Riqueti de]: Philosophie rurale ou, Économie
générale et politique de l’agriculture, reduite à l’ordre immuable des loix physiques & morales, qui
assurent la prospérité des empires. Amsterdam 1763. S. 2.
4 44 Fox-Genovese, The Origins of Physiocracy, S. 100f und S. 136.
4 45 Mög­licherweise diente sie Bernhard Rhode später als Vorlage für sein Ölbild des pflügenden Kaisers
auf Schloss Britz. Bernhard Rode (eigent­lich Christian Bernhard) ist einer der wenigen Maler, die
sich dieses Themas annahmen. Er schuf im Jahr 1770 ein Ölbild mit der Pflugszene für den Landsitz des preußischen Ministers Ewald Friedrich Graf von Hertzberg. Drei Jahre später entstand als
Pendant die Darstellung der chinesischen Kaiserin beim Ritual der Ernte der ersten Maulbeer­blätter
für die Seidenraupenzucht. Das erste Bild zeigt den Kaiser in einem leuchtend gelben Gewand mit
roter Schärpe, in rotgelben Schuhen und mit turbanartiger Kopfbedeckung. Mit der rechten Hand
führt er den Pflug, mit der linken die Zügel der beiden weißen, blumengeschmückten Ochsen.
Bedienstete halten dem Monarchen die Schleppe des Mantels und einen Schirm, der ihm Schatten
spendet. Vor dem Kaiser beobachten Untertanen in respektvoller Haltung den pflügenden Landesherrn. Die Szene ist von üppigem Grün exotischer Pflanzen und Gehölze eingerahmt, welche die
Fruchtbarkeit und Schönheit der Umgebung betonen, zugleich aber auch den Erfolg der rituellen
Handlung des Monarchen beweisen.
Das Bild entstand für das chinesische Zimmer des Schlosses Britz als passende exotische Dekoration,
die aber programmatisch eine idealisierte Verbindung zwischen dem Staatsmann und dem Landwirt
von Hertzberg unterstrich und die Kenntnis fremder Gepflogenheiten durch und die Bedeutung der
Landwirtschaft für den Hausherrn dokumentierte. Christian Bernhard Rode (1725 – 1797): „Der
Kaiser von China am Pflug“. Abb. 129. In: Budde, Europa und die Kaiser von China. Eine weitere
Abbildung befindet sich in: Beck, Herbert/Bol, Peter C./Bückling, Mareile (Hg.): Mehr Licht.
Europa um 1770. Die bildende Kunst der Aufklärung. Ausstellung im Städelschen Kunstinstitut
22. August 1999 – 9. Januar 2000. Katalog. München 1999. S. 237. Zum Bild vgl. Börsch-Supan,
Helmut/Pryzborowski, Claudia: Christian Bernhard Rode und die Ausstattung von Hertzbergs
Landhaus in Britz. In: Kindler, Simone/Badstübner-Gröger, Sibylle (Hg.): 300 Jahre Schloss Britz.
Ewald Friedrich Graf von Hertzberg und die Berliner Aufklärung. Berlin 2006. S. 71 – 86. Ebenfalls
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
330
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Im Jahr 1764 war das Vorbild des chinesischen Kaisers am Pflug mit Simon Philibert de La Salle de l’Etangs Buch Manuel d’Agriculture stärker als bisher in die Vermittlungsstrategie der Physiokraten und ihrer Anhänger gelangt.446 La Salle de l’Etang
schrieb in der Einleitung De la position de notre Agriculture, dass die Menschen Berufe
nach dem Gewicht der Personen, die den Beruf ausüben (exercent) und praktizieren
(pratiquent), beurteilten: Ce qui sait bien voir, qu’en général on ne juge des professions,
& même d’un art si noble qu’il puisse être par lui-même que par les qualités des personnes
que les exercent & qui les pratiquent.447 Auf die rhetorische Frage, warum in China die
Landwirtschaft so geehrt und respektiert werde, antwortete er, dass es der chinesische
Kaiser nicht verachte, den Pflug selbst in die Hand zu nehmen: Pourquoi à la Chine,
l’Agriculture est-elle si honorée & si respectée? C’est que l’Empereur ne dédaigne pas de
tenir lui-même la queue de la charrue.448 Er zeigte seinen Lesern mit dieser Aussage, wie
wichtig es für den lange ignorierten französischen Bauerstand sein würde, wenn sich
auch der eigene Landesherr ausdrück­lich mit einem Arbeitsgerät der Bauern zeigte
oder sogar eigenhändig Arbeitsschritte ausführte, um mit seiner Person die Bedeutung
dieses Berufes zu betonen. Machte der französische König wie der chinesische Kaiser
das Bestellen eines Ackers zu einer seiner persön­lichen Angelegenheiten, so wurde der
gesamte Bauern­stand symbolisch geadelt. Ihm musste folg­lich in der Gesellschaft ein
neuer Status und seiner Arbeit ein höherer Wert beigemessen werden. Deshalb forderte
La Salle de l’Etang nicht nur die Vermittlung landwirtschaft­licher Kenntnisse und des
Respekts vor dem Ackerbau an die Jugend im Allgemeinen, sondern insbesondere an
die nächste Herrschergeneration, den Kronprinzen (et même d’un Prince). Landwirtschaft und das vorbildhafte Wirken des chinesischen Kaisers für den Ackerbau wurde
von ihm zu einem wichtigen Teil fürst­licher Bildung bzw. Erziehung erhoben, womit
nicht zuletzt auch die Hoffnung auf künftige Förderung verbunden war.449 Doch nach
dazu: Krosigk, Klaus-Henning von: Der Garten zu Britz. Seine Entwicklungsgeschichte von den
Anfängen bis heute. Berlin 1998. S. 26.
4 46 La Salle de l’Etang, Simon Philibert de: Manuel d’agriculture pour le laboureur, pour le propriétaire,
et pour le gouvernement contenant les vrais & seuls moyens de faire prospérer l’agriculture, tant
en France que dans tous les autres Etats où l’on cultive; avec La réfutation de la nouvelle méthode
de M. Thull. Paris 1764. Dazu vgl. Haushofer, Heinz: Das kaiser­liche Pflügen. In: Ders./Boelcke,
Willi A. (Hg.): Wege und Forschungen der Agrargeschichte (Zeitschrift für Agrargeschichte und
Agrarsoziologie. Sonderbände, Bd. 3). Frankfurt/M. 1967. S. 171 – 180. Hier S. 175. Das Buch findet
sich nicht in der Bibliothek von Madame de Pompadour, dafür ein früheres landwirtschaft­liches
Werk des Autors: La Salle de l’Etang, Simon Philibert de: Prairies artificielles, ou Moyens de perfectionner l’Agriculture. Paris 1758.
4 47 La Salle de l’Etang, Manuel d’agriculture, Einleitung, o. S.
4 48 Ibd. S. 4f.
4 49 La Salle de l’Etang stand mit der Vorstellung, dass so mancher Berufsstand oder ein Handwerk durch
die Ausübung durch einen Fürsten geadelt und damit anerkannt werde, nicht allein. Im Alten Reich
war es Justus Möser, der in seiner Abhandlung Reicher Leute Kinder sollten ein Handwerk lernen
seinen Lesern neben deutschen älteren Traditionen vor allem auch fremde (russische und englische)
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
331
dem Fürsten musste auch der Bauer im Landbau belehrt werden. Diese Aufgabe der
Organisation der Vermittlung neuen Agrarwissens an die Bauern oblag nach La Salle de
l’Etang dem Herrscher. So transportierte schon das Frontispiz seines Werkes das Thema
der könig­lichen Unterweisung an den Landmann (Abb. 14: Frontispiz und Deckblatt).
Dafür wählte La Salle de l’Etang jedoch nicht eine Darstellung des chinesischen Kaisers,
sondern zog den visualisierten Bezug zur Antike mit einem Kupferstich von BenoîtLouis Prévost (1735 – 1804) vor: Einem zeitgenössisch gekleideten Bauern, der gerade
mit der Aussaat beschäftigt ist, erscheint Triptolemos auf seinem Schlangenwagen. Der
könig­lich-gött­liche Stifter des Ackerbaus erweist sich als gütiger und geduldiger Lehrmeister, der den Menschen einst nicht nur die Kunst der Landwirtschaft vermittelt hatte,
sondern sie nun mit den aktuellen Neuerungen der Technik – etwa der abgebildeten
Maschine zur Aussaat – bekanntmachte, um ihre Arbeit zu erleichtern und effizienter
zu gestalten. Triptolemos avancierte bei La Salle de l’Etang zu einem Agrargenius, der
den Menschen den Segen einer neuen Landwirtschaft mit neuem Wissen und neuen
Produktionsmethoden brachte. Der könig­liche Kulturheros Triptolemos konnte somit
als gleichzeitige Personifikation und Verbindung einer langen Tradition und einem Aufbruch in ein neues, modernes Agrarzeitalter verstanden werden. Zugleich lag in seiner
Person die Aufforderung an den Monarchen, genau dieser Funktion des Triptolemos zu
entsprechen: Initiator, Vermittler und Träger eines agrarischen Fortschritts zu sein. Das
Frontispiz trägt die Bildunterschrift: Ne change point de soc. La Salle de l’Etang eröffnete
sein Werk mit der im Frontispiz visualisierten Devise einer neuen Landwirtschaft auf
dem Fundament antiker Tradition, die im Laufe der Argumentation des Buches eine
Bestätigung und Ergänzung durch das Handeln des chinesischen Kaisers erhielt. Der
belehrende mythische König von La Salle de L’Etang und der eigenhändig pflügende
Kaiser Quesnays und Mirabeaus avancierten zu einem Motto der neuen Landwirtschaft
und zum Leitfaden eines neuen Herrschaftsverständnisses.
Dieser Gedanke verankerte sich auch im Werk François Quesnays. Er beschrieb das
Pflugritual des chinesischen Kaisers 1767 in seinem Werk Despotisme de la Chine, das
in den Ephémérides erstmals zwischen März und Juni publiziert wurde, sehr ausführ­
lich: Au contraire l’agriculture a toujours été en vénération à la Chine, et ceux qui la professent ont toujours mérité l’attention particulière des Empereurs; nous ne nous étendrons
pas ici sur le détail des prérogatives que ces princes leur ont accordées dans tous les temps.
[…] Le successeur de l’empereur Lang-hi [Kangxi-­Kaiser] a surtout fait des règlements très
favorable pour exiter l’émulation des laboureurs. Outre qu’il a donné lui-même l’exemple
du travail en labourant la terre et en y semant cinq sortes de grains, il a encore ordonné
aux gouverneurs de toutes les villes de s’informer, chaque année de celui qui se sera le plus
Monarchen als Beispiele anführte, um sein Ziel, das nachlassende Ansehen und die Bedeutung des
Handwerks zu stärken: Zar Peter diente als Geselle und Schiffszimmermeister. Möser, Justus: Reicher Leute Kinder sollten ein Handwerk lernen. In: Ders.: Patriotische Phantasien. Bd. 1. Bearb. v.
Ludwig Schirmeyer. Oldenburg/Berlin 1943. S. 30 – 41. Hier S. 33.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
332
Der chinesische Kaiser als Vorbild
distingue, chacun dans son gouvernement, par son application à la culture des terres, par
une reputation integre et une économie sage et bien entendue. […].450 Quesnay war von
der Prämisse ausgegangen, dass die Nation in den allgemeinen Gesetzen der Naturordnung unterrichtet werden müsse, welche die vollkommenste Regierung begründen würde.451 Der Physiokrat betonte deshalb ebenso wie La Salle de l’Etang, dass das Studium der
Rechtswissenschaften für Staatsmänner nicht mehr genüge, sondern dass das Studium
der Naturordnung und Landwirtschaft fester Bestandteil des Regierungswissens werden müsse. Ein Prinz müsse theoretisches und praktisches landwirtschaft­liches Wissen
erwerben, denn der Herrscher und die Nation sollten aus Sicht Quesnays niemals aus
dem Auge verlieren, dass der Boden die alleinige Quelle der Reichtümer sei, und dass der
Ackerbau diese vervielfältige.452 Der Herrscher erhielt somit aus physiokratischer Sicht
eine weitere Funktion: Der König sollte künftig als erster Landwirt seinem royaume
agricole und einer der Landwirtschaft verpf­lichteten Gesellschaft vorstehen – so wie es
der chinesische Kaiser tat. Symbolisch unterstrich der chinesische Kaiser diese Funktion durch das jähr­liche eigenhändige Pflügen. Quesnay ging es zum einen darum, den
Monarchen landwirtschaft­liche Fähigkeiten zu vermitteln und ihnen auch die schwere
körper­liche Arbeit der Landbebauung nahezubringen, um ihnen eine konkrete Vorstellung vom Wert des Bodens und seiner Früchte zu geben, zum anderen kannte er sehr
wohl die Wirkung symbolischer Handlungen. Deshalb stand das kaiser­liche chinesische
Pflugritual ebenso im Fokus seiner Vermittlungsstrategie gegenüber den Herrschern wie
der Rat, die Arbeit des pauvre cultivateur oder laboureur auf dem Land durch Feste eine
Wertschätzung entgegenzubringen. Ausführ­lich diskutierte Quesnay deshalb die Tradition chinesischer Frühlingsfeste für Bauern, die in ganz China gefeiert wurden. Dabei
wurde eine große Tonkuh über das Feld getragen und symbolisch durch Tritte eines
kleinen Jungen angetrieben. Die Bauern folgten der Kuh mit ihren Arbeitsgeräten bis
450 Quesnay, Despotisme de la Chine, 2. Kapitel, § 8, S. 601f. Zum Verständnis der Physiokraten
vgl. Dubreuil, Paul: Le despotisme légal. Vues politiques des physiocrates. Paris 1908. S. 85ff. Bei
­Rousselot de Surgy findet sich die kurze Erwähnung des eigenhändigen Pflügens des Kaisers und
die herrscher­liche Protektion der Landwirtschaft in China: L’agriculture est beaucoup en vénération
à la Chine, & ceux qui la professent ont toujours mérité une attention particulière des Empereurs. Nous
ne nous étendrons pas sur le détail des prérogatives que ces princes ont accordées aux laboureurs dans
tous les temps. Rousselot de Surgy, Mélanges intéressans et curieux, Bd. 5, S. 224 – 226.
451 Quesnay, Despotisme de la Chine, 8. Kapitel, § 10, S. 646.
452 Quesnay, Despotisme de la Chine, 8. Kapitel, § 11, S. 646f. Zur Erforschung und Verbreitung
landwirtschaft­lichen Wissens empfahl er Landwirtschaftsakademien. A la réserve des sociétés brigandes, ennemies des autres sociétés, l’agriculture les réunit toutes; et sans l’agriculture les autres sociétés
ne peuvent former que des nations imparfaites. Il n’y a donc que les nations agricoles qui puissent constituer des empires fixes et durables, susceptibles d’un gouvernement général, invariable, exactement
à l’ordre immuable des lois naturelles: or, c’est alors l’agriculture, elle-même, qui forme la base de ces
empires, et qui prescrit et constitue l’ordre de leur gouvernement, parce qu’elle est la source des biens qui
satisfont aux besoins des peuples, et que ses succès ou sa décadence dépendent nécessairement de la forme
du gouver­nement. Quesnay, Despotisme de la Chine, 8. Kapitel, § 12, S. 647.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
333
zum Palast des ört­lichen Mandarins, wo die Kuh zerschlagen, ihrem Bauch viele kleine
Tonkühe als Symbol der Fruchtbarkeit entnommen und an Zuschauer verteilt wurden.
Im Anschluss hielte der Mandarin eine Lobrede auf die Landwirtschaft und den Fleiß
der Bauern. Die Auszeichnung der Bauern durch den Yongzheng-­Kaiser hob Quesnay
in diesem Kontext ebenfalls als bedeutende Maßnahme hervor.453
d. Die Konstruktion des physiokratischen Modells
Es stellt sich nun die Frage, wie die Handlung des chinesischen Monarchen durch die
Physiokraten zu einem neuen Herrschaftsideal bzw. zu einem Modell für den franzö­
sischen König und die Fürsten in Europa stilisiert werden konnte? Da die Physiokraten darauf abzielten, neue Normen für das herrscher­liche Wirken in Frankreich und
in Europa zu fixieren, bot sich ihnen mit dem chinesischen Ritual eine standardisierte,
normierte und inszenierte Handlungssequenz eines Monarchen, die eine fürst­liche
Funktion implizierte und Pf­lichterfüllung kommunizierte, die insbesondere in Frankreich vernachlässigt worden war. Die Rolle des chinesischen Monarchen konnte als
„Steinbruch“ und Legitimation für ein neues Konzept der Herrschaftsauffassung und
herrscher­lichen Repräsentation genutzt werden, um denk- und handlungsanleitend
Reformen anzuregen. Der pflügende chinesische Monarch avancierte also zum Vorbild
oder sogar zum Modell für die Physiokraten. Das Motiv des pflügenden Monarchen
fasste die gesamte Vorstellung des segensreichen herrscher­lichen Wirkens zusammen
und eignete sich somit dafür. Doch wie konnte ein Motiv zu einem Modell avancieren?
Wie bereits im Kapitel zu Johann Heinrich Gottlob Justi und dem deutschen Kameralismus angesprochen wurde, hatte die Idee des Modells Mitte des 18. Jahrhunderts
in David Humes Gedanken zu den Assoziationsgesetzen in seinen Philosophical essays
concerning human understanding aus dem Jahr 1748454 eine theoretische Basis gefunden.
Hume war den Physiokraten kein Unbekannter, stand er doch sogar zu einigen von
ihnen in direktem brief­l ichen Kontakt.455 Quesnay und andere Physiokraten hatten wie
der Kameralist Justi eine gedank­liche Verbindung vom europäischen zum chinesischen
Staats- und Regierungssystem bzw. zur Funktion des Herrschers hergestellt. Hinsicht­lich
der Funktion des Kaisers als Förderer oder Schirmherr der Landwirtschaft, die durch
das Pflugritual ausgedrückt wurde, hatten sie gezielt durch Überbetonung positiver
453 Ibd. 2. Kapitel, § 9, S. 602. Vgl. dazu das Kapitel zu den chinesischen Riten in dieser Arbeit und die
Rolle des Festes in den Reiseberichten.
454Hume, Philosophical essays concerning human understanding. Jean-Bernard Mérian hatte eine
französische Übersetzung angefertigt, die 1758 unter dem Titel Essays philosophiques erschien.
Hume war zwar nicht der Erste, der auf die Assoziationsgesetze Bezug nahm, nur hatte aus seiner
Sicht bisher noch kein Philosoph versucht […] to enumerate or class all the principles of association;
a subject, however, that seems worthy of curiosity. Ibd. S. 24.
455 Gerteis, Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik, S. 88. Fox-Genovese, The Origins of Physiocracy, S. 86, S. 94 – 104.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
334
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Inhalte aus den Reiseberichten und Geschichtswerken eine eigene, ihren Vorstellungen
von der fürst­lichen Förderung der Landwirtschaft und des Bauernstandes gemäße Wirk­
lichkeit in China konstruiert. Dies erfolgte unter weitgehender Auslassung negativer
Inhalte hinsicht­lich des Zustandes der Landwirtschaft in China. Dabei ging es ihnen
vor allem um die Betonung bestimmter Einzelheiten in der Darstellung des Pflugrituals, die rezipierbar bzw. übertragbar waren: etwa die einzelnen Bestandteile des Aktes,
die anwesende oder teilnehmende Öffent­lichkeit sowie die Tradition der kaiser­lichen
Handlungen. Auch in der selektiven Auswahl und verkürzten Darstellung gingen sie in
Anlehnung an Hume in der Konstruktion ihres Modells ähn­lich wie Justi vor.
Nicht übertragbar war hingegen die religiöse Komponente des Rituals. Es musste
stattdessen entsakralisiert und für den französischen Kontext gedeutet bzw. mit einem
ihren Zielen gemäßen Sinn versehen werden. Dafür hatten die Reiseberichte mit ihrer
Fokussierung auf die gemeinschaftsstiftende bzw. soziale und ökonomische Komponente
bereits eine gute Vorlage geschaffen. Assoziativ griffen die Physiokraten diese Deutung
auf und integrierten sie in ihre Lehre. Nach Humes erkenntnistheoretischem Konzept
kam es nach der Assoziation
•• zur Erstellung eines Planes,
•• zum Fassen von Vorsätzen und
•• zur Verfolgung des Ziels.
Das Ziel von Quesnay und seinen Kollegen bestand in der Erstellung eines neuen Herrschaftskonzepts, eines Gegenentwurfs zur eigenen Realität. Dieses Konzept enthielt eine
Erweiterung der Funktion des Monarchen um die eines ersten Landmannes des Staates.
Entsprechend den zeitgenössischen Anforderungen an Konzepte, bei denen biblische oder
antike Vorbilder immer stärker gegenüber Beispielen aus der eigenen oder fremdem Gegenwart oder der jüngeren Vergangenheit in den Hintergrund traten, repräsentierte China eine
reale, komplexe und weit entwickelte Erfahrungswelt. Sein Herrschaftsmodell erschien durch
die Reiseberichte überprüfbar und bestach vor allem durch seine Ähn­lichkeit, die berührte
und als letzte Modellierungsstufe das Handeln im Sinne einer Nachahmung initiierte.456
Doch wie war Nachahmung zu erreichen? Dass eine Theorie – von effizienter Landwirtschaft mit einem geachteten Bauernstand – offensicht­lich ebenfalls in der Praxis
funktionierte, wenn auch in einem vollkommen anderen kulturellen Kontext, der aber
laut Vico gleiche Wurzeln zum eigenen europäischen aufwies, war ein Hinweis auf
die Praxistaug­lichkeit der physiokratischen Theorie. Was zum Zeitpunkt der Thema­
tisierung des Pflugrituals durch die Physiokraten nicht gegeben war, war der im Transfer des Motivs aus der einen in die andere Kultur angelegte analoge Stellenwert 457
landwirtschaft­licher Betätigung eines Herrschers. Er stellte in Frankreich und im Europa
456 Müller, Zur Geschichte des Modellbegriffs und des Modelldenkens, S. 218.
457 Werner, Dissymmetrien und symmetrische Modellbildungen, S. 87.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
335
des 18. Jahrhunderts ein Desiderat dar. Landbau gehörte nicht – oder nicht mehr – in
den Kanon der Repräsentation von Amtspf­lichten eines europäischen Monarchen.458
Es war deshalb das erklärte Ziel der physiokratischen Strömung, die Regierenden von
der Verhaltens- und (eingeschränkten, weil säkularisierten) Funktionsanalogie zu überzeugen. Sie konnten dabei an die antike europäische Tradition anknüpfen und so den
analogen Stellen­wert der zu transferierenden Gegenstände herstellen.
Eine Ergänzung und Bestätigung fand das antike, zwischenzeit­lich vernachlässigte
und im 18. Jahrhundert neu belebte Bild vom Staatsmann und Bauern durch das Ritual
des pflügenden chinesischen Kaisers. Die Tätigkeit des pflügenden asiatischen Monarchen wies nicht nur eine hohe Kompatibilität mit der eigenen europäischen antiken und
zeitgenössisch gewünschten bzw. für notwendig erachteten Herrschaftsauffassung auf,
das Ritual erwies sich darüber hinaus auch als geeignet, diese Auffassungen sichtbar zu
kommunizieren, zu stützen oder sogar zu erweitern. Mit der Reduzierung des Rituals
zu einem Motiv setzten die Physiokraten auf ein wirkungsästhetisches Konzept, dem sie
ein hohes Potential für die imitatio zuschrieben. Um die imitatio als Erfolg des Motivs
zu erreichen, hatten sie bestimmte Kriterien an das Motiv gerichtet, die sich stark an
den zeitgenössischen Anforderungen der Bildpraxis orientierten. Jean-Baptiste Dubos
(1670 – 1742) ging in seinen Réflexions critiques sur la poésie et sur la peinture aus dem
Jahr 1719 vor allem davon aus, dass zuerst der Gegenstand der Darstellung eine erheb­
liche Wirkung auf den Betrachter haben müsse, um eine Reaktion beim Betrachter hervorzurufen und ihn zu überzeugen. Die Darstellung eines Bauern, der seine Kuhherde
nach Hause treibe, erschien Dubos deshalb als Bildmotiv vollkommen ungeeignet, da
es eine alltäg­liche Handlung und für niemanden von Interesse sei. Im Fokus müsse
vielmehr das Besondere stehen, dessen Wirkung Erstaunen hervorrufe und Anreize
zur Nachahmung biete.459 Vor dieser theoretischen Forderung an ein Bild konnte das
Motiv des pflügenden Kaisers bestens bestehen, verband es doch zwei ungewöhn­liche
Sphären miteinander: die der Herrschaft und die der bäuer­lichen Arbeit. Zugleich
warnte Dubos vor unbekannten Symbolen oder Allegorien, die aus seiner Sicht beim
Betrachter ledig­lich Unverständnis hervorrufen würden. Vielmehr müsse mit bekannten
Attributen gearbeitet werden, um dem Betrachter den Inhalt konkret zu vermitteln und
keine Rätsel aufzugeben.460 Diese Forderung wurde mit dem gewählten Motiv leicht
erfüllt, denn die Funktion des Pflügens als wesent­licher Teil der Feldarbeit konnte beim
Betrachter als bekannt vorausgesetzt werden und vermittelte ihm zugleich die Vico’sche
Sicht kulturübergreifender Bedeutung. Das Motiv des pflügenden Kaisers transportierte anders als Literatur, welche nach Dubos der willkür­lichen Zeichen der Schrift
458 Vgl. das Kapitel zu antiken und mittelalter­lichen Traditionen der Verflechtung von Herrschaft und
Landwirtschaft in dieser Arbeit.
459 Dubos, Jean-Baptiste: Réflexions critiques sur la poesie et sur la peinture. Paris 1719 (Reprint Genf
1982). S. 68.
4 60 Ibd. S. 190 – 222.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
336
Der chinesische Kaiser als Vorbild
bedürfe, über das Sehen signes naturels, natür­liche Zeichen. Der Zugang zu diesen sei
leichter, erreiche aber nicht die Komplexität der Schrift. Die Vermittlung von Inhalten durch visuelle Kunst war somit aus Sicht Dubos – in Anlehnung an John Locke –
begrenzt, oberfläch­lich aber erfolgversprechender.461 Die Physiokraten nahmen somit
in ihrer Vermittlungsstrategie mög­liche Rezipienten(-gruppen) wie den Monarchen,
aber auch den Adel und nicht zuletzt auch die einfachen Bauern und ihre unterschied­
lichen Wahrnehmungskonventionen in den Blick. Sie zielten mit ihrem Motiv bzw.
der Visualisierungsstrategie ihres Modells jedoch nicht auf die genannten Betrachter
und Öffent­lichkeit(en) als ästhetische Urteilsinstanz wie etwa bei Kunstgegenständen,
sondern als Adressaten ihrer Botschaft.462
Mit der besonderen Hervorhebung des Kaisers am Pflug aus dem chinesischen
Ritual entstand ein vereinfachtes und zugleich äußerst prägnantes Motiv, das kompakt
und leicht verständ­lich das Modell bzw. die von den Physiokraten konzipierte theoretische Erweiterung des Ideals vom Monarchen um eine zusätz­liche Herrschaftsvorstellung als erstem Landwirt zusammenfasste. Im Motiv des pflügenden Monarchen
offenbarten sich wesent­liche Forderungen der Physiokraten wie etwa die Unterwerfung des Herrschers unter die Gesetzmäßigkeiten der Natur und die Akzeptanz ihrer
Herrschaft. Im Pflügen des Monarchen zeigte sich symbolisch auch das Tun ohne zu
tun des Wu-wei-Konzepts. Die begrenzte Aktivität des Menschen wird beim Pflügen
und Säen sowie dem anschließenden Warten auf die Ernte offenbar. Deut­lich ist die
dem Menschen aufgenötigte Passivität und die der Natur gestattete Zeit der Aktion.463
Ebenso deut­lich zeigte das Motiv auch eine andere wesent­liche Eigenschaft des neuen
Herrschaftsmodells der Physiokraten: die Aktion des Herrschers zur richtigen Zeit, zur
rechten Zeit aktiv zu wirken. Ohne die herrscher­liche Initiative, ohne sein Vorangehen,
ohne sein Vorbild oder seine Gesetze, die im Einklang mit der Natur den Rahmen für
den erhofften Agrarstaat und eine in Arbeit vereinte Gesellschaft schufen, änderte sich
der bestehende Zustand nicht. Die Physiokraten hatten im Pflugritual der chinesischen
Kaiser ein geeignetes Vorbild und eine passende Metapher für ihre Auffassung von
der Agrarpolitik als ureigenstem Feld eines Monarchen gefunden und es als wichtigen
Bestandteil ihrer Propaganda genutzt. Und diese zeigte Erfolg.
e. Vom Erfolg der physiokratischen Vermittlungsstrategie – Le roi paysan
Dass die Auseinandersetzung mit den Vorstellungen der Physiokraten und einer erweiterten Herrschaftsauffassung offenbar im Königshaus über einen längeren Zeitraum
4 61 Ibd. S. 414 – 416. Locke, John: An essay concerning human understanding. Hg. v. Peter H. Nidditch,
Oxford 1975. 3. Buch, Kap. XI, § 21, S. 519. Kernbauer, Eva: Der Platz des Publikums. Kunst und
Öffent­lichkeit im 18. Jahrhundert. (Diss.) Trier 2007. S. 103ff.
