Marek Ordylowski

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Marek Ordyłowski
Das erste Jahr in Wrocław 1945/1946
Wrocław, die an der Oder gelegene Stadt mit vier Zuflüssen, hat eine lange
Geschichte. Ihre Anfänge reichen bis ins Altertum zurück. Die Stadt befand sich in
polnischen, tschechischen, habsburgischen, preußischen, deutschen und wieder in
polnischen Händen. Auf lateinisch heißt sie Vratislavia. Polen nennen sie Wrocław,
die Tschechen Vratislav, die Deutschen Breslau. Seit 1000 Jahren ist die Stadt die
Hauptstadt Schlesiens, ihr wichtigstes wirtschaftliches, kulturelles und religiöses
Zentrum. Seit 1000 Jahren ist sie die Hauptstadt der katholischen Diözese und seit
1929 der Erzdiözese.
Im Jahr 1939 zählte die Stadt 630 000 Einwohner. Während des Krieges befand sie
sich weitab von der Frontlinie und außerhalb der Reichweite der alliierten Luftwaffe.
Sie galt als ruhiges Gebiet, in das viele Menschen aus bombardierten Regionen
evakuiert wurden. Sie wurde damals als Luftschutzbunker des III. Reiches
bezeichnet. Wrocław zählte im Januar 1945 zusammen mit den Flüchtlingen aus den
Frontgebieten 1 Million Einwohner. Vom 19. Januar bis Mitte Februar verließen auf
Befehl des Gauleiters Karl Hanke ungefähr 700 000 Personen die Stadt. Am 16.
Februar schloss sich der Ring der sowjetischen Armee um die Festung Breslau und
es begann die Agonie. Während der Kämpfe wurden ganze Viertel zerstört.
Am 6. Mai 1945 kapitulierte die Festung Breslau mit einer schrecklichen Bilanz. Von
30 000 Häusern überstanden gerade 10 000 die Belagerung. Im südlichen und
westlichen Teil der Stadt lagen 90 Prozent in Schutt und Asche, in der Altstadt und
im Zentrum 50 Prozent, in den restlichen Stadtteilen 10 bis 30 Prozent. Die
wenigsten Schäden erlitten die Stadtteile Bischofswalde (Biskupin), Wilhelmsruh
(Zacisze), Zimpel (Sępolno), Leerbeutel (Zalesie), Karlowitz (Karłowice). Die Stadt
war mit 8 Millionen Kubikmeter Schutt übersät. Die Zerstörungen betrafen 80 Prozent
des Elektrizitätswerkes, 100 Prozent des Beleuchtungsnetzes, 80 Prozent des
Straßenbahnnetzes und der Gleise und 60 Prozent des Gaswerkes. Beschädigt
wurden auch das System der Wasserleitungen und die Kanalisation. Von 658 km der
Breslauer Straßen waren 300 km mit Schutt zugedeckt. Völlig zerstört waren 60
Prozent der Industrieanlagen und der Rest befand sich in einem bedauernswerten
Zustand. Zerstört wurden auch viele kulturelle und sakrale Baudenkmäler. In alle
Winde zerstreut wurden Kunstwerke, Archivalien, Bibliotheksbestände. Viele Parks
und Grünflächen mussten in Friedhöfe umgewandelt werden.
In Übereinstimmung mit den Beschlüssen der Alliierten in Jalta sollte Schlesien an
Polen fallen als Kompensation für die Gebiete in Ostpolen, die von Russland besetzt
wurden. Vor dem Krieg betrug die Fläche Polens 388 634 km². Jetzt sind es 312 679
km². Am 9. Mai kam die polnische Verwaltungsmannschaft in Wrocław an, um in der
Stadt die Macht zu übernehmen. Der neu ernannte Stadtpräsident Bolesław Drobner
kannte Wrocław noch vor dem Krieg. Er hatte Chemie in Berlin und Freiburg studiert.
Einer der Vizepräsidenten Ingenieur Kazimierz Kuligowski, Absolvent der Moskauer
technischen Hochschule, war für die Kontakte mit den Russen verantwortlich. Er
sprach fließend russisch, war trinkfest und besaß ein starkes
Durchsetzungsvermögen. Das waren Eigenschaften, die für den Kontakt mit den
Russen unerlässlich waren.
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In der Stadt befanden sich etwa 160 000 Deutsche, hauptsächlich Frauen und Kinder
sowie Ältere, außerdem tausende Zwangsarbeiter, hauptsächlich Polen, aber auch
Franzosen, Italiener, Holländer, Bulgaren, Litauer, Russen, Serben, Ukrainer,
Tschechen und Ungarn. Alle waren in Arbeitslagern eingesperrt. Außerdem befanden
sich in den Krankenhäusern 6000 verwundete und kranke deutsche Soldaten. Ein
Teil von ihnen wurde von sowjetischen Ärzten betreut. Diejenigen, die fieberfrei
waren, konnten selbstständig in Richtung Westen abmarschieren. Der Rest wurde in
polnischen Krankenhäusern untergebracht. In den Ruinen versteckten sich zudem
viele deutsche Soldaten, die auf der Suche nach Lebensmitteln oft Feuer legten. Das
war in den Tagen vom 7. bis 10. Mai.
In der Stadt befanden sich auch viele Deserteure und Marodeure, die die Sicherheit
in Wrocław erheblich gefährdeten. Der Rektor der Universität, Prof. Stanisław
Kulczyński, erinnerte an Banden betrunkener und plündernder Soldaten, die in die
wissenschaftlichen Institute einbrachen. Auf der Suche nach Alkohol tranken sie
Spiritus. Aber in diesem Spiritus waren für wissenschaftliche Zwecke Präparate, z.B.
Fische, Schlangen, sogar verstorbene Neugeborene, eingelegt worden. Diese
Präparate befanden sich im Institut für Pathologie der medizinischen Fakultät.
