Sklaven eines Verstorbenen

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Wirtschaft
WIRTSCHAFTSPOLITIK
Sklaven eines Verstorbenen
Die Lehren von John Maynard Keynes erleben ein erstaunliches Comeback:
Finanzminister Lafontaine will die Nachfrage stärken und fordert Zinssenkungen.
Taugen die Rezepte des britischen Ökonomen heute noch?
Belebung auf Pump
Illusion hat sich die neoklassische Verheißung einer „New Economy“ entpuppt,
in der sich jedes Angebot seine Nachfrage
schafft und frei von Zyklen selbst reguliert, in der alle Güter Absatz finden und
alle Menschen Arbeit.
Kommando zurück: Was der Markt nicht
schafft, soll der Staat wieder richten. Die
Neoklassik ist diskreditiert, der Marxismus
Geschichte, jetzt wird es wieder schick,
sich auf Keynes zu berufen. Ein Wertewandel in der Wirtschaftspolitik bahnt sich
an, den der deutsche Finanzminister mit
Wort und Tat forciert.
Mit großer Geste ruft Oskar Lafontaine
dazu auf, „das Tabu zu brechen“ und der
„alleinseligmachenden Weisheit der Bundesbank“ zu mißtrauen. Ihre Geldpolitik
unterliege dem „grundlegenden Fehler“,
nur die Preisstabilität im Auge zu haben,
nicht aber Wachstum und Beschäftigung.
Jetzt müsse sie die Zinsen kräftig senken,
macht der Finanzminister Druck, dann investierten die Betriebe wieder.
Gleichzeitig sollen die Löhne steigen,
und zwar in dem Umfang, wie die Produktivität wächst: Das stärke die Kaufkraft.
Ohne eine Belebung der Binnennachfrage
sei „die Fortdauer des Wachstumsprozesses gefährdet“, doziert der SPD-Chef. Unternehmer würden nicht durch Sparen zum
Investieren bewegt, sondern durch Ausgeben. Das erst, davon ist er überzeugt, sei
„wohlverstandene Wirtschaftspolitik“.
Aber hat Lafontaine Keynes tatsächlich
verstanden? Und wenn ja: Taugen die Rezepte, die der Brite vor mehr als einem
halben Jahrhundert entwickelt hat, heute
überhaupt noch?
Die Debatte, was Keynes wirklich im Sinn
hatte, begann bereits, als der 1883 in Cambridge geborene Ökonom seine ersten
Schriften vorlegte. Kein Wunder, der Mann
hat fast alle Meinungen vertreten: Mal tönt
er wie ein Vorkämpfer des freien Handels,
dann wieder spricht er wie ein Protektionist.
Mal verkündet er egalitäre Ideen, dann wieder klingt Lord Keynes, 1942 in den AdelsH . E N G E LS
E
in Satz, wie in Marmor gemeißelt:
„In the long run, we are all dead“,
schrieb John Maynard Keynes, der
britische Weltökonom, so zeitlos weise
wie bodenlos banal – auf lange Sicht sind
wir alle tot.
Der Mann hat sich geirrt. Keynes starb
vor 52 Jahren, doch seine Gedanken sind
quicklebendig.
Seit die Krisen in Asien, Rußland und
Lateinamerika Finanzmärkte und Weltwirtschaft erschüttern und die Angst vor
Rezession und Deflation wächst, erleben
die keynesianischen Lehren ein erstaunliches Comeback. Überall wird der Ruf laut
nach einem aktiven Staat, der mit Konjunkturpolitik gegensteuert. Statt strikt auf
Preisstabilität zu achten, fordern Europas
neue Mitte-Links-Regierungen plötzlich
eine lockere Geldpolitik; statt eisern zu
sparen, sympathisieren sie mit milliardenschweren Beschäftigungsprogrammen.
Ihr Vertrauen in die selbstheilenden
Kräfte des Marktes ist tief erschüttert. Als
Beispiele für Wirtschaftspolitik nach Keynes
New Deal nannte US-Präsident Franklin D. Roosevelt das Beschäftigungsprogramm, das 1933
begann. Mit öffentlichem Geld finanzierte er Arbeitsplätze, unterstützte Farmer und legte ein gigantisches Entwicklungsprojekt im Tal des Tennessee-Flusses auf. Die Arbeitslosigkeit sank von 25 Prozent
1933 auf 14 Prozent 1937. Direkten Einfluß auf Roosevelts Politik des „Deficit-Spending“ hatte der
Zeitgenosse Keynes nicht, den Präsidentenberatern war der Ökonom jedoch wohlbekannt.
