Zur Diagnostik von Familien mit essgestörten

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M. Cierpka, G. Reich
gen dementsprechend gehäuft konflikthafte Interaktionen und negative Gefühle zwischen den einzelnen Familienmitgliedern (Humphrey 1989a, Humphrey u. Mitarb. 1986,
Schmidt u. Mitarb. 1993). Die Familien sind weniger kohäsiv (Kog u. Vandereycken 1989,
Kog u. Mitarb. 1989), und sie weisen mehr impulsives und Suchtverhalten sowie affektive Störungen auf als die der restriktiv-anorektischen Gruppe (Schmidt u. Mitarb. 1993,
Strober u. Mitarb. 1982). Kog und Mitarbeiter (1989) schätzten Familien bulimischanorektischer Patientinnen trotz schwerer Familienkonflikte und höherer Desorgansiation konfliktvermeidender ein als die Familien restriktiv-anorektischer Patientinnen. Calam und Mitarbeiter (1990) fanden die Familien bulimisch-anorektischer Patientinnen
weniger von einer nichtklinischen Kontrollgruppe unterschieden als die normalgewichti ger Bulimikerinnen.
Gerade bei diesen Pa ti entinnen der Mischgruppe sind weitere Studien zur Familieninteraktion nötig, die die jeweilige Ausprägung und Schwere der bulimischen und anorektischen Symptomatik mitberücksichtigen.
Zur Diagnostik von Familien mit essgestörten Patientinnen
Spezifität versus typische Muster
Klinische Systematisierungen von familiendynamischen Merkmalen sind für die diagnostische Orientierung und das behandlungstechnische Vorgehen relevant. In der Diagnostik
von Familien mit essgestörten Patientinnen geht es um die Beurteilung, ob das dysfunktionale Essverhalten innerhalb des familiären Systems eine bestimmte Funk ti on hat. Im
Gegensatz zu den individuumzentrierten psychotherapeutischen Ansätzen betont das
systemische Modell die Interdependenz und die zirkuläre Interaktion der beteiligten
Personen.
In der Familientheorie und -therapie spielen Annahmen über einen Zusammenhang
zwischen einer spezifischen Familieninteraktion und einem definierten Krankheitsbild
des Patienten eine große Rolle. Man geht dann von mehr oder weniger starken kausallinearen Verknüpfungen zwischen Familienpathologie und individueller Erkrankung aus.
Bei solchen Spezifitätsannahmen wird meistens der unterschiedliche Beitrag von individuellen, familiären, und Umweltkomponenten bei der Entstehung einer seelischen Krankheit
nicht genügend berücksich ti gt. Auch wenn festzuhalten ist, dass sich eine Systematisierung
der beobachteten Beziehungsstörungen für die klinische Arbeit als wertvoll erwiesen hat,
so ist doch vor dem Glauben an eine Spezifität der Interaktionsstörungen z.B. für die
sogenannte Magersuchtsfamilie zu warnen. Die Magersuchtsfamilie gibt es nicht. Deshalb
sprechen wir von ty pischen und nicht von spezifischen Merkmalen.
Klinische Typen stellen Zusammenfassungen von Merkmalen prägnanter Einzelfälle
dar. Klinische Typologien stellen oft Extremgruppen gegenüber, wobei häufig unklar ist,
ob sie der Mehrheit der Fälle entsprechen. Auch die in den oben genannten kontrollierten Studien gefundenen Unterschiede in bestimmten Merkmalen der Familieninteraktion z.B. zwischen den Familien bulimischer und anorektischer Patientinnen treffen nicht
auf alle untersuchten Fälle zu, sondern lediglich jeweils auf die Mehrzahl der gerade
untersuchten Gruppe. Hieraus gebildete Muster werden vermutlich nur für Teilgruppen
der jeweiligen Familien ty pisch sein.
Ziel weiterer Forschung sind deshalb Beschreibungen der Familiendynamik, die von
einem Spektrum ganz unterschiedlicher Familien für bestimmte Krankheitsbilder ausgehen (Cierpka 1989). Wenn die Gesamtgruppe charakterisiert werden soll, müssen die
heterogenen Subtypen hervorgehoben werden. Wenn im folgenden die Familien von
Magersüchtigen und Bulimikerinnen typologisiert werden, ist außerdem zu bedenken,
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dass von homogenen Krankheitsentitäten ausgegangen wird, die es häufig so nicht gibt.
Die Mischgruppen von magersüchtigen Patien ti nnen, die Essanfälle haben und erbrechen,
und die von bulimischen Patientinnen, die magersüchtige Episoden haben, bilden sich aus
Mustern von beiden Familientypen. Weiterhin muss erwähnt werden, dass noch keine
ausreichende Antwo rt auf die Frage gefunden worden ist, zu welchem Grad die beobachtbaren Interaktionen in den entsprechenden Familien Ergebnis eines belastenden Krankheitserlebnisses sind und wie viel Anteil sie andererseits als prädispositioneller Faktor an
der Entwicklung oder am Ausbruch der Erkrankung haben (vgl. Humphrey 1989b).
Die folgenden Beschreibungen sind als dynamische Muster zu verstehen, die Therapeuten und Therapeutinnen bei der Orientierung helfen sollen und können. Sie können
in die Irre führen, wenn man ihnen zu sehr vertraut und die eigenen Beobachtungen in
vorgegebene Schemata zwängt.
