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KIRCHLICHER
UND
WELTLICHER
IN N O R D D E U T S C H E N
AM
BEGINN
DER
von R a i n e r
FISKUS
STÄDTEN
NEUZEIT*
Postel
Im Themenkomplex Fiskus, Kirche und Staat im Konfessionellen Zeitalter beanspruchen die Städte nicht nur ein eigenes Kapitel, hier zeigen sich auch wichtige sozialgeschichtliche Dimensionen des Problems.
Gegenüber den Territorien ist auf die Besonderheit der Städte und — namentlich
für die Entwicklung im Reich — auf ihre zeitlichen Vorsprünge zu verweisen. Früher
als die Territorien waren sie zu einer ausgebildeten Geldwirtschaft gelangt, früher
auch zu einem geregelten Abgabenwesen. In der Reformation gingen die Städte den
sie umgebenden Territorien durchweg voran 1 . Dickens' Wort „that the German Reformation was an urban event at once literary, technological and oratorical" 2 trifft,
obschon pointiert, diesen Sachverhalt. Und die Bevölkerung der spätmittelalterlichen
Städte war, wie Heinrich Schmidt gezeigt h a t 3 , von einem spezifischen Bewußtsein
geprägt, einem kommunalen Denken und christlich bestimmten städtischen Patriotismus, die ihre Widerstandsbereitschaft gegen autoritäre Neigungen der Ratsobrigkeit
stärken konnten, ebenso die gegen äußere Feinde, denen gegenüber sich die Städte
im Reich mehr und mehr in der Defensive sahen.
Viele der norddeutschen Städte, auf die ich mich hier konzentriere, waren Mitglieder der Hanse, doch hatte dies damals oft nur noch geringe Bedeutung und
verlief ihre Entwicklung auch keineswegs einheitlich. Aber gemeinsam war ihnen die
innere Ferne zum Reich und die Ausrichtung auf den Handel, so daß sich auch
•Überarbeitete Fassung von „Fisco ecclesiastico e fisco temporale all'inizio dell'epoca moderna nelle
città della Germania settentrionale", in: Fisco religione Stato nell'età confessionale a cura di Hermann
Kellenbenz e Paolo Prodi (Annali dell'Istituto storico italo-germanico, Quaderno 26), Bologna 1989,
S. 225-257.
'Ein Gebiet wie das Herzogtum Braunschweig-Lüneburg, dessen Landesherr Emst „der Bekenner" die
evangelische Lehre annahm und seine Stadt Lüneburg jahrelang zur Übernahme drängte, muß als
Ausnahme gelten; vgl. D. FABRICIUS, Die theologischen Kontroversen in Lüneburg im Zusammenhang
mit der Einführung der Reformation, Lüneburg 1988, S. 30-110 passim; O. MÖRKE, Rat und Bürger in
der Reformation. Soziale Gruppen und kirchlicher Wandel in den weifischen Hansestädten Lüneburg,
Braunschweig und Göttingen (VInstHistLdfUnivGött 19), Hildesheim 1983, S. 97FF.
2
A.G. DICKENS, The German Nation and Martin Luther, London 1974, S. 182. Vgl. aber die Einwände
von M. BRECHT, Die gemeinsame Politik der Reichsstädte und die Reformation, in: ZRGK 63 (1977),
S. 180-263.
3
H. SCHMIDT, Die deutschen Städtechroniken als Spiegel des bürgerlichen Selbstverständnisses im
Spätmittelalter (SHistKomBayAk 3), Göttingen 1958, S. 26ff., 34fT., 76f., 86ff., 92f. u.ö.
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Rainer Postel
andere Städte der Region in die Betrachtung einbeziehen lassen. Diese Reichsferne
ließ sich an der Reichsstadt Lübeck beobachten, das sich in seiner Politik gegenüber
Dänemark von der Reichsacht (1522) nicht beirren ließ 4 , wie an Hamburg, dessen
Reichsunmittelbarkeit bis 1768 unentschieden blieb 5 — ein Schwebezustand, aus
dem die Stadt auch Vorteile zog. Anderseits beruhte die Selbständigkeit der Städte
auch auf einer gewissen Sicherheit vor dem Zugriff des Landesherrn, solange diesem
mehr an der Nutzung ihrer Finanzkraft lag als an ihrer Vereinnahmung in sein
Territorium 6 .
Im Hinblick auf die städtische Verfassungsentwicklung ist insbesondere nach den
Wechselbeziehungen von Fiskus, Kirche, den Bürgern und dem Rat zu suchen, in
dessen Händen Fiskus und Finanzverwaltung zumeist lagen 7 . Es geht hier weniger
um die Fragen der 'Staatsfinanzierung' als um die Zuständigkeit dafür und um die
Bedeutung dieses Problems für die Stadtgeschichte am Beginn der Neuzeit. Drei
Komplexe sind dabei zu betrachten: 1. die vorreformatorische Kritik an der Fiskalpolitik von Kirche und Rat, 2. die Durchsetzung der Reformation im Zusammenhang
dieser Kritik, d. h. die Frage der reformatorischen Umwidmung kirchlichen Besitzes
und die Bedeutung städtischer Finanzpolitik bzw. -Verwaltung für die Durchsetzung
der Reformation, 3. nachreformatorische Bestrebungen der Bürger um Kontrolle
der städtischen Finanzen als Schritt zur politischen Partizipation; dabei war die
Kirche als selbständiger Faktor in Norddeutschland zumeist ausgeschieden, doch
stand die Sicherstellung der Reformation noch lange im Hintergrund bürgerlicher
Mitspracheforderungen.
I.
Früher und dezidierter als in den benachbarten Territorien traf in den Städten
Norddeutschlands bürgerliche Kritik Zustand und Ansprüche des kirchlichen wie
des weltlichen Fiskus. Was Anton Störmann 1916 an städtischen Gravamina gegenüber dem Klerus dazu zusammengetragen hat, stellt eine Auswahl dar, die bei
weiterer Nachsuche vielfältig zu bestätigen und zu ergänzen ist. Sein Werk beginnt:
„Unter den langwirkenden Ursachen, welche die Kirchentrennung des 16. Jahrhunderts vorbereiteten, gehören die Finanzverhältnisse der römischen Kurie zu den
folgenschwersten." 8
4
R. POSTEL, Die Reformation in Hamburg 1517-1528 (QFRefG 52), Gütersloh 1986, S. 230.
H. REINCKE, Hamburgs Aufstieg zur Reichsfreiheit, in: ZVHambG 47 (1961), S. 17-34.
6
Dies galt etwa für Göttingen und Hannover; S. MÜLLER, Stadt, Kirche und Reformation. Das Beispiel
der Landstadt Hannover, Hannover 1987, S. 20-23; H. SCHILLING, Die politische Elite nordwestdeutscher Städte in den religiösen Auseinandersetzungen des 16. Jahrhunderts, in: Stadtbürgertum und
Adel in der Reformation, hg. v. W.J. MOMMSEN (VDHILondon 5), Stuttgart 1979, S. 235-308, hier
S. 297f.
7
In den meisten norddeutschen Städten, zumal in denen Lübischen Rechts, waren allerdings Bürger
bei der Bewilligung und Einhebung außerordentlicher Steuern beteiligt, besonders — wie im folgenden
dargelegt wird — seit dem 17. Jahrhundert; P. TRAUTMANN, Kiels Rats Verfassung und Ratswirtschaft
vom Beginn des 17. Jahrhunderts bis zum Beginn der Selbstverwaltung (MGesKielStG 25-26), Kiel
1909, S. 52.
8
A. STÖRMANN, Die städtischen Gravamina gegen den Klerus am Ausgange des Mittelalters und in der
Reformationszeit (RefStud 24-26), Münster i.W. 1916, S. 4.
5
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Kirchlicher und weltlicher Fiskus
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Die beklagten Mißstände waren zumeist nicht neu, aber zum einen schien die Sensibilität dafür geschärft, zum anderen war es die evidente Zunahme von Mißbräuchen,
die bereits im Vorfeld der Reformation wachsende Kritik hervorrief. Die Klagen
ließen zwei Grundmotive erkennen, die Schädigung öffentlicher oder individueller
Interessen durch kirchliches Gewinnstreben und das Mißverhältnis zwischen Anspruch und täglicher Praxis der Geistlichkeit.
Der oft ausgedehnte geistliche Grundbesitz war öffentlichen Interessen zuweilen
im Wege, so daß Magistrate sich bemühten, ihn nicht wachsen zu lassen, Verkäufe
an Geistliche untersagten oder nachträglich zu annullieren suchten 9 . Beklagt wurde
insbesondere, daß sich die Geistlichen einer Einbeziehung ihrer Liegenschaften in
die städtischen Befestigungen widersetzten, ja letztere sogar geschädigt hätten 10 ; in
Magdeburg, wo die Kleriker umgekehrt geltend machten, ihre Gebäude hätten durch
städtische Befestigungsarbeiten gelitten, währte dieser Streit vom späten 15. Jahrhundert bis in die Reformationszeit 11 . Auch suchte etwa das Hamburger Kapitel
die Schoßfreiheit der Domkurien auf seine übrigen Liegenschaften in der Stadt
auszudehnen 12 . Der Vorwurf, die Kleriker stellten materielles Erwerbsstreben über
ihre geistlichen Pflichten, war alt und verbreitet 13 , während die Kritik an der Vielzahl
und Besitzanhäufung von Brüderschaften und geistlichen Stiftungen erst mit der
reformatorischen Bewegung deutlicher wurde 14 . Damals gab es in Lübeck bei etwa
25 000 Einwohnern an 70, in Hamburg bei etwa 14 000 Einwohnern sogar um
100, in Bremen (ca. 18 000 Einwohner) und Lüneburg (ca. 12-14 000 Einwohner)
je ungefähr 30 solcher Brüderschaften 15 . Im ersten Viertel des 16. Jahrhunderts
führte das Hamburger Kapitel allein fünf Visitationen durch, um über Bestand
und Ausstattung der über 400 Altarstiftungen in den Kirchen der Stadt Überblick
zu erhalten, um den vielfältigen Unterschlagungen und Veruntreuungen durch die
Pfründner entgegenzuwirken und um deren geistliche Disziplin zu bessern; der
Vergleich der Ergebnisse bestätigte die Vorwürfe und zeigte die Vergeblichkeit solcher
innerkirchlichen Reformbestrebungen 16 .