4 62 Zur Rolle des Publikums Fort, Bernadette: Théorie du public et critique d’art. In: Studies on Voltaire
and the Eighteenth Century 265 (1989). S. 1485 – 1488. Kernbauer, Platz des Publikums, S. 89ff.
4 63 Priddat, Le concert universel, S. 113.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
337
akzeptiert wurde und der Einfluss der économistes – sei es über den persön­lichen Kontakt
oder über ihre Schriften – bestehen blieb, beweist das zunehmende Interesse des Königs
Ludwig XV. und seines Sohnes, Louis Ferdinand (1729 – 1765) an der Landwirtschaft
sowie das eigenhändige Pflügen des jungen Dauphin und künftigen Königs Ludwig XVI.
In der bisherigen Forschung wurde darauf verwiesen, dass es Quesnay als Leibarzt
von Madame de Pompadour gelungen sei, König Ludwig XV. im Frühling des Jahres
1756 dazu zu überreden, selbst einen Pflug in die Hand zu nehmen und zu führen. Der
König habe „persön­lich die Feldbestellung eröffnet“ bzw. nach Willy Richard Berger
gepflügt, um „so die jähr­liche Frühjahrsaussaat einzuleiten.“464 Ludwig XV. habe sich
allerdings geweigert, daraus einen größeren Akt zu machen, war doch das Pflügen eines
Herrschers weder in den Pf­lichten des Monarchen noch in der symbolischen Kommunikation seiner Funktionen verankert. Für eine solche Handlung im Sinne einer Eröffnung der saisonalen landwirtschaft­lichen Tätigkeiten durch den König gibt es jedoch
keinen Quellenbeleg. Zudem waren landwirtschaft­liche Tätigkeiten im Jahreszyklus eng
an katholische Feiertage und die damit einhergehende Heiligenverehrung gebunden.
Somit war es vor allem die Kirche, die durch vielfältige Formen von Segen und Fürbitten
die jahreszeit­lichen Aussaat- und Erntearbeiten begleitete und ideell auch leitete.465 Die
Eröffnung der landwirtschaft­lichen Arbeitssaison fiel damit zunächst traditionell gar
nicht in das Wirkungsressort des Monarchen. Dennoch ist nicht auszuschließen, dass
es im Einzelfall in seinem Beisein oder durch seine Mitwirkung geschehen sein mag.
Ein Indiz für eine solche Mög­lichkeit bieten immerhin die weit verbreiteten Präsentationen der Ernten durch Bauern und Pächter gegenüber Gutsherren oder gegenüber
der Obrigkeit, die nicht selten auch in gemeinsamen Fest­lichkeiten in den Dörfern
mündeten. Sie führten zu einer feier­lichen und oft fröh­lichen Vergemeinschaftung von
den Personen, die das Land zur Verfügung gestellt hatten, mit denjenigen, die es erfolgreich mit Gottes Hilfe bebaut hatten.466 Auch fürst­liche bzw. höfische Erntedankfeste
4 64 Budde, Europa und die Kaiser von China, S. 304. Haushofer, Das kaiser­liche Pflügen, S. 174f. ­Berger,
China-Bild und China-Mode, S. 81. Die gleiche Information findet sich auch bei Reichwein, China
und Europa, S. 115. Guy, The French Image of China, S. 346f. Auch Stähler, Der Herrscher als Pflüger und Säer, S. 14.
4 65 Vgl. das Kapitel zur Entflechtung von Herrschaft und Landwirtschaft im Mittelalter in dieser Arbeit.
4 66 Hinsicht­lich der Erntefeste mit Gutsherren oder der Obrigkeit besteht eine erheb­liche Forschungslücke. Sie zu schließen, sprengt den Rahmen dieser Arbeit. Nur ansatzweise kann hier ein kurzer
Überblick gegeben werden. Zu den „welt­lichen Erntefesten“ schrieb Carstens in seiner Betrachtung für deutsche Territorien 1755: Zu den großen jähr­lichen Begebenheiten in der Natur, wovon
die Erhaltung und zeit­liche Wohlfahrt des ganzen mensch­lichen Geschlechts abhängt, gehöret ohne
Streit die jähr­liche Ernte. Betrübter Zustand einer Gegend, wenn sie nur in einem Jahre sehr mißlinget. Sowohl der Landmann als die Bewohner der Städte haben gleiche Ursache, jähr­lich zu wünschen,
daß Freude in der Ernte sey, da beyder Wohlstand darauf beruhet. Man gönnets denen, die bey Einsammlung der Feldfrüchte vielen Schweiß vergießen müssen, gerne, wenn sie dabey so glück­lich sind,
daß sie nicht allein während solcher saurer Arbeit mit Speise und Trank gut verpfleget und gestärkt
werden, sondern wenn ihnen auch, nach geendigter Ernte von den Herrschaften zum Zeichen der
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
338
Der chinesische Kaiser als Vorbild
in den Hofkirchen setzten ein Zeichen der Dankbarkeit für die Erträge am Ende des
landwirtschaft­lichen Jahreszyklus. Ob jedoch jähr­liche Gottesdienste zum Erntedank
in der könig­lichen Kapelle in Versailles stattgefunden haben, bleibt unklar. Es finden
sich zum Erntedank weder Berichte noch bild­liche Darstellungen wie beispielsweise
von Gottesdiensten zu Trauungen und Taufen von Mitgliedern der könig­lichen Familie
oder zu ranghohen Kirchenfesten.467
Statt der Eröffnung der landwirtschaft­lichen Saison durch Ludwig XV. wurde in
der zeitgenössischen landwirtschaft­lichen Fachliteratur ledig­lich die Tatsache betont,
der König habe zu seinem Vergnügen im Trianon einen Pflug stehen und es nicht verachtet, ihn auch zur Hand zu nehmen. Darüber hinaus wurde der Leser 1761 im Lehrbuch Le Gentilhomme Cultivateur ou Corps Complet d’Agriculture von Jean-­Baptiste
Dupuy-Demportes (?-1770)468 informiert, was Madame de Pompadour in ihrer Biblio­
thek stehen hatte:469 On sçait que le Roi a une charrue à Trianon, & qu’il en fait son
amusement, ne dédaignant pas d’y mettre lui-même la main.470 Ein paar Seiten weiter
verwies Dupuy-Demportes auf den chinesischen Kaiser und das Pflugritual und stellte
Erkennt­lichkeit und des Wohlgefallens, eine besondere Ergötz­lichkeit verwilliget und ausgerichtet
wird. Wir wollen die Haltung eines welt­lichen Erntefestes hier unangefochten lassen […]. Carstens,
A. P. L.: Vom gottesdienst­lichen christ­lichen Erntefeste. Zum Michaelistage 1755. In: Nütz­liche
Samlungen [sic!] 78 (1755). S. 1233 – 1248. Hier S. 1242. Carstens berichtet zudem über die Ernte­
bräuche der Israeliten. S. 1243. Dem Gutsherren wurde dabei auch oft eine Erntekrone aus Stroh
überreicht und auf dem Feld eine Erntepuppe als „Opfergabe“ aufgestellt. Art. „Erntedankfest“. In:
Becker-Huberti, Manfred: Lexikon der Bräuche und Feste. Freiburg/Basel/Wien 2000. S. 85f. Zu
kurzzeitigen belustigenden ständischen Positionswechseln kam es zuweilen während des Karnevals
an Höfen, wenn Adlige oder Fürsten als Bauern verkleidet auftraten. Auch Bauernaufzüge mit der
Darstellung bäurischer Arbeiten waren zu Sommerfesten an Höfen beliebt. Sieber, Friedrich: Volk
und volkstüm­liche Motivik im Festwerk des Barocks (Veröffent­lichungen des Instituts für Deutsche Volkskunde, Bd. 21). Berlin 1960. S. 27ff.
4 67 Zu den fest­lichen Gottesdiensten im Jahreszyklus in der Versailler Hofkappelle vgl. Maral, Alexandre:
La Chapelle Royale de Versailles sous Louis XIV. Cérémonial, liturgie et musique (Etudes du
­Centre de Musique Baroque de Versailles, Bd. 4). Sprimont 2002. S. 99ff. Erntedankgottesdienste
werden nicht erwähnt. Auf den Dörfern waren laut Madame de Sévigné vor Christi Himmelfahrt
so genannte rogationes (Bitttage) üb­lich, um die Heiligen um gute Ernten zu bitten. Sévigné, Marie
de Rabutin Chantal, marquise de: Correspondance. 3 Bde. Paris 1972 – 1978. Hier Bd. 1. S. 46.
4 68 Die Biografie und das Werk des Autors sind kaum erforscht. Höfer, Ferdinand (Hg.): Nouvelle
biographie générale. Bd. 15. Paris 1866. Sp. 383.
4 69 Ein Eintrag im Bücherverzeichnis, das nach ihrem Tod angefertigt wurde, verweist auf den Titel:
Anonymus, Catalogue des livres de la bibliothéque de Madame la Marquise de Pompadour, S. 30,
Nr. 314.
470 Dupuy-Demportes, Jean-Baptiste: Le Gentilhomme Cultivateur ou Corps Complet d’Agriculture.
Bd. 1. Paris 1761. S. IV, FN 4. Un Monarque, plus père de ses Sujets que leur Roi, sans cesse occupé de
leur soulagement, comme il le proteste tous les jours sur la foi sacrée, & qui fait son délassement de ce
qui fait leur occupation. Ibd. Zur Herkunft und zum Verbleib des Pfluges konnten keine Informationen gefunden werden. Ob Ludwig XV. ein eigenes Ackergerät gebaut wurde oder ob ihm eines
von Bauern ausgeliehen wurde, bleibt unbekannt.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
339
damit offensicht­lich einen engen Zusammenhang zwischen dem chinesischen Vorbild
und der Aufgeschlossenheit Ludwigs XV. her, ein solches landwirtschaft­liches Gerät
zu besitzen und auszuprobieren.471 Parallel nannte er die antiken Größen wie ­Romulus,
Cincinnatus und Alexander den Großen, denen die Landwirtschaft gleichermaßen
wie dem chinesischen Kaiser als Grundlage ihrer Herrschaft am Herzen gelegen habe.
Auch auf die eigene dynastische Tradition landwirtschaftsfördernder Herrscher aus
dem Hause der Bourbonen machte Dupuy-Demportes mit Heinrich IV. und seinem
Minister Sully aufmerksam.472 Umso bedauer­licher war für ihn der Schluss, dass König
Ludwig XIV. und Colbert ihre Aufmerksamkeit nur noch auf die Luxusgüter gerichtet
hätten, ebenso wie in der zeitgenössischen Gegenwart der Ackerbau stark vernachlässigt werde.473 Insofern sei es gut, dass die Franzosen wie kaum ein anderes Volk Beispielen folge, was ihnen von ranghohen Personen vorgeben werde: Le plus efficace moyen
d’encourager l’Agriculture seroit donc de ramener les Grands d’un préjugé qui traverse si
sensiblement ses progrès. Seroit-il donc impossible de les déterminer à rendre les hommages
qu’ils doivent à ce premier des Arts?474 Dem Vorbild der Herrscher und Großen des Landes sprach Dupuy-Demportes die altbekannte erzieherische und prägende Wirkung zu,
die Untertanen richtungsweisend und handlungsmotivierend anleiten könne. Stellten
4 71 Dupuy-Demportes, Le Gentilhomme Cultivateur, Bd. 1, S. 2f.
472 Sully, ce vrai modèle de grands Ministre, établit toute son Administration sur l’encouragement de
l’Agriculture. Qu’on vante tant qu’on voudra le Ministre de Richelieu & de Colbert, qu’on les compare
avec le premier, on verra, pour peu qu’on posses le Code de l’Administration, l’extrême différence qui est
entre eux. Ibd. S. III. Zu Sullys Güterverwaltung vgl. Aristide, Isabelle: La fortune de Sully. Paris 1990.
Zu Heinrich IV. und Sullys Wirken Buisseret, David/Barbiche, Bernard (Hg.): Les oeconomies
royales de Sully. 2 Bde. (Publications de la Société de l’Histoire de France, Bd. 476/499). Paris
1970/1988. Zur Verehrung von Sully während der Regierungszeiten von Ludwig XV. und Ludwig XVI. durch panegyrische Gedichte, Gemälde und Skulpturen bzw. zu seiner Stilisierung als
politisches Vorbild durch die Physiokraten vgl. Avezou, Laurent: Sully à travers l’Histoire. Les avatars
d’un Mythe politique (Société de l’École des Chartes, Mémoires et documents, Bd. 58). Paris 2001.
S. 241ff. Abbé Baudeau verfasste einen historischen Rückblick auf Sullys Wirken: Baudeau, Nicolas: Principes économiques de Louis XII et du cardinal d’Amboise, de Henri IV et du duc de Sully
sur l’administration des finances, opposés aux système des docteurs modernes. Paris 1785. Minister
Turgot wurde nach seiner Amtsübernahme als Minister von den Physiokraten als nouveau Sully gefeiert. Grell, Chantal/Michel, Christian: L’École des Princes ou Alexandre disgracié. Paris 1988. S. 81.
473 Tous se sont ressentis de la magnificence de Louis le Grand. Mais où est le laboureur qui attentif à son
état, ait été décoré de quelque marque de distinction? Où est la récompense coulée du trône jusqu’à lui?
Si M. Colbert avoit appuyé les Ordonnances sages qu’il fit donner sur l’Agriculture, du même zèle qu’il
eut pour les Manufactures, nos campagnes négligées ne peindroient plus si énergiquement le deuil qu’elles
portent, & et nous ne gémirions pas du larcin que ce Ministre leur a fait involontairement; les Inspecteurs d’Agriculture au’il auroit créé auroient été aussi favorables aux progrès de cet Art, que ceux qu’il
établit pour l’industrie devoient devenir peu avantageux; celle-ci plus libre produiroit tout l’effet qu’il
s’étoit proposé, & l’une plus instruite & plus encouragée, auroit ajuoté à la force & la solidité de l’autre.
Dupuy-Demportes, Le Gentilhomme Cultivateur, Bd. 1, S. III.
474 Ibd. S. 1.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
340
Der chinesische Kaiser als Vorbild
sie sich an die Spitze einer Idee, folge die Masse leichter. Führte der König den Pflug
selbst, so adelte er den Landbau durch seine Person, stellte ihn gar unter könig­liche
Protektion. Mit dieser Aufmerksamkeit des Königs für die Landwirtschaft musste
es dem Adel leichter fallen, den Hof zu verlassen und seiner Bestimmung gemäß auf
seine Landgüter zurückzukehren. Das erhoffte sich jedenfalls Dupuy-Demportes: On
doit tout espérer d’un Regne qui accorde tout ce qui est juste: bientôt les douceurs de la
paix succèderont aux dévastations de de [sic!] la guerre. Notre père commun, cet auguste
Monarque, n’ayant plus à soutenir des Alliés fidelles, tournera toutes ses vûes sur vous.475
Dem Adel kam traditionell als Inhaber von Grundeigentum eine wichtige Rolle in der
Landwirtschaft zu, die künftig wieder eingenommen werden sollte. An diese Klientel
wandte er sich deshalb mit seinem Werk. Zugleich verwies er im gestochenen ­Frontispiz
seines Buches auf das ideale Zusammenwirken von Mensch und Natur im Ackerbau
(Abb. 17: Frontispiz). Während ein kräftiger, antikisierend gekleideter Bauer den Boden
pflügte und vorbereitete, hielt die personifizierte fruchtbare Natur Ceres von ihrem
Schlangen­wagen aus ihm und allen Betrachtern ihre Bedeutung als Mater Artium et
Nutrix vor Augen.476 Das Frontispiz verwies damit auf die physiokratische Sicht der
Natur als Herrscherin und Leitfaden des Buches. Der könig­liche Besitz eines Pfluges
im Trianon verstärkte die Hoffnungen des Zeitgenossen Dupuy-Demportes auf eine
Protektion der Landwirtschaft durch den König und seine künftige sichtbare Position
an der Spitze des französischen Ackerbaus nach dem Vorbild des chinesischen Kaisers
und zahlreicher anderer Monarchen aus dem antiken oder eigenen dynastischen Kontext.
Zu dieser Hoffnung mag noch ein anderes Ereignis am 8. August 1756 beigetragen
haben: König Ludwig XV . wohnte im Trianon mehreren Experimenten des Botanikers, Agronomen und Directeur de la Monnaie à Troyes Mathieu Tillet (1714 – 1791)
bei, die Krankheiten bei Getreide wie den so genannten Weizenbrand erforschen und
bekämpfen sollten. Die Krankheit trug später seinen Namen: Tilletia. Er hatte dafür
im Garten des Trianon mehrere kleine Versuchsbeete mit verdorbenem bzw. infiziertem und gesundem Saatgut bestückt und dem König die Ergebnisse der Ernte sowie
die Ansteckungsgefahr erläutert. Im Jahr 1755 hatte er für seine Untersuchungen an
unterschied­lichen Getreidesorten bereits den Preis der Akademie der Wissenschaften
in Bordeaux erhalten.477 Die Ergebnisse der Experimente im Trianon veröffent­lichte
475 Ibd. S. 7.
476 Dupuy-Demportes, Frontispice Le Gentilhomme Cultivateur, Bd. 1, o. Pag.
477 Tillet hatte erkannt, dass die schwarze Farbe verdorbener Ähren nicht vom Einfluss des Nebels auf
Korn herrührte, sondern von infiziertem Saatgut ausging. Er schlug zur Behandlung des Saatgutes
Kalk und Salz vor. Auch frühe Beobachtungen zum Rostpilz stammen von Tillet. Diese Krankheit
wurde jedoch erst 1853 vollständig erforscht. Tillet, Mathieu: Dissertation sur la cause qui corrompt
et noircit le bled dans les épis; et sur les moyens de prévenir ces accidens (Prix de l’Académie de
Bordeaux, médaille d’or). Bordeaux/Paris 1755. Im Jahr 1757 war eine deutsche Übersetzung der
Akademie-Publikation Tillet erhält­lich: Tillet, Mathieu: Des Herrn Tillets […] Abhandlung von
der Ursache, woher die Körner des Getreides in den Aehren verderben und schwarz werden, und
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
341
Tillet zeitnah und betonte, dass der König seine Präsentation als würdig genug erachtet habe, um sie mit seiner Anwesenheit zu ehren.478 In der Widmung seiner Arbeit
an den König betonte er die wirtschaft­liche Bedeutung seiner Forschungen sowie den
Wert des Ackerbaus: ce premier fond de nos richesses et la plus précieuse de nos ressources. 479
Zugleich legte er dem König nahe, dass er für seine Entdeckung der Kornkrankheit
nicht nur den Preis der Akademie, sondern auch das Lob der Bauern verdiene, denen
er seine Erkenntnisse widmen wolle. Denn die Bauern seien es, die das Brot mit allen
teilen und deren Tagwerk dem Staat zu Wohlstand verhelfe.480 Für seine agrarischen
Verdienste erhob Ludwig XV. Tillet 1773 als Chevalier in den Ordre de Saint-Michel.481
Von den Experimenten, die im Beisein des Königs und Quesnays stattfanden, berichtete
auch der Physiokrat, Agronom, Mitinitiator und erste Präsident der Sociétés d’Agriculture
und Freund des Finanzministers Bertin, Louis-François-Henri Marquis de Turbilly
(1717 – 1776), in seinem Memoire sur les défrichemens, das 1760 in Paris erschien. Er
wertete die Mög­lichkeit, Experimente und Beobachtungen vor dem König präsentieren
zu dürfen, als eine Ehre, die der Monarch der Landwirtschaft mit seiner Anwesenheit
sichtbar entgegenbrachte. Sie entsprach aus Sicht de Turbillys der gleichen Patronage
und väter­lichen Fürsorge wie in China, wo der Kaiser sie durch eigenhändiges Pflügen
zum Ausdruck bringe: Tout ce que j’ai dit jusqu’à présent ne suffit pas pour le défrichement
des terres incultes du Royaume, il faut encore que le Roi honore ces fortes d’entreprises d’une
protection particuliere; qu’il les favorise, & qu’il témoigne publiquement sçavoir gré à ceux
qui les exécuteront. Aucune Nation ne se portera plus volontiers que celle-ci, à ce qu’elle
sçaura pouvoir plaire à son souverain. Les essays que sa Majesté à fait faire ci-devant, sous
ses yeux dans le Parc de Trianon, sous une marque de son gout pour l’Agriculture, & de son
attention bien-faisante pour ses sujets; il seroit aisé d’en tenter de nouveaux de différentes
478
479
480
481
von denen Mitteln, wodurch man diesen Zufällen zuvorkommen kann. Hamburg 1757. Auch im
Journal économique und im Journal de commerce publizierte Tillet Ergebnisse zu seinen Forschungen. Zu diesen Artikeln in beiden Zeitschriften knapp zusammenfassend Kaplan, Steven L.: Provisioning Paris: Merchants and Millers in the Grain and Flour Trade. Ithaca/London 1984. S. 67f.
Vgl. zum Weizenbrand kurz Börner, Horst/Schlüter, Klaus/Aumann, Jens: Pflanzenkrankheiten
und Pflanzenschutz. Heidelberg 82009. S. 7. Zu Tillets Forschungen Wehnelt, B.: Mathieu Tillet.
Tilletia. Die Geschichte einer Entdeckung. o. O. 1937. S. 55. Zu den theoretischen Vorstellungen
des 18. Jahrhunderts über diese Krankheit ibd. S. 64ff.
Gleich 1756 erschien die Schrift unter dem Titel: Tillet, Mathieu: Précis des expériences qui ont
été faites par ordre du Roi à Trianon, sur la cause de la corruption des bleds et sur les moyens de la
prévenir à la suite duquel est une instruction propre à guider les laboureurs dans la manière dont ils
doivent préparer le grain avant de le semer par. Paris 1756. S. 4. 1787 erschien eine zweite Auflage:
Précis des expériences faites par ordre du roi, à Trianon, sur la cause des la corruptions des blés, Paris
²1787.
Tillet, Précis des expériences qui ont été faites par ordre du Roi à Trianon, Préface, o. Pag.
Ibd. o. Pag.
Ebenfalls kurz zu den Experimenten Tillets im Trianon Antoine, Michel: Louis XV. Paris 2008.
S. 423.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
342
Der chinesische Kaiser als Vorbild
façons, sur des terreins en friches aux environs de Versailles, et des autres Maisons Royales
ou va la Cour. Ces épreuves, en presence du Maître, ne manqueroient point de produire un
très-bon effet quand meme elles ne réussiroient pas toutes. On ne peut trop honorer l’Agriculture; les Peuples qui en fait le plus de cas, ont été les plus florisants. On la prise si fort à
la Chine que chaque année l’Empereur y fait en grande cérémonie, l’ouverture des terres.482
Der Empfang Tillets im Trianon im Sommer des Jahres 1756 kann gleichermaßen
als Auftakt zur Planung eines Botanischen Gartens gewertet werden. Ab 1760 entstand durch den Architekten Ange-Jacques Gabriel (1698 – 1782) das Petit Trianon,
dessen Garten als Ort für Experimente mit Glashäusern ausgestattet wurde. Insbesondere Pflanzen aus allen Erdteilen, aber auch Nutz- und Gemüsepflanzen wurden ab
1760 unter Antoine Richard (1734 – 1807) als Obergärtner kultiviert, beobachtet, und
beschrieben. Reisende, wie Chevalier Etienne-François Turgot (1721 – 1789), der 1765
als Gouverneur aus Guyana zurückgekehrt war,483 oder Abbé Gallois, der 1765 aus China
nach Frankreich heimkehrte, wurden vom König zu Berichten im Trianon empfangen
und übergaben dem neuen Botanischen Garten Samen und Pflanzen. So gelangte über
Gallois ein Mangobaum in die Sammlung des Trianon. Das Trianon als Rückzugsort
des Königs avancierte somit immer stärker zu einem Ort des Wissensaustauschs und
der Sammlung von Wissen zur Landwirtschaft und zur Botanik. Der König ließ sich
in diesen Bereichen bereitwillig und für seine Untertanen wahrnehmbar unterrichten,
denn das Journal de Paris berichtete regelmäßig darüber, wer die Ehre hatte, dem Monarchen neues Wissen zu präsentieren und zu vermitteln.484 Damit war das Trianon unter
482 De Menon Marquis de Turbilly, Louis-François-Henri: Memoire sur les défrichemens. Paris 1760.
S. 294f. Bekannt ist die enge Zusammenarbeit Turbillys mit Bertin. Er gilt als Wegbereiter der
Erschließung und Urbarmachung von neuem Land. Vgl. dazu Weulersse, Le mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 81 und S. 89. Zu Turbilly vgl. Bourde, Agronomie et agronomes en
France au XVIIIe siècle, Bd. 1. S. 242 – 247, Bd. 2, S. 1100ff. Sauvy, Alfred/Hecht, Jacqueline: La
population agricole française au XVIIIe siècle et l’expérience du marquis de Turbilly. In: Population
20ème année 2 (1965). S. 269 – 286.
Erwähnung fanden die Experimente auch bei Pierre Jean-Baptiste Legrand d’Aussy: M. Tillet,
de l’Académie des Sciences, a fait à Trianon, sous les yeux du roi défunt, plusieurs expériences sur les
blés cariés. Il a découvert, avec l’aide du microscope, que ces taches noires qu’on appelle carie, n’étoient
qu’une sorte de moisissure, une espèce de mousse ou de champignon qui s’implante dans le grain, et en
dévore la substance en pénétrant jusqu’au germe qu’il infecte. Le physicien s’est assuré qu’une forte lessive, faite avec des cendres de bois neuf et de la chaux vive, détruisoit cette plante parasite. Il a publié le
résultat de son travail; et son mémoire, imprimé au Louvre, a été envoyé par le gouvernement à tous les
Intendants de Province. Legrand d’Aussy, Pierre Jean-Baptiste: Histoire de la vie privée des Français
depuis l’origine de la nation jusqu’à nos jours. Bd. 1. Paris 1782. S. 31f.
483 Es handelt sich um den Bruder des späteren Finanzministers Anne Robert Jacques Turgot. Eine
umfassende Biografie zu Chevalier Turgot sowie eine Zusammenstellung aller seiner Werke bietet
Morel, Jean Paul: Poivre, Réaumur, et le chevalier Turgot. Paper 2010. S. 61 – 65.
http://pierre-poivre.pagesperso-orange.fr/reaumur-turgot.pdf (gesehen am 10.05.2012).
484 Lamy, Gabriela: Les Jardins de Trianon à Travers la Presse. Les Progrès de la Botanique et de l’Horti­
culture vus par l’Avant-Coureur et le Journal de Paris (1760 – 1792). In: Henry, Christophe/Rabreau,
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
343
Ludwig XV. der Ort, an dem der König seine Kenntnisnahme landwirtschaft­lichen und
botanischen Wissens bzw. sein Interesse daran demonstrierte, zelebrierte und repräsentierte. Für die Wissenschaftler und Reisenden, die zu einem Vortrag oder zu einem
Experiment eingeladen wurden, war der Besuch im Trianon der Beginn der erhofften
Förderung durch die notwendige Verflechtung von Wissenschaft und Regierung. Ludwig XV. unterstrich den Charakter noch zusätz­lich durch das Gemälde Cérès enseignant
l’agriculture à Triptolème, das als Auftragswerk durch den Maler Louis Jean François
Lagrenée (1724 – 1805) geschaffen und 1770 im Speisesaal des Petit Trianon aufgehängt
wurde.485Auch der Förderung des Wissensaustauschs der Experten untereinander zeigte
sich der König durch die Einrichtung des Botanischen Gartens in Paris 1755 und mit der
Unterstützung der Initiativen von Turbilly, Bertin, Etienne-François Turgot und Poivre
1761 zur Gründung der Société Royale d’Agriculture de la Généralité de Paris gewogen.
Schon zuvor, aber auch im Anschluss daran, wurden weitere Landwirtschaftsgesellschaften in unterschied­lichen Städten Frankreichs gegründet.486 Das Engagement des Königs
für die Landwirtschaft rühmte der frühere Ratsherr von Montpellier und Dichter Pierre
Fulcrand de Rosset (1709 – 1788) in seinem Gedicht L’Agriculture, das er 1774 König
Ludwig XV. widmete.487 Im Vorwort heißt es überschwäng­lich: La France vit aussitôt
éclor un grand nombre d’ouvrages sur l’Agriculture; Votre Majesté fit répeter sous ses yeux &
sit Elle-même d’heureuses expériences, Elle ordonna que tous ses Sujets en fussent instruits,
Daniel (Hg.): Le Public et la Politique des Arts au Siècle des Lumières. Célébration du 250 Anniversaire des Arts du Premier Salon de Diderot (Annales du Centre Ledoux, Bd. 8). Paris 2011.