Ein Problem waren auch die Menschenmassen, die von der Zwangsarbeit
zurückkehrten, die in verlassenen Häusern und Lagern auf der Suche nach
Lebensmitteln umherstreunten. Indem sie Feuer anzündeten, um die Treppenflure zu
erleuchten, verursachten sie viele Brände.
Die erste Aufgabe der neuen polnischen Machthaber bestand darin, ein normales
Leben in der Stadt zu organisieren. Es galt die Feuer zu löschen, die Barrikaden in
den Straßen zu beseitigen, die Wasserleitungen und alle städtischen Dienste in
Betrieb zu nehmen, die Verteilung der Lebensmittel zu organisieren, die
Produktionsbetriebe in Gang zu setzen. Das war eine ungewöhnlich schwierige
Aufgabe, denn in Wrocław befand sich eine starke Garnison der Roten Armee, deren
Kommandant der faktische Herrscher der Stadt war. Hinzuzufügen ist, dass neben
den Soldaten und Zivilisten, die auf eigene Rechnung und Gefahr auf Raubzüge
gingen, es noch sogenannte „trofiennyje roty“ gab, die Maschinen und Geräte im
Rahmen des organisierten Raubs entwendeten. Es wurden Industrieanlagen,
Druckereien, Energiestationen, Kunstwerke ausgeführt. Als interessante Einzelheiten
sind zu erwähnen, dass selbst die Guillotine aus dem Breslauer Gefängnis
mitgenommen wurde und sich heute in Kiew als ein Geschenk des polnischen Volkes
befindet, aber auch die Starkstromleitung für die elektrische Eisenbahnlinie von
Wroclaw nach Jelenia Góra (Breslau-Hirschberg).
In den ersten Tagen nach der Kapitulation musste der Erwerb und die Verteilung von
Lebensmitteln schnell gelöst werden. Große Mengen von Lebensmitteln wurden aus
Furcht vor dem Verderben in provisorischen Lagern, z.B. in Läden oder Kellern
untergebracht. Ein Teil der Lebensmittel war von der Bevölkerung am Vortag der
Kapitulation gestohlen worden. Dazu zählten Stadtteile wie z.B.
Biskupin/Bischofswalde, wo sich in jedem Haus einige Säcke Zucker und andere
Vorräte befanden. Ein Teil der Lebensmittel wurde konfisziert, indem man den
Bewohnern eine notwendige Menge für einige Wochen überließ. Im Breslauer Hafen
befanden sich einige tausend Tonnen Zucker, in den Mühlen gab es Mehl und
Getreide, in Magazinen gepökeltes Fleisch. Die größten Lebensmittelvorräte wurden
in Armeemagazinen gelagert, die dann von sowjetischen Abteilungen übernommen
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und nach einigen Tagen der polnischen Führung übergeben wurden. Am schnellsten
eröffneten die Bäckereien: die erste am 10. Mai 1945. Nach einem Monat arbeiteten
schon 100. Sie wurden in der Regel von ihren bisherigen Besitzern geführt – von
Deutschen.
Anfangs erhielten die Mitarbeiter der neu entstandenen polnischen Verwaltung keine
Zuteilungen, sondern mussten sich in Kantinen versorgen. Viele ernährten sich auf
eigene Faust, indem sie in Ruinen, in verlassenen Wohnungen und Kellern auf
Lebensmittel-Suche gingen. Lebensmittel gab es auch oft in den Betrieben, die ihre
Arbeit wieder aufgenommen hatten.
Weil die Geschäfte nicht funktionierten, waren die städtischen Lager/Magazine die
einzige Quelle, die polnische und deutsche Bevölkerung mit Lebensmitteln zu
versorgen. Sehr schnell entstanden Handelsplätze, wo die Deutschen Kleidung und
andere Waren in Lebensmittel tauschten. Das war ein typischer Tauschhandel mit
einer ungeklärten Valutasituation. Die deutsche Mark war in Umlauf und ebenso der
polnische Złoty im Kurs von einer Mark zu zwei Złoty. Bis Ende Juli 1945 war
faktisch die Mark in Umlauf. Erst ab 1. August wurde der Złoty die Umlaufvaluta.
Der städtische Organismus kam relativ schnell in Gang. Schon am 12. Mai 1945 gab
es den ersten Strom, am 15. Mai floss Wasser aus den Wasserhähnen, am 16. Mai
wurde die erste Post versandt. Kunden waren Deutsche, die Briefe an ihre
Verwandten schickten. Am 21. Mai traute der Präsident Wrocławs das erste
Brautpaar. Im Mai wurde auch die Telefonzentrale in Betrieb genommen. Nebenbei
sei gesagt, dass Ende Mai Mitarbeiter des Amtes für Telekommunikation in einem
verschütteten Keller einen Mann fanden, der keine Ahnung davon hatte, dass der
Krieg beendet war. Auch telefonische Verbindungen zwischen den
niederschlesischen Städten wurden hergestellt. Am 8. Juni erschien in Wrocław die
erste polnische Zeitung „Nasz Wrocław“ („Unser Wroclaw“). Am 16. Juni öffnete das
erste Kino in der ulica Ogródowa (Gartenstraße). Am 21. Juni fuhr die erste
Autobuslinie vom Stadtteil Karłowice (Karlowitz) nach Podwale.