Einen weiteren Komplex der Kritik bildete die rigide Nutzung der mannigfaltigen kirchlichen Einkunftsmöglichkeiten. Anläßlich der Ablaßreise des Kardinals
Raimund Peraudi, des zurückliegenden Jubelfestes und wiederholter Sammlungen
für den Türkenkrieg hieß es bereits 1503 im Bremer Ratsdenkelbuch: ,Ach, wie
große Geldsummen kommen alle Jahre nach Rom aus deutschen Landen ... Ich
glaube, daß das deutsche Land von den römischen Kaisern in heidnischer Zeit nicht
so sehr mit jährlichem Tribut belastet wurde, wie er in den letzten 200 Jahren
'Bremen, Duderstadt, Goslar, Hannover, Minden, Münster, Osnabrück, Soest; MÜLLER, wie Anm. 6,
S. 33FF.; H. SCHWARZWÄLDER, Geschichte der Freien Hansestadt Bremen, Bd. 1, Bremen 1975, S. 188f.;
STÖRMANN, wie Anm. 8, S. 97ff., 102, 108, 110, 119f.; H. STRATENWERTH, Die Reformation in der Stadt
Osnabrück (VlnstEurG 61, Abt. Abendländische Religionsgeschichte), Wiesbaden 1971, S. 19f.
' " H a m b u r g , H i l d e s h e i m ; POSTEL, w i e A n m . 4, S. 1 1 7 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 104.
11
1J
STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 104.
POSTEL, w i e A n m . 4 , S. 73.
13
POSTEL, wie Anm. 4, S. 114f.; STÖRMANN, wie Anm. 8, Abschnitte I u. II passim.
Greifswald, Hamburg, Minden, Münster, Osnabrück; POSTEL, wie Anm. 4, S. 77f., 93ff., 100; STÖRMANN,
wie Anm. 8, S. 128f.
15
MÖRKE, wie Anm. 1, S. 28; UWE PLATH, Der Durchbruch der Reformation in Lüneburg, in: Reformation
vor 450 Jahren. Eine lüneburgische Gedenkschrift, Lüneburg 1980, S. 25-69, hier S. 49; POSTEL, wie
14
A n m . 4, S. 9 7 f . ; SCHWARZWÄLDER, w i e A n m . 9, S. 148, 1 6 6 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 128.
'«POSTEL, wie Anm. 4, S. 77f., 116, 120, 127, 138-141, 202f.
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heimlich und listig abverlangt wurde." 17 Schon im 15. Jahrhundert regte sich Unmut gegen päpstlichen Ablaßhandel 18 . 1517 — im Jahr der Thesen Luthers gegen
den Ablaß — rief ein römischer Ablaß auch den Protest des Rostocker Rates beim
Landesherrn hervor 19 . Die Geldgier des päpstlichen Ablaßkommissars Arcimboldi
wurde 1518 in Lübeck sogar von den Kanzeln kritisiert 20 . Solche Widerstände gegen
eine zwar alte, doch zuletzt immer intensiver genutzte Quelle kirchlicher Einnahmen
wuchsen in manchen Gegenden des Reiches, auch wegen Geldschneiderei und anderer Verfehlungen von Ablaßkommissaren 21 , waren aber keineswegs einheitlich 22 .
Neben dem Ablaßproblem, das bald in den Mittelpunkt der Kritik am Finanzwesen der alten Kirche rückte, stießen andere kirchliche Abgaben auf wachsenden Unmut, der zunächst ihre Höhe, dann auch ihre prinzipielle Berechtigung betraf — die
Türkensteuer 23 und Stolgebühren 24 (Entgelt für bestimmte geistliche Verrichtungen)
ebenso wie kirchliche Almosensammlungen 25 . Widerstände gab es auch, wo scheinbar klare Rechtstitel den Forderungen der Kirche zugrundelagen — bei Zinsen 26 ,
Zehnten 27 und Ungeldansprüchen 28 , den wichtigsten Grundlagen ihrer materiellen
Existenz, sowie beim Schulgeld 29 . Die Folge war ein spürbarer Rückgang frommer
und obligatorischer Abgaben an die Kirche im Vorfeld der Reformation 30 .
Erhebliche Belastungen ergaben sich unter diesen Umständen ferner aus dem
strengen innerkirchlichen Abgabensystem, vor allem für den Pfarrklerus und damit
auch für die Gemeinde 31 . Daß von der Kirche verhängte Strafgelder als geistliche
Geldquelle besonders umstritten waren, lag auf der Hand 3 2 . Gleichwohl schien die
Begehrlichkeit hier ebenfalls gewachsen, wurde der Bann bereits für Bagatellvergehen
angedroht 33 , und seine Abtragung kostete, wenn er über eine ganze Stadt verhängt
war, Unsummen 34 . Die Hamburger Bürger hatten nicht unrecht, als sie 1526 klagten,
die Stadtkasse habe sich „dorch den vermaledeienden Ban der Geestliken" so hoch
17
SCHWARZWÄLDER, w i e A n m . 9, S. 1 7 0 .
18
In Wismar 1469; J. SCHILDHAUER, Soziale, politische und religiöse Auseinandersetzungen in den
Hansestädten Stralsund, Rostock und Wismar im ersten Drittel des 16. Jahrhunderts (AbhHdlSozG
2), Weimar 1959, S. 69.
"Ebd., S. 70.
20
W. JANNASCH, Reformationsgeschichte Lübecks vom Petersablaß bis zum Augsburger Reichstag 15151530 (VGLiib 16), Lübeck 1958, S. 86f.
21
W. ANDREAS, Deutschland vor der Reformation. Eine Zeitenwende, Berlin 7 1972, S. 70-74; POSTEL, wie
A n m . 4 , S. 1 5 9 ; SCHILDHAUER, w i e A n m . 18, S. 6 9 f f . ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 12.
22
POSTEL, w i e A n m . 4 , S. 9 6 f .
23
M a g d e b u r g ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 4 2 .
24
G o s l a r , S t r a l s u n d ; SCHILDHAUER, w i e A n m . 18, S. 7 5 f . ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 5 2 .
25
Gardelegen, Hannover, Magdeburg, Münster, Stralsund, Treuenbrietzen; SCHILDHAUER, wie Anm. 18,
S. 7 4 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 6 0 .
26
Bernau, Goslar, Minden, Münster, Osnabrück, Prenzlau, Sommerfeld; STÖRMANN, wie Anm. 8, S. 64f.,
68f., 73, 76f.
27
Bützow, Güstrow, Rostock, Schwerin; STÖRMANN, wie Anm. 8, S. 83. — Zu den Ansprüchen des
Hamburger Kapitels in Dithmarschen vgl. POSTEL, wie Anm. 4, S. 146ff.
28
H i l d e s h e i m ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S . 8 9 f .
29
Hamburg; POSTEL, wie Anm. 4, S. 117, 158, 162-167, 169, 178.
30
Hamburg; ebd., S. 142f.; vgl. auch Anm. 26 u. 27.
3i Ebd., S. 73, 76, 114, 143, 204, 219f., 226, 242.
32
Hamburg, Hildesheim, Paderborn, Stralsund; POSTEL, wie Anm. 4, S. 73, 118; SCHILDHAUER, wie
A n m . 18, S. 7 2 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 2 0 9 , 2 1 2 f .
33
Hamburg, Lübeck, Rostock, Stralsund, Wismar; JANNASCH, wie Anm. 20, S. 205; POSTEL, wie Anm. 4,
S. 6 8 f „ 118, 1 5 8 , 1 6 4 ; SCHILDHAUER, w i e A n m . 18, S. 7 1 .
34
POSTEL, w i e A n m . 4 , S. 118.
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Kirchlicher und weltlicher Fiskus
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verschuldet 35 . Ein verbreitetes Gravamen, das den Unmut über die kirchliche Strafpraxis nur steigern konnte, war zudem, daß die Kleriker nicht weltlichem Gericht
unterstanden und im Streit mit Laien oft milde geistliche Richter fanden, während
Bürger dort nur schwer ihr Recht erhielten 36 .
Zahlreich waren schließlich die Klagen darüber, daß Geistliche mit weltlicher
Erwerbstätigkeit den Bürgern eine lästige und privilegierte Konkurrenz bereiteten 37 ,
da sie von weltlichen Abgabenpflichten weithin frei waren 38 und sich auch sträubten, städtische Verteidigungslasten mitzutragen 39 . Daß der bremische Erzbischof,
während solche Klagen in Bremen laut wurden, sich dort wegen seines Krieges zur
Unterwerfung der Wurster Friesen hoch verschuldete 40 , mußte das geistliche Finanzgebaren zusätzlich ins Zwielicht rücken. Aber die meisten dieser Klagen — gemeinsam mit denen über weitere Mißstände der alten Kirche — waren bereits lange
zu vernehmen, bevor sie durch Martin Luther in die reformatorische Bahn gelenkt
wurden. Sie hatten zwei Motive — zum einen die vielfältig belegte spätmittelalterliche Frömmigkeit 41 , die in wachsenden Gegensatz zum Materialismus der Kirche
und vieler Geistlicher geriet, zum anderen, wie vor allem die Forderungen nach Heranziehung der Geistlichen zu den kommunalen Lasten und nach ihrer rechtlichen
Gleichstellung mit den Bürgern zeigen, das kommunale Bewußtsein der bürgerlichen
Kritiker.