S. 413 – 425. Hier S. 416.
485 Zu den Implikationen des Gemäldes vgl. Kapitel 4.2.4.g).
486 Die landwirtschaft­lichen Gesellschaften Frankreichs verstanden sich als Institutionen der Zentralgewalt. Bertin ging es vor allem um die praktische Verbesserung des Landbaus. Moriceau, JeanMarc: Art. „Sociétés d’Agriculture“. In: Bély, Lucien (Hg.): Dictionnaire de l’Ancien Régime. Paris
²2003. Sp. 1169. Zur Entstehung der Gesellschaften Bourde, Agronomie et Agronomes en France
au XVIII Siècle, Bd. 3, S. 1193ff. Midell, Katharina: Aufklärung und länd­liche Welt: Die Sociétés
d’Agriculture in Frankreich und aufklärerische Ambitionen gegenüber dem Landmann. In: Bödeker,
Hans-Erich/François, Etienne (Hg.): Aufklärung/Lumières und Politik. Zur politischen Kultur der
deutschen und französischen Aufklärung (Deutsch-französische Kulturbibliothek, Bd. 5). Leipzig
1996. S. 375 – 398. Hier S. 379ff. Die französischen Gesellschaften waren jedoch weit weniger als
die deutschen Träger einer Volksaufklärung und gestanden in ihren Schriften und Preisfragen dem
Landmann kaum die Rolle eines Subjektes in der Gesellschaft zu. Ibd. S. 390ff. Turbilly gehörte zu
den Initiatoren der landwirtschaft­lichen Gesellschaften in Tours und in Paris. Er war zudem Mitglied der Ökonomischen Gesellschaft in Bern. Veyret, Patrick M.: Un Gentilhomme cultivateur
novateur: Louis-François-Henri de Menon, Marquis de Turbilly. In: Comptes rendus de l’Academie d’Agriculture de France: Agriculture, Alimentation, Environnement 54 (1968). S. 1263 – 1276.
Hier S. 1271. Zum Publikationsorgan der Gesellschaft in Paris vgl. ab 1785 – 1791 Art. „Mémoires
d’Agriculture“. In: Sgard, Dictionnaire des Journaux, Nr. 871, S. 789f.
487 Aus einem Brief von Anisson-Duperon vom 13. Juni 1780 geht hervor, dass das Gedicht auf Weisung
Bertins in der Imprimerie Royale 1774 gedruckt und dieser aus dem Trésor Royal bezahlt wurde.
Archives nationales, Paris, O1 610, Nr. 397.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
344
Der chinesische Kaiser als Vorbild
l’exemple du Prince a rendu cultivateurs les Citoyens & les Grands du Royaume. […] Les
Sociétés d’Agriculture formées dans les Provinces, sous votre protection, ont excité, instruit
& avidé les cultivateurs. Das dazugehörige Frontispiz des Buches zeigte einen dankbar
zur Sonne weisenden, pflügenden, älteren Landmann, der im Licht ein doppeltes, sich
spiegelndes „L“, das könig­liche Monogramm, für Ludwigs Gunst und Gnade gegenüber
den Bauern und dem Landbau erblickte (Abb. 18: Frontispiz).488
Mit dem Besitz eines Pflugs und dem hin und wieder persön­lich bekundeten Interesse des amtierenden französischen Königs für das Gedeihen des Getreides bzw. an der
Landwirtschaft hatte sich auch Voltaires Hoffnung, die er im Zusammenhang mit einer
ausführ­lichen Schilderung des kaiser­lichen Pflügens in China in seinem Artikel Agriculture im Dictionnaire Philosophique geäußert hatte, zumindest ansatzweise erfüllt: Que
doivent faire nos Souverains d’Europe en apprenant de tels examples? Admirer et rougir,
mais surtout imiter.489 Doch mit Ludwigs XV. Freude am Pflug im Garten des Trianon
und seiner Einladung Tillets war längst noch kein neues und dauerhaftes Bewusstsein
in die Herrschaftsauffassung und politischen Leitlinien des Monarchen gedrungen, das
sich in einem kontinuier­lich wahrnehmbaren Engagement im Rahmen von Gesetzgebung, Initiativen zur Hebung des Bauerntums oder der nachhaltigen Unterstützung des
Ackerbaus hätte zeigen können. Der Besitz des Pfluges implizierte längst noch nicht die
von Voltaire angesprochene und erhoffte Imitation des umfassenden herrscher­lichen
Wirkens der chinesischen Potentaten im Bereich des Landbaus durch die europäischen
Herrscher. Der französische König erschien noch weit davon entfernt, wenn auch
ansatzweise auf einem guten Weg. Auch das überbordende Lob Rossets für das bisher
Erreichte und die erlangte Protektion Ludwigs XV. liest sich gleichfalls als Ermahnung
gegenüber dem König, mit dem gezeigten Engagement fortzufahren, um die noch
bestehenden Defizite zu beheben. Es bedurfte somit einer fortgesetzten Vermittlung der
physiokratischen Inhalte, um eine nachhaltige Wirkung im Herrscherhaus zu erzielen.
Eine interessierte Hinwendung zur Landwirtschaft zeigte auch die nächste ­Generation
der Herrscherfamilie. In einer Gedenkrede, die am 20. Dezember 1779, dem 14. Todestag
des verstorbenen Dauphin Louis Ferdinand (1729 – 1765) gehalten wurde, beklagte der
Verfasser Abbé Edmond Cordier de Saint-Firmin den Verlust des Prinzen und rühmte
die große Liebe des französischen Thronfolgers zur Landwirtschaft.490 Er schrieb: O sou488 Rosset, Pierre Fulcrand de: L’agriculture, poème. Paris ²1774. S. 6 (1. Aufl. auch 1774). Ludwig XV.
hatte zuvor sein Einverständnis für eine Widmung gegeben.
489 Voltaire, Art. „Agriculture“. In: Ders.: Dictionnaire Philosophique (Œuvres complètes de Voltaire,
Bd. 17). Paris 1878. S. 88. Voltaires Schilderung des kaiser­lichen Pflugrituals in China unter der Zwischenüberschrift De la grande protection due à l’agriculture folgte passagenweise exakt Cyr Contancins Bericht an seinen Ordensbruder Étienne Souciet in Paris vom 15. Dezember 1727, der in den
Lettres édifiantes et curieuses publiziert worden war. Voltaire nannte seine Quelle nicht, hatte aber
die Passagen in Anführungszeichen gesetzt. Ibd. S. 87f.
490 Cordier de Saint-Firmin, Edmond: Éloge du dauphin, père de Louis XVI, par M. l’abbé Cordier
de Saint-Firmin, prononcé le 20 décembre 1779. Bruxelles/Paris 1780.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
345
pirs honorables pour la mémoire du Dauphin, que ceux des habitans de la campagne, qui
avaient compté sur la protection de ce Prince, en abandonnant leurs foyers à l’usurpateur qui
les en avait expulsés, & qui disputant à des barbares les dernieres gerbes destinées a ensemencer leurs terres, les avaient laissées incultes! Il n’est donc plus, s’écriaient-ils, ce bon Dauphin,
qui arrosa de ses sueurs les sillons qu’avait tracés la charrue qu’il voulut conduire lui-même!
Comme il aimait l’agriculture! comme il respectait nos héritages! Il n’est aucun de nous qui
eût à se lamenter, en visitant sa vigne ou son champ, qui s’était rencontré sur le chemin de ce
Prince.491 Den Ausführungen von Cordier de Saint-Firmin ist zu entnehmen, dass der Sohn
Ludwigs XV. auf eigenen Feldern und Weingütern einer landwirtschaft­lichen Betätigung
und sogar dem eigenhändigen Ziehen von Furchen mit dem Pflug nachgegangen war. Die
Rede betonte, dass diese Arbeiten aus eigenem Antrieb des Prinzen geschahen. In einer
Memorialrede ist immer auch eine Anlehnung an christ­liche Metaphorik zu erwarten.
Im Fall des verstorbenen Thronfolgers konnte mit der erwähnten Neigung zum Landbau auch eine weitere metaphorische Aussage zum fruchtbaren Wirken des Prinzen auf
der Erde und seinen hinterlassenen Spuren im Weinberg Christi verbunden werden. Da
sich aber darüber hinaus auch andere Quellen zum Lob von ackerbau­lichen Arbeiten des
Prinzen gefunden haben, kann die Aussage der Memorialrede durchaus als Hinweis auf
sein Interesse an der Landwirtschaft interpretiert werden.492 So wurde beispielsweise die
undatierte Denkschrift eines Monsieur de Malassise zur Verbesserung der Landwirtschaft
in Frankreich an M. Le Dauphin de France gerichtet. Die Denkschrift unterstrich in der
Einleitung das landwirtschaft­liche Fachwissen und die eigenen Feldarbeiten des künftigen
Königs.493 Der Fachmann richtete seine Vorschläge also an den könig­lichen Experten. Die
eigene landwirtschaft­liche Tätigkeit des Kronprinzen gehörte ganz offensicht­lich zu den
wesent­lichen Aspekten seiner Person und seines Wirkens im Leben, die den Zeitgenossen
hinreichend vertraut und bedeutsam erschienen war, so dass darauf selbst nach 14 Jahren
in der Gedenkrede leicht darauf verwiesen werden konnte. Die Memorialrede bietet somit
einen wichtigen Hinweis auf eine mög­liche Kontinuität erster Erfahrungen mit eigenhändiger bäuer­licher Arbeit in drei Generationen im Haus Bourbon.494
491 Ibd. S. 37f.
492 Ein Bericht über den Tod und die Bestattung von Louis Ferdinand findet sich in den Archives
nationales unter der Signatur O1 1044, Nr. 93. Er ergab jedoch keine weiteren Hinweise auf ein
exponiertes Interesse des verstorbenen Kronprinzen.
Andere Gedenkreden, die im Land und am Hof im unmittelbaren Zusammenhang mit dem Tod
des Dauphin gehalten wurden, bieten keine weiteren Anhaltspunkte zur landwirtschaft­lichen Betätigung des Kronprinzen. Zwar wird die Sorge des Dauphin um seine zukünftigen Untertanen gepriesen, der Ackerbau spielte hingegen keine Rolle. So beispielsweise Caveirac: Christ­liche Lobrede auf
Seine König­liche Hoheit, Ludwig, den verstorbenen Kronprinzen von Frankreich. Augsburg 1767.
493 Archives nationales, Paris, M 784, Nr. 10,2: A M. Le Dauphin de France, undatiert, um 1758?
494 Inwieweit Louis Ferdinand vom Kreis der Physiokraten beeinflusst war, ist unklar. Zu Madame de
Pompadour besaß er ein schlechtes Verhältnis. Kontakte zu Physiokraten konnten nicht nachgewiesen werden.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
346
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Eine Bestätigung der Inhalte der Memorialrede findet sich auch in der im Jahr 1777
von Liévin-Bonaventure Proyart (1743 – 1808) vor Ludwig XVI. präsentierten und im
gleichen Jahr publizierten Lebensbeschreibung des verstorbenen Kronprinzen unter
dem Titel Vie du Dauphin, père de Louis XVI . Proyart schilderte eindrück­lich die
große Begeisterung Louis Ferdinands für die Landwirtschaft und die Bauern: Zudem
habe er bei der Jagd immer darauf geachtet, niemals ein Feld zu zerstören: L’Agriculture
parut au Dauphin un objet digne de toute son attention. Il protégea, en plusieurs occasions,
ces Sociétés qui ont travaillé avec tant de succès à perfectionner cet art, la source des vraies
richesses d’un Etat. Il reçut leurs mémoires, & les lut avec plaisir. Il appelle les Laboureurs,
« une classe d’hommes utile & précieuse à la société. Il faut, dit-il, que les Laboureurs, sans
être riches, soient dans un état d’aisance, & ne craignent point, en rentrant des champs au
logis, de trouver les Huissiers a leurs portes: prétendre s’enrichir en les dépouillant, c’est tuer
la poule qui pond des œufs d’or ». Comme on lui représentoit que ses revenus étoient trop
bornés, & qu’à son âge, le Dauphin, fils de Louis XIV, avoit cinquante mille francs par mois
pour sa cassette: « il ne me seroit pas difficile, répondit-il, d’obtenir du Roi la même somme:
mais comme je ne la recevrois que pour la donner, j’aime mieux que le pauvre Laboureur
en profite, & qu’elle soit retranchée sur ses tailles ».
Il avoit coutume de dire qu’il étoit plus jaloux d’être aimé des Paysans que des Courtisans. Quelquefois, pendant les voyages du Roi, il prenoit plaisir à se faire raconter ce que
disoient de lui les habitans des campagnes: on lui rapportoit un jour qu’un Laboureur
Picard après s’être expliqué fort cavaliérement sur le compte de quelques Seigneurs de la
Cour, avait ajouté qu’il aimeroit toujours M. le Dauphin, parce que à la chasse il n’entroit
point dans les terre encore couvertes de leurs moissons. « N’admirez-vous pas ces bonnes
gens, dit alors le Dauphin à l’Abbé de Saint-Cyr, ils nous aiment parce que nous ne leurs
faisons point de mal; & des Courtisans rassasiés de nos bienfaits, n’ont pour nous que de
l’indifférence ». Aucun Laboureur en effet n’eut jamais à se plaindre que ce Prince eût causé
le moindre dommage dans son champ. Un jour qu’il chassoit avec le Roi dans les environs
de Compiegne, son cocher vouloit traverser une piece de terre dont la moisson n’étoit pas
encore levée; s’en étant aperçu, il lui cria de rentrer dans le chemin: le Cocher lui observa
qu’il n’arriveroit pas à tems au rendez-vous. « Soit, répliqua le Prince, j’aimerois mieux
manquer dix rendez-vous de chasse, que d’occasionner pour cinq sols de dommage dans le
champ d’un pauvre Paysan ». Belle leçon pour ces Seigneurs qui se croyent tout permis dans
leurs terres, parce qu’ils y peuvent tout impunément, & que leurs vasseaux, dans la crainte
de plus grands maux encore, n’osent demander justice de ceux dont ils les font gémir.495
Daneben ist auch das bestehende Interesse von Louis Ferdinand an der Landwirtschaft
in künstlerischer Hinsicht belegt: Der Sohn Ludwigs XV. beauftragte Jean-Baptiste Oudry
(1686 – 1755) mit dem Gemälde La Ferme. Es wurde auf dem Pariser Salon 1750 ausgestellt.
495 Proyart, Liévin-Bonaventure: Vie du Dauphin, père de Louis XVI. Ecrite sur les Mémoires de la
cours, présentée au Roi et à la famille royale. Paris ²1778. S. 151 – 153.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
347
Der Salon hatte sich in dem Jahr dem Thema des Ackerbaus verpf­lichtet. In seinem Tableau de Mr. le Dauphin erläuterte der Maler dem künftigen König sein Bild in allen Einzelheiten. Er hatte sämt­liche ackerbau­liche Tätigkeiten in und um ein Gehöft dargestellt.496
Eine durch unterschied­liche Quellengattungen besser belegte und fassbare sowie
zudem in ihrer Qualität deut­lich gesteigerte Fortsetzung landwirtschaft­lichen Interesses
folgte mit dem Sohn Louis Ferdinands: Am 15. Juni 1768 führte der 14-jährige Enkel
des Königs Ludwig XV. und aktuelle Thronfolger Louis Auguste auf einem Acker in
der Nähe von Versailles, der nicht näher bekannt ist,497 selbst den Pflug.
Die Physiokraten deuteten das eigenhändige Pflügen des Dauphin als ihren Erfolg,
den sie in ihrer Zeitschrift Ephémérides du Citoyen im Juli 1768 mit der Publikation
eines anonymen Briefes vom 16. Juni 1768 aus Versailles feierten. Der Anonymus, der
das Geschehen einen Tag später exakt schilderte, hob unter Verweis darauf, dass die
Physiokraten ja immer glaubten, dass es nötig sei, nach China zu gehen, wenn man sehen
wolle, dass erhabene Hände den Pflug bedienten, das spontane Interesse des Kronprinzen an der Arbeit eines Bauern auf dem Feld während seiner Promenade hervor. Nach
eingehender Beobachtung des Bauern habe er selbst den Pflug zu führen begehrt und
sich zum Erstaunen aller sofort als fähiger Pflüger erwiesen: Sans doute vous croyez
toujours, Monsieur, qu’il faut aller à la Chine, si l’on veut voir des mains augustes manier
la charrue? Eh bien! Détrompez vous: Monseigneur le Dauphin, nous donna ce spectacle
aussi attendrissant, qu’interessant. Ce Prince dirigea sa promenade vers un champ qu’on
labourit; il examina quelque temps la manoeuvre; & demanda ensuite à conduire lui-même
la charrue: ce qu’il exécuta avec autant de force que d’adresse, au point que le laboureur
soit étonné, comme les spectateurs, de sa profondeur du sillon, de la justesse de sa direction.
L’intérêt que vous prenez M. à l’agriculture, vous sera gouter autant de plaisier en lisant
cette nouvelle, que j’ai de satisfaction à vous la mander. Je vais mettre le comble à l’un & à
l’autre trait, qui sait l’éloge du coeur de se jeune & Auguste Prince, comme le premier sait
celui de ses gouts. […].498
Der anonyme Verfasser bedient die Pläne und Hoffnungen der Physiokraten so genau,
dass die Annahme eines fingierten Schreibens berechtigt erscheint. Gerade Leserbriefe
bzw. Einsendungen von Lesern wurden oftmals von den Herausgebern von Zeitungen
oder Zeitschriften erfunden, um künst­lich Dispute in ihren Blättern zu unterstützen oder
bestimmte Meinungen zu untermauern und zu festigen.499 Das Periodikum unterstand
496 Öl auf Leinwand, 130 x 212 cm. Vgl. Lambert, Gisèle: Paysages, paysans. L’art et la terre en Europe
du Moyen Âge au XX siècle. Paris 1994. S. 174f. Kat. Nr. 150. Vgl. auch Martin, Meredith: Dairy
Queens. The Politics of Pastoral Architecture from Catherine De’ Medici to Marie-Antoinette
(Harvard Historical Studies, Bd. 176). Cambridge 2011. S. 177f.
497 Zum mög­lichen Ort des Geschehens folgen im Verlauf des Kapitels Überlegungen.
498 Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Juillet 1768. S. 9 – 11. Hier S. 9f.
499 Zum Leserbrief vgl. Faulstich, Werner: Die bürger­liche Mediengesellschaft (1700 – 1830) (Die
Geschichte der Medien, Bd. 4). Göttingen 2002. S. 83 – 86.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
348
Der chinesische Kaiser als Vorbild
bis 1768 der redaktionellen Betreuung von Abbé Baudeau, ab 1769 Du Pont de Nemours.
Unter der Rubrik Événements publics listeten die beiden Herausgeber regelmäßig sehr
genau Gesetzesentwürfe oder sonstige praktische Regierunghandlungen europäischer
Fürsten auf, die mit ihren Lehren konform gingen oder auf ihrer Vermittlung basierten.500
Die Rubrik, die grundsätz­lich den Auftakt einer jeden Ausgabe der Ephémérides bildete,
diente als Dokumentation des Erfolges physiokratischer Vermittlungsstrategien in ganz
Europa. Die stichprobenhafte Untersuchung der unter dieser Rubrik aufgenommenen
Beispiele fürst­licher Anstrengungen zur Umsetzung physiokratischer Ziele ergibt den
Befund, dass die Berichte entweder mit den jeweiligen Monarchen abgestimmt oder
sogar von ihnen selbst veranlasst worden waren. Dies soll an einem Beispiel nachgewiesen werden: Marquis de Mirabeau dankte Karl Friedrich von Baden in seinem Brief vom
12. Januar 1772 für die Übersendung eines Manuskripts des Markgrafen (des späteren
Abrégé de l’économie politique) und bat den deutschen Fürsten, es in den Ephémérides
veröffent­lichen zu dürfen: J’aurais à cet égard une permission à Lui demander; c’est que
l’année 1772 des Ephémérides pût commencer par un tel morceau. C’est, Monseigneur, au
nom de toute la société oeconomique et, nous l’osons dire, au nom de l’humanité entière,
que nous Vous demandons cette grâce-là.501 Karl Friedrich erteilte seine Zustimmung
zur Publikation: Je dois donc laisser entièrement à votre disposition, Monsieur, ce qui est
de lui donner une place dans les Ephémérides du Citoyen.502 Der badische Markgraf war
einer Präsentation seiner Schrift in einem öffent­lichen Printmedium, das zudem als
ökonomisches Fachblatt von zahlreichen Monarchen in Europa zur Kenntnis und ernst
genommen wurde, nicht abgeneigt. Im Gegenteil, er schien geschmeichelt.503 Die Physiokraten wiederum fanden darin die Auseinandersetzung eines Fürsten mit den Leçons
oeconomiques von Mirabeau, die dieser dem badischen Markgrafen 1770 zugesandt
hatte.504 Die Schrift des Markgrafen erschien als Auftakt der Juniausgabe unter dem
Titel Abrégé des principes de l’Économie Politique par S. A. S. Monseigneur le Margrave
500 Goutte, Éphémérides du citoyen, S. 155f.
501 Marquis de Mirabeau an Carl Friedrich, 12. Januar 1772. In: Knies, Brief­licher Verkehr, Bd. 1, Nr. 24,
S. 56.
502 Karl Friedrich an den Marquis von Mirabeau [ohne Datum]. In: Knies, Brief­licher Verkehr, Bd. 1,
Nr. 25, S. 58. Mirabeau teilte Karl Friedrich am 14. Juni 1772 brief­lich mit, dass sein Werk nun
erschienen sei. In: Knies, Brief­licher Verkehr. Bd. 1, Nr. 26, S. 58.
503 Karl Friedrich hatte 1767 die Epémérides du Citoyen kennengelernt. Landgraf, Gerald Maria:
„Moderate et prudenter“ – Studien zur aufgeklärten Reformpolitik Karl Friedrichs von Baden
(1728 – 1811). (Diss.) Landsberg a. L. 2008. S. 67. Der Markgraf schrieb an Marquis von Mirabeau
in einem undatierten Brief [Frühjahr 1770] zu den Ephémérides: J’aurais dû vous prévenir, Monsieur, des lectures que j’ai faites, en vous disant que je possède les Éphémérides du citoyen depuis leur
commencement, et que j’en ai lu la plus grande partie; que j’ai lu de même la Philosophie rurale et les
Éléments, qui en sont un extrait ainsi que la Physiocratie. In: Knies, Brief­licher Verkehr, Bd. 1, Nr. 7,
S. 38. Landgraf, Moderate et prudenter, S. 67.
504 Knies, Brief­licher Verkehr, Bd. 1, Nr. 39, S. 126. Metzler, Markgraf Karl Friedrich von Baden und
die französischen Physiokraten, S. 48f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
349
Régnat de Bade.505 Der Artikel war mit einer aufwändigen Vignette geschmückt, die das
Wappen des fürst­lichen Autors hervorhob, das von der Darstellung eines pflügenden
Bauern und eines wohlhabenden Dorfes flankiert wurde.
Die von den Physiokraten aufgeführten Berichte über das Handeln von Fürsten im
Sinne ihrer Lehre können somit nicht als Fiktion der Herausgeber, sondern vielmehr als
Tatsachen, jedoch als gezielte Propaganda der économistes für fürst­liche Reformprojekte
eingeordnet werden, die gemäß ihrer Lehre initiiert wurden, oder als Selbstinszenierung
der jeweiligen Monarchen als ökonomisch und landwirtschaft­lich versierte Kenner.
Das physiokratische Fachblatt schmückte sich nicht nur mit seinem Einfluss auf die
Reformen europäischer Potentaten, auch die Fürsten unterschied­licher europäischer
Staaten bedienten sich des Blattes für ihre Prestigezwecke, um zu beweisen, dass sie
über zeitgemäßes Wissen und entsprechende Fähigkeiten verfügten, die ihr politisches
Handeln im agrarisch-ökonomischen Bereich bestimmte. Sie dokumentierten damit
nach außen, dass die Forderungen nach einem erweiterten ökonomischen und speziell
landwirtschaft­lichen Herrschaftsverständnis in ihr Selbstverständnis integriert worden
waren. Vor diesem Hintergrund kann davon ausgegangen werden, dass der anonyme
Bericht über das eigenhändige Pflügen des Dauphin im Juni des Jahres 1768 durchaus
den Tatsachen entsprach, die Publikation des Geschehens allerdings nicht nur den
Interessen der Physiokraten, sondern auch denen des Hofes entsprochen haben mag.
Dieser Aspekt soll nachfolgend näher geprüft werden.
Pierre-Henri Goutte geht davon aus, dass es sich bei dem anonymen Brief aus Versailles
um einen eigenhändigen Text des Dauphin handelt, den dieser zur Publikation freigegeben
habe.506 Dies erscheint allerdings mehr als unwahrschein­lich, da der 14-jährige Kronprinz
kaum einen weitschweifend panegyrischen Text auf sich selbst in der dritten Person verfasst und zur Publikation freigegeben hätte. Inhalt und Anordnung des Textes hätten dann
eher im Stil einer Selbstverpf­lichtung im Sinne eines künftigen politischen Programms,
nicht jedoch als lobende Hervorhebung einer eigenen Handlung erscheinen müssen.
Der Brief aus Versailles stellte dem zeitgenössischen Leser einen äußerst wachen
künftigen König Frankreichs vor, der während seines Spaziergangs nicht unachtsam
an einem pflügenden Bauern vorbeigegangen war, sondern sich für die Arbeit seiner
Untertanen interessierte und durch genaue Beobachtung sich in der Lage zeigte, sie innerhalb kurzer Zeit selbst mit Geschick und Kraft auszuführen. So stand der französische
Kronprinz in nichts dem offensicht­lich allgemein bekannten Beispiel des chinesischen
505 Karl Friedrich, Markgraf von Baden: Abrégé des Principes de l’Économie Politique. In: Ephémérides du citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Janvier 1772. S. 1 – 51. Zum rückwirkenden
Einfluss der Schrift Karl Friedrichs auf Du Pont vgl. Priddat, Birger P: Die Änderung der physiokratischen Konzeption 1775. Karl Friedrichs von Baden-Durlach „Abrégé“ und Pierre Samuel Du
Ponts de Nemours „Table raisonnée“. In: Vierhaus, Rudolf (Hg.): Aufklärung als Prozess (Aufklärung, Bd. 2,2). Hamburg 1988. S. 113 – 133.
506 Auf eine Begründung der Annahme verzichtet Goutte. Goutte, Éphémérides du citoyen, S. 154.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
350
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Kaisers nach. Der Brief beweist einmal mehr, dass seitens der Physiokraten von einer
starken Präsenz des Motivs des pflügenden chinesischen Kaisers in der französischen
Öffent­lichkeit ausgegangen wurde, auf das sich deshalb leicht ein Vergleich gründen
ließ. Das bekannte Motiv des chinesischen Kaisers ermög­lichte es, die entweder spontane oder im Kontext einer Erziehungsmaßnahme ausgeführte landwirtschaft­liche
Tätigkeit des jungen Prinzen aus ihrer Banalität zu heben und ihr eine herrscher­liche
Bedeutung und damit vorbildhafte Würdigung zu geben. Der Leser erfuhr, dass Europa
nun mit dem jugend­lichen Dauphin Frankreichs einen gleichrangigen, ebenso fähigen,
die Landwirtschaft ehrenden zukünftigen Monarchen besaß, der das etablierte Beispiel
aus der fremden chinesischen Kultur ablöste und durch das französische ersetzte. Dem
Brief in den Ephémérides du Citoyen gelang die Nationalisierung des Motivs des pflügenden Monarchen. Der anonyme Autor lag deshalb in seiner Einschätzung vollkommen richtig, dass sein Bericht Du Pont als Herausgeber der Ephémérides du C
­ itoyen
besonders freuen musste, bestätigte er doch, dass dem künftigen Herrscher Frankreichs die Bedeutung der Landwirtschaft offensicht­lich geläufig war. Mit ihm war ein,
wenn nicht der wichtigste Adressat der physiokratischen Theorie erreicht worden: der
künftige Herrscher. Die Bemühungen der physiokratischen Vermittlung, so bewies
der Bericht, zeigten Spuren. Spuren, die allerdings kaum wahrgenommen oder sofort
verwischt worden wären, hätte nicht der anonyme Bericht die Öffent­lichkeit darüber
informiert und so eine Kenntnisnahme und mediale Weiterverbreitung initiiert. Erst
durch die schrift­lichen Berichte und visuellen Fixierungen, so lautet deshalb die These
für die nachfolgenden Untersuchungen, fand das Geschehen überhaupt öffent­liche
Beachtung und avancierte im Nachhinein zu einer erwähnenswerten und zunehmend
bekannten höfischen Angelegenheit. Wer initiierte die öffent­liche Berichterstattung
über die praktischen landwirtschaft­lichen Versuche des Dauphin? Wem nützte das
Wissen darüber? Wie war das Pflügen einzuordnen?507
Der anonyme Autor des Berichts musste entweder selbst dem engeren Zirkel des
Kronprinzen angehören oder zumindest für seine Informationen Zugang zu einer Person dieses Kreises besessen haben, denn er war offensicht­lich mit dem Tagesablauf und
den üb­lichen Spaziergängen oder -fahrten des Dauphin vertraut. Dies ergibt sich aus
einem Blick in das Tagebuch des Kronprinzen. Der Eintrag im Diarium weist nicht
auf eine größere höfische Interaktion hin, bei der ihm eine maßgeb­liche Rolle zugedacht gewesen wäre. Im Gegenteil, er notierte zum Mittwoch, dem 15. Juni 1768 nur
seine alltäg­liche Promenade. Eine Unterbrechung des Spaziergangs oder der Ausfahrt
und seine Erfahrungen am Pflug blieben hingegen unerwähnt. Im Spiegel der äußerst
knappen, immer stichwortartigen Einträge seines Journals schien sich die Promenade
vom 15. Juni in keiner Weise von denen der vorangegangenen Tage unterschieden zu
507 Vgl. dazu das nachfolgende Kapitel.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
351
haben.508 Auch wenn die Aufzeichnungen von Louis Auguste zu seinen Interessen oder
Vorlieben außerhalb der Jagd und der Spaziergänge ebenso wie zu seinen Versuchen
bäuer­licher Arbeit beharr­lich schweigen, ist dennoch nicht davon auszugehen, dass es
sich bei der Pflugszene um eine Fiktion handelt. Die fehlenden Reflexionen des Prinzen zum eigenhändigen Pflügen müssen nicht als Indiz für die geringe persön­liche
Bedeutung des Geschehnisses gewertet werden, da im Diarium auch keine Bezüge zu
seinen bevorzugt ausgeübten Handwerken hergestellt werden. Der Blick in das Tagebuch des Dauphin bestätigt aber immerhin den Kontext, in dem das Pflügen laut des
Berichts in den Ephémérides du Citoyen stattgefunden haben muss: im Rahmen einer
der üb­lichen Promenaden.509
Ein Anhaltspunkt lässt dennoch auf eine gezielte Veröffent­lichung des eigenhändigen
Pflügens aus dem Kreis der Physiokraten schließen: Der Anonymus hatte seinen Brief an
den Herausgeber der Ephémérides du Citoyen mit der üb­lichen Grußformel Je suis, &c.
und einer Initiale A beendet. Quesnay war die Initiale A oder Alpha für Artikel in der
Zeitschrift zugeordnet.510 Es kann also berechtigt angenommen werden, dass Quesnay
selbst den Bericht für die Publikation in der Zeitschrift verfasst hatte.