Roosevelt bei
einer Rundfunkansprache 1936
Minister Schiller,
Strauß 1967
In der Großen Koalition erlebte Deutschland
A KG
1966 die erste schwere Rezession nach dem Krieg – und
sein erstes Rendezvous mit Keynes. SPD-Wirtschaftsminister Karl Schiller erzielte zunächst die gewünschten
Effekte: Die Konjunktur sprang an, die Zahl der Arbeitslosen sank. Grenzenlos war das Vertrauen, der Staat
könne die Wirtschaft nach Belieben steuern – bis das
Land 1974 in die nächste Rezession schlitterte.
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H. GETTY
wonach sich Angebot und Nachfrage auf
dem Arbeitsmarkt auspendeln, wenn nur
der Preis der Arbeit flexibel ist – bis Keynes
seine Analyse formulierte und den Ausweg deutete.
Sein Dreh- und Angelpunkt ist vor allem
das Geld, aber auch die Psychologie. Das
Geld betrachtet der Ökonom als „eine
Brücke zwischen Gegenwart und Zukunft“: Wenn die Erwartungen optimistisch
sind, dann investieren die Unternehmer,
Ökonom Keynes
J. EIS / IMAGO
„Auf lange Sicht sind wir alle tot“
stand erhoben, grenzenlos elitär – und jeder
seiner Apologeten interpretiert ihn anders.
Sicher ist nur: John Maynard Keynes war
ein Kind seiner Zeit, und ein Großteil seines Hauptwerks von 1936, der „Allgemeinen Theorie der Beschäftigung, des Zinses
und des Geldes“, wohl eher eine spezielle
Antwort auf die zeitgenössische Krisensituation.
Geprägt haben ihn die Jahre der großen
Depression, als die Unternehmer nicht
mehr investierten und jeder vierte Brite
erwerbslos wurde. Niemand konnte sich
die grassierende Massenarbeitslosigkeit
Ende der zwanziger Jahre erklären oder sie
gar beheben. Keiner verstand, warum
plötzlich die klassische Theorie versagte,
„Nur Kaufkraft schafft Nachfrage“
schaffen Arbeitsplätze und stärken so den
Konsum – wenn aber nicht, horten sie das
Geld und sparen derart, daß es die Konjunktur abwürgt und die Rezession unvermeidlich wird.
Die Preise verfallen, die Gewinne
schrumpfen, es entsteht, so Keynes, ein
„Gleichgewicht bei Unterbeschäftigung“.
Damit widerspricht er dem sogenannten
Sayschen Gesetz, wonach sich jedes Güterangebot eine entsprechende Güternachfrage schafft.
G A M M A /S T U D I O X
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In der Liquiditätsfalle befindet sich derzeit die japanische Wirtschaft. Die Preise verfallen
– doch die Verbraucher konsumieren nicht. Die
Zinsen sind niedrig – aber die Unternehmen investieren nicht. Trotz keynesianischer Konjunkturprogramme schrumpft die Wirtschaft das vierte Quartal in Folge. Erneut will die Regierung Obuchi mit
rund 136 Milliarden Mark intervenieren.
G A M M A /S T U D I O X
Als Reaganomics und antikeynesianisch wurde
die angebotsorientierte Politik bekannt, die US-Präsident Ronald Reagan seit 1981 verfolgte: Er senkte
die Steuern, hielt die Inflationsrate niedrig und deregulierte die Wirtschaft. Dann aber folgte eine Wende
zu Keynes: Reagan trieb die Staatsschulden in enorme
Höhen und finanzierte ehrgeizige Rüstungsprogramme
wie das Weltraumprojekt „Star Wars“.
Finanzminister Lafontaine
Was tun? Eine Möglichkeit ist zu warten,
bis Unternehmer und Verbraucher positiv
gestimmt sind und sich irgendwann die alte
Balance wieder einstellt – aber wer will so
geduldig sein, wenn doch auf lange Sicht
alle tot sind?
Also muß der Prozeß beschleunigt werden. Etwa indem die Konjunktur durch
langfristige Zinssenkungen wieder auf Trab
gebracht wird, wie es heute Lafontaine fordert. Denn nur wenn die erwartete Rendite einer Investition höher ist als der Marktzins, hat Keynes festgestellt, lohnt es sich
für den Unternehmer zu investieren. Damit
fällt den Notenbanken eine entscheidende
Verantwortung für die wirtschaftliche Entwicklung zu.