Familiäre Muster bei der Anorexie
Bereits frühere Beschreibungen der Erkrankung wiesen auf die besondere Bedeutung der
Familienpathologie hin. Charcot (1889) empfahl die Trennung der Patientin von der
Familie als Teil der Behandlung. Gull (1874) sah in den Verwandten die ungeeignetsten
Betreuer der Erkrankten. Lasegue (1873) beschrieb die auffallenden gegensei ti gen Einmischungen der Familienmitglieder und wies Kliniker mit Nachdruck darauf hin, die Familienpathologie nicht zu übersehen. In den letzten 25 Jahren haben verschiedene Autoren
typische pathologische Familieninteraktionen von Familien mit anorektischen Mitgliedern beschrieben (Sperling 1965, Sperling u. Massing 1970, 1972, Minuchin u. Mitarb.
1978, Selvini-Palazzoli 1978, 1999). Unter Zugrundelegung dieser Literatur, unserer
eigenen klinischen Erfahrungen und der oben genannten empirischen Untersuchungen
zu diesem Krankheitsbild kommen wir zu den im folgenden genannten Merkmalen für
die Familien von Anorexie-Patientinnen.
Norm- und Leistungsorientierung — die Bilderbuchfamilie. Familien anorektischer
Patientinnen fallen häufig durch ein ausgeprägte Norm- und Leistungsorientierung auf.
Manche erscheinen zunächst sogar als regelrechte Bilderbuchfamilien. Höflich, rechtschaffen und anständig, fleißig, immer um den anderen bemüht, die Kinder brav und
fleißig, niemals laut und übermütig. Die Harmonie des Paares scheint durch kein böses
Wort getrübt. Man fällt nicht auf, protzt nicht. Von Bruch (1973, 1978) wurde die Fassade
von Stabilität und Glück betont, hinter der sich in den Familien Anorexiekranker Desillusion und Konkurrenz der Eltern verstecken.
Die Orientiertheit am äußeren Eindruck sowie der Druck, es richtig und gut zu machen, kann zu einer oft nur unterschwellig spürbaren Angst und dazu führen, dass die
Beziehungen, auch die zwischen Eltern und Kindern, insbesondere zwischen Mu tt er und
Kind kühl bleiben. Schon das Füttern des Babys ist kein lustvoller Akt, sondern Zufuhr
von Nährstoffen. Die Kinder werden oft schnell vernünftig, da schon frühzeitig an Einsicht und an den Verstand appelliert wird (Selvini- Palazzoli 1978).
Zusammenhalt. Die Familien legen oft großen Wert auf Zusammenhalt. Man sieht sie
häufig zusammen. Der Entwicklung und dem Lebenszyklus angemessene Trennungsschritte werden vermieden. Die Beziehung zu den Ursprungsfamilien bleibt in der Regel
ebenfalls eng, insbesondere zu der Ursprungsfamilie der Mu tter. Nicht selten leben die
Großeltern mütterlicherseits mit im Hause oder doch ganz in der Nähe. Findet eine räumlich Trennung sta tt , dann bleibt der telefonische, b ri efliche oder Besuchskontakt eng. Untergründig sind die Familien oft von Trennungsangst beherrscht. Trennung kann in ihrem
Mythos mit Unglück verbunden sein. Wir finden z.B. in der Vorgeschichte, dass Versuche,
sich selbständig zu machen, scheiterten. Weggehen heißt auch, sich von den moralischen
Geboten der Familie entfernen, heißt der Welt und ihren Verlockungen ausgesetzt zu
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Die familientherapeutische Behandlung von Anorexie und Bulimie
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sein. So scheint das Weggehen häufig mit schlechtem Gewissen, der Trennungsschuld,
verbunden (Massing u. Mitarb. 1999, Schöll u. Reich 1989, Weber u. Stierlin 1989)
Überbehütung. Die Überbehütung in diesen Familien findet ihren Ausdruck in dem
unangemessenen Grad gegenseitiger Fürsorge, die sich nicht auf die Patientin oder die
Krankheit beschränkt. Ernährende und beschützende Funktion werden ständig geweckt
und bereitgestellt. In solchen Familien führt die elterliche Überbehütung zu einer Retardierung von Autonomiebestrebungen, der Kompetenz und Entdeckung von Interessen
außerhalb der Sicherheit der Familie. Für die Kinder, besonders für die am meisten betroffene Patientin, ist es äußerst schwierig, gegen diesen Familienstil aufzubegehren.
Wünsche werden indirekt und vorgeblich uneigennützig geäußert. Die Handlungen
werden niemals eigenen persönlichen Präferenzen zugeschrieben, sondern immer den
Bedürfnissen eines anderen Mitglieds: Entscheidungen werden nur zugunsten eines
anderen getroffen.
Einschränkungen der Autonomie können auch daraus resultieren, dass früh Anpassungsleistungen an elterliche Bedürfnisse oder äußere Notwendigkeiten erwartet werden. Die späteren Patientinnen funktionieren dann in Kindergarten, Schule oder Haushalt
selbständig und vernünftig. Spontaneität und eigene Interessen bleiben allerdings auch
hier auf der Strecke.
Harmoniegebot und Konfliktvermeidung. Die Familien stehen oft unter einem starken Harmoniegebot. Gefühle wie Wut, Ärger, Neid, Eifersucht und Rivalität darf es nicht
geben. Treten Spannungen auf, so werden sie mit höheren Werten begründet, nicht mit
eigenen Interessen. Oft wird ein strikter moralischer oder sogar religiöser Kodex bemüht,
um die z.T. eigentümlich anmutenden Interaktionen und Muster in diesen Familien vor
Anzweiflungen zu schützen. Durch die Kombination von Rigidität, Überfürsorglichkeit
und fusionierter Interessennahme ist die Konfliktschwelle in diesen Familien sehr niedrig. Da Konflikte nicht offen ausgetragen werden, werden sie auch nicht gelöst. Es kommt
über Jahre immer wieder zu untergründigen Spannungen wegen derselben Themen. In
manchen dieser Familien kommt es auch immer wieder zu denselben starren Auseinandersetzungen, oft um Prinzipien oder darum, was richtig oder falsch ist. Diese Konflikte
werden nie gelöst. Bemühungen, sie zu umgehen, gelingen zeitweilig, bis sie irgendwann
erneut ausbrechen, um wieder im Patt zu enden.