508 Beauchamp, Raymond de (Hg.): Journal de Louis XVI. o. O. [1902]. S. 35. Es handelt sich dabei
um eine unvollständige Edition des Tagebuchs Ludwigs XVI., 1766 – 1778.
Louis Auguste nutzte über viele Jahre, auch später als König, sein Diarium zur Dokumentation
für die Bereiche der eigenen Lebensführung, die ihm eine Unterbrechung oder einen partiellen
Rückzug von den offiziellen Pf­lichten seiner Funktion ermög­lichten. So dominieren die Aufzeichnungen die regelmäßigen Spaziergänge oder -fahrten bzw. die Jagden, seine Abwesenheiten von
Versailles bzw. wenige Theaterstücke und gewähren damit einen Blick auf ein vorsichtiges Maß an
Individualität des jugend­lichen Prinzen, der das eigene Ich mit spezifischen Vorlieben zum bevorzugten Gegenstand seiner Notizen erhob.
Tagebücher fallen unter die Gattung der Selbstzeugnisse. Vgl. Jacobsen, Roswitha: Fürstentagebücher als Quellengattung, ihre Edition und Erforschung. In: Dies.: Friedrich I. von Sachsen-Gotha
und Altenburg. Tagebücher 1667 – 1686. Bd. 1. Weimar 1998. S. 11 – 47. Hier S. 11. In Selbstzeugnissen stellen sich Personen in Wort und Bild dar, sei es in Momentaufnahmen, sei es in längeren
oder kürzeren Längsschnitten durch das eigene Leben. Selbstzeugnisse sind somit Quellen, in denen
der Verfasser sich als Gegenstand des Interesses thematisiert. Der Verfasser tritt in den Text selbst
handelnd ein, tritt darin in Erscheinung oder nimmt darin auf sich Bezug. Klaus Arnold/Sabine
Schmolinsky/Urs Martin Zahnd (Hg.): Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späteren Mittelalters und der frühen Neuzeit (Selbstzeugnisse des Mittelalters und der beginnenden
Neuzeit, Bd. 1). Bochum 1999. Einleitung. S. 13ff.
509 Der Aufenthalt und die Bewegung an frischer Luft erhielt ab Mitte des 18. Jahrhunderts eine neue
Bedeutung für die Gesundheit. Vgl. dazu Oxenius, Katharina: Vom Promenieren zum Spazieren:
Zur Kulturgeschichte des Pariser Parks (Untersuchungen des Ludwig-Uhland-Instituts der Universität Tübingen, Bd. 79). Tübingen 1992. König, Gudrun: Eine Kulturgeschichte des Spazierganges:
Spuren einer bürger­lichen Praktik 1780 – 1850 (Kulturstudien, Sonderband, Bd. 20). (Diss.) Wien/
Köln/Weimar 1996.
510 Sgard, Dictionnaire des journaux, Nr. 377, S. 353. Die Vermutung, dass es sich um Quesnay handeln
könnte, findet sich schon bei Weulersse. Weulersse, Mouvement physiocratique en France, Bd. 1,
S. 161f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
352
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Es ging einigen Mitgliedern aus dem Kreis der Physiokraten, insbesondere Quesnay
und Du Pont, gerade im Jahr 1768 gezielt darum, dem Dauphin ihr wichtigstes Publikationsorgan, die Epémérides du citoyen, zu dedizieren und ihn wegen der zunehmenden
Kritik an den Freihandelsgesetzen für Getreide und den Hungersnöten als Protektor
der Zeitschrift bzw. der gesamten physiokratischen Lehre zu gewinnen.511 Ihre Bestrebungen, den König bzw. seinen Sohn Louis Ferdinand von der öffent­lichen Protektion
ihrer Lehren zu überzeugen, waren gescheitert. Ludwig XV. verhielt sich gegenüber der
Bitte um eine offizielle Protektion der économistes passiv.512 Es war ihnen zwar bisher
gelungen, mit dem König und seinem Umfeld rege zu kommunizieren, doch es fehlte
der entscheidende Schritt, ihre agrarökonomischen Ansichten in das Bewusstsein des
Herrschers einzugliedern und nachhaltig in seinem Handeln zu etablieren. Quesnay und
Du Pont erkannten, dass sie nicht nur die öffent­liche Meinung argumentativ von der
Richtigkeit ihrer Lehre überzeugen, sondern dieser Öffent­lichkeit den Beweis erbringen
mussten, dass ihre Argumente an höchster Stelle willkommen waren und ernsthaft gehört
wurden. Erst dann konnten sie sich erhoffen, mit ihrer Lehre wirksam im politischen
und ökonomischen Feld korrigierend eingreifen zu können, um die Effizienz der Landwirtschaft so schnell wie mög­lich zu steigern. Die beiden Physiokraten beabsichtigten
deshalb, die erhoffte könig­liche Förderung dadurch zu erlangen, indem sie den Kronprinzen sichtbar an die Spitze ihrer Bewegung stellten. Dafür bedurfte es eines Aktes,
der die Neigung des Prinzen für die Landwirtschaft glaubhaft und plakativ offenbarte.
Mit dem Tod von Madame de Pompadour war offensicht­lich der Kontakt zum König
schwieriger geworden. Die Verbindung zum Dauphin knüpften die Physio­kraten über
Zugleich folgt die äußerst knappe Darstellung und monotone Wiederholung der Promenaden
und Jagden kaum der sich im 18. Jahrhundert etablierenden ausführ­lichen Reflexionen des Individuums in Tagebüchern, sondern noch eher den stereotypen, stichwortartigen und oft formalisierten Notizen der Schreibkalender des ausgehenden 17. Jahrhunderts. Doch auch mit den knappen
Bemerkungen der Schreibkalender erfolgte nach Helga Meise eine individuelle Aneignung und
jederzeit mög­liche Vergegenwärtigung von Ereignissen, von denen der Verfasser die Details ja sehr
genau kannte. Die Aufzeichnungen dienten primär der eigenen Erinnerung oder der Konstituierung
von Kontinuitäten und zielten nicht auf ein Lesepublikum in späteren Generationen der Dynastie.
Vgl. zur Form der Einträge in Schreibkalendern Meise, Helga: Das archivierte Ich. Schreibkalender
und höfische Repräsentation in Hessen-Darmstadt 1624 – 1790 (Arbeiten der Hessischen Historischen Kommission, N. F. 21). (Habil.) Darmstadt 2002. S. 31ff und S. 93f.
511 Schelle, Docteur Quesnay, S. 341. Es ging ihnen nicht um das allgemeine könig­liche Privileg, als
Blatt überhaupt erscheinen zu dürfen, sondern um ein ausdrück­liches Wohlwollen der Krone gegenüber den Inhalten. Zu den Abhängigkeiten von Presseerzeugnissen von den Privilegien der Krone
vgl. grundsätz­lich Schultheiß-Heinz, Sonja: Politik in der europäischen Publizistik. Eine historische Inhaltsanalyse von Zeitungen des 17. Jahrhunderts (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte,
Bd. 16). (Diss.) Wiesbaden 2004. S. 52ff. Zu den Diskussionen um Formen und Ziele öffent­licher
Meinungsäußerungen in Frankreich ab den 1750er Jahren vgl. Baker, Keith Michael: Politics and
Public Opinion Under the Old Regime. In: Censer, Jack R./Popkin, Jeremy D. (Hg.): Press and
Politics in Pre-Revolutionary France. Berkeley/Los Angeles 1987. S. 204 – 246. Hier S. 213ff.
5 12 Oncken, Quesnay, FN 1 zu Lettre du propriétaire à son fermier, S. 693ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
353
den Sohn des Prinzenerziehers, Paul François de Quelen de La Vauguyon (1746 – 1828),
den späteren Duc de Saint-Mesgrin.513 Er war zugleich einer der so genannten Menins,
einer der sechs Ehrenkavaliere des Kronprinzen. Abbé Baudeau bat ihn, für die Ephémérides du Citoyen im Januar 1768 eine Kritik zu der gerade erschienenen Komödie Les
Moissonneurs von Charles Simon Favart zu verfassen.514 Der junge Mann schrieb die
gewünschte Kritik für die Zeitschrift und vermittelte sehr wahrschein­lich auch den
Kontakt zwischen den Physiokraten und seinem Vater. Mit dem jungen Paul François
Duc de La Vauguyon hatte der Kreis der Physiokraten eine wichtige Kontaktperson am
Hof und vor allem im engsten Umkreis des künftigen Königs erhalten. Unklar ist, ob
Quesnay dem Erzieher des Kronprinzen, Antoine de Quelen Duc de La Vauguyon, das
eigenhändige Pflügen des künftigen Königs vorgeschlagen bzw. die Voraussetzungen
dafür mitorganisiert hatte und ob er selbst dabei anwesend war.515
Die Strategie, den Dauphin so offen in die Verbreitung der physiokratischen Lehre
einzubinden und ihm mittels des gezielt gesetzten Berichts über sein eigenhändiges
Pflügen in den Ephémérides zu huldigen, spaltete die Gruppe der économistes. Abbé
Nicolas Baudeau vewehrte sich gegen dieses Vorgehen, denn ihm lag als Herausgeber
stark an der Unabhängigkeit des Publikationsorgans.516 Die geteilten Auffassungen
über das strategische Vorgehen hinsicht­lich der Eigenwerbung und der Formen, wie
die Protektion durch den künftigen König zu erlangen sei, führten zu einem Wechsel in der Position des Herausgebers im Mai 1768.517 Der anonyme Brief aus Versail5 13 Kurz erwähnt bei Weulersse, Mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 157 und S. 161.
514 Favart, Charles Simon: Les moissonneurs: comédie en trois actes et en vers […]. Paris 1768. Die
Kritik Paul François de La Vauguyons, als Brief d’un jeune Seigneur de la Cour konzipiert, findet sich
in den Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Février 1768. S. 203 – 212.
La Vauguyon hob hervor, dass es sich bei dem Stück um ein neues Dramengenre handle, in dem die
Rolle der Natur betont werde, die den Menschen zum Edlen und Guten erziehe sowie die Richtlinien für einen funktionierenden Staat aufstelle. Der junge Rezensent erhielt die Initiale „D“ für
Artikel in den Ephémérides du Citoyen. Ibd. S. 204.
515 Der Blick in die Honorarzahlungen, die an Personen entrichtet wurden, welche im Rahmen der
Erziehung des Dauphins Dienstleistungen vollbrachten, zeigt, dass die Physiokraten nicht aufgeführt sind. Bei der Organisation und Durchführung des eigenhändigen Pflügens von Louis Auguste
handelte es sich somit nicht um einen Auftrag des Hofes an Quesnay oder Du Pont. Archives nationales, Paris, O1 3744, 3785f.
516 Hans Erich Bödeker betont, dass sich im deutschen und französischen Pressewesen Ansätze zu Vorstellungen von Pressefreiheit etablierten, welche die öffent­liche Meinung vor allem als gegengouvernementale Gewalt und die Zeitungen als Medien der unabhängigen Willensbildung betrachteten.
Bödeker, Hans Erich: Zeitschriften und politische Öffent­lichkeit. Zur Politisierung der deutschen
Aufklärung in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In: Ders./François, Etienne (Hg.): Aufklärung/Lumières. Zur politischen Kultur der deutschen und französischen Aufklärung (Deutsch-französische Kulturbibliothek, Bd. 5). S. 209 – 234. Leipzig 1996. Hier S. 229.
517 Der Wechsel fiel zeitgleich auch mit dem Angebot Baudeaus zusammen, als Berater nach Polen zu
gehen. Weulersse, Mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 103 – 106, S. 128, S. 169 – 164.
Oncken, Quesnay, S. 693. Skrzypek, Marian: Baudeau historien et réformateur de la Pologne. In:
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
354
Der chinesische Kaiser als Vorbild
les mit dem Bericht über das Pflügen des Dauphin erschien also bereits unter der
Herausgeberschaft von Du Pont. Das Vorgehen Quesnays und Du Ponts entsprach
jedoch genau dem chinesischen Vorbild, das Quesnay in seinem Werk Despotisme de
la Chine bewundernd skizziert hatte: Der Monarch stand mit sichtbaren Handlungen
an der Spitze der Gesellschaft und brachte der Landwirtschaft seine Verehrung und
Förderung entgegen. Zugleich unterrichtete er sein Volk durch öffent­liche Vermittlung über Publikationen zu entsprechendem Verhalten. Somit ist verständ­lich, dass
Quesnay in den Ephémérides du Citoyen weniger ein freies als ein intentionales Organ
sah, das gezielt die physiokratische Lehre unter könig­licher Protektion vermitteln
und damit nach chinesischem Vorbild instruierend wirken bzw. zur Nachahmung
animieren sollte. Quesnays und Du Ponts Ziel bestand darin, mit der Zeitschrift ein
wirtschaft­liches und politisches Publikationsorgan zu installieren, das sich vollkommen in den Dienst der Krone stellte. Es handelte sich somit um eine physiokratische
Legitimations- und Lenkungsstrategie gegenüber der öffent­lichen Meinung, für die
sie den künftigen König zu instrumentalisieren suchten. Die Physiokraten vermittelten nicht nur ihr Wissen, sondern auch ihre Interessen. Ihre Intention war jedoch
nicht sichtbar von Erfolg gekrönt: Der Dauphin übernahm nach seinem eigenhändigen Pflügen die erbetene Protektion der Zeitschrift der Physiokraten nicht. Er hatte
somit dem Bedürfnis der Schule nicht entsprochen, sie durch seine landwirtschaft­
liche Tätigkeit öffent­lich zu würdigen.518
An der angewandten Strategie zeigt sich aber, dass Quesnay und Du Pont in den
physio­kratischen Lehren nicht nur eine gesellschaft­liche und wirtschaft­liche Utopie
sahen, sondern nach ernsthaften Mög­lichkeiten ihrer Realisierung suchten. Dafür
schien ihnen die schützende und fördernde Gewalt des Monarchen und insbesondere
des Thronfolgers die beste Voraussetzung.519 Es ging Quesnay und Du Pont mit der
Veröffent­lichung des Briefes darum, den künftigen König Frankreichs an die Spitze der
Lehre zu stellen und so die Physiokratie zu einer Staatswissenschaft und Staatspraxis zu
erheben. Der junge Kronprinz sollte dem Staat mit der Förderung der Landwirtschaft
Clément, Alain (Hg.): Nicolas Baudeau: un philosophe économiste au temps des Lumières. Paris
2008. S. 345 – 357. Die Ephémérides du Citoyen thematisieren den Wechsel an der Spitze des Blattes
nicht. Er wurde kommentarlos vollzogen. Zum Streit innerhalb der Physiokraten über die Protektion
des Dauphins vgl. auch Loménie, Louis de: Les Mirabeau: nouvelles études sur la société française
au XVIIIe siècle. Bd. 2. Paris 1879. S. 279.
518 Unklar ist, warum die Dedikation erfolglos blieb. Es finden sich keine Quellen dazu. Weulersse,
Mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 202.
5 19 Um 1774 erweitert Du Pont die Vorstellung von der Schutzfunktion des Staates über die Monarchen auch auf Magistrate und Vertreter des Volkes, welche die Gesamtheit aller Willensäußerungen
vertreten. Priddat, Die Änderung der physiokratischen Konzeption 1775, S. 121. Zu den Versuchen
Mirabeaus, die Kontakte der Physiokraten zu ausländischen Potentaten zu intensivieren, vgl. Théré/
Loïc, The Writing Workshop of François Quesnay, S. 23ff. Abrosimov, Wissenstransfer und Austausch symbolischen Kapitals, S. 17ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
355
dienen, so wie die Physiokraten ihr Wissen der Krone zur Verfügung stellten.520 Die
Ephémérides du Citoyen zielten auf Belehrung und gegenseitige Unterstützung zwischen
der physiokratischen Schule und dem Monarchen. Mit Erfolg, denn sie hatten mit
der Publikation des Briefes landwirtschaft­liche Fähigkeiten und Interessen des Kronprinzen belegt und ihren Einfluss darauf geltend gemacht. Sie bewiesen gegenüber der
lesenden Öffent­lichkeit ihrer eigenen Zeitschrift, dass ihre Lehre und die Interessen
des künftigen Monarchen in Übereinstimmung gebracht worden waren. Auch wenn
der Dauphin die Protektion des Publikationsorgans abgelehnt hatte und sich die Physiokraten nicht als Sprachrohr des Kronprinzen darstellen konnten, war es dennoch
seitens der économistes noch mög­lich, auf den Dauphin als hoffnungsvollen künftigen
Garanten der Realisierung ihrer Ideen zu hoffen. Schließ­lich boten sie dem künftigen
französischen König ein erweitertes Modell monarchischen Selbstverständnisses und
herrscher­licher Selbstdarstellung. Die Initiative zu dieser neuen Herrschaftsrepräsentation als roi ­paysan in Anlehnung an den chinesischen Kaiser ergriff Quesnay persön­lich,
indem er das eigenhändige Pflügen des Dauphin durch seine überbordende öffent­liche
Würdigung zu einem Ereignis stilisierte. Die Vermittlungsstrategie der Physiokraten
stellte die neue Selbstdarstellung für den Dauphin nicht nur inhalt­lich zur Verfügung,
sondern gab diese dem Kronprinzen geradezu vor.521 Sie eröffneten dem neuen Herrscher Frankreichs die Chance, seinem Volk zu zeigen, dass er dem Zeitgeist folgend
über aktuell notwendiges Wissen und Können verfügte und dennoch im Einklang
mit der Herrschaftstradition stand. Das von den Physiokraten gewählte Motiv ihrer
Lehre implizierte eine Herrschaftsdarstellung, die auf dem antiken und traditionellen
paternalistischen Rollenmodell aufbaute, es jedoch um neue Komponenten erweiterte
und damit aktualisierte: der pflügende Monarch als erster Landmann des Staates. Der
künftige König zeigte sich damit als ein Diener und régénérateur des Staates gemäß
der Vorstellungen der Physiokraten. Der Pflug war im Sinne Vicos wieder zu einem
Herrschaftszeichen erhoben worden und zeugte von der Landwirtschaft als einem
alten und neuen Wirkungsressort des Monarchen. Die von Vico und den Physiokraten konstatierte langanhaltende Trennung zwischen Herrschaft und Landwirtschaft
schien fortan überwind­lich zu sein und durch den künftigen König auch überwindbar. Frankreich hatte, so vermittelte die Interpretation der Pflugszene durch Quesnay,
den richtigen Weg eingeschlagen, um sich dem idealen Zustand der Monarchie durch
die Erfüllung der Herrscherpf­lichten anzunähern, die der Physiokrat 1758 in seinem
520 Die Intention der Physiokraten, sich als Berater des Königs zu empfehlen, betont Goutte, Ephémérides du Citoyen, S. 148, S. 156.
521 Es handelt sich nicht um die tatsäch­liche Nachahmung der Pflugszene des chinesischen Kaisers
durch den Dauphin, die Walter Demel im zeitnahen Kontext des Erscheinens von Quesnays Despotisme de la Chine konstatierte. Demel, Walter: Abundantia, Sapientia, Decadencia. Zum Wandel
des China-Bildes vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. In: Bitterli, Urs/Schmitt, Eberhard (Hg.): Die
Kenntnis beider „Indien“ im frühneuzeit­lichen Europa. München 1991. S. 129 – 154. Hier S. 146.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
356
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Traité de la monarchie aufgestellt hatte.522 Die Beschreibung der Pflugszene vermittelte
dem Leser der Ephémérides du Citoyen, dass dem Herrscherideal ein Augenschein von
Realität verliehen worden war.
Bemerkenswert ist die Propagandastrategie, die Quesnay und Du Pont für die
Ephémérides du Citoyen vorgegeben hatten: mit der bewussten Hervorhebung des
Guten und Erfolgreichen zielten sie darauf, das mög­liche Bessere zu fördern. Die pädagogische Maxime der positiven Verstärkung im Sinne des Lobes und der Belohnung
mündete in einen dieser Zeitschrift eigenen positiven Journalismus, der schon Zeitgenossen als Konzept auffiel und europaweit kopiert wurde.523
Die Propaganda der Physiokraten wirkte: Im Umfeld des Königs fand das Pflügen des Dauphin Niederschlag in einer Tuschezeichnung des Malers Jean-Baptiste le
Paon (1738 – 1785). Le Paon stand unter der Protektion des Prinzen Louis Joseph de
Bourbon-­Condé (1736 – 1818).524 Er schuf eine Federzeichnung auf beigem Chinapapier, die den Dauphin am Pflug inmitten seiner Brüder, seines Gefolges und jubelnder
Bauern fixierte (Abb. 16: Federzeichnung von Le Paon). Das Blatt befindet sich heute
im Crocker Art Museum in Sacramento/Kalifornien und trägt den Titel: A Prince
­Ploughing with Peasants Watching Him.525 Der Zeitpunkt der Entstehung ist ebenso
unklar wie der Auftraggeber. Mög­licherweise geht die Zeichnung aber auf eine Anregung des Prinzen Condé zurück, der selbst ein maßgeb­liches Interesse an Landwirtschaft
hegte, Mustergüter anlegen ließ und in seinem Schloss Chantilly selbst der Gartenarbeit
nachging. Mög­licherweise war er in seiner Funktion als Grand Maître de France sogar
Teil des Gefolges und somit während des Pflügens durch den Kronprinzen anwesend.
Ein Hinweis auf „an event in the life of Le Paon’s chief mentor“ (des Prinzen Condé)
findet sich in einer Kurzbeschreibung des Bildes im Katalog des Crocker Art Museums, allerdings ohne einen Beleg für diese Überlegung.526 Sie erscheint jedoch durchaus nachvollziehbar, da sowohl Condés Nähe zur könig­lichen Familie als auch seine
522Zum Traité de la monarchie vgl. Gerteis, Physiokratismus und aufgeklärte Reformpolitik, S. 83ff.
523 Reinhart Siegert stellt den Gothaer Publizisten Rudolph Zacharias Becker vor, der sich in Anlehnung an die Ephémérides du Citoyen einer ähn­lichen positiven Berichterstattung bediente. Siegert,
Reinhart: Positiver Journalismus. Aufklärerische Öffent­lichkeit im Zusammenspiel des Publizisten Rudolph Zacharias Becker mit seinen Korrespondenten. In: Jäger, Hans-Wolf (Hg.): „Öffent­
lichkeit“ im 18. Jahrhundert (Das achtzehnte Jahrhundert. Supplementa, Bd. 4). Göttingen 1997.
S. 165 – 185. Hier S. 165, S. 172 und S. 177.
524 Zum Mäzenatentum der Prinzen von Condé vgl. Béguin, Katja. Les princes de Condé. Rebelles,
courtisans et mécènes dans la France du Grand Siècle. Paris 1999. S. 329ff.
525 Crocker Art Museum, Inv. no. 1871.448. Die Maße des Bildes betragen 35.2 x 53.4 cm. Das Bild ist
in der unteren rechten Seite in dunkelbrauner Tinte mit Le Paon signiert und in der linken unteren Ecke in Graphit mit den Initialen D Pa bezeichnet. Unklar ist, welche der beiden Signaturen
vom Maler stammt. Ich danke Dr. William Breazeale, dem Kurator des Museums für europäische
Kunst, für eine anregende Diskussion zu dem Blatt.
526 Mahey, John A.: Master Drawings from Sacramento. The Edwin Bryant Crocker Art Gallery Sacramento/California. Exhibition Catalogue. Sacramento 1971. Nr. 90. Ausgezeichnete Abbildung
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
357
Vorlieben für länd­liche Genre- und bäuer­liche Arbeitsszenen in seiner umfangreichen
Kunstsammlung nachgewiesen sind. Es ist leicht denkbar, dass der landwirtschaft­lich
interessierte und versierte Prinz das eigenhändige Pflügen des künftigen Königs für einen
bemerkenswerten Moment hielt, den er zumindest für sich zur Erinnerung fixiert haben
wollte. Ob ursprüng­lich eine umfangreichere Ausführung in Öl angedacht war, bleibt
unklar. Die Annahme von David W. Steadman und Carol M. Osborne, es handle sich
mög­licherweise um den Prinzen von Condé selbst hinter dem Pflug, kann durch die
eindeutig sichtbaren Wappen des Kronprinzen an den Wagenverschlägen der Kutsche
auf der Zeichnung widerlegt werden.527
Le Paons Zeichnung folgt exakt der Beschreibung von Quesnay aus den Ephémérides du Citoyen. Sie zeigt den Dauphin am Wegesrand, offensicht­lich die Spazierfahrt
kurz unterbrechend, beim Pflügen. Im Vordergrund findet sich auf der Chaussee ein
Grenzstein, dessen Markierungen jedoch so undeut­lich sind, dass er bzw. der Ort nicht
zu identifizieren ist.528
f. Erziehung zur Landwirtschaft?
Zu fragen bleibt nun, was sich hinter der öffent­lichen Darstellung der Pflugszene durch
Quesnay in den Ephémérides du Citoyen verbarg. Maverick spricht ohne weitere Einordnung von der Imitation des Frühjahrsrituals des chinesischen Kaisers durch den
Dauphin.529 Das erscheint sehr unwahrschein­lich, da weder in Quesnays Brief zum
Ablauf der Pflugszene von einer Imitation die Rede ist, noch der Ablauf als höfisches
Ereignis gestaltet worden war.
S. 131. Kurz beschrieben und abgebildet ebenfalls bei Rosenberg, Pierre: Twenty French Drawings
from Sacramento. In: Master Drawings 8/1 (Spring 1970). S. 31 – 39. Hier S. 36.
Crocker hielt sich im 19. Jahrhundert für mehrere Jahre in Europa, insbesondere in Deutschland
auf. In Dresden erwarb er im Zeitraum zwischen 1869 und 1871 vom Kunsthandelshaus Rudolph
Weigel zahlreiche französische, niederländische und italienische Werke, u. a. nachgewiesen auch L.
Le Paon, Landschaft mit König Ludwig XVI. pflügend, umgeben von Gefolge und Landleuten. Zur
Provenienz des Blattes vgl. Breazeale, William: Old Masters in Old California: The Origins of the
Drawings Collection at the Crocker Art Museum. In: Master Drawings 46/2 (Summer 2008).
S. 205 – 226. Hier S. 222. Bei Weigel findet sich das Blatt im Kunstlagerkatalog. Weigel, Rudolph:
Kunstlagerkatalog, 35 Teile, 5 Bde. Leipzig 1838 – 66. Nr. 16176. Bei Weigel finden sich jedoch keine
weiteren Angaben zur Herkunft der Zeichnung. Nach Deutschland kann das Blatt mit dem Prinzen von Condé gelangt sein, der sich während der Französischen Revolution als Exilant zunächst
in Koblenz und später in England aufhielt.
527 Steadman und Osborne waren bei ihrer Fehldeutung dennoch richtig vom landwirtschaft­lichen
Interesse Condés ausgegangen. Steadman, David W./Osborne, Carol: Eighteenth-Century Draw­
ings from California Collections. Exhibition-Catalogue. Claremont 1976. Nr. 40. S. 31.
528 Überlegungen hinsicht­lich des Ortes und der von Seiten des Hofes intendierten Absicht sollen im
nachfolgenden Kapitel angestellt und untermauert werden.
529 Maverick, China, S. 125.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
358
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Da das eigenhändige Pflügen des Dauphin weder in der Gazette de France oder in
anderen französischen Periodika als offizielle Veranstaltung des Hofes angekündigt
oder zeitnah besprochen wurde noch in der höfischen Memoirenliteratur Erwähnung
fand, ist vielmehr davon auszugehen, dass es sich – so lautet die These für die nachfolgende Untersuchung – um eine intern vorbereitete, praktische Lehrunterweisung im
kleinen Kreis der Erzieher und könig­lichen Schüler gehandelt haben mag, die durch
eine mög­liche Initiative der Physiokraten stattfand, zumindest aber durch die bewusste
Publikation der économistes zum öffent­lichen Ereignis im Nachhinein avancierte.530 Dies
soll zunächst anhand mög­licher Erziehungsmaximen des französischen Hofes geprüft
werden. Im Anschluss soll ein Blick auf die Einordnung und Bewertung der Pflugszene,
die der Öffent­lichkeit durch Quesnays Brief zugäng­lich geworden war, sowie die Weiterverarbeitung der Information als Stoff in der bild­lichen Darstellung geworfen werden.