Die Behauptung der Hamburger Bürger, die Stadtkasse sei — allein oder vorwiegend — durch den Bann in die roten Zahlen geraten, traf nur einen Teil der
Wahrheit; sie war auch taktisch begründet, zeigte nämlich die Bereitschaft der Bürger,
sich im Konflikt mit der Kirche an den Rat zu halten und seine Unterstützung zu
suchen, zumal in Hamburg die Verbindungen zwischen Rat und Kapitel weniger eng
waren als etwa in Lübeck.
Seit langem und in vielen Städten standen die Ratsfinanzen im Zentrum bürgerlicher Kritik und zeigte sich schon vor der Reformation das Bemühen von Bürgern,
Aufsicht und Mitsprache über Finanzen und Fiskusverwaltung ihrer Stadt zu erlangen. Wenn Schulden ein Ausweis von Staatlichkeit waren — die Städte konnten sie reklamieren 42 . Die Zerrüttung ihrer Finanzen lag auch an den verstärkten
35
36
Ebd., S. 219.
Goslar, Hamburg, Magdeburg, Paderborn; POSTEL, wie Anm. 4, S. 73, 79,118; STÖRMANN, wie Anm. 8,
S. 178-184. — In diesem Zusammenhang standen auch Klagen über das kirchliche Asylrecht: Hamburg,
O s n a b r ü c k : POSTEL, w i e A n m . 4, S. 73, 8 2 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 189.
"Bremen, Hamburg, Magdeburg, Münster, Osnabrück, Paderborn, Soest; POSTEL, wie Anm. 4, S. 73,
117; H. SCHILLING, Aufstandsbewegungen in der stadtbürgerlichen Gesellschaft des Alten Reiches. Die
Vorgeschichte des Münsteraner Täuferreichs, 1525-1534, in: Der Deutsche Bauernkrieg 1524-1526, hg.
v. H.-U. WEHLER (GUG, Sonderheft 1), Göttingen 1975, S. 193-238, hier S. 202f. ; SCHWARZWÄLDER,
w i e A n m . 9, S. 2 0 0 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 137f., 142, 151f.
38
Bremen, Danzig, Goslar, Hamburg, Hannover, Hildesheim, Magdeburg, Minden, Osnabrück, Paderborn, Rostock, Salzwedel, Stralsund; MÜLLER, wie Anm. 6, S. 34; POSTEL, wie Anm. 4, S. 73, 117, 219;
SCHILDHAUER, w i e A n m . 18, S. 6 7 ; SCHWARZWÄLDER, w i e A n m . 9, S. 1 8 7 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8,
S. 165f., 172-175; STRATENWERTH, wie Anm. 9, S. 19f. — Zur Besteuerung der Geistlichkeit in Stralsund
sowie in Pommern und Mecklenburg vgl. SCHILDHAUER, wie Anm. 18, S. 2f., 56.
39
Hamburg, Hannover, Rostock; MÜLLER, wie Anm. 6, S. 34; POSTEL, wie Anm. 4, S. 73, 117f., 242, 273;
STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 171.
^SCHWARZWÄLDER, w i e A n m . 9, S. 179.
41
42
Vgl. für Hamburg POSTEL, wie Anm. 4, Kap. 1.3.
Braunschweig, Danzig, Göttingen, Greifswald, Hamburg, Höxter, Lübeck, Wismar; M. FOLTZ, Geschichte des Danziger Stadthaushalts (QDGWestpr 8), Danzig 1912, S. 70; JANNASCH, wie Anm. 20,
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Rainer Postel
Befestigungs- und Verteidigungsmaßnahmen seit dem letzten Viertel des 15. Jahrhunderts 43 und an kriegerischen Anstrengungen, wie sie besonders Lübeck zu Beginn
des 16. Jahrhunderts mit der dänischen und der holländischen Fehde und dann im
dänischen Thronstreit 1522-24 unternahm 44 . Kein Wunder, daß die Verschuldung
der Stadt die Gemüter gegen die wachsenden kirchlichen Forderungen sensibilisierte
und auch die notwendigen Sonder- und Zusatzsteuern auf einigen Widerstand trafen
oder sogar offene Unruhen auslösten 45 . Hinter ihnen stand der Verdacht ungerechter Verteilung der Lasten, der Vorwurf von Eigennutz, von Vetternwirtschaft,
Unterschleif und Mißwirtschaft im Rat 4 6 — nicht immer unbegründet und noch
begünstigt durch die zumeist unübersichtliche und wenig systematische Organisation
der städtischen Finanz- und Fiskusverwaltung 47 .
Über die Abstellung der Beschwerden hinaus zielten die Bürger mit ihren Klagen
und Protesten auf eine Kontrolle und Mitsprache bei der Verwaltung der städtischen
Kassen und Besitzungen. In Braunschweig (1512/13), Göttingen (1513/14), Greifswald (1512), Hannover (1512), Hildesheim (1531), Höxter (1513/14) und Lübeck
(1513) konnten sie bereits vor der Reformation gegen den Widerstand des Rates
für eigene Vertretungskörperschaften Aufsicht und Mitverwaltung des städtischen
Fiskus erzwingen 48 . Dies bedeutete nicht das Ende der betreffenden Klagen, wohl
aber einen zumeist ersten Einbruch in die exklusive Ämterhoheit des Rates. Über die
Sorge um die Solidität und Zweckmäßigkeit der Fiskusverwaltung hinaus zeigte sich
darin eine allgemeinere Tendenz, mit der Beteiligung daran zugleich einen Schritt
zur institutionalisierten Partizipitation überhaupt zu tun. Der Vorgang ordnet sich
damit einer längerfristigen kommunalen Entwicklung zu: In den Augen der Bürger
war die in ihrem Ursprung genossenschaftlich begründete Stadtverfassung durch
die zunehmend autokratische und in ihrer Integrität beargwöhnte Ratsobrigkeit aus
S. 161, 2 1 1 ; MÖRKE, w i e A n m . 1, S. 79, 86, 88, 9 0 ; POSTEL, w i e A n m . 4, S. 2 1 9 ; H . RÜTHING, H ö x t e r
um 1500. Analyse einer Stadtgesellschaft, Paderborn 1986, S. 116, 447f.; SCHILDHAUER, wie Anm. 18,
S. 6 5 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 9.
43
Braunschweig, Bremen, Danzig, Göttingen, Hamburg, Hannover, Rostock; FOLTZ, wie Anm. 42, S. 67ff.;
MÖRKE, wie Anm. 1, S. 79; H. MOHNHAUPT, Die Göttinger Ratsverfassung vom 16. bis 19. Jahrhundert
(StudGGöttingen 5), Göttingen 1965, S. 24ff.; MÜLLER, wie Anm. 6, S. 22 ; POSTEL, wie Anm. 4, S. 34f„
39, 216, 218, 231, 2 4 2 ; SCHILDHAUER, w i e A n m . 18, S. 5 5 ; SCHWARZWÄLDER, w i e A n m . 9, S. 147, 149f.,
175.
44
JANNASCH, w i e A n m . 20, S. 2 1 1 ; POSTEL, w i e A n m . 4, S. 3 9 ; H . POTTHOFF, D e r ö f f e n t l i c h e H a u s h a l t
45
Hamburgs im 15. und 16. Jahrhundert, in: ZVHambG 16 (1911), S. 1-85, hier S. 19f.
Braunschweig, Danzig, Göttingen, Hamburg, Höxter, Lübeck, Rostock, Stralsund; FOLTZ, wie Anm. 42,
S. 69f.; W.-D. HAUSCHILDT, Die Reformation in Hamburg, Lübeck und Eutin, in: Reformation
(SVSHKiG 3), Neumünster 1982, S. 185-226, hier S. 206ff.; MÖRKE, wie Anm. 1, S. 88; MOHNHAUPT,
w i e A n m . 43, S. 24ff.; POSTEL, w i e A n m . 4, S. 2 1 9 ; RÜTHING, w i e A n m . 42, S. 1 1 3 - 1 1 7 ; SCHILDHAUER,
w i e A n m . 18, S. 51f., 5 5 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 9.
46
Braunschweig, Danzig, Göttingen, Greifswald, Hamburg, Lübeck, Rostock, Stralsund, Wismar; FOLTZ,
w i e A n m . 42, S. 6 9 f f . ; MÖRKE, w i e A n m . 1, S. 7 8 ; MOHNHAUPT, w i e A n m . 43, S. 2 6 f . ; POSTEL, w i e
A n m . 4, S. 4 6 ; SCHILDHAUER, w i e A n m . 18, S. 55, 62, 6 4 - 6 7 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 9.
47
48
Vgl. für Bremen K. SCHWARZ, Finanzen, in: Das Staatsarchiv Bremen 1986. Behörde - Dokument
- Geschichte, hg. v. K.H. SCHWEBEL (VStABremen 36), Bremen 1968, S. 123-127; für Hamburg K.