Verstrickung und Grenzstörung. Minuchin, Rosman und Mitarbeiter (1978) beschreiben die Familienbeziehungen als extrem enge und intensive Form der Interaktion,
die als verstrickt oder verschmolzen (enmeshed) bezeichnet werden kann. Daneben
scheint eine zu durchlässig ausgebildete Grenze zwischen dem Familiensystem und den
Ursprungsfamilien der Eltern zu bestehen. Die Familienmitglieder, einschließlich die der
Ursprungsfamilie, versuchen, sich in die Denkweisen und Gefühle der anderen einzumischen. Dies bedeutet, dass die Familie sehr offen miteinander ist. Die Türen in der Familie
sind in der Regel auch offen. Die Familienmitglieder haben keine Geheimnisse voreinander. Man geht zusammen in die Geschäfte, sucht gemeinsam die Kleidung aus. Man achtet schließlich auch gemeinsam auf die schlanke Linie, macht gemeinsame Diäten usw.
Das Essen wird ebenso beobachtet wie alles andere. Mü tter und Väter wissen nicht selten auch über die körperliche Entwicklung der späteren Patientin gut Bescheid. Die Patientinnen fühlen sich - oft zu Recht - einer ständigen Kontrolle ausgesetzt.
Die Aufopferung und das Schuldproblem. Da jeder immer nur in gutgemeinter Absicht und in Wahrnehmung der Interessen anderer oder höherer Werte handelt, kann er
nicht kritisiert werden. Wenn diese Regel gefährdet erscheint, kann der Wille zur Selbstaufopferung als Mittel zur verschleie rt en moralischen Erpressung der anderen dienen. So
kann ein Elternteil z.B. ankündigen, das Haus verlassen zu wollen, wenn das der Tochter
hilft. Man opfert sich für andere und definiert sich zugleich als Opfer von anderen. Diese
Entwicklung kann so weit gehen, dass es scheint, als müssen sich die Familienmitglieder
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Die familientherapeutische Behandlung von Anorexie und Bulimie
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In einer von uns behandelten Familie erbte die Großmutter mütterlicherseits das Familiengeschäft, nachdem ihr jüngerer Bruder an einer Darmerkrankung verstorben
war. Vor seiner Geburt, er war ein Nachkömmling, war sie als Erbin ausersehen worden, musste aber nach seiner Geburt zurücktreten. In der nächsten Generation ereignete sich etwas Ähnliches. Die Tante der Patientin führte das Geschäft weiter, während ihr Bruder im Krieg war. Er wurde als vermisst gemeldet und nach 30 Jahren für
tot erklärt. Selbstverständlich wurde erwartet, dass sie im Falle seiner Rückkehr das
Geschäft wieder abgeben würde. Die Patientin selbst wurde geboren, als die Großmutter mit einer Krebserkrankung in eine Klinik eingewiesen wurde. Sie wurde zum
Trost und zur Lebensspenderin der Großmutter. Sie begann zu hungern, als sich für
sie die schuldbelastete Frage stellte, ob sie wegen einer eigenen Berufsausbildung in
eine andere Stadt ziehen sollte oder nicht.
Bündnisprobleme. In den Familien ergeben sich häufig Loyalitätsprobleme, insbesondere dann, wenn das Elternpaar unterschwellig oder offen gespalten ist. Man kann nicht
offen zu einer Person halten, weil dies Verrat an der anderen wäre. Es gibt dann nur verdeckte, also heimliche Koalitionen. Verschiedenartige Zweierbeziehungen zu den einzelnen
Familienmitgliedern zu haben, ist mit einem Gefühl der Unrechtmäßigkeit verbunden, da
es immer den Anschein hat, als sei dies gegen den dri tten bzw. die anderen gerichtet.
Die Ehe der Eltern. Die Eltern gehen oft in der Arbeit und der Häuslichkeit auf. Sie
achten die konventionellen gesellschaftlichen Normen, sie sind sehr um den äußeren
Eindruck besorgt. Sie erscheinen nicht selten als puritanisch. Die Eltern, insbesondere die
Mü tter, sind vor allem an einem interessiert - es richtigzu machen, es richtig zu machen
im Sinne der sozialen Umgebung, es richtig zu machen aber auch im Sinne ihrer Herkunftsfamilien, insbesondere der Großmütter mütterlicherseits, die oft immer noch in
das Familienleben hineinregieren (Sperling 1965, Massing u. Mitarb. 1999). Nach außen
hin erscheint die Ehe intakt. Konflikte, En ttäuschungen und Desillusion in der ehelichen
Beziehung werden oft hinter einer Fassade der Eintracht verborgen. Dabei kann es zu
unterschwelligen subtilen, aber auch offenen Entwertungen kommen. Wenn es zu offenen Auseinandersetzungen kommt, dann führen diese zu keiner Lösung. In manchen
Familien haben sich beide Eltern schon frühzeitig darauf geeinigt, dass Erotik oder
Sexualität für sie keine Rolle mehr spielt. Zugleich kann aber Wert darauf gelegt werden,
im Sinne der Konvention und der Normalität, äußerlich attraktiv zu erscheinen.