Als Erzieher des Dauphin fungierte, wie bereits angesprochen, Antoine de Quelen
Duc de La Vauguyon (1706 – 1772).531 Geprägt durch die Grundsätze François ­Fénelons
(1651 – 1715) aus seinem Erziehungswerk Les Aventures de Télémaque und überzeugt von
der natür­lichen Gleichheit der Menschen bzw. einer patriarcha­lischen Auffassung von
Herrschaft, zielte die Erziehung La Vauguyons darauf, aus dem ­Dauphin einen mündigen
530Die Gazette de France erwähnte am 17. Juni 1768 für den 15. Juni Ereignisse wie die Vorstellung
des Fürsten von Monaco bei Hof. Auf das Pflügen von Louis Auguste ging sie nicht ein. Gazette
de France vom 17. Juni 1768. Nr. 49. S. 204. Zur Gazette de France und ihren Berichten vom Hof
vgl. Schultheiß-Heinz, Politik in der europäischen Publizistik, S. 154ff. Zu Formen der gezielten
Versorgung der Gazette mit Informationen durch den französischen Hof vgl. Klaits, Joseph: Printed Propaganda under Louis XIV. Absolute Monarchy and Public Opinion. Princeton 1976. S. 7ff
und S. 31ff. In der Memoirenliteratur wurden u. a. durchgesehen: Nolhac, Pierre de: Correspondance du comte d’Argenson, ministre de la Guerre, publiée par le marquis d’Argenson: lettres de
Marie Leczinska et du cercle de la reine. Paris 1922. Argenson, René-Louis de Voyer de Paulmy,
marquis d’: Mémoires et journal inédit du marquis d’Argenson, ministre des Affaires étrangères
sous Louis XV. 5 Bde. Paris 1857 – 1858. Grouchy, Emmanuel-Henri de/Cottin, Paul (Hg.): Journal inédit du duc de Croÿ, publié d’après le manuscrit autographe conservé à la bibliothèque de
l’Institut, avec introduction, notes et index. 4 Bde. Paris 1906 – 1907. La Gorce, Louis-Scipion de
Merle, comte de: Souvenirs d’un homme de cour; ou Mémoires d’un ancien page. Contenant des
anecdotes secrètes sur Louis XV et ses ministres, des observations sur les femmes, les moeurs, etc.
Suivis de notes historiques, critiques et littéraires. Écrits en 1788. 2 Bde. Paris 1805. Dussieux, Louis/
Soulié Eudore (Hg.): Mémoires du duc de Luynes sur la cour de Louis XV (1735 – 1758). 17 Bde.
Paris 1860 – 1865. Boysse, Ernest (Hg.): Journal de Papillon de La Ferté, intendant et contrôleur
de l’argenterie, menus plaisirs et affaires de la Chambre du roi (1756 – 1780). Paris 1887.
531 Er war schon vom verstorbenen Vater des Dauphins als Gouverneur seines Sohnes bestallt und
mit vollem Vertrauen bedacht worden. Nach dem Tod von Louis Ferdinand setzte der Herzog die
Erziehung in Abstimmung mit der Mutter des Prinzen eigenverantwort­lich fort. Unklar ist noch
immer, ob es Erziehungsanweisungen des Königs für seinen Enkel gegeben hat. Girault de Coursac,
Pierette: L’éducation d’un Roi, Louis XVI. Paris 1972. S. 109 – 115.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
359
Monarchen zu formen, der, um die Liebe seiner Untertanen bemüht, regieren sollte.532
Fénelon hatte die Bedeutung der Landwirtschaft für ein gesundes Staatswesen betont und
die Fürsten aufgefordert, wie Triptolemos den Landbau zu fördern und zu achten: Peu de
temps après lui, on vit paraître dans la Grèce le fameux Triptolème, à qui Cérès avait enseigné l’art de cultiver les terres, et de les couvrir tous les ans d’une moisson dorée. Ce n’est pas
que les hommes ne connaissent déjà le blé, et la manière de le multiplier en le semant: mais
ils ignoraient la perfection du labourage; et Triptolème, envoyé par Cérès, vint, la charrue en
main, offrir les dons de la déesse à tous les peuples qui auraient assez de courage pour vaincre
leur paresse naturelle, et pour s’adonner à un travail assidu. Bientôt Triptolème apprit aux
Grecs à fendre la terre, et à la fertiliser en déchirant son sein: bientôt les moissonneurs ardents
et infatigables firent tomber, sous leurs faucilles tranchantes, les jaunes épis qui couvraient les
campagnes: les peuples même sauvages et farouches, qui couraient épars çà et là dans les forêts
d’Épire et d’Étolie pour se nourrir de gland, adoucirent leurs mœurs, et se soumirent à des lois,
quand ils eurent appris à faire croître des moissons et à se nourrir de pain. Triptolème fit sentir aux Grecs le plaisir qu’il y a à ne devoir ses richesses qu’à son travail, et à trouver dans son
champ tout ce qu’il faut pour rendre la vie commode et heureuse. Cette abondance si simple et
si innocente, qui est attachée à l’agriculture, les fit souvenir des sages conseils d’Érichthon. Ils
méprisèrent l’argent et toutes les richesses artificielles, qui ne sont richesses qu’en imagination,
qui tentent les hommes de chercher des plaisirs dangereux, et qui les détournent du travail, où
ils trouveraient tous les biens réels, avec des mœurs pures, dans une pleine liberté. On comprit
donc qu’un champ fertile et bien cultivé est le vrai trésor d’une famille assez sage pour vouloir
vivre frugalement comme ses pères ont vécu. Heureux les Grecs, s’ils étaient demeurés fermes
dans ces maximes, si propres à les rendre puissants, libres, heureux, et dignes de l’être par une
solide vertu! Mais, hélas! ils commencent à admirer les fausses richesses, ils négligent peu à peu
les vraies, et ils dégénèrent de cette merveilleuse simplicité. O mon fils, tu régneras un jour; alors
souviens-toi de ramener les hommes à l’agriculture, d’honorer cet art, de soulager ceux qui
s’y appliquent, et de ne souffrir point que les hommes vivent ni oisifs, ni occupés à des arts qui
entretiennent le luxe et la mollesse. Ces deux hommes, qui ont été si sages sur la terre, sont ici
chéris des dieux. Remarque, mon fils, que leur gloire surpasse autant celle d’Achille et des autres héros qui n’ont excellé que dans les combats, qu’un doux printemps est au-dessus de l’hiver
glacé, et que la lumière du soleil est plus éclatante que celle de la lune.533
532 Malettke, Klaus: Die Bourbonen. Bd. 2: Von Ludwig XV. bis zu Ludwig XVI. 1715 – 1789/92.
Stuttgart 2008. S. 115ff. Girault de Coursac, L’éducation d’un Roi. Weulersse, Mouvement physiocratique en France, Bd. 1, S. 370. Le Brun, Jacques: Du Privé au public: L’éducation du prince
selon Fénelon. In. Halévi, Ran: Le savour du prince. Du Moyen Age aux Lumières (L’esprit de la
cite). Paris 2002. S. 235 – 260. Halévi, Ran: Le Testament de la royauté: l’éducation politique de
Louis XVI. Le savoir du prince, du Moyen Âge aux Lumières sous la direction. Hg. von Ran Halévi.
Paris 2002. S. 311 – 361.
533 Salignac de La Mothe-Fénelon, François de: Les Aventures de Télémaque (Œuvres choisies de
Fénelon). Paris o. J. S. 339f. Fénelon hatte über sein pädagogisches Werk hinaus in zahlreichen
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
360
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Das Vorbild des antiken Kulturheros Triptolemos war somit einigen Generationen
französischer Kronprinzen nahegebracht worden. Der Duc de La Vauguyon ließ seinen könig­lichen Schüler aus den Maximen Fénelons 1766 Exzerpte zu einzelnen Themen anfertigen, die er mit ihm im Einzelnen besprach.534 Das 20. Exzerpt des Dauphin
behandelte die Frage: Estime qu’un roi doit faire des cultivateurs. In der Zusammenfassung erläuterte der Prinz den hohen Wert landwirtschaft­licher Arbeit: La condition des
laboureurs doit être honorée comme une des plus utiles à l’État: on doit faciliter des soldats
qui abandonneraient leur poste dans la guerre; […] La profession de laboureur ne sera plus
méprisée, n’étant plus accablée de tant de maux.535 Im Kontext dieser Erziehungsmaxime
ist es durchaus denkbar, dass der Duc de La Vauguyon gegenüber einer praktischen
Unterweisung des Kronprinzen auf dem Feld nicht abgeneigt war.
Nicht unwahrschein­lich ist auch die Annahme, dass La Vauguyon seinem könig­
lichen Zögling neben der grundsätz­lichen Bedeutung des Landbaus für den Staat auch
für die eigenen Erholungsphasen nach dem Unterricht ein zeitgenössisch aktuelles,
englisches Lebensideal des „happy man“ in Anlehnung an Horaz’ „Lob des Landlebens“
zu vermitteln suchte. Die mit dem „rural life“ verbundenen Aktivitäten bestanden
in langen Spaziergängen oder Ausritten durch die Natur und die kultivierte bzw. im
Garten gestaltete Natur. Ästhetische Naturerfahrungen sollten der Seele eines – in
diesem Fall künftigen – homo politicus Ruhe und Beständigkeit von den rein zweck­
orientierten und kräftezehrenden Tätigkeiten des politischen Alltags bringen.536 Im
Denkschriften und Briefen an König Ludwig XIV. Vorschläge zur Verbesserung der Landwirtschaft
eingereicht. Vgl. Rothkrug, Opposition to Louis XIV, S. 267ff.
534 Der Dauphin druckte diese Maxime selbst und verteilte 25 Exemplare der Exzerpte an ausgewählte
Höflinge. Ludwig XVI: Maximes Morales et Politiques tirées du Télémaque sur la science des rois
et le bonheur de peuple imprimées en 1766 par Louis Auguste Dauphin. Paris 1814. Vorwort, S. 7.
5 35 Ibd. S. 47.
In einem Gespräch, das offensicht­lich zum Ende der Erziehungszeit zwischen dem Kronprinzen
und dem Erzieher Duc de La Vauguyon stattfand, wurde die Rolle der Arbeit thematisiert: L’étude
des hommes ne demande pas, comme celle des autres sciences, une vie solitaire et retirée: ce n’est point
en fuyant les hommes, mais plutôt en vivant au milieu d’eux, en raisonnant, en conversant avec eux,
en leur parlant, et encore plus en les faisant beaucoup parler, que l’on apprend è les connaître; c’est en se
communiquant à eux, que le prince leur ouvre le cœur, pour en faire éclore leurs véritables sentiments.
Cette connaissance s’acquiert insensiblement par l’usage, pourvu que l’on soit attentif à réfléchir sur ce
que l’on voit et sur ce que l’on entend ; elle est le fruit de l’expérience. La meilleure ou plutôt la seule
école où l’on en doit prendre des leçons, c’est le monde […]. Il ne faut qu’ouvrir les yeux sur ce qui se
passe, observer avec un peu d’attention la contradiction perpétuelle qui se trouve entre les discours et les
actions de la plupart des hommes […]. Alors le prince devient savant à peu de frais de la connaissance
des hommes, un mot, un clin d’œil suffit pour les dévoiler, et il n’a que la peine de le remarquer, de le
saisir, et d’en profiter. Louis XVI: Réflexions sur mes entretiens avec M. le duc de la Vauguyon. Hg.
v. Louis Falloux. Paris 1851. S. 188 – 190.
536 Roestvig, Maren Sofie: The Happy Man. 1700 – 1760. Studies in the metamorphoses of a Classical
Ideal. 2 Bde. (Oslo studies in English, Bd. 7). Oslo ²1962. S. 43f. Mingay, Gorgon E.: A Social History of the English Countryside. London/New York 1990. S. 141 – 168. Chartres, John/Hey, David
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
361
Zusammenhang mit diesem Lebensideal standen in England landwirtschaft­liche
Betätigungen auf eigenen Gütern sowie in Deutschland die Errichtung und die
Führung von Mustergütern durch die Fürsten.537 Auch in Frankreich lässt sich in der
weiteren könig­lichen Familie, etwa bei dem Prinzen von Condé, die Leidenschaft
für eigenhändige Gartenarbeit, etwa den Gemüseanbau nachweisen. Im Hameau in
Chantilly war der Prinz maßgeb­lich an der Anlage des Gemüsegartens beteiligt und
leistete darin täg­lich einige Arbeitsstunden. Er ließ sich mit seiner jungen Gemahlin
1757 von François-Hubert Drouais als Gärtner und Gärtnerin mit Arbeitsgeräten und
eigenen Ernteerträgen porträtieren.538
Mit der eigenhändigen Landarbeit auf Mustergütern oder Gemüsegärten kam die
pädagogische Maxime der vergnüg­lichen Belehrung durch Praxis in der angenehmen
Natur statt einer trockenen theoretischen Unterweisung zum Tragen. Insofern konnte die
Gelegenheit zum Pflügen für den jugend­lichen Prinzen auch als Erholungsmaßnahme
und erster sichtbarer Ausdruck eines neuen, nun auch vom Kronprinzen gelebten Ideals
des temporären Rückzugs auf das Land gedeutet werden. Während das Landleben im
Alten Reich zu einem im Adel diskutierten alternativen Existenzentwurf avancierte, der
den Verzicht auf Macht und Prestige implizierte und seine Qualität in freundschaft­
licher Geselligkeit und ästhetischen Naturerfahrungen fand, wechselte für den englischen Adel das höfische, öffent­liche und das länd­lich-private Leben auf den Gütern
(Hg.): English Rural Society, 1500 – 1800. Essays in Honour of Joan Thirsk. Cambridge 1990. Zu
länd­lichen Aktivitäten der Gentlemen vgl. Cliffe, John T.: The World of the Country House in
Seventeenth-Century England. New Heaven/London 1999. S. 146ff. Hammerschmidt, Valentin/
Wilke, Joachim: Die Entdeckung der Landschaft. Englische Gärten des 18. Jahrhunderts. Stuttgart
1990. S. 9 – 17. Panowsky, Erwin: Et in Arcadia ego. Poussin und die Tradition des Elegischen. In:
Ders.: Sinn und Deutung in der bildenden Kunst (DuMont-Kunst-Taschenbücher, Bd. 33). Köln
1975. S. 351 – 378. Butlar, Adrian von: Der Landschaftsgarten. Gartenkunst des Klassizismus und
der Romantik. Köln 1989. Für den deutschsprachigen Raum erschien 1767 in Bern Christian Cay
Lorenz Hirschfelds Schrift „Das Landleben“. Das Werk erreichte binnen kürzester Zeit vier Auflagen, setzte es sich doch mit der Realisierung individueller Normen und Bedürfnisse außerhalb
gesellschaft­licher Lebensformen auseinander. Breckwoldt, Michael: Das Landleben als Grundlage
für eine Gartentheorie (Arbeiten zur sozialwissenschaft­lich orientierten Freiraumplanung, Bd. 14).
München 1995. S. 33ff. Zum Garten als Rückzugsort vgl. Ariès, Philippe/Chartier, Roger (Hg.):
Geschichte des privaten Lebens. Von der Renaissance zur Aufklärung. Bd. 3. Nördlingen 1991.
S. 217 – 221.
537 Zu Mustergütern in England, die in Deutschland als Vorbilder dienten, vgl. Robinson, John Martin:
Georgian Model Farms. A Study of Decorative and Model Farm Buildings in the Age of Improvement, 1700 – 1846. Oxford 1983. Zur Bedeutung der Landwirtschaft im Adel vgl. S. 11ff. Eine
Auflistung der Mustergüter Englands findet sich ab S. 113. Zu den Mustergütern der Markgräfin
Karoline Luise von Baden vgl. Lauts, Jan: Karoline Luise von Baden. Ein Lebensbild aus der Zeit
der Aufklärung. Karlsruhe ²1990. S. 191ff.
5 38 Abgebildet bei Martin, Dairy Queens, S. 180. Abb. 4.7. Vgl. zu Chantilly S. 184ff. Zu antiken Vorbildern gärtnernder Könige vgl. Stähler, Der Herrscher als Pflüger und Säer, S. 135ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
362
Der chinesische Kaiser als Vorbild
automatisch in der Winter- und Sommersaison.539 Doch für einen amtierenden oder
künftigen Monarchen stellte das Landleben keinen alternativen Lebensentwurf dar,
sondern musste entweder mit seiner Funktion als Landesherr im ökonomischen Sinne
verbunden werden (etwa durch die Anlage von Mustergütern) oder die Mög­lichkeit zu
einem temporären Rückzug an einen von der Residenz entfernten Ort eröffnen, um im
Sinne von Horaz das Schöne mit dem Nütz­lichen zu verbinden.540 Der eigenhändigen
Landarbeit eines Fürsten kam dann ein ähn­licher Charakter zu wie den üb­lichen fürst­
lichen Handwerksberufen, die zum allgemeinen Erziehungskanon gehörten und vor
allem darauf zielten, die Geschick­lichkeit der Hände zu verbessern und einen Ausgleich
zur Arbeit des Regierens zu schaffen. Mit der Ausübung eines Handwerks war dem
Monarchen ein temporärer Rückzug aus der öffent­lichen in eine eher private Sphäre
gewährt.541 „Privatus“ stand zeitgenössisch im Gegensatz zu „publicus“ und implizierte
539 Vgl. dazu auch grundlegend Lohmeyer, Anke M.: Das Lob des adeligen Landlebens in der deutschen
Literatur des 17. Jahrhunderts. In: Lohmeier, Dieter (Hg.): Arte et Marte. Studien zur Adelskultur
des Barockzeitalters in Schweden, Dänemark und Schleswig-Holstein (Kieler Studien zur deutschen
Literaturgeschichte, Bd. 13). Neumünster 1978. S. 173 – 191. Dies.: Beatus ille. Studien zum „Lob
des Landlebens“ in der Literatur des absolutistischen Zeitalters (Hermaea, N. F., Bd. 44). (Diss.)
Tübingen 1981.
540 Omne tulit punctum, qui miscuit utile dulci. Horaz: Sämt­liche Werke. Lateinisch und deutsch. Hg.
v. Hans Färber. München 101985. S. 564, Vers 343. Dieser Maxime folgend kaufte Ludwig XVI.
als König 1783 das Gut Rambouillet außerhalb von Versailles. Es verfügte über eine Meierei und
einen Gemüsegarten, der nicht nur der Dekoration diente. Martin, Dairy Queens, S. 216ff. Schon
sein Urgroßvater, Stanislas Leszczynski, hatte mit Malgrange in der Nähe seiner Residenz Lunéville
die Idee eines Mustergutes mit dem Wunsch nach einer Einsiedelei verbunden und im Stil eines
Kartäuserklosters mehrere Separatgärten von je 1,12 ha mit kleinen Häuschen anlegen lassen. Er
betätigte sich selbst darin gärtnerisch. Chapotot, Les Jardins du Roi Stanislas, S. 94.
541 Im Rahmen des Rückzugs aus der öffent­lichen Sphäre stellte der Monarch dennoch mit der Beherrschung von Werkzeug oder von Maschinen seine Fähigkeiten auf dem Gebiet des Handwerks unter
Beweis. Während sich der Monarch als Gesetzgeber in Anlehnung an Gott als Schöpfer der öffent­
lichen Ordnung zu beweisen hatte, zeigte er sich als kunsthandwerk­licher Schöpfer wertvoller ästhetischer Gegenstände einem eingeweihten Kreis von kunstverständigen Betrachtern. Als könig­liches
bzw. fürst­liches Handwerk galten insbesondere das Drechseln, das Schneiden von Gemmen nach
antiken Mustern und die Schlosserei. Nicht selten wurden dafür in frühneuzeit­lichen Schlössern
eigene Werkstätten als Refugien der Fürsten eingerichtet und Meister des jeweiligen Kunsthandwerks zur fach­lichen Anleitung und Weiterbildung der Monarchen in Dienste genommen.
Hablot, Laurent: La devise, mise en signe du prince, mise en scène du pouvoir. Les devises et l’emblématique des princes en France et en Europe à la fin du Moyen Âge. Bd. 2: Les devises des princes.
Unveröffent­lichte Diss. Poitiers 2001. S. 324. Haenel, Erich: Die Drahtziehbank des Kurfürsten
August im Musée de Cluny zu Paris. In: Mitteilungen aus den Sächsischen Kunstsammlungen 5
(1914). S. 31 – 43. Maurice, Klaus: Sovereigns as Turners. Materials on a Machine Art by Princes.
Zürich 1985. Walcher-Molthein, Alfred: Die Drechselbank Kaiser Max des Ersten. In: Belvedere.
Kunst und Kultur der Vergangenheit. Zeitschrift für Sammler und Kunstfreunde 7 (1925). S. 17 – 22.
Plumier, Charles: L’art de Tourneur. Lyon 1701.
Louis Auguste wurde zunächst wie sein Großvater, König Ludwig XV. in der Elfenbeindrechselei
unterrichtet, wandte sich aber mit großer Leidenschaft der Schlosserei, Uhrmacherei und Tischlerei
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
363
nicht nur ein „abgesondert sein“ bzw. ein aktives „sich absondern“ von öffent­lichen
und staat­lichen Angelegenheiten, sondern in einem erweiterten negativen Sinne sogar
ein „beraubt sein“ sowie in der hier passenden positiven Auslegung ein „befreit sein“.542
Genau diese, allerdings temporäre Befreiung bot der länd­liche Aufenthalt.
Neben den etablierten handwerk­lichen Tätigkeiten besaß die Beschäftigung mit
dem Landbau seitens des Fürsten nicht weniger Tradition als Zeitvertreib und Passion. So kam der Landwirtschaft als mög­lichem fürst­lichen Ausgleich im theoretischen Erziehungskanon der französischen Könige ein gewisser Stellenwert zu, wie
die Schrift I­ nstruction de Monseigneur le Dauphin von François de la Mothe le Vayer
aus dem Jahr 1640 beweist. Sie war von Le Vayer für Ludwig XIV. als Dauphin mit
der Absicht geschrieben worden, die Erzieherstelle des Kronprinzen einnehmen zu
können.543 Le Vayer ging als Skeptiker (Anhänger des Pyrrhonismus) stark von der
Unvorhersehbarkeit der Politik aus. Da der Zufall häufig die Richtung politischer
Entscheidungen prägte, könnte Politik nach Le Vayer keinen sicheren und erlernbaren Prinzipien folgen. Dennoch müsse ein Monarch in seiner Erziehung für alle
Eventualitäten vorbereitet und fähig sein, abschätzen zu können, wann er aktiv und
regelnd eingreifen oder besser passiv bleiben müsse.544 Im Kontext der umfassenden
Vorbereitung auf die monarchische Würde diskutierte Le Vayer die Bedeutung des
Landlebens und der Landwirtschaft für den künftigen König. Zunächst betonte er
die lange Tradition könig­licher Kompetenzen im Landbau und führte zahlreiche
biblische Beispiele wie den Weinreben pflanzenden Osias, König von Judäa, oder
zu. Er ließ sich in Versailles unter dem Dach ein Cabinet de Serrurerie als privaten Rückzugsort
einrichten. Darüber hinaus erlernte er auch das Maurerhandwerk.
542 Vgl. die Bedeutungen des lateinischen „privatus“ und „privare“, in: Georges, Karl Ernst (Bearb.):
Ausführ­liches Lateinisch-Deutsches Handwörterbuch. Bd. 2. Hannover 1962. Sp. 1928f. Die Problematik des privaten Status oder der privaten Sphäre eines Herrschers wurde von den bisherigen
Forschungen zum privaten Leben ausgespart. In Ariès’ und Chartiers Studie zur Geschichte des
privaten Lebens wurden nur die Krankheiten Königs Ludwigs XIV. im Tagebuch seines Arztes im
Zusammenhang mit der Privatsphäre des Monarchen thematisiert. Mög­liche Sphären des Privaten
französischer Könige fehlen. Vgl. Foisil, Madeleine, „Die Sprache der Dokumente und die Wahrnehmung des privaten Lebens“. In: Ariès, Philippe/Chartier, Roger (Hg.): Geschichte des privaten
Lebens. Von der Renaissance zur Aufklärung. Bd. 3. Nördlingen 1991. S. 333 – 367. Hier: S. 364.
Weniger zu den englischen Gärten, aber grundlegend zur Rolle des Privaten im vormodernen England
sowie zu den mit dem Privaten verbundenen Wohnsituationen in London (das Refugium oder das
Closet) vgl. Heyl, Christoph: A Passion for Privacy. Untersuchungen zur Genese der bürger­lichen
Privatsphäre in London 1660 – 1800 (Veröffent­lichungen des Deutschen Historischen Instituts
London, Bd. 56). München 2004.
543 De la Mothe le Vayer, François: Instruction de Monseigneur le Dauphin (François de la Mothe le
Vayer. Œuvres, Bd.1,1). Dresde [sic!] 1766. Das Kapitel zur Agriculture: S. 185 – 189.
544 Grundsätz­lich zur Le Vayer vgl. Schüßler, Rudolf: Skeptizismus und politisches Denken – François
de la Mothe le Vayer. In: Kremer, Markus/Reuter, Hans-Richard (Hg.): Macht und Moral: Politisches
Denken im 17. und 18. Jahrhundert (Theologie und Frieden, Bd. 31). Stuttgart 2007. S. 250 – 273.
Hier S. 257, S. 262f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
364
Der chinesische Kaiser als Vorbild
den botanisch versierten Salomon als Beispiele für Herrscher an. Mit Verweis auf die
Antike bezog er sich auf die Könige bei Homer, die allesamt gute Pflüger gewesen
seien sowie den könig­lichen Sämann, dem die Menschen den Ackerbau zu verdanken hätten. Weiter schrieb er: L’occupation des Rois de Perse étoit l’Agricluture, si la
guerre ne les divertissoit. Le Cyrus de Xenophon, et les Pharaotes de Philostrate, deux
originaux faits exprès pour nous représenter l’idée d’un Prince accompli, avoient le meme
soin de leurs Jardins que de leurs Provinces. Il y a eu des Empereurs & des Généraux de
toutes sortes de Nations, qui ont préferés la culture des champs au maniment de l’Etat,
& pris plus de contentement à ordonner de la disposition d’un verger, que de celle d’une
armée.545 Le Vayer verwies den Dauphin auf die tugendsamen Freuden des Land­lebens,
die für Abwechslung und Erholung von der Last der Regierungsgeschäfte sorgen
könnten. Zudem schade der Aufenthalt auf dem Land einem künftigen Monarchen
nicht, denn er führe zu einer robusten Körperkonstitution. Als Beispiel führte Le
Vayer Heinrich IV. an. Die Thematik der Körperertüchtigung durch Landleben und
Landbau nutzte Le Vayer zur Überleitung in das nächste Kapitel im Rahmen seiner
Erziehungsinstruktion, der Jagd. Inwieweit die landwirtschaft­lichen Fähigkeiten des
künftigen Königs sich aber positiv auf die Agrarpolitik auswirken oder sonst den
Untertanen nützen könnten, thematisiert die Schrift nicht. Sie geht zwar davon aus,
dass Landwirtschaft im Erziehungskanon für Monarchen eine Rolle spielen müsse,
rekurriert dabei aber ähn­lich wie bei der Jagd in erster Linie auf den Aspekt der Körperertüchtigung und des Ausgleichs an der frischen Luft. Eine Nütz­lichkeit des Wissens für die (Landwirtschafts-)Politik wird von Le Vayer jedoch (noch) nicht erörtert.
Dass es sich bei dem eigenhändigen Pflügen des jugend­lichen Louis Auguste 1768 um
eine praktische Lehranweisung oder um eine Maßnahme zur Entspannung im länd­lichen
Bereich gehandelt haben kann, ist durch die vorgestellten Lehr- und Erholungsmaxime
am französischen Hof bekräftigt worden. Zugleich konnte durch die Kontaktaufnahme
der Physiokraten mit dem Erzieher des Kronprinzen ein direkter Einfluss der économistes
auf die Erziehung des Dauphin nachgewiesen werden. Diesen Erziehungserfolg stellten
die Physiokraten in ihrem Publikationsorgan, den Ephémérides du Citoyen, umfassend
in mehreren Nummern der Zeitschrift vor. Das eigenhändige Pflügen wurde darüber
hinaus auch in anderen Medien bewertet, dargestellt und gefeiert, die den Bericht aus
den Epémérides du Citoyen bereitwillig aufgriffen und verwerteten. Somit erfolgte die
zeitgenössische Einordnung des Pflügens als Lehrunterweisung ausgehend von der
physiokratischen Interpretation einheit­lich.