In den ersten Monaten nach Beendigung des Krieges gab es eine komplizierte
Situation in der Verwaltung der Stadt. Die formelle Macht übte die Stadtverwaltung
mit dem Präsidenten an der Spitze aus. Unabhängig von ihm amtierte der
sowjetische Kriegskommandant, der die Stadt in zwölf regionale Kommandanturen
aufteilte. Nach eigenem Ermessen besetzte er einen Teil der Betriebe und
Einrichtungen und beschäftigte Deutsche zwangsweise, die für ihre Arbeit
ausschließlich Lebensmittel erhielten. Außerdem existierten in Wrocław zwei
Organisationen, die sich als antifaschistische darstellten. Eine von ihnen war die
Vereinigung Deutscher Antifaschisten unter der Führung von Paul Marzoll. Sie zählte
etwa 800 Mitglieder und arbeitete mit der polnischen Verwaltung zusammen. Sie
lieferte ihr viele Faschisten aus, die sich versteckt hielten. Die Antifaschistische
Freiheitsbewegung hingegen, geführt von Hermann Hartmann, arbeitete eng mit der
sowjetischen Kommandantur zusammen. Sie besetzte mit den eigenen Leuten die
Stadtteil-Bürgermeister und unter Umgehung einer Zusammenarbeit mit der
polnischen Verwaltung eröffnete sie Quartierbüros und gründete eine
Jugendorganisation. Weil die Russen Leute zur Beseitigung von Schutt auf den
Straßen und zur Inbetriebnahme von Betrieben, zur Demontage von Objekten und
Einrichtungen benötigten, beriefen sie Beamte, die Leute zur Arbeit verpflichteten.
Deshalb eröffnete Hartmann ein Arbeitsamt, das die Leute zu den verschiedensten
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Arbeiten einteilte. Definitiv wurde diese Angelegenheit nach dem Potsdamer
Abkommen entschieden und die antifaschistischen Organisationen wurden aufgelöst.
Sowjetische Truppen blieben bis Oktober 1992 in Wrocław und schufen für sich eine
Enklave unabhängig von der polnischen Verwaltung.
Nach dem Potsdamer Abkommen begann eine intensive Ansiedlung der polnischen
Bevölkerung und auf breiter Skala eine Aussiedlung der Deutschen. Im Ergebnis
dessen wohnten Ende 1945 in Wrocław schon 53 000 Polen. Im Februar 1946 lebten
in Wrocław 168 000 Menschen, darunter 110 600 Deutsche, Ende 1946 203 000
Personen, darunter nur noch 18 000 Deutsche, im November 1947 wuchs die Zahl
der Einwohner auf eine viertel Million, darunter 4205 Deutsche. In Wrocław wurden
vor allem Ansiedler aus dem Osten (ehemaliges Ostpolen) ansässig, aber auch
inländische Migranten aus den während des Krieges stark zerstörten Gebieten –
Warschau und Umgebung, Großpolen, Zentralpolen. Zahlreich waren auch
Remigranten aus Frankreich, die dort in den zwanziger Jahren Arbeit gesucht hatten.
Die Herkunft der Ankömmlinge verrieten auch die Namen von gastronomischen und
Dienstleistungs –Einrichtungen und Geschäften, die in dieser Zeit öffneten, z.B.
Lemberger Bar, Bar Lemberger Hölle, Ostpolnisches Restaurant, Warschauer
Restaurant, Posener Süßwarenladen, Warschauer Wirtshaus, Kielecker Bäckerei,
Lemberger Friseur.
Unter den Ankömmlingen in Wrocław befand sich eine nicht unbedeutende Zahl von
Juden, die Häftlinge der Konzentrationslager in Niederschlesien waren. Im Mai 1945
befanden sich in Wrocław etwa 5000 Juden, darunter etwa 2000 polnische. Zwischen
den polnischen und deutschen Juden kam es zu verschiedenen Konflikten auf Grund
kultureller und traditioneller Unterschiede. Unter den polnischen Juden gab es viele
Orthodoxe, aber auch Chassiden, die jiddisch sprachen. Die deutschen Juden
sprachen deutsch und waren eher liberal. Die Mehrheit der deutschen Juden verließ
Niederschlesien innerhalb kurzer Zeit, während die Zahl der polnischen Juden vom
Februar 1947 auf 20 534 Personen anwuchs. (Von 206 000 Einwohnern waren 190
000 Polen und 16 000 Deutsche). Ein Grund war die Tatsache, dass nach den
Kriegserlebnissen die Leute nicht dorthin zurückkehren wollten, wo rauchende
Trümmer und Massengräber von Angehörigen waren. Ihr Aufenthalt an einem neuen
Ort erlaubte ihnen, Depression und psychischen Zusammenbruch zu überwinden.
Eine andere Sache war, dass durch Wrocław und Kłodzko die Strecke über Wien und
dann nach Palästina führte. Viele Juden verließen auf dieser Route Polen. Ende
1947 gab es etwa 6000. Sie hatten in Wrocław ein Theater, gesellschaftliche,
politische und genossenschaftliche Organisationen, Jugend- und Sportklubs, eigene
Presseorgane, Kindergärten, Klubs und Kulturhäuser.
Zu den Problemen, die im ersten Jahr nach dem Krieg die Stadt besonders
herausforderten, gehörte die Sicherheit. Präsident Boleslaw Drobner hatte, als er
nach Wrocław kam, eine gewisse Zahl von Milizionären an seiner Seite. Zusätzlich
kam aus Krakau ein Milizbataillon mit 550 Mann. Aber es musste die ganze
Wojewodschaft, 33 Kreise abdecken. Das waren geringe Kräfte in Anbetracht der
Anwesenheit einer ganzen Garnison der Roten Armee in der Stadt, einer großen
Anzahl von Marodeuren aus verschiedenen Armeen. Diese Menschen waren
demoralisiert vom Krieg und es fehlte vor Ort an einer starken Macht. Zusätzlich
wälzten sich Massen von ausländischen Zwangsarbeitern durch die Stadt, die über
Wrocław nach Hause zurückkehren wollten. Die Lage wurde durch zahlreich
herumliegende Waffen erschwert, die jeder mitnehmen konnte. Im Gebiet
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Niederschlesiens gab es auch viele Personen, die sich vor der Staatsmacht
versteckten: angefangen von gewöhnlichen Verbrechern, über Volksdeutsche, bis
hin zu Mitgliedern verschiedener polnischer oder ukrainischer
Untergrundorganisationen. Ich spreche hier nicht von Soldaten der Wlassow-Armee,
der Wehrmacht oder SS, die versuchten in die westlichen Besatzungszonen zu
gelangen.