KOPPMANN, Kämmereirechnungen der Stadt Hamburg, 1350-1562, hg. v. Verein für Hamburgische
Geschichte, 10 Bde., Hamburg 1869-1951, hier Bd. 1, S. XIX-CXII, Bd. 3, S. VII-CXLVI, Bd. 7,
S. VII-CCLXXVII.
MOHNHAUPT, w i e A n m . 4 3 , S. 2 7 f . ; RÜTHING, w i e A n m . 42, S. 113ff.; W . SPIESS, G e s c h i c h t e
der
Stadt Braunschweig im Nachmittelalter. Vom Ausgang des Mittelalters bis zum Ende der Stadtfreiheit
(1491-1671), Braunschweig 1966, S. 530f.; STÖRMANN, wie Anm. 8, S. 17.
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Kirchlicher und weltlicher Fiskus
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dem Lot gebracht 49 . Es ging ihnen daher auch um eine Wiederherstellung und
Institutionalisierung genossenschaftlicher Verfassungsstrukturen.
Festzuhalten ist also, daß weder die Klagen über die kirchliche, noch jene über
die weltliche Fiskalpolitik allein aus vordergründigem Materialismus der Betroffenen
resultierten. Die Gleichzeitigkeit der fiskalisch-materiellen und der religiös-ideellen
Anliegen wies nicht nur auf ihre Komplexität, sondern auch auf die Möglichkeit, sie
künftig mit noch größerem Nachdruck vorzubringen.
II.
Der Ernsthaftigkeit der reformatorischen Anliegen tat es keinen Abbruch, daß die
Entwicklung von Anfang an fiskalische Aspekte hatte, die sie wesentlich mitbestimmten. Sie betrafen die fiskalische Lähmung der alten Kirche, die reformatorische
Diakonie und die Funktion der reformatorischen Bürgerausschüsse.
Die offenbar geringe Handlungsfähigkeit der Kirche gegenüber der wachsenden reformatorischen Bewegung hatte einen Grund in teilweise selbstverschuldeten
Einbußen. Sie trafen besonders das hamburgische Kapitel. Daß im Sommer 1523
die Landschaft Dithmarschen aus seiner Kirchenhoheit ausschied, hatte es mit seiner
autokratischen und selbstsüchtigen Haltung sowie seiner bedenklichen Personalpolitik selbst heraufbeschworen. Es bedeutete einen erheblichen Autoritätsverlust
und das Versiegen einer übermäßig ausgeschöpften Quelle kirchlicher Einkünfte.
Die jahrelangen Rückgewinnungsversuche des Kapitels — selbst vor dem kaiserlichen Kammergericht — blieben allesamt ohne Erfolg 50 . Einträglich war auch das
Schulwesen, das die Hamburger Bürger dem Kapitel bzw. seinem Scholasticus im
September 1524 nach über zweijährigem Streit abtrotzten. Er war über der Klage
entstanden, der Scholaster habe unfähige Lehrer bestallt und überhöhtes Schulgeld
gefordert 51 . Einen noch härteren Schlag — auch für das lübeckische Kapitel und
weitere geistliche Körperschaften — bedeutete die ebenfalls im September 1524 ergangene Anordnung des holsteinischen Herzogs Christian, zur Abtragung hoher
Kriegsschulden von allen geistlichen Besitzungen seines Territoriums die Hälfte der
Einkünfte als Steuer in barem Geld zu erheben. Verhandlungen über eine Milderung dieser Forderung hatten wenig Erfolg. Als sich das hamburgische Kapitel
1526 (anders als das lübeckische 52 ) weigerte, die auf stattliche 5000 Mark Lübisch
festgesetzte Summe zu zahlen, verhängte der dänische König Friedrich — Vater
des Herzogs — über alle betreffenden Dörfer und Untertanen des Kapitels einen
Arrest und entzog ihm damit seine wichtigsten Einkünfte und Rechte. Auch die
prompte Unterstützung durch das Reichskammergericht änderte an seiner mißlichen
Lage vorderhand nichts 53 . Zugespitzt ließe sich sagen, daß hier die Säkularisie49
Vgl. R. POSTEL, Obrigkeitsdenken und Reformation in Hamburg, in: ARG 70 (1979), S. 169-201, hier
S. 169, 172ff.
»POSTEL, wie A n m . 4, S. 146ff., 254.
51
Ebd., S. 157-181, besonders S. 163f.
«JANNASCH, wie Anm. 20, S. 204f., S. 383-386.
53
POSTEL, wie Anm. 4, S. 202, 253f. — Erst acht Jahre später hob Christian — seit kurzem Nachfolger
seines Vaters auf dem dänischen Thron — unter veränderten politischen Umständen den Arrest auf;
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98
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rung geistlichen Besitzes in wesentlichen Bereichen und in beträchtlichem Umfang
der Reformation voranging, ja zu einem Instrument ihrer Durchsetzung wurde.
Daß gleichzeitig Opfer und geistliche Stiftungen — auch unter dem Einfluß der sich
ausbreitenden reformatorischen Lehre — vielerorts fast ganz aufhörten, ebenso wie
die Zahlung kirchlicher Zinsen und Abgaben, verschärfte die Lage zusätzlich und
traf die Pfarr- und Altargeistlichkeit unmittelbar — ein deutlicher Reflex des tief
gesunkenen kirchlichen Ansehens 54 . Verstreute Hinweise deuten an, daß dies eine
allgemeinere Erscheinung war 55 .
Solcher Antiklerikalismus bedeutete keineswegs ein Nachlassen der intensiven
und opferbereiten spätmittelalterlichen Frömmigkeit, wie gerade die verbreiteten
Anstrengungen zur Aufrichtung einer evangelischen Diakonie zeigen 56 . Nach dem
Vorbild der Wittenberger „Ordnung des gemeinen Kastens" von Anfang 1522 und
der „Ordnung eyns gemeynen kastens", die Luther 1523 für die kursächsiche Stadt
Leisnig entworfen hatte, begannen in vielen Städten Bürger mit einer grundlegenden
Neugestaltung des sozialen Fürsorge- und des Schulwesens, so Magdeburg 1524
und Stralsund 1525. Unbeschadet zahlreicher organisatorischer Mängel zeigte sich
darin der reformatorische Wandel von der hergebrachten Werkheiligkeit, in der
jede Fürsorge zunächst das Seelenheil des Gebenden bezweckte, zum Grundsatz
evangelischer Liebestätigkeit insbesondere im Rahmen der Gemeinde. Die Initiatoren suchten darum neben dem erhofften Spendenfluß den neuen Armenkästen das
Vermögen und die Einkünfte von Kirchen, Brüderschaften und erledigten geistlichen
Stiftungen zuzuführen, denen die betreffenden Aufgaben bisher teilweise übertragen
waren 57 .
Namentlich Johannes Bugenhagen, Stadtpfarrer zu Wittenberg und in der Folge
der bedeutendste Reformator Norddeutschlands, trug zur Verbreitung und in seinen
zahlreichen Kirchenordnungen für norddeutsche Städte und Territorien (die wiederum Vorbilder für weitere Kirchenordnungen wurden) zur organisatorischen Verbesserung und rechtlichen Absicherung dieses evangelischen Fürsorgewesens bei 58 .
In seinem Sendschreiben über den christlichen Glauben 59 empfahl er 1526 den
Hamburgern die Einrichtung eines „gemeinen Kastens" zur Aufnahme erledigter
Beneficien, frommer Gaben und Testamente, um Arme, Kranke und Hilfsbedürftige
daraus zu unterstützen. Offenbar auch auf seine Anregung errichtete die Gemeinde
des Hamburger St.Nikolai-Kirchspiels im August 1527 eine „gemeine Kiste" 60 . Gespeist aus Spenden, dem Besitz von Klöstern und Brüderschaften sowie dem Kapital
W. JENSEN, König Christian III. gibt dem Hamburger Domkapitel seine Bauten und Güter in Stormarn
zurück (28. Dezember 1534), in: SVSHKiG R. 2, Bd. 16 (1958), S. 97-100.
54
POSTEL, w i e A n m . 4, S. 142f.
55
Der Vorgang hat, da eher geräuschlos, bislang wenig Beachtung gefunden; vgl. aber JANNASCH, wie
A n m . 20, S. 2 0 4 f . ; MÜLLER, w i e A n m . 6, S. 3 8 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 60-63.
56
Zusammenfassend zuletzt R. POSTEL, Lutherische Idee und soziale Tradition. Die Armenpflege in der
Reformation, in: Der Landkreis 53, 12 (1983), S. 619-622; R. STUPPERICH, Armenfursorge III-IV, in:
TRE, Bd. 4, Berlin/New York 1979, S. 23-34.
"Weitere Ansätze gab es in Braunschweig, Bremen und Hamburg; POSTEL, wie Anm. 4, S. 219FF.;
SCHWARZWÄLDER, w i e A n m . 9, S. 207FF.; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 132.
58
L. FEUCHTWANGER, Geschichte der sozialen Politik und des Armenwesens im Zeitalter der Reformation, in: Jahrbuch für Gesetzgebung, Verwaltung und Volkswirtschaft im Deutschen Reich 32 (1908),
S. 1423-1460, 33 (1909), S. 191-228, hier 33, S. 197-204.
59
Van dem Christen|louen vnde rechten guden wer-|cken/wedder den falschen louen|vnde erdichtede
gude wercke. [...] Wittenberch MDXXVI. — Vgl. POSTEL, wie Anm. 4, S. 211-215, bes. S. 214.
^POSTEL, w i e A n m . 4, S. 2 7 6 - 2 8 8 .