545 De la Mothe le Vayer, Instruction de Monseigneur le Dauphin, S. 187.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
365
g. Visualisierung des könig­lichen Pflügens: Der Dauphin als neuer
Triptolemos und Vorbild für die Herrscher Europas
Im August 1769 berichteten die Ephémérides du Citoyen enthusiastisch, dass dem eigenhändigen Pflügen des Dauphin im Vorjahr nun ein Monument d’une Action louable
gesetzt worden sei: Monseigneur le Dauphin est peut-être le premier prince de nos contrées
occidentales qui ait manié la charrue. Il faut espérer qu’il ne sera pas le dernier. Peut-être
ne l’a-t-il pas fait pour la dernière fois. Et ce qu’il y a certainement lieu de croire, c’est que
la haute protection dont il honorera l’agriculture en assurera le succès, fera passer le soc sur
les terres qui ne le connaissent plus depuis longtemps et rendra les travaux champêtres plus
faciles et plus doux pour les cultivateurs plus riches et plus heureux […].546 Der Artikel
erklärte, dass Monsieur Poulin de Fleins 547 gemeinsam mit dem Pariser Architekten, Maler
und Kupferstecher François-Marie-Antoine Boizot (1739 – 1781) die Würdigung dieser
großartigen Handlung des Kronprinzen für die Nation bild­lich in einem neuen Genre
de Gravure festhalten wolle. Er habe dafür eigens einen Entwurf erstellt: Cette espece
de Gravure imite parfaitement les desseins lavés à l’encre de la Chine.548 Poulin de Fleins
selbst war jedoch beim eigenhändigen Pflügen des Dauphin nicht anwesend, sondern
erfuhr davon durch die Lektüre des anonymen Briefs in den Ephémérides du Citoyen.549
Ein Kupferstich war ein relativ preiswertes Massenmedium, das vor allem von bürger­
lichen Kunstliebhabern gekauft wurde. Es handelte sich nicht primär um ein Medium, das
Hof- und Adelskreise erreichte. Poulin de Fleins erhoffte sich deshalb wohl darüber hinaus die Fixierung des könig­lichen Pflügens durch den Genremaler Jean-­Baptiste Greuze
(1725 – 1805) oder durch la touche de Loutherbourg, so der Artikel in den Ephémérides.
Philippe Jacques de Loutherbourg (1740 – 1812) galt als herausragender Landschaftsmaler, dessen Werke Denis Diderot in seiner Salonkritik 1767 in Form eines imaginären
Spaziergangs durch die Bilder beschrieb.550
Der bild­lichen Fixierung der Pflugszene des Dauphin auf dem Stich von Boizot
(Abb. 17: Kupferstich von Boizot) folgte eine Welle der Berichterstattung, die das
Pflügen endgültig zu einem Ereignis stilisierte und in Wort und Bild als gelungene
546 Les Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Août 1769. S. 164 – 168.
Hier S. 168.
547 Es handelt sich sehr wahrschein­lich um den Schriftsteller und Correcteur des Comptes (ab 1774)
Henri-Simon-Thibault de Poullin de Fleins (1745 – 1823). Er hatte neben panegyrischen Gedichten auch den Almanach Dauphin mit einem Überblick über die französische Literatur zusammengestellt. Almanach Royal auf das Jahr 1778. Paris 1778. S. 284. Roux, Marcel: Inventaire du fonds
français, graveurs du dix-huitième siècle/Bibliothèque nationale, département des estampes. Bd. 3.
Paris 1934. S. 121. Hébrail, Jacques/Laporte, Joseph de: La France littéraire. Bd. 4. Paris 1784. S. 271.
548 Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Août 1769. S. 167, FN 6.
549 Ibd. S. 166.
550 Diderot, Denis: Der Salon von 1767. In: Ders.: Ästhetische Schriften. Bd. 2. Hg. v. Friedrich Bassenge. Berlin 1968. S. 169 – 172.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
366
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Erziehung des künftigen Königs inszenierte.551 Der Mercure de France griff das Ereignis vom Vorjahr unter Bezugnahme auf das Pflügen des chinesischen Kaisers schon
im September 1769 wieder auf und berichtete: […] M. le Dauphin labourant dans
une campagne, comme l’empereur de la Chine fait tous les ans, pour ouvrir les labours
et rendre honneur à l’agriculture, le plus noble et le premier des arts, parce qu’il est le
plus utile.552 Derartige Nachrichten über den Fortgang der Erziehung des künftigen
Königs druckte der M
­ ercure de France regelmäßig, wenn sie im Rahmen des Repräsentationsprogramms und damit außerhalb der könig­lichen Studierzimmer wahrnehmbar waren. So erhielten die Leser Informationen über Truppenbesuche des
Dauphin oder seine Teilnahme an Manövern ebenso wie über seine Anwesenheit in
Messen der Pariser Kirchen.553 Nun war der Leser, wenn auch mit einiger zeit­licher
Verzögerung, darüber informiert, dass der französische Kronprinz ebenfalls in der
Lage sei, der ersten und edlen Kunst des Pflügens nachzugehen.
Einen Monat später kündigte der Mercure de France parallel zu den Ephémérides du
Citoyen den Kupferstich von François-Marie-Antoine Boizot nach dem Entwurf von
Poulin de Fleins unter dem Titel Monseigneur le Dauphin labourant an, der das Pflügen
des Kronprinzen darstellen sollte.554 Gemäß der Oktoberausgabe des Mercure de France
hatte Abbé de Fleury den Stich vor dem König und der gesamten könig­lichen Familie
551 In einem Gedicht Vers à l’occasion d’une Estampe où Monseigneur LE DAUPHIN, est réprésenté
labourant von Brissard heißt es: Mortels infortunés & chéris à la fois, / Utiles Citoyens qui nourrissez
les Rois, / Que l’allégresse enfin succéde à vos allarmes. / Vous ne tremperez plus sillons de vos larmes, /
J’ai vu du bon Henri le jeune rejetton, / Héritier de son cœur & digne de son nom, / Dans nos champs
étonnés essayant son courage, / Soulever la charrue; & fier de son ouvrage, / Enfoncer un sillon, de cette
même main, / Qui doit porter le sceptre & régler le destin… / On verra donc un jour, au Temple de
Mémoire, / Un Roi Cultivateur, un Prince dont la gloire, / N’aura point épuisé le sang et ses sujets; /
Qui n’aura rien conquis qu’à force de bienfaits. / Il aura pour appui Cérès & non Bellonne; / Pour sceptre
un olivier; ses vertus pour couronne. / L’airain n’offrira pas, aux yeux épouvantés, / D’attributs teints de
sang, de rébelles domptés, / De captifs enchainés une foule éperdue;/ Mais des gerbes, des socs, une simple
charrue, / D’utiles Laboureurs & de bons Paysans, / Et leurs chastes moitiés & leurs nombreux enfans,
/ Tont un Peuple à genoux bénissant sa mémoire, / Embrassant sa Statue; & la France à sa gloire, / Au
lieu d’éloges vains, de titres fastueux, / Y gravant ces seuls mots: Il les rendit heureux. Ephémérides du
Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Novembre 1769. S. 174f.
552 Mercure de France. Septembre 1769. Bd. 1. S. 167.
553 Girault de Coursac, L’Education d’un roi, S. 72f.
554 Mercure de France. Septembre 1769. Bd. 1. S. 167. Boizot, François-Marie-Antoine: Le Dauphin
labourant. Kupferstich, 43 x 54,5 cm. 1769. Bibliothèque nationale de France, Paris. Estampes,
Qb-1 (1769). Eine weitere sehr kurze Ankündigung des Boizot-Stichs findet sich auch in der
Gazette de France vom 29. September 1769: Gazette de France 1769. Nr. 78. S. 318. Zu diesem
und den folgenden Kupferstichen vgl. aus kunsthistorischer Perspektive Lechtreck, Hans-Jürgen:
Herrscher im „royaume agricole“. Das kaiser­liche Pflügen als Gegenstand reformabsolutistischer
Bildsprache. In: Zeitschrift für Kunstgeschichte 64/3 (2001). S. 364 – 380. Clavilier, Cérès et
le laboureur, S. 114f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
367
am 10. September 1769 in Versailles präsentiert.555 König und Dauphin besaßen somit
Kenntnis von der Bedeutung, die dem eigenhändigen Pflügen Louis Augustes in der
Öffent­lichkeit beigemessen wurde. Reaktionen aus dem Kreis der könig­lichen Familie
auf den Stich und seine Aussage konnten jedoch nicht ermittelt werden.
Der Stich Boizots nahm dann deut­lich den von den Physiokraten gewünschten Bildungs- und Erziehungsaspekt des Landbaus in den Fokus und inszenierte gleichzeitig
die neue Rolle des Monarchen als erster Landmann. Das Blatt spiegelt dabei genau das
Anliegen der Physiokraten wider: einen Monarchen, der sein Wissen um praktische
und theoretische Landwirtschaftskenntnisse erweiterte. So schreitet der Duc de La
Vauguyon als Gouverneur neben dem pflügenden Dauphin einher.556 Mit der Anwesenheit des Erziehers wurde dem Betrachter vermittelt, dass die Landwirtschaft zum
Herrscherwissen zählt und an den künftigen Monarchen des Landes sowie die könig­
lichen Prinzen vermittelt wird. Die Darstellung der Brüder des Erbprinzen, die in
Begleitung zweier eleganter adeliger Kavaliere hinter dem Pflug schreiten, machte dem
Betrachter des Stichs auch deut­lich, dass die Begleiter ihren Zöglingen aufgrund ihrer
Gestik offensicht­lich gerade Unterricht erteilen oder deren Fragen beantworten. Der
Dauphin ist in höfischer Kleidung mit Dreispitz, Degen und dem Orden vom Heiligen
Geist dargestellt, seine jüngeren Brüder ebenfalls durch die Schärpe herausgehoben. Die
Pferde des Pfluges schmücken eine Decke mit dem angedeuteten Wappen des Dauphin.
Geführt werden die Pferde durch einen Bauern. Drei Gruppen von Berittenen rahmen
die Pflugszene des Dauphin ein und verweisen den Betrachter darauf. In gebührendem
Abstand scheinen sich Teile der Darstellungen des Vordergrunds zu wiederholen. Hinter den könig­lichen Personen steht ein Bauer mit seinem Sohn, der ebenfalls auf dieses
Geschehen verweist, zugleich aber seinen Sohn anhand des könig­lichen Beispiels auch
belehren könnte. Oberhalb der herrscher­lichen Pflugszene findet eine zweite Szene mit
ackerbau­licher Arbeit statt. Ein Bauer geht seiner gewohnten Tätigkeit nach und bearbeitet sein Feld mit der Egge. Für den Betrachter des Stichs wurde deut­lich: Der Bauer
und der Kronprinz üben eine ähn­liche und sich ergänzende Tätigkeit aus. Sie besitzen
offensicht­lich gleiche Fähigkeiten. Die Arbeit des Bauern erfuhr mit dieser Darstellung
eine einzigartige Beachtung und Wertschätzung durch den zukünftigen Landesherrn,
der sich gleichzeitig mit seiner Person an die Spitze der Landwirtschaft stellt.
555 L’abbé de Fleury eut l’honneur de présenter au Roi et à la Famille Royale une estampe représentant
Monseigneur le Dauphin labourant, dédiée à ce prince, composée et exécutée par le Sieur Boizot. Mercure de France. Octobre 1769. Bd. 1. S. 224.
556 Haushofer ist bei der Interpretation des Stichs von Boizot ein gravierender Fehler unterlaufen. Er
schreibt als Erläuterung des Stichs unter Abb. 2 „Der Dauphin (später Ludwig XVI.) pflügt unter
den Augen seines Vaters Ludwig XV.“ Haushofer, Das kaiser­liche Pflügen, S. 177. Ludwig XV. ist
der Großvater des Prinzen und auf dem Stich nicht abgebildet. Diese Fehlinterpretation übernimmt
auch Telesko, Werner: Geschichtsraum Österreich. Die Habsburger und ihre Geschichte in der bildenden Kunst des 19. Jahrhunderts. Wien/Köln/Weimar 2006. S. 119. Ebenso falsch bei Stähler,
Der Herrscher als Pflüger und Säer, S. 12f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
368
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Damit folgte der Entwurf der Darstellung von Boizot und Poulin de Fleins tatsäch­
lich den Beschreibungen der Pflugszene am kaiser­lichen Hof in China. Der französische
Kronprinz führte den Pflug wie sein kaiser­licher Kollege in Anwesenheit der Prinzen
von Geblüt, adeliger Höflinge und Bauern. Die Handlung fand wie in China im Beisein
von Vertretern unterschied­licher Stände und Schichten statt – wenn auch nicht während eines offiziellen Anlasses oder in Form eines Rituals. Im Motiv des chinesischen
Rituals hatten Reiseberichterstatter, Kameralisten und Physiokraten ein Indiz für eine
Gesellschaft entdeckt, in der dem Wert der Arbeit eine große Bedeutung beigemessen
wurde. Im Pflügen aller Schichten war eine gegenseitige Annäherung über die Arbeit
und den Nahrungserwerb gesehen worden. Die gleiche Interpretation einer gesellschaft­
lichen Annäherung wurde nun auf die Pflugszene des Dauphin übertragen: Während der
Kronprinz pflügte, vollführte ein Bauer die anschließende Tätigkeit des Eggens. Symbolisch bearbeiteten der künftige Monarch und der Bauer als Nährstand das Feld damit
in ähn­licher Form gemeinsam wie beim Akt des gesellschaftsübergreifenden Pflügens
in China. Poulin de Fleins stellte mit seinem Entwurf dar, wie die umstehenden Bauern
über die länd­liche Arbeit ihres künftigen Landesherrn jubelten. Er griff somit auf die
gewünschten Deutungen der Physiokraten und die Einschätzungen der Reiseberichte
zurück, die von der Wertschätzung des Ackerbaus und der Bauern als Effekt des eigenhändigen Pflügens des chinesischen Kaisers gesprochen hatten. Der Dauphin wirkte in
Poulin de Fleins Entwurf durch seine praktischen ackerbau­lichen Fähigkeiten wie der
chinesische Kaiser als Vorbild – für Monarchen, für den Adel und die Bauern. Durch
dieses Vorbild belehrte und motivierte er, dem Landbau getreu und fleißig nachzugehen.
Wenn die Bildgestaltung auch durchaus in Anlehnung an das Modell des chinesischen
Kaisers entstand, griff der Stich in der Bildunterschrift jedoch im Gegensatz zu dem
anonymen Bericht in den Ephémérides du Citoyen nicht auf das Beispiel des chinesischen Kaisers als Vergleich und Kontextualisierung der Handlung des Dauphin zurück,
sondern feierte den künftigen König als neuen Triptolemos. Auf der Bildunterschrift
heißt es: Quel est Donc, Ô Cères, ce nouveau Triptolème? / D’un Père bien faisant c’est le
plus doux Emblême / Quelles mains de ton art Essaïent les Leçons? L’image de Louis l’heritier des Bourbons. Und darunter: Dedié à Monseigneur Le ­Dauphin, l’an 1769, pas son
très humble et très respectueux Serviteur Poulin de Fleins.557 Boizots Blatt rekurrierte so
gezielt auf die antike mythische Tradition, griff dabei aber nicht auf etablierte Muster in
der Herrschaftsdarstellung wie Herkules oder Alexander den Großen 558 zurück, sondern
wählte den kaum in der französischen Repräsentation verankerten Triptolemos. In der
5 57 Boizot, Le Dauphin labourant. Bildunterschrift.
558 Insbesondere Ludwig XIV. sah sich als Nachfolger Alexanders. Seine imitatio Alexandri bezog
sich aber vor allem auf die Darstellungen als tapferer und siegreicher Kämpfer sowie als großer
König. Ein Bezug zu Alexander als Ernährer des Volkes findet sich in Ludwigs Anlehnung an den
makedonischen König nicht. Zur Rolle Alexanders in Ludwigs XIV. Herrschaftsverständnis und
-darstellung vgl. Grell/Michel, L’École des Princes, S. 12ff und S. 65ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
369
Wahl des Triptolemos steckt darüber hinaus auch ganz klar der Hinweis auf die Tradition
der antiken Kaiser wie etwa Claudius, der den Titel Neos Triptolemos als Kornspender
und Ernährer des Volkes erhalten hatte.559 ­Boizot bediente sich mit der erläuternden
Bildunterschrift einer Kommunikationsstrategie, die das Motiv in einen bestimmten
Verständniskontext setzte, belehrte und über wenig bekannte Inhalte informierte. Er
lenkte das Verständnis des Betrachters gezielt in die erwünschte Richtung des Künstlers
und ließ keinen Raum für andere Assoziationen. Die Beschriftung von Kunstwerken
schien aus Sicht von Zeitgenossen wie dem Kunsttheoretiker Jean-Baptiste Dubos in
Verbindung zur Darstellung die Betrachtung des Bildes zu perfektionieren und zu einem
vollständigen fruchtbaren pädagogischen Augenblick für den Betrachter werden zu
lassen.560 Der eleusische Ackerbau-Heros, der selbst in der physiokratischen Literatur
und Propaganda neben dem chinesischen Kaiser nur eine untergeordnete Rolle gespielt
hatte, avancierte mit Boizots Kupferstich zu einem optimalen Vergleichspunkt für den
Dauphin. Wie der mythische Triptolemos von Ceres im Ackerbau unterwiesen worden
war und in ihrem Namen den Landbau verbreitete, erwies sich aus Sicht Poulin de Fleins
und Boizots Louis Auguste als neuer Triptolemos Frankreichs und als gelehriger Schüler
auf diesem Gebiet. Zugleich führte er als künftiger französischer Monarch die antike
Tradition ruhmreicher römischer Kaiser fort, die sich der cura annonae angenommen
hatten. Mit Boizots Stich und der Deutungsvorgabe für die dargestellte fürst­liche Szene
etablierte sich für die Dauer von etwa zwei Jahrzehnten eine weitere Herrschertugend
mit ihrer traditionellen Verankerung im antiken Mythenspektrum. Hatte das Pflügen des
chinesischen Kaisers in der Vermittlung der Notwendigkeit ackerbau­licher Interessen
eines Monarchen erfolgreich als Vorbild gewirkt, so eignete sich der fremde Potentat
nicht mehr dazu, die vollzogene Tat des französischen Kronprinzen würdigend einzuordnen. Dafür musste auf den mythologischen Bereich zurückgegriffen werden, der
Louis Auguste in die Nachfolge von Göttern oder Halbgöttern stellte und nicht in den
Schatten eines fremden, allzu erfolgreichen Monarchen und Zeitgenossen. Wenn es sich
zudem beim eigenhändigen Pflügen des Dauphin um eine geplante Lehrunterweisung
seitens seines Erziehers gehandelt hat, welche die Exzerpte aus Fénelons Telemaque zur
Landwirtschaft praktisch stützen sollten, dann war die Einordnung des könig­lichen
Handelns durch den Text des Fürstenspiegels und die Wahl der Identifikationsfigur
mit Triptolemos ohnehin vorgegeben. Dennoch ist der Wandel in der Interpretation
und Einordnung des Motivs auffällig: Während das Beispiel des chinesischen Kaisers
ein Ideal prägte und die Vermittlung des Ideals maßgeb­lich dominierte, spielte es in
der Rezeption des Ideals durch die französische Öffent­lichkeit und die Monarchen
selbst kaum mehr eine Rolle.
5 59 Vgl. dazu Kap. 2.1.3 c) in dieser Studie.
560 Zu Jean-Baptiste Dubos theoretischen Vorstellungen, den Betrachter zu belehren oder zu rühren,
vgl. Kernbauer, Platz des Publikums, S. 106f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
370
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Der junge Thronfolger hatte sich, wie die Bildunterschrift unter Boizots Stich mitteilte, nicht nur als neuer Triptolemos, sondern auch als ein rühm­liches Beispiel seiner
Dynastie erwiesen, der für alle sichtbar und würdig in der Tradition des père bien faisant,
des guten und fürsorg­lichen, väter­lichen Königs Heinrich IV. stand. Dies verhieß dem
Untertanen in der nächsten Herrschergeneration ein gutes, bedachtes und wohlmeinendes Regiment und damit eine glück­liche Zukunft.561
Nachdem die landwirtschaft­liche Betätigung von Louis Auguste außerhalb des Hofes
so viel Beachtung gefunden hatte, erkannte auch Versailles das Potential des Motivs
des pflügenden Dauphin und den Wert des Kupferstichs von Boizot. Der Stich wurde
deshalb auch zeitnah seitens des Hofes verbreitet. In einer kolorierten Prachtausgabe
erhielt den Stich beispielsweise die künftige Braut des Kronprinzen, die 14-jährige Erzherzogin Maria Antonia (Marie Antoinette) von Österreich: L’estampe du « Dauphin
labourant » envoyée à Antonia.562 Erst wenige Monate zuvor, im Juni 1769, war in Wien
die offizielle Eheanfrage für die Prinzessin seitens des französischen Hofes eingegangen.563 Die Frage nach der beabsichtigten Aussage des Stichs gegenüber der künftigen
Dauphine soll vorerst noch zurückgestellt werden, denn Boizots Stich blieb nicht der
Einzige, der die Pflugszene visualisierte und als Präsent Marie Antoinette erreichte.
Ein weiterer Kupferstich, der bisher Michael Wachsmuth (1705 – 1775) zugeschrieben
wurde,564 sehr wahrschein­lich aber von dem Straßburger Stecher Martin Wachsmuth
561 Zur Rolle Heinrichs IV. als bon roi Henri le Grand während der Regierungszeiten Ludwigs XV.
und Ludwigs XVI. in der Herrscherkritik, aber auch in der Selbstdarstellung vgl. Malettke, Klaus:
Dynastischer Aufstieg und Geschichte. Charakterisierung der Dynastie durch bourbonische Könige
und in der zeitgenössischen Historiographie. In: Kampmann, Christoph/Krause, Katharina et al.
(Hg.): Bourbon, Habsburg, Oranien. Konkurrierende Modelle im dynastischen Europa um 1700.
Köln/Weimar/Wien 2008. S. 13 – 26. Hier S. 18ff. Die physiokratische Argumentation zielte eher
auf den Minister Heinrichs IV., Sully. Sie trugen nicht unwesent­lich zur Stilisierung seiner Person
als grand ministre bei. Vgl. Avezou, Sully à travers l’Histoire, S. 225ff. Zu Sully in den Ephémérides
ibd. S. 230ff. Auch der Schwiegervater Ludwigs XV., Stanislas Leszczynski, hatte sich mit einem
Image eines roi bienfasant geschmückt, als er mit dem Garten von Malgrange ein Mustergut hatte
anlegen lassen und darüber hinaus sein landwirtschaft­liches Interesse auch in der Förderung der
Bauern in Lothringen zeigte. Chapotot, Les Jardins du Roi Stanislas, S. 95ff. Im Juli 1762 wurde
ihm zu Ehren an der Kirche St. Catherine eine Inschrift befestigt, die dem König den Surnommé le
Bienfaisant zugestand. De Raissac, Richard Mique, S. 80. Die zeitgenössische aristokratische Auffassung von bienfaisant war somit als Sensibilität für eine Sache bzw. für Bedürfnisse zu verstehen.
Martin, Dairy Queens, S. 181.
562 Lever, Evelyne: Marie-Antoinette. La dernière reine. Paris 2000. S. 17.
563 Malettke, Bourbonen, S. 117.
564 Michael Wachsmuth war als Kupferstecher in Schaffhausen um 1760/1770 tätig. Vgl. dazu Hans
Vollmer (Hg.): Allgemeines Lexikon der bildenden Künstler von der Antike bis zur Gegenwart.
Bd. 35. Leipzig 1942 (Reprint Leipzig 1999). S. 5. Ihm sind die beiden Kupferstiche zugeschrieben,
allerdings erscheint eine Zuordnung angesichts des Wirkens von Martin Wachsmuth als Stecher
in Straßburg logischer. Diese Vermutung stützt die Bildunterschrift, die in diesem Kapitel noch
ausführ­lich diskutiert wird. Eine indirekte Bestätigung bietet auch das elsässische Künstlerlexikon.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
371
oder von seinem Augsburger Kollegen Jeremias Wachsmuth stammt, fixierte das Pflügen
des Dauphin etwa ein reich­liches Jahr nach dem Geschehen, um 1770, unter dem gleichen Titel wie Boizots Stich: Monseigneur le Dauphin labourant.565 Auch ­Wachsmuth
(Abb. 18: Kupferstich von Wachsmuth) bediente sich einer Beschriftung seines Stichs,
welche die Deutung vorgab. Die Bildunterschrift bildet einen Reim und lautet: O Terre!
ouvre ton sein, l’utile agriculture/ l’humanité sourit et toute la Nature/ l’objet de nos dedains
s’annoblit en ce jour/ en voyant travailler l’objet de notre amour.566 Das Bild ist ähn­lich
wie Boizots Stich aufgebaut. Vor allem fällt die Ähn­lichkeit der Landschaft und der
Gebäude ins Auge. Diese Tatsache begünstigt die Annahme, dass es sich nicht um eine
rein dekorative blühende Kulturlandschaft handelt, welche die Szene passend umrahmen
soll, sondern um einen realen Ort, an dem das Pflügen stattgefunden haben kann. Die
abgebildete Architektur verweist wegen des auffälligen Dachreiters auf eine Zisterzienserabtei. Die Recherche nach einer entsprechenden Abtei, die sich im näheren Umkreis
von Versailles befand und somit als mög­liches Ziel einer Spazierfahrt infrage kam, ergab
tatsäch­lich einen Befund: Es handelt sich sehr wahrschein­lich um die Abbaye des Vaux
de Cernay in der Nähe von Rambouillet. Eine Rekonstruktion der Abtei von L. Morize
(Abb. 19: Gebäudestruktur der Abtei) aus dem Jahr 1889 im bau­lichen Zustand vor der
Französischen Revolution zeigt die Gebäudestruktur.567 Sowohl die Kirche mit Dachreiter, die Abbildung des Chores und die Verteilung weiterer Gebäude weisen eine große
Übereinstimmung mit Boizots und Wachsmuths Stichen auf. Auch eine Mühle, die
sich auf dem Kupferstich Boizots unweit der Abtei befindet, kann am Weg süd­lich des
Es ordnet die beiden Stiche mit dem pflügenden und jagenden Dauphin einem Elsässer Stecher M.
Wachsmuth zu. Dies ist ein Indiz, dass es sich um Martin, nicht jedoch um den in Schaffhausen tätigen Michael handeln muss. Reiber, Ferdinand: Catalogue de la Collection d’Alsatiques (Estampes
et Livres) de Ferdinand Reiber. Strassburg 1896. S. 341. Nr. 5325f. Francois-Louis Bruel ordnet den
Stich Jeremias zu, ohne jedoch einen Nachweis zu erbringen. Bruel, Francois-Louis: Collection de
Vinck. Inventaire analytique. Bd. 1, Paris 1770. S. 76f. Eine eindeutige Zuordnung zu einem Stecher
kann somit nicht erfolgen. M. könnte einfach auch nur für Monsieur stehen.
Eckehardt löst die Initiale M. Wachsmuth nicht auf. Budde, Europa und die Kaiser von China,
S. 68, Abb. 62. Clavilier verzichtet auf eine genaue Zuordnung und gibt nur den Hinweis auf Wachsmuth. Clavilier, Cérès et le laboureur, S. 120f.
565 Die BnF hat seit Juli 2012 die Zuschreibung der Stiche an Michael gelöscht und stattdessen kommentarlos Jeremias Wachsmuth (1711 – 1771) eingetragen. Die Gazette de France kündigte am
26. Oktober 1770 die Stiche an: Deux nouvelles estampes représentant, l’une, Monseigneur le Dauphin
labourant, et l’autre, Monseigneur le Dauphin chassant. Chez Croisey, graveur et marchand d’estampes,
rue Dauphine, vis à vis de la rue Christine. Eine Ankündigung findet sich auch in: Ephémérides du
Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences. Juin 1770. S. 210f.
5 66 Wachsmuth, Michael (?): Le Dauphin labourant. Kupferstich Maße: 34,5 x 51,5 cm. Signatur: Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, RESERVE QB-370 (2)-FT 4.
567 Abbildung bei Aubert, Marcel M.: L’Abbaye des Vaux de Cernay. Paris 1931. S. 7. Grundsätz­lich kurz
zur Geschichte der Abtei vgl. ders.: L’Abbaye des Vaux de Cernay. Paris 1934. Peugniez, Bernard:
Routier cistercien (Collection Le monde cistercien). Moisenay 2003. S. 177 – 179.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
372
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Klosters zusammen mit einer Brauerei und einem Bauernhof nachgewiesen werden.568
Die Abtei wurde ab 1766 bis zu ihrer Auflösung 1791 von Louis II. Charles du Plessis
d’Argentré geleitet, der zugleich als Bischof von Limoges fungierte.569 Er pflegte mit
Turgot, dem Intendanten von Limoges und späteren Minister für Finanzen, gute Beziehungen. Ob der Abt schon darüber hinaus Kontakte zu den Physiokraten unterhielt,
war nicht zu ermitteln. Unklar bleibt auch, ob die Abtei gezielt aus- bzw. aufgesucht
wurde, oder ob es sich um einen Zufall handelte. Eine mög­licherweise gezielte Auswahl
der Zisterzienserabtei würde sich hinsicht­lich eines beabsichtigten Erziehungsaspekts
für den Dauphin als sinnvoll erwiesen haben, denn der Orden hatte es sich seit seiner
Gründung durch Bernhard von Clairvaux zum Ziel gesetzt, Täler in der Wildnis zu
besiedeln und zu kultivieren. Die Zisterzienser rodeten Wald und legten Ackerflächen
und Gemüsegärten an, auf denen sie sich über Jahrhunderte der Entwicklung und Verbreitung landwirtschaft­lichen Wissens widmeten.570
Die Übereinstimmung der Gebäude auf den Kupferstichen von Boizot und
­Wachsmuth muss jedoch nicht zwangsläufig ein Indiz für die Darstellung einer realen
Landschaft sein. Mög­lich ist auch, dass Wachsmuth den Hintergrund von Boizots Stich
einfach kopiert oder sich gestalterisch zumindest eng daran angelehnt hat.