Weil aber die Folgen ihres Tuns in einer
offenen Wirtschaft nicht an den nationalen
Grenzen enden, schwebte dem Briten eine
internationale Währungsordnung vor –
wieder eine Parallele zu dem deutschen
Finanzminister, der eine bessere Abstimmung der internationalen Währungspolitik fordert, um Wechselkurs-Schwankungen zu glätten.
Keynes plädierte 1944 auf der BrettonWoods-Konferenz für die Installierung einer „Clearing Union“. Sie sollte die Geldund Währungspolitik koordinieren. Die
Idee scheiterte, führte aber schließlich zur
Gründung des Internationalen Währungsfonds und der Weltbank.
Die Geldpolitik steht im Zentrum der
Lehren von Keynes. Wenn ihre Instrumente aber nicht helfen und der Extremfall
eintritt, daß noch so niedrige Zinsen nicht
zu Investitionen führen, dann – und das ist
Kohl, Arbeiter
in Bitterfeld
Marschflugkörper-Produktion bei Boeing
Der Aufbau Ost bedeutete die Abkehr von
der angebotsorientierten Politik der Regierung Kohl
aus den achtziger Jahren. Der Einheitsboom ebbte
ab, die ostdeutsche Wirtschaft verfiel, die Zahl der
Arbeitslosen stieg kräftig an. Bonn finanzierte den
Aufbau Ost auf Pump. Rund 1,2 Billionen Mark
sind von West nach Ost transferiert worden –
wenig wurde investiert, das meiste konsumiert.
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Geschäftsstraße in Tokio
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(l.) K. HARVEY / SIPA; (r.) AP
die landläufige Wahrnehmung keynesiani- wieder zurückzuführen, wurden ständig gen der Unternehmer verbessern und die
scher Lehre – muß der Staat mit „Deficit neue Programme auf Pump aufgelegt. effektive Nachfrage steigern kann. Die
spending“ gegensteuern, ein Konzept, das Bis Ende 1975 hatte die Bundesregierung aber setzt sich zusammen aus den Ausgaben für Konsum und für Investitionen, also
allerdings erst durch den Keynes-Schüler 35 Milliarden Mark springen lassen.
John Hicks zu großer Beachtung kam.
Die Schulden türmten sich, die Infla- aus der Lohnsumme und den UnternehDanach nimmt der Staat Schulden auf tionsrate schnellte nach oben, die Zahl der mensprofiten.
Immer wieder haben die Jünger von
und sorgt mit Investitionen für zusätzliche Arbeitslosen stieg, und das Wachstum
Nachfrage. Daraufhin stellen die Betriebe stagnierte: Gegen diese sogenannte Stag- Keynes im Namen des Ökonomen arguMitarbeiter ein, die – so das Kalkül – als flation konnte die keynesianische Global- mentiert, dabei aber nur einzelne Aspekte seiner Konjunkturtheorie herausgegrifSteuerzahler später in der Boomphase wie- steuerung nichts ausrichten.
der in die Staatskasse bringen, was einst an
Die Zeit war reif für die Gegenrevo- fen. Und Politiker glaubten, nun jede KriKrediten aufgenommen wurde.
lution, und der amerikanische Ökonom se meistern und Vollbeschäftigung gleichAuch Oskar Lafontaine setzt auf dieses Milton Friedman lieferte die Theorie da- sam auf Knopfdruck erzeugen zu können.
antizyklische Schema. „Die Investitionen zu. Der Staat sollte sich aus der Konjunk- So wurden die Lehren trivialisiert und
in Bildung und Ausbildung, Forschung, turpolitik zurückziehen und eine rigide schließlich als Allheilmittel absolutiert.
„Keynes
war
kein
Technologie und öffentliche
‚Keynesianer‘, wie Marx
Infrastruktur, vom Verkehr
kein ‚Marxist‘ war“, bebis zur Telekommunikaschreibt der Hamburger
tion, müssen massiv erhöht
Wirtschaftsprofessor Harald
werden“, schreiben er und
Scherf den Unterschied
seine Ehefrau Christa Mülzwischen einstiger Absicht
ler im Buch „Keine Angst
des Ökonomen und seiner
vor der Globalisierung“.
heutigen Wirkung.
Fragt sich nur, ob sich
Die Crux daran: Die
Deutschland überhaupt in
keynesianischen Lehren haeiner solchen „keynesianiben die klassische Theorie
schen Situation“ befindet.
nicht ersetzt, sondern sie
„Deflationäre Gefahren
lediglich ergänzt. Dennoch
sind unbestreitbar“, sagt
neigen Keynesianer dazu,
Lafontaines Staatssekretär
alle anderen Einflüsse ausHeiner Flassbeck. „Von Dezublenden, die neben der
flation kann keine Rede
Konjunktur die wirtschaftsein“, hält Joachim Scheiliche Entwicklung beeinde vom Institut für Weltflussen.
wirtschaft dagegen.