Die Zahl der wenigen Ordnungskräfte bewirkte, dass erst Ende Mai 1945 eine
Operation mit Ordnungscharakter erfolgen konnte. Mit den vereinten Kräften von
Miliz und NKWD wurde eine Aktion durchgeführt, die sich hauptsächlich gegen
Funktionäre von Gestapo, Polizei und NSDAP richtete. Zugleich ging man gegen
Marodeure vor, die sich in Ruinen versteckt hielten. Bei dieser Operation halfen
insbesondere mit ihrer sehr guten Ortskenntnis die Funktionäre antifaschistischer
Organisationen sowie Einwohner.
Die allgemeine Schwäche der Ordnungskräfte bewirkte ein Gefühl der Straffreiheit für
Verbrecher. Besonders gefährlich war es nachts und in den Ruinen. Erst die
Einführung eines Regiments für Innere Sicherheit verbesserte die Situation in der
Stadt. So wurde der Vizebürgermeister der Stadt (aus der Festungszeit) im
Untergrund in der ul. Świdnicka gefasst. Er hatte zusammen mit einer Gruppe von
Fanatikern Brände gelegt und Überfälle durchgeführt. Gefahren drohten durch Minen
und weggeworfene Sprengmaterialien verschiedener Herkunft, die noch viele Jahre
nach dem Krieg in der Stadt gefunden wurden.
Ein Problem waren auch die durch Wrocław fahrenden Einheiten der Roten Armee.
Der Stadtkommandant konnte oder wollte die Situation nicht beherrschen. Die
Angelegenheit endete mit einer Intervention im Stab von Marschall Rokossowski in
Legnica, der eine Brigade des NKWD nach Wrocław schickte, deren Funktionäre die
Stadt durchkämmten und Deserteure festnahmen, oft gefasst mit Waffen in der
Hand. Die des Raubes und schwerer Gewalttaten Verdächtigen wurden vor ein
Standgericht gestellt. Damals wurden viele Todesurteile gefällt. Großes Aufsehen
verursachte im Sommer 1945 die Festnahme des Stadtkommandanten Oberst
Liapunow wegen Raubes von Gold und Schmuck. Er wurde öffentlich degradiert und
aus Wrocław weggebracht. Die Welle des Banditentums führte im Oktober 1945 zur
Einführung der Polizeistunde, die von 20.00 Uhr bis 5 Uhr früh dauerte. Während der
Nacht konnten nur Personen unterwegs sein, die einen speziellen Passierschein
besaßen. Gastronomische Einrichtungen schlossen um 19.00 Uhr. In der ersten Zeit
der Polizeistunde wurden 1500 Personen festgenommen, von denen 800 für
verschiedene Vergehen vor Gericht gestellt wurden. Im April 1946 wurde die
Polizeistunde von 0 Uhr bis 5 Uhr morgens verkürzt, später dann völlig eingestellt.
Wenn wir von Banditentum sprechen, handelt es sich in der Regel um Verbrechen
von Marodeuren und Soldaten der Roten Armee, aber auch von Zivilpersonen, die
von der Zwangsarbeit zurückkehrten. Während einer Sonderkonferenz der
Stadtverwaltung im Januar 1946, die dieser Problematik gewidmet war, sagte der
Stadtpräsident: „Das Verhältnis der Bevölkerung zur Roten Armee ist weiterhin von
Misstrauen geprägt. Ursache dafür ist in hohem Maße die Sicherheitslage und die
Unsicherheit für Hab und Gut und das Leben der Einwohner während der Nacht,
aber auch am Tag gegenüber den Taten, die von Marodeuren oder sogar von
Soldaten der Roten Armee begangen werden. Ein Ansteigen dieser Vorfälle war
besonders im Stadtteil Karłowice/ Karlowitz, Psie Pole/ Hundsfeld, aber auch in
Leśnica/ Deutsch Lissa zu beobachten. Überall gab es einen Zusammenhang mit
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dort befindlichen Zivillagern und Lagern für Sowjetsoldaten.“ Erst die Verwundung
eines sowjetischen Generals im Februar 1946 führte zu einem radikalen Vorgehen.
Im Zuge einer Spezialoperation wurden die Marodeursbanden zerschlagen. Durch
die Auflösung der Lager für sowjetische Bürger im März sanken die Raubüberfälle
nahezu auf Null. Man sollte auch erwähnen, dass es sogar internationale Banden
gab, mit polnischen, russischen und deutschen Mitgliedern.
Eine Plage, besonders in den Jahren 1945-1946, waren die Gewalttaten, verübt von
Soldaten der Roten Armee. Die Gewalt gegenüber deutschen Frauen wurde vom
sowjetischen Kommando nicht als Verbrechen angesehen. In einem der Flugblätter,
die an die Soldaten der Roten Armee gerichtet waren, rief der bekannte Schriftsteller
Ilja Ehrenburg die Soldaten auf: „ Tötet die Deutschen! So ruft das Vaterland. Lasst
keine Gelegenheit aus… Brecht mit Gewalt den Rassehochmut der germanischen
Frauen. Nehmt sie als rechtmäßige Beute. Tötet, ihr tapferen, vorwärtsstürmenden
Rotarmisten!" Nach Berechnungen von Historikern vergewaltigten Soldaten der
Roten Armee rund 2 Millionen deutsche Frauen, unabhängig davon vergewaltigten
sie auf dem Vormarsch Polinnen, Ungarinnen, Tschechinnen und Slowakinnen. Es
gab Meldungen über die Vergewaltigung von 9-jährigen Mädchen. Die Täter
unterlagen immer ihrer Jurisdiktion, waren also praktisch straffrei. Solche Verbrechen
gab es bis zum Ende des Aufenthalts der Roten Armee in Wrocław. Noch 1988 kam
es zu einer Massenvergewaltigung von 6 Soldaten an einem 17-jährigen Mädchen.