Der Stich Wachsmuths zielte ebenfalls auf den Ausbildungs- und Erziehungsaspekt
von Landwirtschaft in der könig­lichen Familie. Der Dauphin, im höfischen Rock mit
Dreispitz bekleidet, führt den Pflug mit beiden Händen, während ein Bauer im Kittel
die Zügel der Pferde hält. Die Decke des vorderen, weißen Pferdes weist die Initialen
A. L. für Auguste Louis auf. Einem der jüngeren Prinzen und Bruder des Dauphin wird
durch einen der Erzieher die Tätigkeit des Älteren erläutert. Über dem Kronprinzen,
als zweiter Mittelpunkt der gesamten Darstellung, steht am bereits gepflügten Feld
ein Bauer, der mit der Aussaat beschäftigt ist. Am Rande des Feldes beobachtet neben
der könig­lichen Kutsche das Gefolge des Dauphin stehend die Szene, während aus der
Gegenrichtung jubelnde Bauern herbeilaufen. Am rechten Bildrand betrachtet eine
bäuer­liche Familie mit einer Egge ebenso glück­lich wie erstaunt die Szene. Damit sind
auch alle notwendigen ackerbau­lichen Arbeitsschritte des Pflügens, des Eggens und
der Saat auf dem Bild vertreten.
Der Kupferstecher M. [Michael/Martin oder Jeremias?] Wachsmuth schuf noch
einen weiteren Stich (Abb. 20: Kupferstich von Wachsmuth) als Pendant.571 Er zeigt
den Dauphin in einer kleineren Gesellschaft auf einer der in Frankreich üb­lichen und
568
569
570
571
Aubert, L’Abbaye des Vaux de Cernay, 1931, S. 72.
Ibd. S. 61. Ders., L’Abbaye des Vaux de Cernay, 1934, S. 29.
Grundsätz­lich dazu: Nagel, Eigenarbeit der Zisterzienser.
Wachsmuth, Michael (?): Monseigneur le Dauphin chassant. Kupferstich. Maße: 34,5 x 52 cm. Bibliothèque nationale de France, département Estampes et photographie, RESERVE QB-370 (2)-FT
4. Abgebildet und kurz besprochen bei Clavilier, Cérès et le laboureur, S. 120f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
373
unter Ludwig XV. besonders beliebten Parforcejagden.572 Der Stich Wachsmuths stellt
jedoch nicht das „Handwerk“ der Jagd oder die Körperertüchtigung in den Vordergrund,
sondern entweder die Belehrung oder das bereits vorhandene Wissen des Kronprinzen,
Jagden für die Landwirtschaft so schonend wie mög­lich und zur passenden Jahreszeit
durchzuführen: Der Stich fixiert einen Moment, in dem das kleine Jagdgefolge des
Dauphin an einem Feldrand angehalten hat. Der Blick des Betrachters, der Jäger und
dreier am linken Bildrand stehenden Bauern mit Sensen folgt einem auf eine blühende
Agrarlandschaft weisenden Begleiter des könig­lichen Gefolges, der die in vollem Wachstum stehenden Felder vor Augen führt. In der Kutsche, die das Wappen des Dauphin
trägt, ist der Kronprinz in Begleitung eines jüngeren Mannes, mög­licherweise seines
Bruders, zu sehen. Offensicht­lich hatte der Dauphin befohlen, die Kutsche bzw. den
ganzen Jagdzug am Feldrand halten zu lassen.
Sehr wahrschein­lich gehen die Motive von Wachsmuths beiden Stichen Le Dauphin
labourant und Le Dauphin chassant auf den Bericht aus dem anonymen und Quesnay
zugeschriebenen Brief zurück, den die Ephémérides du Citoyen in ihrer Juliausgabe
1768 publiziert hatten. Text und Bilder passen auffällig zusammen, ohne dass die Stiche
einen Hinweis auf die mög­liche Quelle geben oder gar auf ein Ereignis Bezug nehmen.
Neben der Beschreibung des eigenhändigen Pflügens hatte der Brief Quesnays noch
eine weitere Begebenheit vom Herbst des Jahres 1767 eröffnet, in der sich der junge
572 Insbesondere die Hohe Jagd, das Erlegen von Hochwild, stellte ein fürst­liches Privileg dar. Rösener,
Werner: Die Geschichte der Jagd. Kultur, Gesellschaft und Jagdwesen im Wandel der Zeit. Düsseldorf 2004. S. 257ff.
Unter Ludwig XI. (1423 – 1483) wurde die Parforcejagd am französischen Hof fest etabliert.
D’Anthenaise, Claude: Chasses aux toiles, chasses en parc. In: Chantenet, Monique/D’Anthenaise,
Claude (Hg.): Chasses princières dans l’Europe de la Renaissance. Paris 2007. S. 73 – 100. Hier S. 74f.
Zum Ablauf der Parforcejagden nach zeitgenössischen Jagdlehrbüchern vgl. Pirl, Uwe: Von mancherley Arten der Lust-Jagten und Jagt-Divertissements. In: Richter, Susan (Bearb.): Die Lust am
Jagen. Jagdsitten und Jagdfeste am kurpfälzischen Hof. Ubstadt-Weiher 1999. S. 33 – 43. Hier S. 37ff.
Der Jagd an sich kam ein erheb­licher Erziehungsaspekt für fürst­liche Söhne zu, konnte doch
dabei das Töten bzw. die Macht über Leben und Tod ebenso erlernt werden wie die Orientierung
im Gelände oder das strategische Vorgehen beim Stellen des Wildes. Zudem gelang es bei der Jagd,
den eigenen Körper an der frischen Luft spielerisch an Strapazen zu gewöhnen, was im Krieg für
einen Prinzen von Vorteil sein konnte. Salvadori, Philippe: La chasse sous l’Ancien Régime. Paris
1996. S. 138ff und S. 161ff. In einem zeitgenössischen deutschen Jagdlehrbuch, dem Geheimen
Jäger=Kabinett, heißt es: Es ist unstreitig die Jägerey eine von den schönsten Lustbarkeiten und grossen
Herren und Standes=Personen vor allem sehr anständig, sintemahl nicht allein dadurch der Leib zu
allen Kriegs= Exercitien fertig und dauerhaft gemacht wird. Anonymus: Geheimes Jäger=Cabinet.
Leipzig 1701 (Reprint Berlin 1990). S. 837. Friedrich II. hatte 1739 als Kronprinz in seinem Antimachiavell die Verrohung des mensch­lichen Charakters durch die Jagd kritisiert: Es liege nahe, daß
ihre Unempfind­lichkeit, die sie beim Tiere an den Tag legen, auch gegen Menschen zu erweisen, zum
mindesten, daß ihre grausame Gewöhnung, kalten Bluts das Leiden der Kreatur anzusehen, ihr Mitgefühl mit dem Leide ihresgleichen abstumpft. Preußen, Friedrich, König von: Der Antimachiavell.
Hg. v. Friedrich von Oppeln-Bronikowski. Jena 1922. S. 55.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
374
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Thronfolger während einer Jagd im Beisein seiner Brüder als besonnener Jäger und als
Schützer der Landwirtschaft erwiesen hatte. Der Prinz hatte, so der Bericht Quesnays,
der eigenen Kutsche und dem gesamten Jagdgefolge angesichts eines Feldes, auf dem das
Korn erntereif stand, zu halten befohlen und die Änderung der Route vorgegeben, um
die Ernte nicht zu zerstören. Sein Bruder, der Comte d’Artois, soll dem Brief Quesnays
zufolge die Situation des umsichtigen Dauphin mit den Worten kommentiert haben:
Ah! Que la France est heureuse d’avoir un Prince si rempli de Justice.573 Der Text in den
Ephémérides du Citoyen verwies den Leser auf einen wohlunterrichteten künftigen König.
Genau diese Aussage griff Wachsmuths Stich auf: Mit der Jagd war jahrhundertelang die sichtbare Aneignung von Land und die Beherrschung von unbebautem Raum
durch den Fürsten mittels der Hatz verbunden, immer aber auch die Landpflege des
Agrarraumes, welche die ungestörte und fried­liche Kultivierung des Landes ermög­
lichen sollte.574 Damit war dem Herrscher eine Verfügungsgewalt über die Natur, aber
auch eine Schutzfunktion über kultivierte Natur zugesprochen worden. Doch gerade
die Landpflege wurde zugunsten einer oft willkür­lichen Landbesetzung bei und durch
herrscher­liche Jagden im 17. und 18. Jahrhundert immer mehr vernachlässigt und damit
gegen normative Muster fürst­licher Pf­lichten zur Sicherung des Agrarraumes verstoßen.575
Der Stich Wachsmuths verwies auf die massive zeitgenössische Kritik an den höfischen
Jagden, die oftmals ohne Rücksicht auf die frische Aussaat auf den Feldern oder zur
Erntezeit das Wild willkür­lich über die Äcker trieben und billigend in Kauf nahmen,
dass dabei die Feldfrüchte zerstört und die landwirtschaft­lichen Nutzflächen ruiniert
sowie Vieh der Bauern von den Parforcehunden gerissen wurde. Der Stich zeigt den
künftigen König und damit auch den künftigen Jagdherrn, der sich seiner Verantwortung gegenüber seinen Untertanen und der Bedeutung des Landbaus für die gesamte
Versorgung mit Nahrungsmitteln bewusst war, die er vor Zerstörung durch die Jagd
oder durch den Wildbestand im Wald, der sich oft sein Futter auf den umliegenden
573 Anonymus [Quesnay, François]: Lettre à l’Auteur des Éphémérides, de Versailles, ce 16 juin 1768.
In: Ephémérides du Citoyen, ou Bibliothèque raisonnée des Sciences, ou Bibliothèque raisonnée
des Sciences. Juillet 1768. S. 9 – 11. Hier S. 11.
574 Morsel sieht in der Wildverfolgung eine räum­liche Bewegung und eine damit verbundene Raumbelegung bzw. herrschaft­liche Durchdringung der Wildnis. Wildnis wird durch die Jagd zum
herrschaft­lichen Raum. Morsel, Joseph: Jagd und Raum. Überlegungen über den sozialen Sinn der
Jagdpraxis am Beispiel der spätmittelalter­lichen Franken. In: Rösener, Werner (Hg.): Jagd und höfische Kultur im Mittelalter (Veröffent­lichungen des Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 135).
Göttingen 1997. S. 255 – 288. Hier S. 282ff.
575 Birgit Franke verweist auf Piero de Crescenzis Liber ruralium commodorum aus dem frühen 14. Jahrhundert, das im 15. und 16. Jahrhundert in französischer Übersetzung am Hof Frankreichs weit
verbreitet war und insbesondere die Jagd unter dem Aspekt der Landpflege diskutiert. Franke,
Birgit: Jagd und herrscher­liche Domäne. Bilder höfischer Repräsentation in Spätmittelalter und
Früher Neuzeit. In: Martini, Wolfram (Hg.): Die Jagd der Eliten in den Erinnerungskulturen von
der Antike bis in die Frühe Neuzeit (Formen der Erinnerung, Bd. 3). Göttingen 2000. S. 189 – 217.
Hier S. 202.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
375
Feldern suchte, zu schützen hatte. Dass der künftige Herrscher das Jagdregal vernünftig
und maßvoll ausübte, wollte Wachsmuth mit seinem Stich darstellen. Die Stärke des
Prinzen lag nicht in der Demonstration beispielhaften Mutes oder jagd­licher Kunst
wie auf Darstellungen seiner könig­lichen Vorfahren, etwa den Bildern Ludwigs XIV.
auf Treibjagd,576 sondern gerade darin, auf der Jagd die erntereifen Felder zu schonen
und nicht hindurchzufahren. Betont wurde der Verzicht auf die Jagd in einer Situation, in welcher die Fortführung dem Gemeinwohl geschadet hätte. Wachsmuths
Stich ­Monseigneur le Dauphin chassant kommunizierte dem Betrachter die Aussage
­Monseigneur le ­Dauphin non chassant in einem Moment, wo Jagd nur Schaden für den
Untertanen angerichtet hätte.
Die Bildunterschrift unter dem Kupferstich unterstützt diese Interpretation, setzte
sie doch ähn­lich wie die unter dem Stich Boizots den Thronfolger in die Tradition seiner Vorfahren als guter und gerechter König, der die Ernte respektierte: Digne héritier
du trône & du sang des Bourbons, que j’aime à voir tes pas respecter nos moissons!/ Ce trait
d’humanité m’annonce Prince Auguste, les vertus d’un Ayeul [aïeul], d’un bon Roy, d’un
Roy juste.577 Mit dem Bezug auf den Vorfahren mag wiederum Heinrich IV. gemeint
sein, doch auch vom Vater Louis Augustes wurde berichtetet, dass er bei Jagden die
Felder geschont habe.578
Der Stich machte aber durchaus auch die Notwendigkeit der Jagd und die damit verbundene herrscher­liche Protektion der Landwirtschaft aus einem anderen Blickwinkel
deut­lich. Wenn der Wildbestand in einer Gegend ohne Jagd unkontrolliert zunahm,
bestand für die Bauern die Gefahr, dass das Wild ebenfalls die Felder zerstörte. Da es
von den Bauern nicht geschossen werden durfte, brachten die fürst­lichen Jagden den
Bauern Erleichterung und Hilfe. Doch dies bedurfte eines verständigen und maßvollen, eines edlen und gerechten Jagdherrn, der sein Vergnügen zum Nutzen und nicht
zum noch größeren Schaden der Landwirtschaft einsetzte. Die Kritik an der Willkür
und Zerstörung der fürst­lichen Jagden transportierten neben zeitgenössischen Jagdlehrbüchern insbesondere die Hausväterliteratur und Agrarhandbücher, aber auch
die Kunst in Wort und Bild.579 Wachsmuths Stich Monseigneur le Dauphin chassant
576 Als Beispiel sei Adam Frans Van der Meulens (1632 – 1690) Bild Louis XIV et la Cour chassant en
vue du château de Meudon genannt. Öl auf Leinwand, 0,77 x 1.270 m. Versailles, Châteaux de Versailles et de Trianon, Inv. Nr. MV5630.
577 Die gereimte Bildunterschrift gab dem Stich den Titel bzw. bezeichnete den Gegenstand des Bildes.
Zu Bildunterschriften oder -inschriften vgl. Sparrow, John: Visible Words. A Study of Inscriptions
in and as Books and Works of Art (The Sandars Lectures, Bd. 1964). Cambridge 1969. S. 83.
578 Proyart, Vie du Dauphin, père de Louis XVI, S. 151ff.
579 Im bereits angesprochenen Gedicht von Georg August Bürger heißt es in der dritten und vierten
Strophe Der Bauer an seinen durchlauchtigen Tyrannen:
Wer bist du, daß durch Saat und Forst,
Das Hurra deiner Jagd mich treibt,
Entatmet, wie das Wild? –
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
376
Der chinesische Kaiser als Vorbild
lässt sich dieser Kritik insofern zuordnen, indem er darin das Ideal eines belehrbaren
und einsichtigen jungen Jagd- und Landesherrn darstellte. Wenn der Kronprinz selbst
die Mühen landwirtschaft­licher Arbeit kennengelernt hatte, musste ihm umso mehr
ihr Schutz vor den Verwüstungen durch die Jagd am Herzen liegen. Mit seinen beiden Kupferstichen hatte Wachsmuth ebenso wie Boizot auf den Erziehungskanon des
Dauphin Bezug genommen und der etablierten Jagd die Landwirtschaft an die Seite
gestellt. Neben der Darstellung des fürst­lichen Jagdprivilegs konnte der Ackerbau als
geadelte, der Jagd gleichrangige oder entsprechende und notwendige Tätigkeit des
Prinzen bewertet werden. Zugleich hatte er die Abhängigkeit des Landbaus von einem
verständigen Jäger und einem geschulten Landmann aufgezeigt. Das Blatt Wachsmuths
löste sich von der traditionellen Auffassung der Jagd, indem es nicht einen tapferen Jäger
mit ansehn­licher Beute, sondern stattdessen einen fürst­lichen Jäger darstellte, der nach
den Geboten der Vernunft das richtige Maß des fürst­lichen Vergnügens abwog und sich
selbst zugunsten des Gemeinwohls in seinem Jagdprivileg beschränkte. Es handelt sich
bei dieser Darstellung der fürst­lichen Jagd um eine ikonographische Aussage, die später
nicht tradiert wurde oder sich etablieren konnte.
Die Jagd zählte zu den wichtigsten höfischen Lustbarkeiten, die sowohl der Entspannung und Abwechslung, aber auch der Repräsentation und der Versorgung des Hofes
Die Saat, so deine Jagd zertritt,
Was Roß, und Hund, und Du verschlingst,
Das Brot, du Fürst, ist mein.
Bürger, Gedichte, S. 58. Die Meuten der fürst­lichen Parforcehunde wurden am Hof in Versailles
und in den deutschen Territorien nach französischem Vorbild den Müllern zur Betreuung mit der
Maßgabe überlassen, sie täg­lich mit Brot zu füttern. Es kam bei französischen und deutschen Müllern immer wieder zu Beschwerden, dass sie selbst kaum über genug Brot für sich verfügen würden
und deshalb baten, von der Last der Hunde befreit zu werden. Richter, Susan: Der Kurfürst­liche
Parforce-Park in Käfertal. In: Dies. (Bearb.): Die Lust am Jagen. Jagdsitten und Jagdfeste am kurpfälzischen Hof (Ausstellungskatalog). Ubstadt-Weiher 1999. S. 43 – 54. Hier S. 51. Zur Kritik während
der Regierung Ludwigs XVI. und in der Revolution vgl. D’Anthenaise, Claude: Images de la chasse
à courre. In: Dies. (Hg.): À Courre, à cor et à Cri. Images de la Vénerie au XIX siècle. Paris 1999.
S. 8 – 17. Hier S. 9. Zur Wilddichte in europäischen Wäldern Mitte des 18. Jahrhunderts sowie zu
Wildschadensklagen der Bauern vgl. Rösener, Die Geschichte der Jagd, S. 275ff.
Der Fürstenspiegelautor Johann Michael von Loen schilderte in seinem Werk Freye Gedanken
vom Adel, Hofe, Gerichtshöfen aus dem Jahr 1760 das große Elend in den Dörfern und klagte die
Fürsten an, dass der Bauer nicht nur in Unwissenheit bleibe, sondern auch noch durch Frondienste
bei Treibjagden, Schanzen graben oder Botenlaufen geängstigt werde. Wehe denen Fürsten! Die
durch ihre Tyranney, ihre Wolllüste, und durch ihre üble Haushaltung den Jammer so vieler Menschen verursachen. Loen, Johann Michael von: Freye Gedanken vom Adel, Hofe, Gerichtshöfen […].
Ulm/Frankfurt/M. 1760. S. 29. Ein Kupferstich von Johann Elias Ridinger aus seiner so genannten
Großen Jagd- und Tierserie zeigt die bäuer­liche Jagdfron bei Parforcejagden mit Treiberdiensten,
Fuhrleistungen des geschossenen Wildes zur Strecke etc. Sächsische Landesbibliothek, Deutsche
Fotothek. Abgebildet in: Jacobeit, Wolfgang/Jacobeit, Sigrid: Illustrierte Alltagsgeschichte des
deutschen Volkes. Bd. 1: 1550 – 1810. Leipzig/Jena 1985. S. 45, Abb. 45.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
377
mit Fleisch dienten.580 Dauphin Louis Auguste galt als junger Mann als begeisterter Jäger,
dem das Vergnügen, durch den Wald zu reiten, viel bedeutete.581 Als Strafe für Vergehen
des Prinzen verbot ihm sein Vater einige Male die Teilnahme an Jagden.582 Wenn also
mit Wachsmuths Kupferstich des jagenden Dauphin neben den erzieherischen Aspekten auch die Darstellung einer der Leidenschaften des künftigen Königs gelungen war,
so muss gefragt werden, ob die Landwirtschaft mög­licherweise auch zu den bevorzugten Interessen des jungen Mannes zählte. Einen Rückschluss auf diese Annahme ergibt
sich aus der Tatsache, dass Ludwig XVI. als König später außerordent­lich gern allein
oder in Begleitung von wenigen Vertrauten mit Bauern und Handwerkern Gespräche
führte und er auch von den Bauern geliebt werden wollte.583 Darüber hinaus kaufte er
sich 1783 das Gut Rambouillet außerhalb von Versailles und begleitete dort die Zucht
von Moufflons mit großem Interesse.584 Die Stiche verhießen somit dem Betrachtenden
die erfolgreiche Belehrung des Kronprinzen, der sich die Lehrinhalte zu eigen machte.
Die beiden Kupferstiche von Wachsmuth waren als Geschenk für die fest­liche Übergabe Marie Antoinettes als Braut des Dauphin an den französischen Hof in Straßburg
am 7. Mai 1770 hergestellt worden. In der Bildunterschrift heißt es: Présenté à son
Alteresse Royale, Marie-Antoinette d’Autriche, Dauphine de France. Par son très humble,
très-obéissant serviteur Perrier. A Strasbourg chez l’Auteur. Unklar ist jedoch, ob sie im
Kontext der Fest­lichkeiten wirk­lich überreicht worden waren oder ob es sich nur um eine
Dedizierung bzw. Widmung im Rahmen der Hochzeit handelte. Da das Domkapitel
unter der Leitung des fürstbischöf­lichen Koadjutoren Louis René Édouard de RohanGuéméné (1734 – 1803) nicht als Auftraggeber des Stichs genannt ist, wurden die Kupfer sicher nicht im Zusammenhang mit den offiziellen Geschenken im Bischofs­palais
580 Zum fürst­lichen Vergnügen der Jagd vgl. Salvadori, La chasse sous l’Ancien Régime, S. 225ff. Eckardt,
Hans Wihelm: Herrschaft­liche Jagd, bäuer­liche Not und bürger­liche Kritik (Veröffent­lichungen des
Max-Planck-Instituts für Geschichte, Bd. 48). (Diss.) Göttingen 1976. S. 62. Rösener, Geschichte
der Jagd, S. 310ff. Hohberg bezeichnete die Jagd 1682 als gute und reiche Küchenmeisterin. Hohberg, Georgica curiosa, S. 688. Der französische Hof ließ sich zum Vergnügen zahlreiche exotische
Jagden nach chinesischen und osmanischen Beschreibungen auf Tiger, Löwen und Elefanten in
Ölbildern darstellen. Ein Beispiel ist das Bild von Jean-Baptiste Pater La chasse chinoise aus dem
Jahr 1756. Salmon, Xavier: Versailles. Les chasses exotiques de Louis XV. Paris 1995. S. 58. Zur bild­
lichen Darstellung von höfischen Jagdfesten im 18. Jahrhundert vgl. Richter, Susan: Ein Zyklus und
seine Pendants – die Schwetzinger Jagdbilder. In: Dies. (Bearb.): Die Lust am Jagen. Jagdsitten und
Jagdfeste am kurpfälzischen Hof im 18. Jahrhundert. (Ausstellungskatalog). Ubstadt-Weiher 1999.
S. 77 – 95.
581 Louis Nicolardot hat aus den Tagebüchern des Dauphin bzw. späteren Königs Ludwig XVI. für
jedes Jahr die Anzahl der Jagden ermittelt. Nicolardot, Louis: Journal de Louis XVI. Paris 1873.
S. 164f.
582 Girault de Coursac, L’Education d’un roi, S. 70, S. 255ff. Malettke, Bourbonen, S. 115.
583 Ibd. S. 125.
584 Martin, Dairy Queens, S. 216ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
378
Der chinesische Kaiser als Vorbild
übergeben.585 Marie Antoinette berichtete in ihrem Brief an Maria Theresia vom 8. Mai
1770 insbesondere von dem freund­lichen Empfang durch das Domkapitel, äußerte
sich in diesem Schreiben aber nicht konkret zu Geschenken.586 Die gesamten Feier­
lichkeiten waren jedoch hinsicht­lich ihrer Dekoration und Aussage auf ihre Funktion
als Dauphine sowie die Repräsentation des Dauphin ausgerichtet. So wurde das Paar
etwa als Mars und Minerva stilisiert, während Putten huldvolle Grüße des Gatten an
die Gemahlin übermittelten. In diesen Zusammenhang bettete sich das Geschenk
von zwei Kupferstichen mit der Darstellung eines dem Ideal gemäßen Verhalten des
585 Am Stadttor von Straßburg wurde die Dauphine am 7. Mai 1770 durch Maréchal de Contades, à la
tête de l’Etat major empfangen, im Anschluss durch den Stadtrat. Darauf folgte die Fahrt durch die
Stadt. Vor dem bischöf­lichen Palais wurde sie durch Kardinal de Rohan begrüßt: Après son dîner
en grand concert, Madame la Dauphine permit au Magistrat de lui présenter les vins de la ville; cette
cérémonie fut suivie d’une fête de Bacchus, donnée par les Tonneliez et suivant l’usage du pays. Archives
nationales, Paris, O1 1043, Nr. 4, Bl. 3v. Im Wiener HHStA, AZA (Ältere Zeremonialakten) 80
findet sich eine Liste zu Geschenken, die Marie Antoinette in Straßburg übergeben wurden. Aufgeführt sind einige Porträts von Mitgliedern des Domkapitels und Honoratioren, Kameen sowie reich
verzierte Etuis und Tabatieren. Einzelne Personen, von denen die jeweiligen Präsente überreicht
wurden, sind jedoch nicht genannt. Fol. 158v-172v. Erhalten haben sich darüber hinaus im Karton
82 AZA zahlreiche gedruckte Gedichte und Ansprachen an Marie Antoinette, die sie während ihrer
Brautfahrt und insbesondere in Straßburg erhielt bzw. die an sie gerichtet wurden. Ein Hinweis auf
die Übergabe der Kupferstiche als Geschenk oder eine andere Liste von Präsenten findet sich darin
nicht. Auch der Blick in den Bestand Staatenabteilung Frankreich Varia, Karton 34, in dem sich die
Reiseprotokolle befinden, blieb hinsicht­lich der Übergabe der Kupferstiche ergebnislos.
Die gewählte Aussage der beiden Stiche erhält vor dem Hintergrund der Tatsache, dass der Dauphine sieben Tage vor ihrer Ankunft in Straßburg im Praemonstratenserreichsstift Marchtal im
Rahmen eines grundsätz­lich fröh­lichen, aber durchaus auch nicht unkritischen Festspiels zu Ehren
des durchreisenden Gastes durch drei Bauern die Härte der Fron im Straßenbau und ihrer daraus folgenden Vernachlässigung der Feldbestellung vor Augen gehalten worden war, eine eigene Bedeutung.
Nachdem die Bauern ihr Problem der Kaisertochter zu Gehör gebracht hatten, ließen sie sich von
einem auftretenden Geist­lichen beschwichtigen, der ihnen mitteilte, sie hätten ihr schweres Werk
für Marie Antoinette vollbracht. Daraufhin fielen in das allgemeine Vivat alle anderen Darsteller mit
ein. Es handelt sich um Sebastian Sailers Stück Beste Gesinnungen schwäbischer Herzen. Ulm 1770.
Gerade im Vorfeld der Reise der könig­lichen Braut waren in den Reichsteilen, durch welche die
Reiseroute in 17 Tagesstrecken führte, die Instandsetzung der Straßen und Wechselstationen sowie
das Streichen der Häuser an den Chausseen von Wien aus angeordnet worden. Übertragen wurden
diese Arbeiten vor allem den fronleistenden Bauern, die somit im Frühling nicht zur Feldarbeit
kamen. Die Bauern informierten die Prinzessin über ihre Last, doch bekundeten sie ihr danach, die
Mühen für ihre Person willig auf sich genommen zu haben. Grundsätz­lich zum Hochzeitszug Beck,
Gertrud: Die Brautfahrt der Marie Antoinette durch die vorderösterreichischen Lande. In: Barock
in Baden-Württemberg. Vom Ende des Dreißigjährigen Krieges bis zur Französischen Revolution.
Ausstellung des Landes Baden-Württemberg 1981. Bd. 2. Karlsruhe 1981. S. 311 – 324. Hier S. 320.
Zur Brautfahrt und Übergabe der Prinzessin auf dem Rhein kurz Campan, Jeanne Louise Henriette:
The Private Life of Marie Antoinette. Stroud 2008. S. 83f. Nolhac, Pierre de: Marie-Antoinette,
Dauphine (Versailles et la cour de France). Paris 1929. S. 79 und S. 83.