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Kirchlicher und weltlicher Fiskus
99
von Testaments- und Altarstiftungen, sollte damit die gesamte soziale Fürsorge
des Kirchspiels systematisiert, zentralisiert, effektiviert und durch ein zwölfköpfiges Verwalterkollegium kontrolliert werden. Neben der Wahl und dem Unterhalt
evangelischer Geistlicher und Lehrer (in Kooperation mit dem Rat) sollte ihm
die Versorgung von Armen, Kranken, Witwen und Waisen obliegen. Daß Bettler
davon prinzipiell ausgeschlossen waren, die Hilfe vielmehr der Selbsthilfe dienen
sollte, zeigte gleichermaßen den evangelischen wie den genossenschaftlichen Impuls
der Kirchenordnung. Obgleich sie sich zunächst allenfalls teilweise verwirklichen
ließ, wurde sie ein Vierteljahr später von den übrigen hamburgischen Kirchspielen
übernommen und wurde das neue Fürsorgesystem 1528 mit der Einrichtung einer
zentralen „Hauptkiste" vereinheitlicht. Im folgenden Jahr wurde es durch Bugenhagen in der neuen Kirchenordnung verankert, die dafür nun auch den Besitz von
Kapitel und Kirche beanspruchte 61 , ähnlich wie dies zuvor in Wittenberg (1527)
und Braunschweig (1528) und später in Lübeck (1531) und Hildesheim (1544) geschah, ferner in Pommern (1534), Dänemark (1536) und Braunschweig-Wolfenbüttel
(1543)62. Bugenhagens Einfluß zeigte sich auch in den entsprechenden Abschnitten
der Kirchenordnungen von Minden (1530), Göttingen (1531), Soest (1532), Bremen
(1534), Hannover (1536), Lüneburg (1542), Osnabrück (1543), Bergedorf (1544) sowie
Schleswig-Holstein (1542)63. Die so in vielen norddeutschen Städten (und darüber
hinaus) geschaffenen Armen- oder Gotteskisten standen durchweg in der Verwaltung reformatorischer Bürgerausschüsse und unter der Aufsicht reformatorischer
Stadträte.
Der Erfolg solcher umfassenden Versuche zu einer evangelischen Neuordnung
des Fürsorgewesens blieb oft hinter den Erwartungen zurück. So ließ sich die
Absicht, aus den regelmäßigen Einkünften vormals kirchlicher Besitzungen besondere „Schatzkästen" für den Unterhalt von Pfarrern und Lehrern einzurichten, oft
nicht verwirklichen: Auf den Güterbesitz des hamburgischen Domkapitels legte der
holsteinische Herzog seine Hand, und im Restitutionsprozeß vor dem Reichskammergericht konnte das Kapitel bis 1536 die Rückgabe aller Temporalien erwirken;
sie machte auch der Schmalkaldische Bund zur Bedingung, als Hamburg angesichts
der ungünstigen Entwicklung dieses Prozesses darin Aufnahme suchte M . Neben dem
Kapitel und Teilen der Altargeistlichkeit überdauerten auch mehrere Brüderschaften
die Reformation und gaben ihr Vermögen nicht frei. Und der caritative Impuls
mancher Stifter mochte sich auch dem Zentralisierungswillen des neuen Fürsorgesystems entziehen. So wurden einzelne Pfründen auch direkt zeitgemäßeren Zwecken
61
J. BUGENHAGEN, Der Ehrbaren Stadt Hamburg Christliche Ordnung 1529. De Ordeninge Pomerani,
hg. u. übers, v. H. WENN (ArbKiGHamburg 13), Hamburg 1976, S. 211-255; R. POSTEL, Reformation
und Gegenreformation 1517-1618, in: Hamburg. Geschichte der Stadt und ihrer Bewohner, hg. v.
W. JOCHMANN/H.-D. LOOSE, Bd. 1: Von den Anfängen bis zur Reichsgründung, hg. v. H.-D. Loose,
(Hamburg 1982.) S. 191-258, hier S. 198, 213ff.
62
FEUCHTWANGER, wie Anm. 58, S. 198; W.-D. HAUSCHILD, Kirchengeschichte Lübecks, Lübeck 1981,
63
S. 194FF.; MÖRKE, w i e A n m . 1, S. 133f.
FEUCHTWANGHR, w i e A n m . 58, S. 198f.; MÖRKE, w i e A n m . 1, S. 115, 1 1 8 ; MÜLLER, w i e A n m . 6, S. 121f.,
1 2 6 ; SCHWARZWÄLDER, w i e A n m . 9, S. 2 0 7 f f . ; vgl. PLATH, w i e A n m . 15, S. 50ff., 56f., 65. — Vgl. z u
ähnlichen Schritten in Goslar und Rostock STÖRMANN, wie Anm. 8, S. 130; SCHILDHAUER, wie Anm. 18,
S. 136.
POSTEL, wie Anm. 61, S. 215, 223f.; J. SPITZER, Hamburg im Reformationsstreit mit dem Domcapitel.
Ein Beitrag zur Hamburgischen Staats- und Kirchengeschichte der Jahre 1528-1561, in: ZVHambG
11 (1903), S. 430-591, hier S. 501.
64
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etwa Stipendien — gewidmet 65 . Das bot deren Verwaltern zugleich die Möglichkeit,
solche Einkünfte eigenen Angehörigen zuzuführen. Überdies zog die Aussicht auf
freigewordenen geistlichen Besitz rasch auch die Begehrlichkeit des städtischen Fiskus auf sich. Oft kamen bereits die „vorsorgliche" Visitierung, Inventarisierung und
Asservierung durch den Rat oder Bürgervertreter der faktischen Aneignung gleich 66 .
Manches wurde alsbald zugunsten des notleidenden Stadtsäckels versilbert, Metallgerät in Notzeiten zu Waffen verarbeitet 67 . Vereinzelt kam es zu Plünderungen 68 ,
obschon die kirchlichen Klagen darüber offenbar übertrieben. Schließlich zeigte noch
die Maßnahme, die Geistlichen fortan den städtischen Abgaben zu unterwerfen 69 ,
neben dem Wunsch nach Gleichbehandlung auch den Geldbedarf der städtischen
Kassen. Nicht ohne Berechtigung klagte Bugenhagen später über gewisse Städte,
die sich als evangelisch rühmten, „und kónen nergen mède bewysen dat se Euangelisch synt wen mit klôster pucchende/mit altár brêkende/mit Papen voryagende/mit
ynnêmende der gûdere" 70 .
Die mit der Reformation entstandenen Bürgerausschüsse, wie sie etwa in Hamburg als Verwalter des neuen Fürsorgewesens ins Leben getreten waren, wirkten oft
in einer wichtigen Doppelfunktion, die verschiedentlich ihre organisatorische Aufgliederung oder das Einsetzen weiterer Kollegien nach sich zog 71 : Sie waren Träger
der evangelischen Diakonie, und sie nahmen die alten und neuen Mitsprache- und
Kontrollrechte der Bürgerschaft gegenüber dem Rat wahr. Besonders in Hamburg,
wo der Rat weniger als etwa in Lübeck oder Bremen zu patrizischer Abgrenzung
gelangt war, standen sie diesem in ihrer Spitze verwandtschaftlich und beruflich
durchaus nahe 72 . So ließen sie sich auch als Stabilisatoren ansehen, denen als Kistenverwalter zugleich die Aufgabe sozialer Kontrolle zufiel. Diese Zuständigkeiten
waren integraler Bestandteil städtischer Reformation, standen dabei aber — wie gezeigt — in älterer Tradition. Sie wurden z. T. in verfassungsartigen Dokumenten
verankert, wie in Hamburg dem „Langen Rezeß" von 1529, der inhaltlich eng mit
der Bugenhagenschen Kirchenordnung verbunden war.
Dem 144köpfigen Ausschuß, der diesen Rezeß im Auftrag der Bürger mit dem
Rat aushandelte, gelang es allerdings nicht, den Rat zur Offenlegung seiner heruntergekommenen Finanzverwaltung zu bewegen 73 . In Göttingen konnten dagegen die
65
Z.B. in Goslar, Hamburg, Lemgo; POSTEL, wie Anm. 4, S. 327f.; SCHILLING, wie Anm. 6, S. 255f.;
66
Hamburg, Königsberg, Lübeck, Lüneburg, Münster, Stralsund; JANNASCH, wie Anm. 20, S. 318, 324ff.;
W. JENSEN, Das Hamburger Domkapitel und die Reformation (ArbKiGHamburg 4), Hamburg 1961,
STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 130.
S. 4 9 f . , 6 6 f . ; PLATH, w i e A n m . 15, S. 5 3 ; SCHILLING, w i e A n m . 37, S. 2 0 2 Í ; STÖRMANN, w i e A n m . 8,
S. 124f.
Bremen, Hildesheim, Lübeck; K. KUPISCH, Demokratie und Reformation. Zur Geschichte Jürgen
Wullenwevers, in: Theologia Viatorum 8 (1961/62), S. 139-156, hier S. 149; SCHWARZWÄLDER, wie
67
A n m . 9, S. 2 2 2 ; STÖRMANN, w i e A n m . 8, S. 125.
68
Bremen, Minden, Münster; H. NORDSIEK, Minden 1530. Bilder und Dokumente zur Reformation der
69
Hamburg; JENSEN, wie Anm. 66, S. 49f., 67ff.
Stadt, Minden 1980, S. 41; SCHWARZWÄLDER, wie Anm. 9, S. 207; STÖRMANN, wie Anm. 8, S. 138.
70
BUGENHAGEN, w i e A n m . 50, S. a I V b.
71
Zum Folgenden ausführlicher: R. POSTEL, Reformation und bürgerliche Mitsprache in Hamburg,
in: ZVHambG 65 (1979), S. 1-20. — Die reformatorischen Bürgerausschüsse, insbesondere die der
norddeutschen Städte, verdienten eine gründliche und systematische Untersuchung.