Raub hörte erst nach 1992 auf.
Wie schon erwähnt, war die Festung Breslau gut mit Lebensmitteln versorgt.
Besonders nach der Bombardierung der Ostseehäfen wurde hierher das Zentrallager
der Kriegsmarine verlegt. Von den Vorräten konnte die Stadt bis Ende September
1945 zehren. Mit diesen Lebensmitteln konnten die ankommenden Polen, die in
Wrocław wohnenden Deutschen, aber auch die sich auf dem Heimweg befindenden
Gefangenen verschiedener Nationalitäten versorgt werden. Erst ab September erhielt
die Stadt Lebensmittel-Zuteilungen aus dem Wojewodschaftsamt. Anfangs gab es
keine Geschäfte, keine Restaurants, keine Kantinen. Auf dem freien Markt dominierte
der Tauschhandel. Die Rolle des Geldes übernahmen die Lebensmittel. Ab August
gab es folgende monatliche Lebensmittelzuteilung: 2 kg Getreidemehl, 500g Zucker,
2kg Grütze, 10kg Brot, 1,40 kg Schmalz, 70 g Marmelade, 12 g Getreidekaffee. Nicht
immer wurden die Zuteilungen realisiert. Zum Beispiel wollten die Bäcker das Brot
lieber zu Preisen des freien Marktes, also wesentlich teurer verkaufen. Eine Brotkarte
beispielsweise hatte einen Wert von 1,50 Zl. Der freie Markt verlangte 20 Zl. Vor den
Weihnachtsfeiertagen 1945 gab es eine Feiertagszuteilung: 2 kg Mehl, 2 kg Erbsen,
1 kg Marmelade, 500 g Zucker, 100g Getreidekaffee sowie 200 g Waschmittel.
Probleme mit der Kartenversorgung traten im ganzen besprochenen Zeitraum auf.
Einfluss darauf hatte die schlechte wirtschaftliche Lage, die Kriegsschäden, aber
auch die unzulängliche Verteilung der Kartenartikel. Fügen wir hinzu, obwohl das
Kartensystem ineffizient war, so gab es die Lebensmittel auf dem freien Markt, aber
natürlich zu einem wesentlich höheren Preis. In den ersten Wochen nach
Beendigung des Krieges entstanden sehr schnell Handelsplätze und Marktstände:
der erste in der Matthiasstraße, dann von 1946-1956 in der Josef-Stalin-Straße, 1956
in der Straße Bohaterów Węgierskich, dann in der Straße Jedności Narodowej, dann
auf dem Plac Strzelecki (Schiesswerderplatz). Ähnliche Plätze befanden sich am
Hauptbahnhof, auf dem Platz Biskup Nanker (Ritterplatz), auf dem Grunwaldplatz
(Scheitniger Stern), in der Halle an der Ogródowa-Straße und an einigen anderen
Plätzen. Schon im Juni 1945 entstanden Geschäfte, zunächst Lebensmittelläden,
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danach Kommissionsgeschäfte mit beweglichem Hab und Gut von den ausreisenden
Deutschen. Einige dieser Kommissionsgeschäfte betrieben Tauschhandel. Sie
nahmen von den Ausreisenden hauptsächlich Garderobe, Schuhe, Silber,
Maschinen, z.B. Nähmaschinen, Schreibmaschinen und tauschten dafür
Lebensmittel, die aus Zentralpolen hierher gebracht wurden. Im Oktober gab es in
Wrocław etwa 160 Lebensmittelläden, Ende 1946 waren es 1250, 182
Galanteriewarenläden, 32 Buch- und Schreibwarenhandlungen, 42 Drogerien und
Apotheken, 32 Läden mit technischen Artikeln, 31 Schuhläden, 19 Geschäfte für
Haushaltswaren, 13 Parfümerien mit Kosmetikartikeln, 42 Läden mit Heizölspeicher.
In Wrocław gab es zwei Arten von Lebensmittelgeschäften: Zum einen war es der
Handel mit reglementierten Lebensmitteln zu festen Preisen, verteilt auf Karten nach
Normen, zum anderen waren es Geschäfte, die sich nach Preisen des freien Marktes
richteten und zu wesentlich höheren Preisen verkauften. Mit Lebensmitteln wurde
auch in den verschiedensten Arten von Bretterbuden, bestehend aus Sperrholz und
Pappe gehandelt. Überall wurde mit Fleisch gehandelt. Diesen Handel führten 80
Prozent der Geschäfte unabhängig von der Branche.
Unabhängig von den Einzelhandelsgeschäften wurden bereits 1945 Warenhäuser in
Betrieb genommen, z.B. das Schlesische Warenhaus in der Świdnickastraße
(Schweidnitzer Straße). Danach öffneten weitere renovierte Warenhäuser aus der
Vorkriegszeit. Aber das größte, auch in Polen, war das Allgemeine Warenhaus, das
im Gebäude der ehemaligen Gesellschaft AWAG öffnete. Ein wesentlicher Teil der
Warenhäuser aus der Vorkriegszeit war während der Belagerung der Stadt zerstört
oder beschädigt worden. Aber in Verbindung mit den neuen gesellschaftlichen
Gegebenheiten wurden viele von ihnen einer anderen Verwendung zugeführt.