In sehr stagnierenden Familiensystemen führen die Eltern mit der magersüchtigen
Tochter eine Ehe zu dritt. Versucht die Tochter, sich auf eigene Füße zu stellen, treten die
Eltern vereint gegen sie auf. als könnten sie ihrer Tochter nicht erlauben, die für das
eheliche Gleichgewicht wichtige Position aufzugeben. Jedes Familienmitglied ist dann
sozusagen mit zwei Personen verheiratet, die Mutter mit dem Vater, der Vater mit der
Tochter und diese wiederum mit der Mu tt er (Selvini Palazzoli 1978). Die Tochter, die
spätere Patientin, ist von Anfang an in einen potentiellen Elternkonflikt einbezogen und
stabilisiert diesen. In dieser Triangulierung ist sie Trösterin und Stütze für beide oder
Richterin im elterlichen Konflikt. Diese Konstellation ist häufig mit schweren oder chronischen Magersuchtsentwicklungen verbunden, wobei die Anorexie das festgefügte
System weiter verstärkt.
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bei Konflikten gleichsam gegenseitig im Leid übertreffen, um den eigenen Standpunkt
behaupten zu können. Selvini-Palazzoli (1978) nennt dieses Muster Symmetrie durch
Opfereskalation Bei einem solchen Interaktionsmuster übernehmen die Familienmitglieder nur ungern die Verantwortung für sich und andere, damit sie nicht angeklagt werden
können, wenn etwas schief geht. Offenes Vertreten eigener Interessen ist also bedrohlich
und ängstigend, denn im Familienmythos ist die Vertretung eigener Interessen, die
Selbstbehauptung, immer mit der Schädigung der anderen verbunden.
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Die besondere Rolle des Essens. In den Familien magersüchtiger Patientinnen
herrscht oft der Kontrollaspekt des Essens vor. Die Mahlzeiten selbst können sehr stark
kontrolliert werden und über das Essen die Beziehungen. In einigen der von uns untersuchten Familien wurde z.B. das Essen genau zugeteilt: ein Brötchen zum Frühstück,
zwei Scheiben Brot zum Abendessen; wer mehr möchte, muss fragen. Das Mittagessen
gibt es portioniert auf dem Teller, damit sich nicht jeder nimmt, was er will. Oft klebtam
Essen auch die Mutter- bzw. Elternliebe. Eine Zurückweisung des Essens ist eine Zurückweisung der Beziehung.
Die Konfliktsituation anorektischer Patientinnen und deren Lösungsversuch. Die
familiären Regeln verbieten der Jugendlichen, eigene Interessen zu artikulieren und
durchzusetzen, zumal auf spontane oder gar aggressive Weise. Sie darf die Eltern und
auch die Großeltern, deren Stütze sie ist, nicht verlassen. Sie darf keine Lust erleben,
nicht begehren. Auslösende Situationen sind in aller Regel erste Trennungen vom Elternhaus, in denen gleichzeitig die Versuchung besteht, etwas zu genießen, sei es die neugewonnene äußere Freiheit überhaupt oder auch erste sexuelle Beziehungen.
Die Magersucht ist ein Versuch, mit den unlösbar erscheinenden familiären und inneren Konflikten (Reich, in diesem Band) fertig zu werden.
D Die Patientin begehrt gegen die Eltern auf, ohne rebellisch zu wirken, sie ist ja krank.
• Sie rächt sich an der Familie ohne rachsüchtig zu wirken, sie darf ja nicht offen aggressiv gegenüber den Familienmitgliedern sein.
• Sie erklärt in der Regel ausdrücklich, dass ihre Elte rn nicht an ihrem Zustand schuld
sind, lässt dies aber vage vermuten; d.h. sie klagt an, ohne anzuklagen.
• Sie stürzt die Familie in eine Krise, in der eigentlich Veränderung geforde rt ist, gleichzeitig bleibt die alte Balance gewahrt, es darf sich nichts verändern.
• Sie verkleistert die Risse in der Beziehung ihrer Elte rn , indem sich diese in Sorge um
sie vereinigen.
• Mit dem Hinweis, Opfer einer geheimnisvollen Krankheit zu sein, kann sie nun auch
Opfer von den anderen verlangen, ohne dass sie Schuldgefühle haben muss, denn sie
leidet ja.
• Sie grenzt sich von der Familie ab, ohne sich trennen zu müssen.
Familiäre Muster bei der Bulimie
Beschreibungen von Familien mit bulimischen Mitgliedern fanden bisher nicht so starke
Beachtung wie familientherapeutische Studien zur Anorexie.
Die Bulimie wurde erst sehr viel später als die Magersucht als eigenständiges Krankheitsbild konzipiert. Zu dieser Zeit waren die meisten familientherapeutischen Konzepte
bereits entwickelt. Zudem sind die familiären Bezüge der Bulimie oft weniger augenfällig
als die der Anorexie. Während die magersüchtige Patientin als wandelndes Skele tt eine
sichtbare Anklage an die Familie darstellt, entfällt dies bei bulimiekranken Patientinnen,
die weitgehend normalgewichtig sind. Bulimiekranke schämen sich ihrer Erkrankung,
und Scham sowie deren Abwehr scheinen für die Entstehung der Bulimie eine stärkere
Rolle zu spielen als für die Magersucht. Die zur Bulimie gehörenden Handlungen sind
nicht so offensichtlich wie die Abmagerung bei der Anorexie, deren dialogische Funktion
Richter (1965) beschrieb. Die Essanfälle sollen vielfach ebenso wie das Erbrechen unbemerkt von Eltern, Freunden und Partnern bleiben. Manchmal ist dies tatsächlich der Fall.