72
POSTEL, wie Anm. 4, S. 387-395.
73
POSTEL, w i e A n m . 61, S. 198f.
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Kirchlicher und weltlicher Fiskus
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Gilde-Vertreter dem Rat im Zuge der Reformation 1529 die gesamte Kämmereiverwaltung abnehmen, nachdem die Gilden daran bereits seit 15 Jahren teilgehabt
hatten. Da der Rat gleichzeitig seinen Einfluß auf die Gilden großenteils verlor, diese
vielmehr künftig bei seinen Beratungen über die Verbesserung der Stadtfinanzen
hinzuziehen mußte, spricht Mörke von einem „Gegenregiment" der Bürger 74 . 1543
ging sogar das Recht zur jährlichen Ratswahl an die Gildemeister und Kämmereiverwalter über 75 . Dabei blieb es, bis 1611 Herzog Heinrich-Julius von BraunschweigWolfenbüttel dem 'Spuk' ein Ende machte und den Gilden Mitsprache- und Ratswahlrecht nahm. Sie behielten allein die jährliche Rechnungsprüfung gegenüber den
Ratskämmerern 76 .
Nur vereinzelt — wie in Hamburg 7 7 — konnten sich die reformatorischen Bürgerausschüsse über längere Zeit halten. Wie es scheint, gingen sie und mit ihnen
durchweg auch die von ihnen wahrgenommenen bürgerlichen Partizipationsrechte
zumeist schon nach wenigen Jahren ein 78 , wofür organisatorische Mängel, Überlastung sowie äußere Widerstände und Probleme wesentliche Ursachen waren 79 .
Besonders spektakulär verlief diese Entwicklung in Lübeck. Hier nutzten die
Bürger die Schuldenlast des Rates, um mit der Bewilligung von Sondersteuern
Konzessionen zu erzwingen. Im Frühjahr 1528 stellten sie dem Rat einen 36erAusschuß gegenüber, der schon vor der Reformation die Besteuerung der Geistlichkeit durchsetzte und überdies ein 24er-Gremium ohne Beteiligung des Rates berief,
um den Ertrag der neuen Steuer zu verwalten 80 . Im folgenden Jahr wurde bei
neuen Steuerforderungen des Rates ein neuer 48er-Ausschuß unter dem Vorsitz des
Wortführers der Evangelischen, Hannen Israhel, gebildet (24 ,Junker" und Kaufleute, 24 Angehörige der Handwerksämter; später um 8 Bürger erweitert), der dem
Rat in zähen Verhandlungen für die Bewilligung der neuen Steuer am 5. April 1530
das Zugeständnis abrang, daß nur noch lutherische Prediger die Kanzeln betreten
durften 81 .
Mit exemplarischer Deutlichkeit zeigte sich hier die enge Verbindung fiskalischer Probleme und reformatorischer Anliegen: Die Misere städtischer Finanzen
wurde zum Druckmittel, mit dem sich Reformation und bürgerliche Partizipation
durchsetzen ließen. Am 7. April 1530 bestimmten die Bürger einen paritätischen
64er-Ausschuß (32 Junker und Kaufleute, 32 aus den Ämtern) zur Verwaltung der
neuen Steuer. Die 64er sollten, wenn es zum Wohle der Stadt war, auch die neuen
Steuerartikel mit dem Rat ändern und weitere Maßnahmen zum Nutzen der Bürgerschaft durchführen dürfen 82. Der Ausschuß sollte also auch als allgemeines bürgerliches Mitspracheorgan wirken. Seine Hauptanliegen waren reformatorisch. Nach
74
MÖRKE, wie Anm. 1, S. 157ff. (Zitat S. 158); MOHNHAUPT, wie Anm. 43, S. 38-41 ; vgl. Anm. 48.
MOHNHAUPT, wie Anm. 43, S. 44f.
76
Ebd., S. 57-63.
77
POSTEL, wie Anm. 71, S. Iff.
78
Z.B. in Bremen, Rostock, Stralsund und Wismar; SCHILDHAUER, wie Anm. 18, S. 203; SCHWARZWÄLDER,
wie Anm. 9, S. 200ff.
79
Vgl. FEUCHTWANGER, wie Anm. 58, S. 203-207; POSTEL, wie Anm. 71, S. 12f. Ein Verblassen des
genossenschaftlichen Gedankens — das MÜLLER, wie Anm. 6, S. 131, annimmt — ist nicht ohne
Berücksichtigung dieser Zusammenhänge zu konstatieren.
80
JANNASCH, wie Anm. 20, S. 212f.
81
Ebd., S. 263-269, 275-280, 287-296.
82
JANNASCH, wie Anm. 20, S. 296f.; G. KORELL, Jürgen Wullenwever. Sein sozial-politisches Wirken in
Lübeck und der Kampf mit den erstarkenden Mächten Nordeuropas (AbhHdlSozG 19), Weimar 1980,
S. 46. — Turnusmäßig sollten je acht von ihnen monatlich die Verwaltungsaufgaben wahrnehmen.
75
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Rainer Postel
Durchsetzung der lutherischen Taufe 8 3 legte er am 30. Juni 1530 einen noch weiterreichenden reformatorischen Forderungskatalog vor, der die völlige Abschaffung des
altgläubigen Gottesdienstes, Bestellung bürgerlicher Kirchenpfleger, Umwandlung
der städtischen Klöster in eine gelehrte Schule und ein Krankenhaus, Registrierung
aller Kirchen- und Klosterschätze und schließlich die Anerkennung der 64er als
ständiges Verfassungsorgan zwischen Rat und Bürgergemeinde verlangte 84 . Jürgen
Wullenwever, der unter ihren Mitgliedern bald in den Vordergrund trat, erreichte, als
sich die Situation in Lübeck angesichts bedrohlicher kaiserlicher Mandate gegen die
Reformation im Oktober 1530 zuspitzte, die Anerkennung der 64er als politisches
Mitsprache- und Kontrollorgan, da sie auch in den Augen der Ratsobrigkeit inzwischen ein wichtiger Faktor innerer Stabilität geworden waren 85 . Neben Einblick in
die Außen-, Handels- und Kriegspolitik des Rates sollten sie die städtischen Einnahmen überwachen und auf eine Entlastung der Kämmerei hinwirken. Als Vertretung
der Gemeinde sollten die 64er zudem einen 100er-Ausschuß aufstellen. Gleichzeitig
wurde die Aufrichtung eines lutherischen Kastenwesens ins Auge gefaßt.
Allerdings bedeutete der weitere Aufstieg Wullenwevers die Paralysierung der
lübeckischen Ratsverfassung und 1534 auch das Ende der Ausschüsse. Wullenwevers
Kriegspolitik, die bald eine Gefahr für Nordwest-Europa wurde, führte 1535 zu
seinem Sturz und 1537 zu seiner Hinrichtung 86 . Seine Radikalität und sein Sturz
bewirkten die völlige Restauration der alten Ratsverfassung; nur bei der Reformation
blieb es. In den anderen Städten verlief das Ende der reformatorischen Ausschüsse
zumeist wesentlich geräuschloser.
III.
Mit der Durchsetzung der Reformation war die Entwicklung bürgerlicher Partizipation — insbesondere im Bereich von Fiskus und Finanzen — uneinheitlich wie zuvor
und keineswegs abgeschlossen. Ihr Fortgang soll an drei Beispielen betrachtet werden.
Sie zeigen neben einer bemerkenswerten Ungleichzeitigkeit auch die Ungleichheit der
Voraussetzungen und der Erfolge bürgerlicher Kontroll- und Mitspracheforderungen.
In Hamburg war die Frage bürgerlicher Finanz- und Fiskuskontrolle 1529 vertagt
worden, ohne daß sich an den Problemen etwas geändert hätte. Im Rezeß des Jahres
1529 hatte der Rat allein zugesichert, die Zölle so sorgsam zu erheben, daß das
gemeine Gut keinen Schaden nehme 87 . Die Schulden wuchsen aufgrund außerordentlicher, in ihrer Notwendigkeit selbst nicht angefochtener Ausgaben weiter: Der
Bau einer Kanalverbindung nach Lübeck 1526-30 kostete das Anderthalbfache der
"JANNASCH, wie Anm. 20, S. 306f., 310.
84 Ebd., S. 317ff.
85 Ebd.,
S. 335-339; KORELL, wie Anm. 82, S. 50ff.
R. POSTEL, Heinrich der Jüngere und Jürgen Wullenwever, in: Reformation und Revolution.
Beiträge zum politischen Wandel und den sozialen Kräften am Beginn der Neuzeit. FS für Rainer
Wohlfeil zum 60. Geburtstag, hg. v. R. POSTEL/F. KOPITZSCH, Stuttgart 1989, S. 48-67.
87 J.C. LÜNIG, Des Teutschen Reichs-Archivs partis specialis 4. und letzte Continuation, Leipzig 1714,
S. 985 (Art. 115).
8 6 Vgl.