Sehr schnell öffneten nach Kriegsende Bars und Restaurants, gewöhnlich in bereits
bestehenden Lokalitäten. Im Februar 1946 gab es etwa 600. Neben gewöhnlichen
Bars gab es auch Luxuslokale mit Tanz und ausgesuchtesten Speisen. Eine
Besonderheit dieser Zeit waren preiswerte Gaststätten, die billige und nahrhafte
Mahlzeiten anboten. Dazu gehörten die sogenannten Milchbars, wo die einfachsten
und preiswertesten Speisen angeboten wurden, meistens aus Mehl und Kartoffeln,
verschiedene Arten von Piroggen, Klößen, Piroggen mit Quarkfüllung, einfache
Suppen wie Gemüse-, Tomaten-, Gurken- oder Obstsuppe. Diese Bars bildeten den
Versorgungsraum für die Ärmsten, aber auch für Studenten. Preiswerte Kantinen
boten auch verschiedene Organisationen an, wie das Komitee für Soziale Fürsorge
Caritas oder jüdische Religionsvereinigungen.
Eine große Stadt wie Wrocław konnte nicht ohne Dienstleistungsbetriebe sein. Sie
entstanden in den vielen verlassenen Werkstätten, deren Besitzer die Stadt oft noch
vor der Belagerung verlassen hatten. Letztendlich erforderte das Leben solche
Dienstleistungsbetriebe. Neben verschiedenen Baufirmen, die Renovierungen
vornahmen, entstanden Schuh-, Schneider-, Uhrmacherwerkstätten, Wäschereien,
Färbereien, Friseursalons usw., aber auch Werkstätten, die Prothesen herstellten.
Unter all diesen Dienstleistungsanbietern gab es eine Wahrsagerin Pari Banu, die
ihre Dienste folgendermaßen anbot: „ Pari Banu hellseherisches Medium, das in
Trance alles genau vorhersagt.“ Nach ihrer Ausreise beschäftigen sich Sinti-RomaFrauen mit der Wahrsagerei. Über viele Jahre befand sich am Platz Strzegomski ein
Sinti-Roma- Lager.
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Eine weitere Aufgabe stellte das Transportwesen dar. Anfangs benutzte man in
Wrocław Rikschas und Kutschen, die Konzessionen von der Stadtverwaltung
erhielten. 1946 tauchten die ersten Taxen auf. Die ersten Straßenbahnen fuhren am
22. Juni von Biskupin zum Słowiański-Platz( Weißeburger Platz), die zweite verband
den Hauptbahnhof mit dem Strzelecki-Platz (Schießwerder Platz). Bis Ende 1945
fuhren drei Straßenbahnlinien und 3 Buslinien, 1946 waren es 11 Straßenbahn- und
4 Buslinien.
Wenn man über die Inbetriebnahme verschiedener städtischer Dienste spricht,
sollten Strom und Gas nicht vergessen werden. Das Elektrizitätswerk gehörte zu den
am schnellsten in Betrieb genommenen städtischen Unternehmen. Dieser Erfolg
wurde durch provisorische Anschlüsse erreicht, die allerdings den Grund für viele
Havarien bildeten. Eine weitere Schwierigkeit bestand darin, dass verschiede
Stadtteile unterschiedlichen Strom hatten, Gleich- oder Wechselstrom, aber auch
unterschiedliche Spannungen. Das Ergebnis waren häufige Stromabschaltungen und
Havarien. Diese wurden auch häufig durch das Betreiben von Elektroöfen ausgelöst.
Der Winter 1945/1946 war streng und es fehlte an Kohle. Das Elektrizitätswerk
versuchte den Stromverbrauch zu begrenzen, in dem es Grenzwerte einführte. Im
Oktober 1945 15 kWh für ein Zimmer, für die Wahl eines höheren Grenzwerts gab es
zusätzlich eine höhere Gebühr. Außerdem verhängte die Stadt planmäßige
Stromsperren, z.B. 1945 zwischen 22.00 Uhr und 6 Uhr morgens.
Das Gaswerk begann mit seiner Arbeit am 7. August 1945. Etwas spät, aber
während der Belagerung wurden 70 Prozent des Gasnetzes und der Anlagen
zerstört und außerdem wurden im Juni zwei Unterstationen demontiert. Als erste
erhielten die Einwohner von Karłowice (Karlowitz) Gas. Der Anschluss der anderen
Stadtteile verlief langsamer. Als letzte wurden die Stadtteile Herrnprotsch,
Klettendorf, Brockau, Stabelwitz und Deutsch-Lissa an das Gasnetz angeschlossen.
Eine offene Frage für die Bevölkerung war auch die Wasserversorgung. Das Netz
der Wasserleitung war an 3000 Punkten, die Kanalisation an 7000 Punkten
beschädigt. Das erste Wasser floss im Gebiet Mathiasstraße am 15. Juni dank der
Havariewasserleitung der Schultheiss-Brauerei AG. Im Mai und Juni erhielten weitere
Stadtteile Wasser. Bis Ende 1945 wurden 25 km Wasserleitungen in Betrieb
genommen.
Sehr zügig und schnell begann die Stadtreinigung zu arbeiten. Zu den ersten
Aufgaben zählte die Beseitigung der herumliegenden Toten. Weiterhin musste der
Müll entsorgt und die Straßen von Trümmern beräumt werden. Über viele Monate
nach dem Krieg hing in den Straßen der Gestank von verwesenden Leichen und
verkohlten Brandstätten. Mit der regelmäßigen Müllabfuhr wurde erst im August 1945
begonnen, erschwert durch fehlende Transportmittel. Vor dem Krieg verfügte die
Straßenreinigung über 40 Autos und 77 Pferde. Nach dem Krieg verblieben 12 Autos
und ein lahmendes Pferd.