Häufig aber ahnen oder wissen es alle seit langem, nur sagt niemand etwas. Darüber
hinaus verführt die äußere Trennung von der Familie und die Pseudo-Autonomie bulimischer Patientinnen dazu, den Einfluss ungelöster familiärer Bindungen und Konflikte auf
die Entstehung und Aufrechterhaltung der Erkrankung zu übersehen (Vanderlinden u.
Vandereycken 1989, Vanderlinden u. Mitarb. 1992). Bulimikerinnen sind häufig älter als
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Anorektikerinnen. Die bulimischen Symptome treten oft in der Verselbständigungsphase
auf, in der die Patientinnen ihre Elternhäuser bereits verlassen haben oder unmittelbar
vor diesem Schritt stehen (Reich, Kap. 4 in diesem Band).
In den Familien mit einer bulimischen Patientin finden sich die im folgenden genannten Charakteristika, die sich z.T. von denen der Familien anorektischer Patientinnen
erheblich unterscheiden.
Heftige, offene Familienkonflikte. In den Familien finden sich - im Gegensatz zur
Pseudo-Harmonie der Familien vieler Magersüchtiger - oft offen ausgetragene, heftige
Konflikte innerhalb der gesamten Familie, zwischen Eltern und Kindern, zwischen Eltern
und Großeltern, sowie zwischen den Ehepartnern. Der Ausdruck von aggressiven Affekten ist häufig heftiger. Es kommt zu lauten Streitigkeiten Zerwürfnissen, Kontaktabbrüchen, Trennungen und Scheidungen. Das Bedürfnis nach Zusammenhalt und die Kohäsion sind in der Regel nicht so stark ausgeprägt wie in Familien Magersüchtiger (DiebelBraune 1991, Reich 1992, 1994, 1996b, Schmidt 1989).
In den seltener vorkommenden Fällen, in denen der Familienstil eher konfliktvermeidend ist, dient oft die bulimische Symptomatik zum indirekten Ausagieren aggressiver Impulse.
Störungen der affektiven Resonanz. In den Familien fehlt häufig die Wärme und das
gegenseitige freudige Widerspiegeln in den Interaktionen zwischen Eltern und Kind
sowie zwischen den Geschwistern. Für ihre Bedürfnisse nach liebevoller Zuwendung,
Vertrauen und Anerkennung finden die späteren Patientinnen oft keine Resonanz. Sta tt
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Kindes nach Selbstentfaltung eingeengt werden, finden wir hier oft eine Vernachlässigung dieser Wünsche. Manchmal werden sie auch ironisch oder sarkastisch behandelt.
Humphrey (1986) spricht von interpersoneller Diät in den Beziehungen aller Familienmitglieder, auch in der Paarbeziehung der Eltern. Emotionale Intimität wird zudem oft
durch Handeln ersetzt, wie im nachfolgenden Fallbeispiel beschrieben. Das Handeln als
Mittel der Affektabwehr setzt sich dann im Symptom fort (Reich 1994).
Neigung zu impulsiven Handlungen. Familien bulimischer Patientinnen zeichnen
sich häufig durch einen impulsiven S ti l aus. Die bulimische Symptomatik, das anfallsweise Essen und Erbrechen, kann als Impulshandlung verstanden werden (Reich, Kap. 4 in
diesem Band). Dies ist etwa vergleichbar mit anderen Impulshandlungen, etwa anfallsweisem Trinken, Spielen, Durchbrüchen von Gewalt oder perversen Handlungen, die alle
zwanghaft durchgeführt werden müssen, oft selbstschädigenden Charakter haben und
im Nachhinein häufig als schuldhaft und zutiefst beschämend erlebt werden. Tatsächlich
findet man in Familien von Bulimikerinnen häufig eine starke Neigung zu hef ti gem Affektausdruck, insbesondere von aggressiven Affekten, und zu impulsiven Handlungen, zu
Durchbrüchen von Jähzorn bis zur körperlichen Gewalt und zu Substanzmissbrauch.
Diese impulsiven Handlungen sind in der Regel innerhalb der Familie bekannt, sollen
aber oft vor der Außenwelt verborgen werden.
Triangulierung. Die Vater-Tochter-Beziehung ist bei bulimischen Patientinnen oft
sehr bedeutsam. „Die bulimischen Mädchen und jungen Frauen waren in ihrer Kindheit
oft ,Vater-Töchter'... Sie waren eher die Kronprinzessinnen ihres perfek ti onistischen
Vaters und bewunderten diesen ihrerseits, versuchten, es ihm recht zu machen und ihm
zu gefallen. Dem Vater und seinen Prinzipien bleiben sie oft auch dann noch in ti efer
Loyalität verbunden, wenn dieser gestorben ist oder sich von der Mutter getrennt hat"
(Weber u. Stierlin 1989, S.69). Die Töchter bemühen sich sehr um die Zuneigung und
Aufmerksamkeit ihrer Väter und geraten dabei zunehmend in eine rivalisierende Position zu ihren Müttern. Gleichzeitig fürchten sie die erotische Färbung, die diese Nähe zum
Vater annehmen kann. Sie fühlen sich aber auch ihren Müttern verbunden und meinen
vielfach, diese gegen deren Ehemänner, die ihre Frauen in den Augen ihrer Töchter ent-
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Die familientherapeutische Behandlung von Anorexie und Bulimie
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werten, unterstützen zu müssen. Dieses Hin und Her der eigenen Gefühle und Positionen
innerhalb der Familie spiegelt sich in den oft beschriebenen Nähe-Ängsten und affektiven Schwankungen der Bulimikerinnen wider.