586 Feuillet de Conches, Félix-Sébastien (Hg.): Louis XVI, Marie-Antoinette et Madame Élisabeth.
Lettres et documents inédits. Bd. 1. Paris 1864. Brief Nr. 1, S. 1f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
379
künftigen Monarchen durchaus gut in die Gesamtthematik ein.587 Die beiden Stiche
Wachsmuths präsentierten der Prinzessin einen wohlinstruierten Gatten und künftigen
Herrscher Frankreichs, dem das Wohl seiner Untertanen mit dem Schutz der Landwirtschaft am Herzen lag.588
Ludwig XV. griff den Aspekt der Repräsentation des landwirtschaft­lich unterwiesenen
Kronprinzen auf. Ein solcher Erziehungsakt, wie ihn die beiden Stiche von B
­ oizot und
Wachsmuth zeigen, spiegelt sich in dem von Ludwig XV. im Jahr 1769 für den Speisesaal
des Petit Trianon bei Louis Jean François Lagrenée (1724 – 1805) in Auftrag gegebenen und
1770 fertiggestellten großformatigen Werk Cérès enseignant l’agriculture à Triptolème wider
(Abb. 21: Gemälde von Lagrénee).589 Das Thema des Bildes unterstrich die Bedeutung des
Petit Trianon, dessen Garten Pflanzenexperimenten und der botanischen Dokumentation
gewidmet war. Der Auftrag des Königs zu dem Gemälde erfolgte nach dem eigenhändigen
Pflügen des Dauphin und steht sehr wahrschein­lich mit dem Ereignis in unmittelbarer
Verbindung, hatte doch Boizots Stich in seiner Bildunterschrift bereits einen Hinweis auf
das Wirken des Prinzen zu Ehren der Ceres und des Triptolemos gegeben. Mit bildgestalterischen Mitteln ist es Lagrenée gelungen, die physiokratischen Grundforderungen wie
die Herrschaft der Natur und einen ihr dienenden Monarchen sichtbar zu machen. Eine
Interpretation nach physiokra­tischen Gesichtspunkten ist bisher nicht unternommen
worden und soll an dieser Stelle nachgeholt werden: Ceres sitzt in einem getreidegelben
Gewand an der linken Seite des Bildes und führt als personifizierte Natur eine gütige und
alle Bedürfnisse befriedigende, fruchtbare Herrschaft, wie das Kind an ihrer Brust mit
Ähren im Arm beweist. Ihr zu Füßen rasten Bauern nach der offensicht­lich reichen Ernte
(die Sichel wurde einstweilen abgelegt) und stärken sich mit Brot, Äpfeln und Wasser. All
diese reichen Gaben verdanken die Menschen der Natur. Diese wiederum, nun in realistischer Darstellung, bildet den Mittelpunkt des Bildes. Dem Betrachter wird ein Blick von
einem halb abgeernteten Getreidefeld mit arbeitenden Bauern und idyllisch unter einem
Busch ausruhenden Müttern in die sich öffnende, freie, hügelige Natur gewährt. Mit dem
linken Arm unterweist Ceres als personifizierte Natur den mit könig­licher roter Toga
bekleideten und mit einer Krone ausgestatteten Herrscher Triptolemos im Landbau. Ihr
587 Zum Ablauf der Feier­lichkeiten in Straßburg und der Dekoration vgl. Gruber, Alain-Charles:
Les grandes Fêtes et leurs décors à l’époque de Louis XVI. (Histoire des idées et critique littéraire,
Bd. 122). (Diss.) Genève/Paris 1972. S. 40 – 47.
588 Thematisch parallel wurde ihr auf der Weiterreise in Châlons ein Stück präsentiert, das noch einige
Male später auch im Beisein Ludwigs XV. gespielt wurde: La Partie de Chasse de Henri IV. Es geht
in der Komödie um die Verherr­lichung des guten Königs Heinrich IV., der während einer Jagd
von seinem Gefolge getrennt wurde und bei einem Müller die Gastfreundschaft genoss. Dupuit,
Jean-Sébastien: Plaisiers de Rois: Les Fêtes de Louis XIV à Louis XVI. Versailles 1998. S. 34.
589 Öl auf Leinwand, 339 x 234 cm. Musée National du Château, Versailles. MV 7416; INV. Nr. 5553.
Zum Maler vgl. Sandoz, Marc: Les Lagrenée: Louis, Jean, François Lagrenée, 1725 – 1805. Bd. 1.
Paris 1983. Nr. 268. Das Bild ist kurz erwähnt bei Guy, The French Image of China before and after
Voltaire, S. 358. Abgebildet und besprochen auch bei Clavilier, Cérès et le laboureur, S. 118f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
380
Der chinesische Kaiser als Vorbild
willig und wissbegierig zugeneigt, hört er ihre Anleitung und weist selbst mit der Sichel
auf die Erntearbeiten. Wie beim eigenhändigen Pflügen des Thronfolgers 1769 hatte der
Maler nun den mythischen Monarchen mit einem bäuer­lichen Arbeitsgerät, der Sichel
dargestellt, die er wohl, der Weisung der Göttin bzw. der Natur gemäß, auch gleich selbst
zu führen im Begriff war. Ehrfürchtig schaut auch ein ruhendes Bauern­pärchen zu Triptolemos und seiner versprechenden Geste, gleich mit der Arbeit zu beginnen, empor.
Lagrenée hatte zweimal das gleiche Erntegerät, die Sichel, in das Bild aufgenommen: als
ruhendes Attribut der rastenden Bauern und als gerade aktiv einzusetzendes Attribut
des Königs. König und Bauern waren bei der Ernte vereint und widmeten sich der gleichen Arbeit. Sie führten das gleiche Ackergerät. Hiermit war in das antikisierende Bild
Lagrenées eine Aussage aus dem Kontext der chinesischen Reiseberichte geflossen. Die
Darstellung des lernbegierigen Kulturheroen und Königs Triptolemos nach dem griechischen Mythos, den übrigens Voltaire 1756 noch ausführ­lich in seinem Essai sur les mœurs
geschildert hatte,590 konnte wie der pflügende chinesische Kaiser im Kreis seiner Bauern
zur gleichen Deutung des Betrachters anleiten, dass die lange Entfremdung von Herrschaft
und Landwirtschaft bzw. Bauernstand nun erfolgreich überwunden sei. Die Anknüpfung
an die eigene europäische Tradition war mit diesem Bild neu hergestellt. Die Erziehung
des Monarchen durch die Natur bzw. Ceres war offensicht­lich erfolgreich und versprach
mit dem Bild, künftig auch Früchte zu tragen.
Das Bild spiegelt wesent­liche Kernpunkte der physiokratischen Lehre und Forderungen an den französischen König bzw. seinen Nachfolger hinsicht­lich der Landwirtschaft
wider. Es lässt sich als erfolgreiche Belehrung sowie vorsichtige Bekräftigung einer neuen
Herrschaftsaufgabe und damit als gewisse Akzeptanz der physiokratischen Ansätze
durch Ludwig XV. und den Dauphin verstehen. Das Bild erhielt jedoch seinen Platz im
Trianon und damit in einer eher persön­lichen Sphäre des alten Königs. So ist es primär
als Repräsentation der eigenen Interessen Ludwigs XV., weniger als eine des franzö­
sischen Königtums anzusehen, auch wenn mit der Darstellung eines sehr jugend­lichen
Triptolemos im Kontext der Hochzeit des Dauphin der Hinweis auf eine entstehende
Tradition im Haus Bourbon verbunden sein mag. Dennoch unterstreicht es die zeitgenössisch aktuelle Präsenz des Triptolemos-Mythos im engsten Umfeld des Königs.
Immer wieder wurde der neue Wirkungsbereich der Landwirtschaft an die französische
Krone herangetragen: Das eigenhändige Pflügen des Kronprinzen Louis Auguste sowie
die Betonung der Rolle der Landwirtschaft im politischen Handeln fand beispielsweise
auch ihren Platz in der Panegyrik auf die Vermählung des Dauphin mit Marie Antoinette
im Jahr 1770.591 Abbé Thomas-Maurice du Rouzeau (1726 – 1788) übersandte an den Hof
590 Voltaire: Essai sur les mœurs et l’esprit des nations et sur les principaux faits de l’histoire depuis
Charlemagne jusqu’à Louis XIII. Hg. v. René Pomeau. Bd. 1. Paris 1963. Introduction, Kap. XXXVII: Des Mystères de Cérès-Éleusine. S. 130 – 135.
591 Panegyrische Gedichte, die zu einer hohen Fest­lichkeit als Gelegenheitsdichtung entstanden, wurden
seitens der Fürsten als ein papirnes Geschencke entgegengenommen, aber auch als Untertanenpf­licht
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
381
seine Ode sur le mariage de monseigneur le Dauphin, die noch im selben Jahr auch in Paris
gedruckt wurde.592 In der Ode verschmolzen die üb­lichen Topoi des Herrscherlobes mit
einigen wenigen individuell herausgehobenen Charakterzügen des Dauphin. Dabei ging
der Autor aber auch durchaus kritisch auf Probleme und Defizite der französischen Politik
ein. So sprach er in seinen Versen vom Schrei der Mutter Erde nach ihren undankbaren
Söhnen, die sich ihr und der Natur lange verweigert und ihre Bedeutung verkannt hatten.
Doch nun seien den Königen und dem Volk die Augen end­lich geöffnet worden: Enfin
il est un Art, l’honneur de la Nature, Que l’Orgueil accabloit d’un fastueux dédain. Longtems il attendit qu’on vengeât son injure, Le Vengeur a paru, son triomphe est certain. […]
Pressé sous une main Royale, Le soc de Triptolême a repris sa splendeur […], Nobles Agriculteurs, Ah! Votre gloire égale, De vos jours vertueux, le paisible bonheur. In der nachfolgenden Fußnote stellte der Abbé die Metapher des könig­lichen Triptolemos in den direkten
Bezug zum eigenhändigen Pflügen des Dauphin im vergangenen Jahr: L’on a gravé Monseigneur le Dauphin s’essayant à la charrue; C’est avoir consacrée un des traits de sa vie, qui
honore le plus un Prince.593 Du Rouzeau wählte in seinem Gedicht wie Boizot nicht das
Beispiel des ackernden Kaisers von China zum Vergleich mit dem gerade entstehenden
neuen herrscher­lichen Selbstverständnis in Versailles, sondern bediente sich des antiken
Beispiels des könig­lichen Pflügers Triptolemos, unter dem der Ackerbau auf Geheiß der
Demeter/Ceres verbreitet und die Länder dadurch zivilisiert und zum Blühen gebracht
wurden. Das Gedicht lobte den Glanz, den die Landwirtschaft nun wieder erhalte, wenn
ein König wie einst Triptolemos den Pflug führte. Zugleich drückte der Verfasser seine
Hoffnung aus, dass die Protektion der Herrscher für den Landbau Bestand haben möge.
In der Fürstenanalogie zwischen Triptolemos und Louis Auguste fand ein poetischer und
zugleich optimistischer Transformationsakt vom Mythos zur zeitgenössischen Gegenwart
statt. Es zeigte sich darüber hinaus, dass sowohl die antike europäische Tradition als auch
der neue Motivschatz des pflügenden chinesischen Kaisers zu den vom französischen Hof
adaptierten Motivkomplexen zählten.
verstanden. Casualpoesie und gereimte Grußadressen entsandten in der Regel die Stände- und
Stadtvertreter, Kirchen, religiösen Minderheiten oder Professoren der Universitäten an den Jubilar aus der fürst­lichen Familie. Richter, Susan: Und ehre Sie in dieser Helden=Frauen – Markgräfin
Sibylla Augusta von Baden-Baden im Spiegel piaristischer Hofpanegyrik. In: Heid, Hans (Hg.):
Die Rastatter Residenz im Spiegel von Beständen der Historischen Bibliothek. Begleitbuch zur
Ausstellung „300 Jahre Residenz Rastatt“. Rastatt 2007. S. 295 – 304.
592 Du Rouzeau war verschiedent­lich mit Trauergedichten und panegyrischen Werken zu Ereignissen in der Herrscherfamilie in Versailles in Erscheinung getreten. So auch mit einem Gedicht auf
die 1767 verstorbene Dauphine. Du Rouzeau, Thomas-Maurice: Oraison funèbre de très-haute,
très-puissante et très-excellente princesse Marie-Josephe de Saxe, dauphine de France: prononcée
dans l’eglise premiere archipresbiterale de la Magdelaine de Paris, le 4 septembre 1767.
5 93 Du Rouzeau, Thomas-Maurice: Ode sur le mariage de monseigneur le Dauphin, Paris 1770. S. 9f.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
382
Der chinesische Kaiser als Vorbild
4.2.5 Fazit
Anhand der Untersuchung der physiokratischen Vermittlungsstrategie ist festzustellen,
dass sich die Wahl des Motivs des pflügenden chinesischen Kaisers zunächst als erfolgreich erwies. Es diente den économistes als Motto und zugleich als visualisierte Essenz
einer neuen Herrschaftsauffassung. Nach dem Pflügen des Dauphin 1768 ersetzten
Quesnay und sein Kreis die Vorbildfunktion des fremden Kaisers durch die des eigenen Kronprinzen und installierten ein neues, nun französisches Bild des pflügenden
Monarchen als künftigen Regenten eines royaume agricole. Da insbesondere der französische König seit dem Siebenjährigen Krieg auf neue patriotische Weise das Vaterland verkörperte,594 hatte Frankreich nun im eigenen künftigen König einen würdigen
Träger dieses neuen Herrschaftsideals erhalten. Das neue Bild des ersten Landmannes
des Staates ermög­lichte weitere Vergleiche und Einordnungen der Handlung in antike
und historische, sogar eigene dynastische Kontexte des Hauses Bourbon. Der Dauphin
wurde mit dem Kulturheros Triptolemos, aber auch seinem Ahnen, dem guten König
Heinrich IV. gleichgesetzt. Unterschied­liche Text- und Bildmedien feierten einen wohl
belehrten und gütigen künftigen König Frankreichs, der sich zeitgemäß den wirtschaft­
lichen und politischen Anforderungen und Notwendigkeiten gestellt zu haben schien.
Aus der Perspektive der Medienanalyse von Stuart Hall waren die Jesuitenberichte
zum Verhältnis von Landwirtschaft und Herrschaft Anstoß und Interpretationsansatz
für die theoretischen Vorstellungen der Physiokraten gewesen. In der Praxis änderte
sich ihr Decodierungsverhalten vom Adaptiven zum Oppositionellen, denn mit der
Kommunikation des Vergleichs des Dauphin mit antiken Heroen oder französischen
Königen stellten sie ein neues Deutungsmodell daneben, was wirkmächtig kommuniziert und rezipiert wurde. Somit finden wir bei den Physiokraten zunächst eine Decodierung, welche durch die Annahme der Inhalte und Deutungen der Jesuitenberichte
gekennzeichnet ist und diese ledig­lich in eigene Interessen einbaut. Im Anschluss an
das eigenhändige Pflügen des Dauphin sind mit den gezielten Berichten darüber eigene
Encodierungsvorgänge zu verzeichnen.
Für die Fortsetzung des eigenhändigen könig­lichen Pflügens in den kommenden
Jahren oder die offizielle Aufnahme der herrscher­lichen Handlung in das französische
Hofzeremoniell gibt es jedoch keine Quellen. Es scheint vielmehr ein einmaliger Vorgang gewesen zu sein, der bei aller schrift­lichen und bild­lichen Dokumentation nur
eine Momentaufnahme geblieben ist und eine Hommage an den künftigen König als
Ausdruck der Hoffnung auf einen Wandel im Herrschaftsverständnis darstellte.
Auch eine konsequente Aufnahme des Pflugmotivs und der Metaphern des neuen
Triptolemos bzw. der Ceres in die könig­liche bzw. kronprinz­liche Repräsentation konnten
594 Bell, David: The Cult of the Nation on France: Inventing Nationalism, 1680 – 1800. Cambridge/
Mass. 2003. S. 63.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
383
nicht nachgewiesen werden. Sie scheint sich vielmehr auf die Verbreitung des Kupferstichs von Boizot durch das Königshaus zu beschränken. Allerdings wurde der Stich
durch Ludwig XV. ganz gezielt nach Wien übersandt und diente so der offiziellen Darstellung des Dauphin gegenüber der Braut und den kaiser­lichen Schwiegereltern. Es kann
somit von der Kenntnis und der Akzeptanz des neuen, seitens der Physiokraten sowie
von einer inzwischen auch größeren Öffent­lichkeit erwünschten Herrschaftsverständnisses durch Ludwig XV. und seinen Nachfolger ausgegangen werden. Dem Wunsch
nach dieser Herrscherauffassung konnte entsprochen werden, indem die Vergleiche
und Darstellungen huldvoll durch König und Dauphin entgegengenommen wurden.
Kommuniziert wurde durch die Krone, dass theoretische und praktische Kenntnisse
im Landbau zukünftig als selbstverständ­liches Herrschaftswissen zu gelten hatten. Die
sichtbare Akzeptanz der Herrschaftsauffassung als erster Landmann konnte schließ­lich
König und Kronprinz helfen, Fragen, Zweifel bzw. Defizitanalysen und Debatten um
notwendige oder gar ausbleibende Reformen der französischen Regierung oder Entscheidungen wie die zum Getreidefreihandel zu beenden. Die nachweisbare Kenntnis
des amtierenden und des künftigen Königs fungierte als „Stopp-Signal“, das nicht
mehr so leicht infrage zu stellen war. Vielmehr bewies sie das Problembewusstsein des
Herrschers und vermittelte den Untertanen die Sicherheit, der künftige König wisse
Bescheid und kümmere sich um die Belange der Landwirtschaft. Diese Annahme wird
durch Georg Schmidts überzeugenden Hinweis gestützt, der ein Grundvertrauen der
Untertanen in obrigkeit­liche Fürsorge konstatierte.595 Da die Herrscher mit diesem
Grundvertrauen rechneten, musste die Handlung des Pflügens und ihre mediale Verbreitung diese Haltung der Untertanen unterstützen. Die Frage nach der Realisierung
der von den Physiokraten gewünschten und geforderten Veränderungen trat in der
Wahrnehmung der breiten Öffent­lichkeit in den Hintergrund, weil der positive Effekt
der öffent­lichen Darstellungen des landwirtschaftsinteressierten Dauphin zugunsten des
Könisghauses bedingte, mög­liche Kritik an der Monarchie und ihrem Nichthandeln zu
besänftigen bzw. einzudämmen. Die Öffent­lichkeit beschwichtigte sich somit selbst.596
Dieses „Stopp-Signal“ kam kurzzeitig auch dem Ansehen der Physiokraten in Frankreich zugute, die wegen ihrer Initiative für den Getreidefreihandel in die Kritik geraten
und in die Mitverantwortung für die Hungersnöte genommen worden waren. Während sie mit der Öffnung des Getreidehandels die Praktiken des traditionellen patriarchalischen Versorgungssystems gestört hatten, spiegelte der mediale Erfolg ihrer
Beschreibung vom pflügenden und somit landwirtschaft­lich instruierten Dauphin die
öffent­liche Meinung: die Hoffnung auf Lösung der Versorgungsprobleme durch den
künftigen König.
5 95 Schmidt, Frühneuzeit­liche Hungerrevolten, S. 280.
596 Dieses Ergebnis ist durch die Forschungen der Medienanalyse gestützt, die davon ausgeht, dass
die Öffent­lichkeit als Bedeutungsempfänger selbst auch Bedeutungsproduzent ist und somit auch
Deutungs- und Wirkungsmacht erhält.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
384
Der chinesische Kaiser als Vorbild
Die breite Kenntnis des Pflugrituals und einer damit verbundenen erweiterten Herrschaftsauffassung ist nicht nur der schrift­lichen Propaganda physiokratischer Autoren
oder der Reiseberichterstatter zu verdanken. Das eigenhändige Pflügen des Dauphin
avancierte, obwohl nicht als Inszenierung des Hofes geplant, durch die gezielte Berichterstattung der Physiokraten zu einem zeitgenössisch bedeutenden Ereignis. Es verselbständigte sich zu einem Medienereignis, das vor allem die gelungene Erziehung des
künftigen Königs inszenierte. Die Verwendung des Begriffes Medienereignis erscheint
in diesem Kontext sinnvoll, weil sich am Beispiel des pflügenden Dauphin sehr gut
zeigen lässt, wie aus einem Geschehen durch den Einsatz unterschied­licher Medien im
Auftrag unterschied­licher Personenkreise ein Ereignis wurde, das durch einen Kommunikationsprozess für die Zeitgenossen und auch für spätere Generationen einen
überraschenden, nicht alltäg­lichen oder gar einzigartigen und außergewöhn­lichen
politischen Sinn transportierte.597
Es handelt sich um die erste Anwendung dieser Strategie durch die Schule der économistes, ihre Vorstellung von einem idealen despot légal und seinem landwirtschaft­lichökonomischen Wirken für den eigenen künftigen König in eine Metapher zu fassen. In
ihren Korrespondenzen mit ausländischen Potentaten, die sich ihrer Lehre nicht abgeneigt zeigten, trugen sie diesen in den 1770er Jahren ebenfalls blumige Ehrentitel an. So
erhoben sie Leopold von Toskana zum Prince pasteur und Gustav III. von Schweden
zum Salomon du midi.598 Das Motiv des pflügenden chinesischen Kaisers spielte in diesen Entwürfen aber keine Rolle mehr. Es war ausschließ­lich als Anstoß und Vergleich
auf Louis Auguste als Dauphin und späteren König Frankreichs übertragen worden.
Zugleich wurde es durch ihn kurzzeitig abgelöst und durch sein Beispiel in der Propaganda der Physiokraten ersetzt. Doch der ersehnte Erfolg im Sinne einer nachhaltigen
und spürbaren Protektion der Landwirtschaft blieb in Frankreich aus, weshalb sich die
Physiokraten allmäh­lich anderen Monarchen Europas zuwandten. Das eigenhändige
Pflügen des Dauphin geriet in Vergessenheit.
In Frankreich blieb die Förderung des Bauernstandes und die Durchführung a­ ktiver
Reformen in der Landwirtschaft durch einen weisen Monarchen vorerst nur eine Hoffnung, die nach dem Regierungsantritt Ludwigs XVI . unerfüllt blieb. Dabei waren
beim jungen französischen Königspaar, Ludwig XVI. und Marie Antoinette, durchaus
597 Zum Begriff des Ereignisses vgl. Sahlins, Marshal: Die erneuerte Wiederkehr des Ereignisses. Zu
den Anfängen des großen Fidschi-Krieges zwischen den Königreichen Bau und Rewa 1843 – 1855.
In: Das Schwein des Häuptlings. Sechs Aufsätze zur historischen Anthropologie. Hg. v. Rebecca
Habermas/Nils Minkmar (Wagenbachs Taschenbuch, Bd. 212). Berlin 1992. S. 84 – 129. Hier S. 89.
Vgl. auch Andreas Suter: Kulturgeschichte des Politischen – Chancen und Grenzen. In: Zeitschrift
für Historische Forschung 2005 Beiheft 35. S. 27 – 56. Hier S. 30. Zentrale Untersuchungen zu
Medienereignissen finden sich in dem Sammelband: Europäische Wahrnehmungen 1650 – 1850.
Interkulturelle Kommunikation und Medienereignisse (The formation of Europe, Bd. 3). Hg. v.
Joachim Eibach/Carl Horst. Hannover 2008.
598 Metzler, Markgraf Karl Friedrich von Baden und die französischen Physiokraten, S. 54.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Herrschaft und Landwirtschaft in der Physiokratie
385
Einsichten zur Bedeutung der Landwirtschaft erreicht worden. Sie äußerten sich jedoch
nicht in der ständigen offiziellen könig­lichen Repräsentation und konsequentem entsprechenden politischen Handeln, sondern insbesondere in einem persön­lichen und
teilweise sogar spielerischen Kontext wie etwa dem Hameau in Versailles 599 oder den
Mustergütern, die der König in der Umgebung seiner Residenz anlegen ließ. Das Landleben im Versailler Hameau diente beispielsweise im ganz klassischen Sinne der Hofflucht
und dem Individualisierungsprozess der jungen Königin. Landwirtschaft­liche Betätigung
wurde im künst­lichen Dörfchen zu einer Privatangelegenheit und zu einem Vergnügen, nicht zur Wahrnehmung der notwendigen offiziellen Aufgabe des Königs oder der
Königin. In der ausschließ­lich spielerischen Nachahmung bäuer­licher Tätigkeiten Marie
Antoinettes sahen Zeitgenossen deshalb eher eine Ab- und Entwertung von Landarbeit,
die den Versuch der Physiokraten und anderer ökonomischer Denker, den Ackerbau im
Bewusstsein der französischen Monarchie wieder in ihrer alten wichtigen Bedeutung zu
verankern, ironisch konterkarierte. Sie schien mit ihrem künst­lichen Dörfchen diesen
Versuch in die Lächer­lichkeit zu ziehen und zur reinen Mode zu degradieren, wenn sie
ihre Kühe molk und fütterte bzw. sich mit Kartoffelblüten schmückte.600 Die Königin
brüskierte mit ihren eigenhändigen Arbeiten eher den Bauernstand, als ihn aufzuwerten.601 Ihr Hameau war Ausdruck einer bukolischen Schäferkomödie und nicht der
Wahrnehmung ihrer offiziellen Funktion als Reine bienfaisante.602
Aufgrund der nicht erfüllten Erwartung, dass der neue König sich aktiv und öffent­lich
als Förderer der Landwirtschaft darstellte, wurde schon nach kurzer Zeit in der belehrenden Literatur unterschied­licher Gattungen wieder auf die Vorbilder des chine­sischen
Kaisers oder – deut­lich seltener – des Heros Triptolemos zurückgegriffen. Gerade der
Rückgriff auf das Pflugritual des Kaisers in China zeigte, dass eine dauerhafte Implementierung der antiken Beispiele oder der aktuellen Monarchen als Vorbilder einer
599 Gorgus, Nina: Der „Weiler der Königin“ in Versailles. Eine Rezeptionsgeschichte. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde. LVII/106 (2000). S. 303 – 324. Martin, Dairy Queens, S. 158ff.
600 Auch der Versuch eines Stilwandels in der könig­lichen Garderobe stieß in der Öffent­lichkeit auf
Unverständnis und Kritik. Indem die Königin nunmehr leichte, fast bäuer­liche Leinenkleidung
favorisierte, brach sie mit der Tradition der könig­lichen Repräsentation und einem festgefügten,
gesellschaft­lichen Regelwerk. Eine ausführ­liche Beschreibung des Stilwandels und der Hintergründe der öffent­lichen Reaktionen findet sich bei Weber, Caroline: Queen of Fashion. What
Marie ­Antoinette Wore to the Revolution. London 2007. S. 131 – 163.
601 Zu den Kritiken vgl. Hunt, Lynn: The Many Bodies of Marie-Antoinette: Political Pornography and
the Problem of the Feminine in the French Revolution. In: Goodman, Dena (Hg.): Marie-Antoinette. Writings on the Body of a Queen. New York 2003. S. 117 – 138. Sherriff Mary D: The Portrait
of the Queen. In: ebd. S. 45 – 72. Thomas, Chantal: The Heroine of the Crime: Marie-Antoinette
in Pamphlets. In: ebd. S. 99 – 116, und schließ­lich Wolff, Lary: Habsburg Letters: The Disciplinary
Dynamics of Epistolary Narrative in the Correspondence of Maria Theresa and Marie-Antoinette.
In: ibd. S. 25 – 44.
602 Hierzu erklärend: Wagner, Gärten und Utopien, S. 85 – 89 sowie Clavilier, Cérès et le laboureur,
S.122 – 126.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
386
Der chinesische Kaiser als Vorbild
neuen Rolle durch die Physiokraten nicht gelungen waren, sondern noch immer der
Bedarf zur Mahnung bestand. Der Dichter Jean-Antoine Roucher (1745 – 1794) widmete sich in seinem Gedichtzyklus Les Mois, Poème en douze chants aus dem Jahr 1779
den zwölf Monaten des Jahres. Er verherr­lichte darin nach physiokratischem Vorbild
die Landwirtschaft als erste und wichtigste Kunst. Roucher eröffnete sein Gedicht mit
dem Frühling. Begeistert und ermahnend schilderte er das Pflugritual des chinesischen
Kaisers in der Strophe zum Monat März:
Tandis que du boucher la flamme étincelante
Devore en pétillant la victime sanglante,
Le maître de l’Empire, armé d’un aiguillon,
Guide le sac poudreux, ouvre un premier sillon,
Et d’une main prodiguée y dépose en semance
Ces grains, dont le Cathay nourrit un peuple immense.
Jour rayonnant de gloire, où ce sage Empereur,
Au rang de Mandarin place le Laboureur,
Qui soumit une plaine inculte, et fit éclarer
De nouvelles moissons sur un sol vierge encore.603
Das Gedicht zeigt, dass sich gut zehn Jahre nach dem Versuch, den Dauphin von der
Notwendigkeit einer neuen Rolle als erstem Landmann des Staates zu überzeugen, sämt­
liche Hoffnungen der Physiokraten auf einen roi paysan zerschlagen hatten.
4.3 Imperator arans – Joseph II. als pflügender Monarch im kollektiven Gedächtnis
Ein reich­liches Jahr, nachdem das eigenhändige Pflügen des Dauphin in Frankreich zu
einem Medienereignis stilisiert worden war, führte auch sein künftiger Schwager, Kaiser Joseph II. (1741 – 1790), am 19. August 1769 im mährischen Dorf Slawikovice den
Pflug. Auf seiner Reise nach Olsany und Neisse erlitt seine Kutsche einen Achsbruch
und der Monarch nutzte die Zeit der Reparatur, um sich von dem Knecht des Halblehnbauern 604 Andreas Trnka, Jan Kartos, den Pflug zu leihen und selbst einen Teil des
603 Roucher, Jean-Antoine: Les Mois, Poème en douze chants. Bd. 1. Paris 1779. S. 24.
604 Die länd­liche Bevölkerung der Kronländer machte etwa 80 Prozent der Gesamtbevölkerung aus. Sie
bestand aus den eigent­lichen Bauern als Inhabern von Viertel-, Halb- oder Ganzhuben bzw. Lehen
und den länd­lichen Unterschichten wie Häuselleuten, Inleuten und dem Gesinde. Im 18. Jahrhundert nahm durch Verarmung und Hungersnöte die Zahl der Menschen in Armut rapide zu. Zur
Struktur der länd­lichen Bevölkerung vgl. Bruckmüller, Ernst: Sozialgeschichte Österreichs. Wien
²2001. S. 137ff.
Brought to you by | New York University Bobst Library Technical Services
Authenticated
Download Date | 12/15/16 9:30 PM
Zugehörige Unterlagen
Herunterladen