Vom ersten Tag nach dem Krieg hatte die Stadt Probleme mit dem
Gesundheitsdienst. Keines der Krankenhäuser war vollständig funktionsfähig und in
ihnen hielten sich nicht nur 6000 Soldaten, sondern auch etwa 2000 Zivilisten auf. Im
Laufe weniger Wochen wurden einige Krankenhäuser funktionsfähig gemacht; das
wichtigste wurde das Allerheiligenhospital. Bis Ende 1945 wurden 19 Krankenhäuser
und Kliniken mit 3200 Betten für die Zivilbevölkerung in Betrieb genommen. Das war
sehr notwendig geworden, denn Ende Juni 1945 brach eine Ruhrepidemie aus, die
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aus den tschechischen Sudeten durch heimkehrende Breslauer eingeschleppt
worden war. Es folgte Typhus. 1945 wurden etwa 500 Kranke mit Ruhr und 2000 mit
Typhus behandelt. Damals gab es eine Massenimpfung und eine strenge Kontrolle
der Wasserbrunnen. 1946 verschwanden diese Epidemien; allerdings gab es Typhus
bis Mitte 1946 mit 160 Erkrankungen. Am Ende des Jahres war auch Typhus
verschwunden.
Eine Plage nach dem Krieg waren die Geschlechtskrankheiten. Sie verbreiteten sich
durch die Vergewaltigungen, aber auch durch lockere Sitten, die der Krieg mit sich
brachte. Ende 1945/ Anfang 1946 gab es monatlich 1500-2000 Erkrankte. In der
Stadt wurden 3 Ambulanzen für die Behandlung von Geschlechtskrankheiten, 4
Krankenhausambulatorien sowie 3 Abteilungen für Geschlechtskrankheiten in
Krankenhäusern eingerichtet. Die Geschlechtskrankheiten wurden damals mit dem in
Mode gekommenen Penizillin behandelt. Diese Plage ging erst 1948 im Zuge von
Zwangsbehandlungen zurück.
Eine Besonderheit stellte das kulturelle Leben dar. Unmittelbar nach Ende der
Kriegshandlungen wurde es durch die Russen organisiert, die ein Symphoniekonzert
veranstalteten. Es spielte das deutsche Symphonieorchester mit 60 Musikern. Das
Konzert wurde in drei Sprachen in russisch, deutsch und polnisch auf Plakaten
angekündigt. Außerdem fanden in dem einzig erhaltenen Theater, dem LiebigTheater, deutsche Kabarett- und Revuevorstellungen statt. Zur Theatergruppe
Liebig- Theater gehörten deutsche Antifaschisten. Sie wurde von Paula Eggers
geleitet. Die erste polnische Vorstellung fand Ende Juni 1945 aus Anlass des Tages
des Meeres statt. Weitere folgten nach dem immer gleichen Schema: Offizieller Teil
und künstlerischer Teil, in dem sich polnische, zeitweise auch sowjetische Künstler in
Begleitung eines deutschen Orchesters produzierten. Das Orchester spielte nur bis
August, danach reisten die Musiker nach Deutschland aus und es kamen nach und
nach polnische Künstler. Sie traten im Liebig-Theater in einem heute nicht mehr
existierenden Gebäude in der ul. Ogródowa heute Piłsudski-Straße oder in der Oper
auf.
Die Mehrzahl der Kinos, 70 Prozent, wurde während der Belagerung zerstört.
Deshalb funktionierte die polnische Verwaltung Säle ehemaliger Klubs oder
Freimaurerlogen/ Old fellows/ usw. in Kinosäle um. Das erste Kino, das spielte, war
das spätere Kino „Lalka“ am Lehmdamm (ul. Bolesława Prusa), das deutsche Filme
zeigte. Das erste polnische Kino ab 16. Juni war das Kino „Warszawa“ in der ul.
Ogródowa. Beide Kinos spielten schon im Juni 1945. Danach wurden weitere Kinos
in allen Stadtteilen eröffnet. Das größte Wrocławer Kino „Śląsk“, früher Capitol,
besaß 1200 Plätze und begann im Januar 1946 mit seinen Aufführungen. Es wurden
hauptsächlich Komödien und leichte Filme ausgestrahlt. Danach gab es massenhaft
sowjetische Filme „Ivan der Schreckliche“, „Der Schweinehirte“, „Im Namen des
Vaterlandes“, Sekretär…“, „Um 6-Uhr abends nach dem Krieg“, „Sie verteidigte das
Vaterland“, „Stalingrad“, „Die Welt lacht“, „Wolga-Wolga“ und andere, aber auch
amerikanische Filme gab es zu sehen.
Die erste Opernvorstellung fand am 8. September 1945 mit der Oper „Halka“ von
Stanisław Moniuszko statt. Die Solisten kamen aus Krakau, der Chor aus Bytom. Im
Dezember wurde der „ Der Barbier von Sevilla“ von Gioacchino Rossini gespielt, im
Februar 1946 „Rigoletto“ von Giuseppe Verdi. Eine nicht geringe Rolle im kulturellen
Leben spielte das Radio. Wegen der Zerstörung des Breslauer Senders 1945 wurde
in den Straßen der Stadt ein Netz von Lautsprechern installiert, die in deutsch und
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polnisch informierten. Im November gab es 10 solcher Lautsprecher. Erst am 29.
September wurde ein Radiosender in Betrieb genommen. Aber seine Reichweite war
begrenzt, zumal in ganz Niederschlesien 1948 nur 8000 Apparate registriert waren.
Sehr schnell organisierte man Sportveranstaltungen. Der erste polnische Sportklub
gründete sich schon am 16. Juni 1945 und erhielt den Namen Erster Sportklub
„Ślęża“ (Lohe). Die ersten Sportveranstaltungen fanden am 19. Juli 1945 statt. Schon
kurze Zeit später entstanden weitere Klubs und begannen mit regulären
Wettbewerben im Fußball, Volley- und Basketball und in der Leichtathletik.