Grenzstörung, die Missachtung der Intimschranken. Wie in den Familien Magersüchtiger beobachtet man häufig eine Grenzstörung (Cierpka 1986). Diese ist allerdings in der
Regel nicht autonomieeinengend und bindend wie do rt , sondern zeigt sich in einem taktlosen oder herabsetzenden Eindringen in die Privatsphäre und die Gefühlswelt des Kindes.
Diese wird nicht wahrgenommen, sondern übergangen. Sie kann mit rigider Grenzziehung
und Abweisung bzw. emotionaler Ve rn achlässigung abwechseln. Manchmal werden vertrauensvolle Beziehungen in der Familie durch offen inzestuöses Handeln ersetzt.
Als zentrale Angst erleben die Patientinnen, dass Intimität in Bloßstellung endet. Das
wirklich Intime, die Anlehnungs- und Hingabewünsche, das unkontrollierte Erleben von
Freude, Begeisterung, Angst oder Traurigkeit, wird dementsprechend verborgen.
^
Eine Patientin beklagte sich in einem Familiengespräch unter bi tt eren Tränen darüber, dass der Vater vor einigen Jahren ihrer Schwester verbot, ihr ein sehnlich erwünschtes Buch zu schenken, weil ihm dies nicht gefiel. Der Vater daraufhin: „Das
bringe ich sofort in Ordnung. Was hat das Buch gekostet? Ich gebe Dir das Geld. Oder
soll ich es Dir kaufen und vorbeibringen? Nützt das was in Bezug auf deine Krankheit? (An die Therapeuten gewendet) Vielleicht können Sie uns noch etwas raten?"
Das Problem sollte schnell beseitigt werden, ohne dass das Eingreifen in einen für die
Patientin wichtigen Erlebensbereich und deren Übergehen thematisiert werden sollte. Dies hätte eine Wiederholung der ursprünglichen Grenzüberschreitung und Missachtung in der therapeutischen Situation bedeutet.
Beide Eltern waren angesehene, von früh bis spät aktive Geschäftsleute, die großen
Wert darauf legten, sich nach außen gut zu repräsentieren. In der Familie neigte der
Vater zu Wutausbrüchen und schlug die Patientin häufiger. Beide Eltern tranken. Sie
wussten zudem über das Gewicht der Patientin und ihrer Schwester bestens Bescheid und teilten dies auch bei Feiern mit.
Widersprüchliche Normenorientierung und das Ideal der Stärke. In den Familien bulimischer Patientinnen scheinen oft widersprüchliche Normen, Werte und Ideale zu herrschen. Auf der einen Seite sind Über-Ich und Ich-Ideal streng; es wird großen We rt auf
Selbstkontrolle, ein gutes äußeres Erscheinungsbild, Leistung und sogar Perfektion gelegt. Auf der anderen Seite kommt es immer wieder zu den oben beschriebenen Impulshandlungen und offenen Konflikten. Diese werden aufgrund der genannten Über-IchForderungen einerseits abgewehrt, aber die Abwehr gelingt nicht in dem Maße wie in
vielen Familien magersüchtiger Patientinnen, in denen die Selbstkontrolle in der Regel
durchgängiger ist. Auf der anderen Seite werden die Impulshandlungen, Wut, Zorn, Jähzorn, Arroganz und abweisendes Verhalten oft, zum Teil oder sogar vollständig, mehr
oder weniger unbewusst gebilligt oder gar bewundert, weil sie als ein Zeichen von Stärke
und als ein Zeichen dessen angesehen werden, dass man sich nicht durch Normen eingrenzen lässt. Dies kann man als die verborgene Seite eines Ideals der Stärke in diesen
Familien bezeichnen. Das Ideal der Stärke hat noch ein offene Seite. Hier wird von den
Patientinnen oft vorzeitig Autonomie verlangt. Ihre Bedürfnisse nach Anlehnung, Versorgung und Unterstützung müssen sie ebenso wie die anderen Familienmitglieder abwehren, weil diese als Zeichen von Schwäche angesehen und als beschämend erlebt werden
(Reich 1992, 1994). Dieser Umgang mit Schwäche und die Scham sind eine Brücke von
der familiendynamischen Störung hin zur individuellen Pathologie. Für die Patientin
wird der unterlegene Körper zum Repräsentanten der eigenen Bedürftigkeit, Machtlosigkeit und Schwäche, die mit Selbstverachtung verbunden ist.
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Zwei Realitäten: Scham und Geheimnisse. Die skizzierten widersprüchlichen ÜberIch- und Ich-Ideal-Anforderungen sowie die Konflikte und Impulshandlungen führen zu
zwei nebeneinander stehenden Realitäten in der Familie, die nicht selten völlig voneinander isoliert sind, scheinbar nichts miteinander zu tun haben. Durchbrüche von impulsiven Handlungen und Konflikten werden aus Schuldgefühlen, insbesondere aber aus
Schamgefühlen innerhalb der Familie und vor der Außenwelt verleugnet. Es wird so
getan, als gäbe es sie nicht. Es ist dann, als hätten wir es mit zwei Familien zu tun: einer
von außen sichtbaren, scheinbar heilen und ungestört funktionierenden und einer von
heftigen Auseinandersetzungen, Krankheiten, Misserfolgen, Alkohol- oder Tablettenabusus geprägten. Wegen ihrer starken Orientierung an den Umgebungsnormen erleben sich
die Familien mit einem Makel behaftet, den sie verbergen wollen. Die Atmosphäre und
die Interaktionen sind oft durch Familiengeheimnisse geprägt (Reich 1992,1994, Roberto
1987, Schmidt 1989).