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Kirchlicher und weltlicher Fiskus
103
durchschnittlichen Jahreseinnahme 88 . Der Verlauf des Restitutionsprozesses gegen
das Domkapitel vor dem Reichskammergericht machte 1536 nicht nur die Rückgabe
aller Temporalien an das Kapitel erforderlich, sondern die hohe Geldstrafe (500
Mark Gold) und die absehbaren Prozeßkosten veranlaßten die Hamburger überdies,
beim Schmalkaldischen Bund Schutz zu suchen. Einstand, Beiträge, Kriegskosten,
Hilfsgelder und das Strafgeld nach der Niederlage 1547 summierten sich auf rund
480 000 Mark Lübisch Gesamtkosten. Seit 1540 beliefen sich die Schulden auf etwa
das Vierfache der jährlichen Einnahmen der Stadt. Um sie zu decken, mußten neben wiederholten Sondersteuern, -zollen und ländlichen Kontributionen erhebliche
Anleihen beim holsteinischen Adel aufgenommen werden 89 ; „in causa religionis"
lieh die protestantische Stadt 1551 sogar bei holsteinischen Klöstern eine stattliche
Summe
Zwar lehnte Hamburg in dieser Zwangslage die 1547 vom Reichstag beschlossene hohe Türkensteuer unter Hinweis auf seine Landstandschaft ab (was ihm einen jahrzehntelangen Reichskammergerichtsprozeß wegen seiner Reichsstandschaft
eintrug 91 ), aber neue Befestigungsarbeiten seit 1546, notwendige Rüstungen und
ein abgenötigter Beitrag zum Fürstenbund 1552 ließen die Schulden weiter steigen.
Allein die Zinsen fraßen fast ein Drittel der ordentlichen Einnahmen und konnten
schon 1550 nicht mehr voll bezahlt werden 92 .
Ein Rezeß, den der Rat 1548 mit 40 von ihm benannten Bürgern über die Bewältigung der Kriegsfolgen für die Stadt aushandelte, hatte diesem Problem nicht wirksam
abhelfen können. Er enthielt jedoch wesentliche Konzessionen des Rates, der für vier
Jahre seine Steuerfreiheit aufgab, die Verwaltung von Teilen des Landgebietes zugunsten der Kämmerei verpachtete und den 40 Bürgern Mitsprache bei der Einnahme
und Verwaltung mehrerer heraufzusetzender Abgaben sowie bei der weiteren Schuldentilgung einräumte 93 . Erstmals war damit ein kontinuierliches Zusammenwirken
des Rates mit einem — wenn auch von ihm bestimmten — Bürgerausschuß in der
Fiskusverwaltung begründet.
Der Fehlschlag aller Sanierungsbemühungen und mangelhafte Einhaltung dieser
Regelung durch den Rat veranlaßten die 40er 1557, neben weiteren Zulagen und
Anleihen umfassenden Einblick in seine Finanzverwaltung zu fordern. Ihr Mißtrauen
gipfelte in dem Verdacht der Bestechlichkeit und persönlichen Bereicherung von
Ratsherren. Ende 1558 mußte der Rat wegen wachsender Geldnot seinen Widerstand
aufgeben. Zunächst gewährte er einem Ausschuß von zwölf Bürgern auf sechs Jahre
Einsicht in sein Rechnungswesen seit 1536 und in die betreffenden Akten sowie
Mitberatung in Finanzsachen. 1560 hob die Bürgerschaft jedoch alle bisherigen
Finanzausschüsse auf, wies deren Aufgaben den Juraten zu — ihrer traditionellen
Vertretung gegenüber dem Rat 9 4 — und schlug vor, die Kämmerei durch Verkäufe
88
POSTEL, w i e A n m . 4, S. 2 3 5 .
"POSTEL, w i e A n m . 61, S. 2 1 9 ; POTTHOFF, w i e A n m . 4 4 , S. 20f., 6 0 ; H . REINCKE, D i e a l t e H a m b u r g e r
Stadtschuld der Hansezeit (1300-1563), in: Städtewesen und Bürgertum als geschichtliche Kräfte.
Gedächtnisschrift für Fritz Rörig, hg. V. A. VON BRANDT/W. KOPPE, Lübeck 1953, S. 489-511, hier
S. 503f.; Κ. ZEIGER, Hamburgs Finanzen von 1563-1650 (HambWirtschSozialwissSchrr 34), Rostock
1936, S. lOf.
^Kämmereirechnungen 6, wie Anm. 47, S. 420.
" V g l . REINCKE, w i e A n m . 5, S. 27ff.
APOSTEL, w i e A n m . 61, S. 2 1 9 .
93
POSTEL, wie Anm. 71, S. 13f.; POSTEL, wie Anm. 61, S. 220ff., auch zum Folgenden.
APOSTEL, wie Anm. 4, S. 57ff.
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und neue Abgaben zu sanieren. 1563 schließlich entschloß sich der Rat, dessen
Autorität auch anderweitig gelitten hatte, die defizitäre Kämmerei und damit die
gesamte hamburgische Finanzverwaltung in die Hände der Bürger zu legen.
Die Kämmerei-Ordnung vom 5. April 1563 95 schrieb vor, daß künftig alle städtischen Einnahmen der Kämmerei zufließen und alle Ausgaben aus ihr bestritten
werden sollten. Ihre Verwaltung oblag nun einem in sechsjährigem Turnus amtierenden Gremium von acht (aus jedem Kirchspiel zwei) Bürgern. Damit wurde zugleich
erstmals ein zentrales Kassenwesen geschaffen, dessen Bestimmungen zunächst auf
einen Schuldenabbau zielten, darüberhinaus aber erste Richtlinien für die Verwaltung der öffentlichen Finanzen boten. Die beharrlichen Partizipationsbestrebungen
der hamburgischen Bürgerschaft seit 1528 waren so zu einem gewissen Abschluß gelangt; die Bürger hatten einen Hebel der innerstädtischen Macht erlangt 96 , den
sie erst unter veränderten Bedingungen drei Jahrhunderte später wieder aus der
Hand gaben. Die Kämmerei war in der Folge überdies Ausgangspunkt bürgerlicher
Beteiligung an einer wachsenden Zahl neugeschaffener Verwaltungsbehörden. Nach
Hermann Joachim endete „für die hamburgische Verwaltung [... ] das Mittelalter im
Jahre 1563" 97 .
In Stralsund, wo der Rat gegen alle Bemühungen des herzoglichen Landesherrn
noch zu Beginn des 17. Jahrhunderts den vormals kirchlichen Güterbesitz verwaltete,
waren bei der fortwährenden städtischen Finanzmisere die bürgerlichen Forderungen
nach Mitsprache in der Fiskusverwaltung und nach Einblick in die Finanzen des Rates nicht verstummt. Auch hier regte sich der Verdacht, Veruntreuungen der Ratsherren hätten die Verschuldung mitbewirkt 98 . Hauptursache für Stralsunds „ausweglose
Finanzkrise" waren jedoch die Ansprüche des Herzogs an Steuern, Huldigungskosten, Besuchskosten u. a. Darin zeigte sich ein Nachlassen der wirtschaftlichen und
politischen Kraft der Stadt, das eine Verschärfung der innerstädtischen Gegensätze
bewirkte 99 . Die bürgerliche Opposition, angeführt von einem 1559 gegründeten
Hundertmänner-Kollegium 10°, rügte 1588 zahlreiche Mängel in der Verwaltung der
geistlichen und weltlichen Güter, denen der 1595 mit dem Rat vereinbarte Rezeß offenbar nicht abhalf. Umso nachdrücklicher verlangten die Hundertmänner daher zu
Beginn des 17. Jahrhunderts, der Rat solle seine Finanzverwaltung offenlegen, die
Errichtung von Kontrollorganen zulassen und ihnen selbst „einen festen Platz im
politischen Leben einräumen" 101.
In dem Bemühen, diese Nöte und Konflikte der Stadt zu einer Einschränkung ihrer Selbständigkeit zu nutzen, suchte der pommersche Herzog die Bürgeropposition
gegen den Rat auszuspielen. Er machte sich ihre Klagen und Forderungen zu eigen,
als er 1612 dem Rat öffentlich vorwarf, die Verwaltung der geistlichen Güter diene
95
KLEFEKER, Sammlung der Hamburgischen Gesetze und Verfassungen, T. 2, Hamburg 1766, S. 448-456;
ZEIGER, w i e A n m . 89, S. 12-20.
96
Die Abhängigkeit des Rates von der Bürgerschaft wuchs noch, seit ihm 1603 Sportein und Akzidentalien
entzogen und feste Gehälter gewährt wurden; ZEIGER, wie Anm. 89, S. 36, 79, vgl. S. 73.
97
H. JOACHIM, Deputation und Kollegium. Ein Kapitel aus der Verwaltungsgeschichte Hamburgs, in:
DERS., Historische Arbeiten aus seinem Nachlaß ( W H a m b G 10), Hamburg 1936, S. 134-148, hier
S. 139.
98
H. LANGER, Stralsund 1600-1630. Eine Hansestadt in der Krise und im europäischen Konflikt
(AbhHdlSozG 8), Weimar 1970, S. 170-173.
"Ebd., S. 174-178 (Zitat S. 178).
"»Ebd., S. 171.
ι·» Ebd., S. 178f. (Zitat S. 179).
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Kirchlicher und weltlicher Fiskus
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der privaten Bereicherung einiger Ratsherren, nicht dem Unterhalt der Armut und
Geistlichkeit. Der Rat solle öffentlich Rechenschaft über die gesamte weltliche Verwaltung ablegen. Bürger sollten gegen Urteile des Rats in Lübeck oder beim Herzog
appellieren dürfen und Steuern verweigern, weil die Stadtschulden aus Verschwendung und Veruntreuung entstanden und vom Rat allein zu verantworten seien. Den
Bürgern entging jedoch nicht, daß der Herzog vor allem auf die Schwächung des
Rates hinarbeitete, um eigene Interessen zu verfolgen, und daß er selbst Ursache
wesentlicher Klagen war. So traten sie weiter für eine Kirchenvisitation, für die Offenlegung der städtischen Güterverwaltung und für eine bürgerfreundliche Steuerreform
ein, zeigten aber deutliche Reserve gegenüber der herzoglichen Anbiederung 102 .