Der zoologische Garten, in dem sich die Kinder während der Belagerung erholten,
wurde am Ende schwer beschädigt. Die Tiere wurden in andere Gärten in Polen
verbracht. Sie kehrten zur Eröffnung des Wrocławer Zoos 1948 zurück.
Schulen nahmen schon 1945 ihre Arbeit auf. Das betraf sowohl Mittel- als auch
Grundschulen. Im November begannen die Universität und die Technische
Hochschule mit ihrem Studienbetrieb. Die Lehrkräfte kamen hauptsächlich aus
Lemberg und Krakau. Anfänglich wurden die Lehrgebäude durch einen
akademischen Sicherheitsdienst geschützt, der sich aus bewaffneten Studenten
zusammensetzte. Er wurde Ende 1945 aufgelöst.
Welche Stimmung herrschte in der Stadt? Sie war sehr unterschiedlich. In den ersten
Wochen nach Beendigung der Kriegshandlungen herrschte eine Atmosphäre der
Unsicherheit. Die Deutschen waren durch die bestehende Lage niedergeschlagen.
Viele glaubten daran oder hatten zumindest die Hoffnung, dass sich die Situation
ändern würde, dass Wrocław deutsch bleibt. Die Passivität der Deutschen wurde
noch durch die Erlebnisse aus der Festungszeit verstärkt. Die Polen wiederum
glaubten nicht an die Beständigkeit der Grenzveränderungen. Deshalb war in den
ersten Wochen nach dem Krieg ein Zustrom von Plünderern aus Zentralpolen zu
verzeichnen. Sie kamen mit der Losung „Nimm alles mit, denn Du bleibst sowieso
nicht hier“. Das betraf Privatpersonen, ebenso verschiedene Warschauer
Institutionen. Die Beschlüsse der Potsdamer Konferenz brachten eine gewisse
Stabilisierung und Überzeugung bei einem Teil der Polen, was die Dauerhaftigkeit
der Nachkriegsgrenzen betraf, aber nicht bei allen und nicht bis zum Ende. Im
allgemeinen Bewusstsein war die Stadt nicht polnisch und alle Polen und Deutschen
erwarteten früher oder später die Rückgabe an Deutschland. Unter den Polen
verstärkte sich die Furcht durch die Anwesenheit von Deutschen in der Stadt und das
in überwiegender Zahl. Die Situation änderte sich erst Ende 1946 als die Deutschen
etwa 10 Prozent der Einwohner in Wrocław stellten. Um die Atmosphäre zu ändern,
wurde durch die Verwaltung der sog. Kampf gegen das Deutschtum eingeführt, der
auf schnelle Änderung der Straßennamen in polnische und Beseitigung deutscher
Inschriften und Denkmäler abzielte.
Die deutsche Bevölkerung war auf einschneidende Veränderungen eingestellt. Sie
war vom Gefühl der Trauer beherrscht, bedingt durch die Tatsache, die Heimat
endgültig verlassen zu müssen. Das bedeutete auch den Abschied von der Leistung
ganzer Generationen und den Verlust des kleinen schlesischen Vaterlandes.
Deshalb kam es sowohl unter älteren als auch unter jungen Menschen zu Fällen von
Selbstmord. Diese Erscheinung war typisch für die damalige Zeit, denn Selbstmord
gab es auch unter Polen in Lemberg und Vilnius, polnische Städte, die der
Sowjetunion angegliedert wurden. Auf die Stimmung der Deutschen schlug auch die
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schwere ökonomische Lage, denn viele polnische Arbeitgeber brachen das Recht
und zahlten ihnen nur Hungerlöhne und beschnitten ihnen auch eigenmächtig die
Lebensmittelzuteilungen.
Wenn es um die Stimmung der polnischen Bevölkerung geht, so kann man zwei
Dinge beobachten: Ein Teil der Jugend, die nach Niederschlesien kam, glaubte, dass
man hier ein neues und besseres Leben aufbauen kann, denn es gab Arbeit und
große Möglichkeiten des Aufstiegs, Wohnung und auch Bildung. Unter den
Umsiedlern aus dem Osten, ähnlich wie bei den Deutschen, herrschte Nostalgie
nach der verlorenen Heimat. Viele Lemberger sangen deshalb das damals populäre
Lied „Jedna bomba atomowa i wrócimy znów do Lwowa“. Anders war auch das
Verhältnis zu den Deutschen. Die aus dem Osten kommenden Polen, die selbst
Vertriebene waren, fühlten mit den Deutschen und oft versuchten sie auch, ihnen zu
helfen. Es gab Fälle, wo sie ihnen bekannten Deutsche bis zur Grenze begleiteten
und halfen, deren Hab und Gut zu transportieren. Polen aus Großpolen verhielten
sich gewöhnlich anders. Oft forderten sie Rache für die Okkupation.
Zusammenfassend kann man sagen, dass das erste Nachkriegsjahr ungewöhnlich
schwer war. Die neue Verwaltung musste die stark zerstörte, in Trümmern liegende
Stadt wiederbeleben, den Bevölkerungsaustausch vollziehen, das gesamte
öffentliche Leben in Gang bringen. Erst dann konnte die Stadt wieder aufgebaut
werden. Bei der Realisierung dieser Aufgaben musste die Verwaltung nicht nur mit
objektiven Faktoren kämpfen, sondern zeitweise mit der eigenen Zentralmacht, die
die Stadt als Vorratskammer für verschiedene Güter und Anlagen betrachtete. Trotz
dieser Gegensätze und der der Stadt zugefügten Wunden, gelang es innerhalb eines
Jahres Wrocław zu neuem Leben zu erwecken.
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