Der Vater einer anderen Patientin trank von Zeit zu Zeit große Mengen Alkohol. Deswegen verlor er zweimal seinen Führerschein und damit seinen Arbeitsplatz. Die
Mutter nahm regelmäßig Tranquilizer. Es gab heftige Konflikte zwischen dem Ehepaar, die sich vor allem in lauten nächtlichen Streitereien der Eltern entluden, bei denen der Vater auch gewalttätig wurde. Die Patientin und ihr Bruder wurden hier unfreiwillige Zeugen, empfanden nachts häufig Angst und klammerten sich in ihren
Betten aneinander. Am nächsten Morgen sei alles „normal" gewesen, „wie ein böser
Traum, der sich mit der Dämmerung verflüchtigt."
Der Vater entstammte einer am Heimatort der Patientin sehr angesehenen Familie,
die exponiert und rege am gesellschaftlichen Leben teilnahm. Der Großvater väterlicherseits starb an den Folgen seines exzessiven Alkohol- und Tabakkonsums. Dies
hielt die Großmutter väterlicherseits nicht davon ab, auf andere herabzusehen und
die eigene Familie für etwas Besonderes zu halten.
In der mütterlichen Ursprungsfamilie war das emotionale Klima stark von dem Verlust der Heimat am Ende des Krieges und den Wirren der Flucht bestimmt. Die
Großmutter mütterlicherseits litt unter Depressionen als Ausdruck der unverarbeiteten Traumata. Sie wurde medikamentös behandelt. „Nicht an diesen Dingen rühren",
hieß die Devise, die vor allem in der Generation der Kinder ein Gefühl von Unheimlichkeit hinterließ. Auch über die Depressionen selbst sollte nichts nach außen dringen.
Für die Ursprungsfamilie des Vaters, insbesondere für seine Mu tt er, war die Verbindung der Eltern der Patientin eine Mesalliance. Die Heirat fand wegen einer Schwangerschaft statt. Mit dieser Frau könne er sich eigentlich nicht sehen lassen, äußerten
sich seine Eltern, so empfand vielleicht auch er. Die Mu tter der Patientin versuchte
durch starke Orientierung an auf das Äußere gerichtete Normen u.a. diese Demütigung wettzumachen. Streng auf Ordnung, Aussehen und Kleidung bedacht, führte sie
immer wieder Diäten durch. Nur wenn sie selbst betrunken war, wurde sie weich
und für die Patientin unangenehm rührselig. Am nächsten Morgen war sie allerdings
wieder zu ihrer Starre zurückgekehrt. Nichts von den familiären Problemen, keine
Bewegtheiten sollten nach außen dringen und das Bild einer glatten Fassade der Familie in der Kleinstadt stören.
Diese Ausblendung eines ganzen Bereiches des familiären Lebens und die Abwehr der
dazu gehörenden heftigen Gefühle ist eine der Ursachen der späteren Identitätskonflikte
der Patientinnen (Reich 1992, 1993, 1994). Die Patientinnen internalisieren das familiäre
Muster des Makels und dessen Verbergen, sowie die anderen Formen der familiären
Abwehr. Dieses Muster zeigt sich auch in der Heimlichkeit bzw. der angestrebten Heimlichkeit des Symptoms.
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Die familientherapeutische Behandlung von Anorexie und Bulimie
M. Cierpka, G. Reich
Die Rolle des Essens in der Familie. Essen ist in den Familien bulimischer Patientinnen oft eine wesentliche Form der Regression und der Herstellung von Intimität, ebenso
wie andere Formen oraler Regression, z.B. Trinken, Alkohol- oder Medikamentenabusus.
Andere, insbesondere nicht-leistungsbezogene Formen der Regression scheinen in den
Familien weniger kul ti viert zu werden. Gleichzeitig und gegenläufig hierzu scheinen sich
die Familien häufig um ein gezügeltes Essverhalten zu bemühen. Essen als Regression
ist im Erleben zugleich eine Form der Schwäche und des Nachgebens, während Schlankheit entsprechend den gängigen sozialen Mustern Stärke und Selbstkontrolle bedeuten,
d.h. dass man sich sehen /assen kann. Häufig finden wir im Vorfeld bulimischer Entwicklungen Diätversuche bei den Müttern und den Patientinnen. Im Gegensatz zu vielen
Familien anorektischer Pa ti entinnen, in denen der Kontrollaspekt des Essens vorherrscht,
finden wir bei Familien bulimischer Patien ti nnen häufig einen Wechsel zwischen Regression und Selbstkontrolle.
Die Konfliktsituation bulimischer Patien ti nnen und deren Lösungsversuch. Mit der
bulimischen Symptomatik versuchen die Patien ti nnen, mit den unlösbar erscheinenden
familiären und inneren Konflikten fertig zu werden:
• Sie befriedigen ihre Intimitäts- und Versorgungswünsche in ihren Beziehungen, ohne
dass sie Gefahr laufen, zurückgewiesen zu werden. Damit stellen sie die familiäre
Abwehr dieser Bedürfnisse nicht in Frage und folgen zugleich dem Muster der Impulsivität.
• In der angestrebten Heimlichkeit der Symptomatik sowie im Verschweigen ihrer
Lebensschwierigkeiten und Probleme folgen sie dem familiären Muster des Verbergens von Makelhaftem. Damit folgen sie dem Ideal der Stärke. Die bulimische Symptomatik insgesamt korrespondiert mit den widersprüchlichen Über-Ich-Anforderungen der Familie.