Die Unnachgiebigkeit des Rates verschärfte die Gegensätze, bis sich einzelne seiner
Mitglieder zum Einlenken bereit fanden. Der Druck der Bürger und des Herzogs (der
fürchtete, ihm könne die Entwicklung entgleiten) erzwang Ende 1612 eine Visitation
der Kirchen, Spitäler und geistlichen Güter, und in feierlicher Erklärung gestand
der Rat am 12. Januar 1613 Rechnungslegung und Abtretung der Verwaltung
städtischer Güter und Finanzen an die Bürgerschaft zu; nur die Oberaufsicht behielt
er sich vor. Er gab damit ein jahrhundertealtes Monopol auf, auch wenn es zu einer
vollständigen Rechnungslegung nie kam 103 . Die Konflikte zwischen Rat und Bürgern
waren damit nicht beigelegt, das bürgerliche Partizipationsstreben nicht befriedigt 104 .
Die Einigung von 1613 zeigte gleichwohl, daß angesichts der Zudringlichkeiten des
Herzogs die Fähigkeit zum innerstädtischen Konsens nicht ganz verloren gegangen
war.
In Lübeck behielt der Rat nach dem Desaster Wullenwevers bis in die zweite Hälfte
des 17. Jahrhunderts die alleinige Verwaltung des Fiskus. Auch hier riefen die leeren
Kassen Unmut hervor. Ein Bürgerausschuß, der sich wegen wachsender auswärtiger
Schwierigkeiten Lübecks 1599 konstituiert hatte, wurde hier zum Sprachrohr bürgerlicher Kritik am Rat 1 0 5 . Mit Blick auf das abgewirtschaftete Finanzwesen erklärte
er 1601, „Gott möge es denen, die es bisher verwaltet, vergeben" 106. Notwendige
Steuerforderungen — besonders für Befestigungsarbeiten und wegen der Türkensteuer — wurden mit dem Wunsch angenommen, dem Ausschuß die Kontrolle der
Steuergelder zu übertragen. Der Rat gab widerwillig nach, um die Zahlungen sicherzustellen, doch trug gerade die Türkensteuer als Kopfsteuer zur Verschärfung
der sozialen Spannungen bei 107 . Wo dagegen neue Abgaben sichtbar den Interessen der Stadt dienten, wie 1608/09 die Zulage (zum Zoll) zur Schiffbarhaltung der
Trave, fanden sie weniger Widerstand; und dies auch, weil in der dafür eingesetzten Kommission, die die Trave-Schiffbarkeit und die dafür eingenommenen Gelder
überwachte, von Anfang an Bürger mitwirkten 108 .
Der Dreißigjährige Krieg und die weiteren Konflikte im Ostseeraum bedeuteten
für Lübeck weiter wachsende Schulden 109 . Als darum der Rat 1661 neue Abgaben
102
Ebd., S. 180-184.
Ebd., S. 187, 192-196.
104
Ebd., S. 199f., 208-211.
105
J. ASCH, Rat und Bürgerschaft in Lübeck 1598-1669. Die verfassungsrechtlichen Auseinandersetzungen
im 17. Jahrhundert und ihre sozialen Hintergründe (VGLüb 17), Lübeck 1961, S. 61-64.
106
Ebd., S. 70.
""Ebd., S. 70ff.
108
Ebd., S. 94f. — Die nach dem betreffenden Flußabschnitt Bretlings-Offizium genannte Behörde wurde
1626 zur „Zulage" erweitert.
"»Ebd., S. 98.
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von der Bürgerschaft wünschte, traf er vor allem bei Kaufleuten, Krämern und Gewandschneidern auf scharfe Ablehnung wegen der „nahrloßen" Zeiten. Sie schlugen
vielmehr vor, eine allgemeine Kasse für alle Einnahmen und Ausgaben der Stadt
zu bilden und ihre Verwaltung den Bürgern zu übertragen. Das würde den Rat
entlasten und habe bereits in Hamburg und Stralsund 110 zu Schuldenabbau und
neuem Aufschwung der städtischen Finanzen geführt 111 . Der Wunsch der Bürger
nach Einblick in die Finanzverhältnisse Lübecks bewies ihr Mißtrauen gegenüber
dem Rat, der mit seiner Verschleierung des tatsächlichen Schuldenstandes das Seine
dazu beigetragen und Gerüchte begünstigt hatte.
Die Unnachgiebigkeit beider Seiten brachte besonders den Rat in wachsende
Bedrängnis, da sich seine Finanzen weiter verschlechterten. Als er in dieser verfahrenen Situation 1664 Hilfe beim Kaiser suchte, verständigten sich die bürgerlichen Kollegien — die ständischen bzw. berufsständischen Korporationen der Bürgerschaft — auf eine gemeinsame Haltung gegenüber dem Rat. Das kaiserliche
Gehorsamsgebot an die Bürger enthob den Rat nicht der Notwendigkeit, sich mit
diesen endlich zu verständigen 112 .
Der am 26. Juli 1665 ausgehandelte „Kassarezeß" 113 errichtete eine gemeinsam
von Rat und Bürgerschaft — 2 Ratsherren und 24 Bürgern, je 2 aus den 12 Kollegien — zu verwaltende einheitliche Stadtkasse, in der alle Einkünfte der Stadt (außer
Gerichts- und Polizei-Strafen) zusammenfließen sollten. Der Rat wurde zur jährlichen
Rechnungslegung verpflichtet. Der Rezeß regelte die gleichmäßig vermögensbezogene
Besteuerung und schrieb für Anleihen und zusätzliche Abgaben vorherige Verständigung von Rat und Bürgern vor. Auch in auswärtigen Angelegenheiten (Bündnissen,
Gesandtschaften) wurden gewohnheitsmäßige Mitspracherechte der Bürgerschaft
hier erstmals fixiert. Der Rezeß bekräftigte zwar den Fortbestand der hergebrachten
Verfassung und der obrigkeitlichen Stellung des Rates, aber er bedeutete gleichwohl
eine tiefgreifende Umgestaltung des lübeckischen Finanzwesens und eine erhebliche Ausweitung und Garantie bürgerlicher Partizipation. Darüberhinaus wies er
grundsätzlich auf die Möglichkeit ihrer weiteren Ausdehnung, zumal er die Ruhe in
Lübeck nicht wiederherstellte und Klagen über Recht, Verwaltung und Vetternwirtschaft im Rat fortbestanden, in dem die Neigung zu patrizischer Exklusivität wuchs.
Die Gegensätze spitzten sich erneut zu, brachten auch die Gefahr außenpolitischer
Verwicklungen mit sich 114 , bis schließlich durch Vermittlung kaiserlicher Gesandter
am 9. Januar 1669 eine umfassende Regelung zustandekam 115 .
Der „Bürgerrezeß" von 1669116 bestätigte den Kassarezeß und weitete die bürgerlichen Mitspracherechte nochmals beträchtlich aus. Der Rat mußte sich bei seinen
Wahlen künftig nach vorgeschriebenem Zahlenschlüssel aus den bürgerlichen Kollegien ergänzen und sie in der Gesetzgebung, in Handels-, Finanz- und Steuersachen
110
Als Vorbilder wurden ferner Braunschweig und Danzig genannt; ebd., S. 119.
E b d . , S. 99f. — Ähnliche Forderungen hatten die Lübecker Schonenfahrer bereits 1642 vergeblich
erhoben; ebd., S. 97.
U2
Ebd., S. 100-116.
113
ASCH, wie Anm. 105, S. 117-122; Text: J.R. BECKER, Urkundliche Geschichte der Kaiserl. und des Heil.
Römischen Reichs freyen Stadt Lübeck, Bd. 3, Lübeck 1805, Beil. 1, S. 16.
IHASCH, wie Anm. 105, S. 123-138.
ll5
Ebd., S. 161-169.
116
Ebd., S. 170-173; G. KRABBENHÖFT, Verfassungsgeschichte der Hansestadt Lübeck, Lübeck 1969,
ln
S. 18-22; T e x t : BECKER, wie A n m . 113, Beil. 1.
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Kirchlicher und weltlicher Fiskus
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beteiligen, ebenso in einer wachsenden Zahl von Verwaltungsbehörden. Ausgehend
von der Fiskusverwaltung waren damit die bürgerlichen Partizipationsrechte deutlich erweitert und endgültig festgeschrieben worden. Der Bürgerrezeß blieb Lübecks
Verfassungsgrundlage bis zur Reform des Jahres 1848.
In den betrachteten Städten waren Voraussetzungen und Verlauf bürgerlicher
Mitspracheforderungen ungleich wie Zeitpunkt und Reichweite ihres Erfolges. Gemeinsam war ihnen, daß dies Problem in den kommunalen Bestrebungen, die sich
mit der reformatorischen Bewegung der 1520er und 1530er Jahre verbanden, eine
Schlüsselrolle spielte. Die Verwaltung des städtischen Fiskus stand gerade in Städten,
in denen Kaufleute die soziale Führungsschicht bildeten, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, gegebenenfalls von Kritik und Protest. Die Übernahme fiskalischer
Zuständigkeiten wie 1563 in Hamburg wurde überdies zum Faustpfand bei künftigen innenpolitischen Gegensätzen. Die Bedeutung der Städte als Märkte für Waren
und Geld und ihre Gefährdung durch begehrliche Territorialherren gaben den Problemen des städtischen Fiskus zusätzliches Gewicht. Die Ordnungen, die dafür in
der hier betrachteten Zeit gefunden wurden, hatten teilweise Bestand, bis sich die
Bedingungen stadtrepublikanischer Existenz im 19. Jahrhundert von Grund auf
wandelten.
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