Keine Rede davon, daß
Fest steht: Noch wächst
ein einfaches Steuersystem
die Wirtschaft, wenn auch
oder effizientere Staatsbüschwächer als erwartet.
rokratie, Strukturpolitik alNoch ist die Inflationsrate
so, auch eine Rolle spielen
zwar niedrig, aber immerkönnten. Kein Gedanke dahin liegt sie im Plus. Und Ex-Premier Thatcher, Ökonom Friedman: Mehr Markt, weniger Staat
zu, daß eine Steuer- und
noch verdienen die Unternehmen nicht schlecht, auch wenn bei Geldpolitik verfolgen, um die Inflation Sozialreform, die die Spanne zwischen
manchen die Gewinne nicht mehr so spru- wieder in den Griff zu bekommen. Sowe- Brutto und Netto verringert, womöglich
deln wie erwartet.
nig Staat wie nötig, soviel Markt wie mög- geeignet wäre, Konsum und Investitionen
Selbst wenn die Lage den keynesiani- lich, lautete die Devise, die vor allem zu beleben. Kein Wort darüber, daß innoschen Vorzeichen entspräche, ist es eben- Margaret Thatcher, die frühere britische vative Pionierunternehmer den Strukturso fraglich, ob Keynes auch heute noch für Premierministerin, von 1979 an konsequent wandel beschleunigen und so Wachstum
entfalten und Beschäftigung schaffen.
zusätzliche staatliche Nachfrage als Aus- verfolgte.
„Ideen werden zunehmend vereinfacht,
weg plädieren würde. Zu seiner Zeit spielKeynes’ Lehren waren tot, aber sie lebte der Staat als ökonomischer Akteur eine ten bald schon in neuer Form wieder auf. je mehr Verbreitung sie finden“, so der
geringe Rolle. Der Anteil öffentlicher Aus- Bis heute reklamieren Gewerkschaften amerikanische Volkswirt Paul Krugman,
gaben am Bruttosozialprodukt lag 1925 in und Sozialdemokraten den Ökonomen „bis sie schließlich nicht mehr sind als eine
Großbritannien oder in Deutschland un- als angeblichen Verfechter von Lohner- Karikatur des Originals – das ist das Schickter 25 Prozent. Wenn sich der Staat dann höhungen für sich. Die IG Metall recht- sal der keynesianischen Lehre.“
Keynes hatte immer schon Zweifel geaber einschaltete, hatte das Signalwirkung. fertigt so das „Ende der Bescheidenheit“,
Heute dagegen können selbst milliar- und Finanzminister Lafontaine argumen- hegt, ob die Praktiker seine Lehren richtig
denschwere Konjunkturprogramme nur tiert: „Nur Massenkaufkraft schafft Mas- verstehen und anwenden würden. Er dachwenig Aufsehen erregen und geringe Wir- sennachfrage. Nur Massennachfrage gibt te eher an „halbautonome Körperschafkung entfalten, da der Staat ohnehin be- den Unternehmen Mut, zu investieren und ten“, die „nur nach den Kriterien des Gemeinwohls“ seine Beschäftigungspolitik
reits die Hälfte der Wirtschaftsleistungen zu expandieren.“
verbraucht oder verteilt.
Keynes hat jedoch nie dafür plädiert, umsetzen sollten.
Politiker seien meist nur „Sklaven eines
Zudem entwickelt die Praxis staatlicher einfach an der Lohnschraube zu drehen,
Nachfragepolitik eine Eigendynamik, die um die Nachfrage anzukurbeln. Er weist le- verstorbenen Ökonomen“, spottete der viKeynes nicht vorhergesehen hat. Die diglich darauf hin, daß niedrigere Löhne sionäre Ökonom: „Verrückte mit RegieGroße Koalition förderte von 1966 an mit nicht gleichbedeutend sind mit mehr Jobs. rungsgewalt, die Stimmen aus dem Äther
geliehenem Geld öffentliche Investitionen
Nicht die Lohnhöhe ist der Ausgangs- hören, nähren ihren Wahnsinn von irgendund stimulierte damit die Konjunktur. punkt von Keynes, sondern umgekehrt einem akademischen Schreiberling aus verDoch statt im Aufschwung die Ausgaben die Frage, wie man die Gewinnerwartun- gangenen Jahren.“
Alexander Jung
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