• Aggressive Impulse, Verachtung und Entwertung werden durch die Essanfälle indirekt geäußert. Leergegessene Kühlschränke, mit Erbrochenem bespritzte Wände und
Möbel sowie verstopfte Toile tten führen bei den Angehörigen regelmäßig zu Wutund gleichzeitigen Ohnmachtsgefühlen. Sie sind sich oft unsicher, ob sie etwas sagen
dürfen, da die Patientin ja krank ist, und machen ihrem Zorn dann in eruptiven Ausbrüchen Luft. Einerseits drehen die Patientinnen den Spieß um: sie rächen sich für
die vergangenen Abweisungen und Verletzungen durch die Eltern, schädigen diese.
Die Eltern spüren nun die demütigende Ohnmacht, die die Patientin spürte. Andererseits wird diese meistens beschämt und zum Sündenbock gestempelt. Sie kann sich
dann mit der Bloßstellung von Schwächen der Familie rächen, an der nun kein gutes
Haar mehr gelassen wird. Der eben skizzierte Kampf findet bei äußerlich von der Familie abgelösten Patientinnen oft mit den inneren elterlichen Objekten statt.
Der lösungsversuch der Patien ti n besteht auf allen Stufen der bulimischen Entwicklung
meistens in der unmi tt elbaren Tendenz zur Distanzierung oder Ablösung von der Familie
und damit in der verstärkten, übertriebenen Autonomie. Dies zieht eine erhöhte Sehnsucht nach Geborgenheit und Intimität nach sich, was wiederum den Kreislauf der bulimischen Symptomatik anstößt. Die erhöhte Sehnsucht nach Geborgenheit und Intimität
kann auch zu einem Versuch der Wiederannäherung an die Familie führen, der aber
nicht adäquat geäußert und von den Angehörigen beantwortet wird, so dass die Patientinnen zwischen Autonomie und Annäherung hin- und herpendeln, wodurch der bulimische Kreislauf ebenfalls verstärkt wird. Konflikthafte Unabhängigkeit hat einen starken
Vorhersagewert für bulimisches Verhalten (Friedlander u. Siegel 1990). Tabelle 9.1 fasst
die familiendynamischen Merkmale der Familien von Anorexie- und Bulimiepatientinnen zusammen.
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Die familienthcrapeutischc Behandlung von Anorexie und Bulimie
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Tabelle 9.1 Beziehungsdynamik und familiäre Muster bei Anorexie und Bulimie
Anorexie
Beziehungsverhalten der Patientin
Zentrale Dynamik:
Befürchtetes einmischendes lnteraktionsverhalten
der relevanten Beziehungspartner wird mit restrikti-
Betonte Autonomie und restriktive Abgrenzung,
vem Beziehungsverhalten der Patientin beantwortet, um die symbiotischen Abhängigkeitsängste zu
• Norm- und Leistungsorientierung
kontrollieren
• Überbehütung
unsicher-vermeidendes Bindungsverhalten
Familiendynamik:
• Zusammenhalt
• Aufopferung
• Bündnisprobleme und Triangulierung
Bulimie
Beziehungsverhalten der Patientin
Zentrale Dynamik:
Befürchtetes vernachlässigendes Interaktionsver-
Pseudoautonomie: (feindselige) Distanzierung
halten der relevanten Beziehungspartner wird mit
unsicher-ambivalentes Bindungsverhalten
pseudoautonomem Beziehungsverhalten der
Patientin beantwo rtet, um die Abhängigkeitswün-
Familiendynamik:
sche zu kontrollieren
• Impulsivität
und/oder anklammernde emotionale Abhängigkeit,
• offene Konflikte in der Familie
• geringe affektive Resonanz
• Triangulierung
• Grenzstörung
• Scham/Geheimnisse
• Das Ideal der Stärke, Leistungs- und Außenorientierung
Die familientherapeutische Behandlung
Die Indikation zur Familientherapie
Dass die Familientherapie bei der Behandlung von essgestörten Patientinnen so häufig
zur Anwendung kommt, basiert nicht nur darauf, dass tatsächlich Einfluss auf die gestörten Familienbeziehungen als einem der konstituierenden Faktoren für das Krankheitsbild
genommen werden kann. Mehrere Autoren (Grolnick 1972, Petzold 1979) berichten,
dass letale Ausgänge bei anorektischen Patientinnen vor allem dann beobachtet werden,
wenn es nicht gelang, zur Familie einen Kontakt herzustellen. Die Familie der Anorexiepatientin muss also für die Mitarbeit gewonnen werden. Dies gilt ebenfalls für viele
Familien bulimischer Patientinnen, auch wenn diese Familiengespräche zunächst ablehnt. Ob im konkreten Einzelfall eine Familientherapie indiziert ist, lässt sich zunächst
mit den allgemeinen Indikationskriterien für eine Familientherapie beantworten: Eine
Indikation zur Familien- und Paartherapie besteht immer dann, wenn familiäre oder in
der Paarbeziehung wirksame Interaktionsmuster zur Entstehung und Aufrechterhaltung
der Symptomatik und der ihr zugrundeliegenden Konflikte beitragen (Cierpka 1996).
Familien essgestörter Patientinnen sind bzgl. der Symptomatik und des Essverhaltens
in starr ablaufende, sich wiederholende Interaktionssequenzen mit der Patientin verwickelt. Nahrung bzw. Nahrungsaufnahme bietet zum einen den Familienmitgliedern die
Möglichkeit, ihre Gefühle indirekt zum Ausdruck zu bringen und andererseits gleichzeitig die Gelegenheit, weiterhin miteinander verstrickt zu bleiben und sich gegenseitig zu
schützen. Das Ausmaß, in dem sich die Familie dazu bereit finden kann, sich nicht länger
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• Konfliktvermeidung
• Verstrickung/Grenzstörung
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