Personale Freiheit und Zwang. John Stuart Mills Rezeption von Wilhelm von Humboldts Freiheitsverständnis Von Lars Osterloh (Universität Leipzig) Abstract: The delineation of personal liberty aims to show that this fundamental comprehension of liberty in its relation to coercion can be explained in two opposite ways. Either coercion is explained by a restriction of liberty or coercion is shown as a condition of the possibility of liberty. It is made clear, that they seem to be opposite but in fact related to each other vice versa and that the concept of liberty can be plausibly explained only in this way. For this an instance of interposition is necessary: the culture. The thesis can be exemplified by the reception of Wilhelm von Humboldts concept of liberty by John Stuart Mill, since Mill reversed the explanation of the relation. But in both argumentations the concept of culture remained under-determined. Abstract: Die Darstellung personaler Freiheit soll zeigen, dass dieses grundlegende Freiheitsverständnis im Verhältnis zum Zwang auf zwei entgegengesetzte Arten erklärt werden kann. Entweder wird aus ihrer Beschränkung Zwang erklärt oder Zwang wird als Bedingung der Möglichkeit von Freiheit ausgewiesen. Es wird deutlich gemacht, dass sie zwar gegensätzlich erscheinen, aber wechselseitig aufeinander bezogen sind und erst auf diese Weise der Freiheitsbegriff plausibel erklärt werden kann. Dazu ist eine Vermittlungsinstanz notwendig, die Kultur. Dies kann an der Rezeption John Stuart Mills von Wilhelm von Humboldts Freiheitsverständnis veranschaulicht werden, weil Mill die Erklärung des Verhältnisses umkehrt. Bei beiden ist der Kulturbegriff jedoch unterbestimmt. Inhaltsverzeichnis: 0. Einleitung; 1. Humbolds Freiheitsbegriff; 2. Mills Freiheitsbegriff; 3. Fazit. Einleitung Die Philosophie geht bei ihren Überlegungen gewöhnlich von bereits autonomen Personen aus. Dies hat seine Berechtigung darin, dass eine unzureichende Vernunft und Rationalität wie sie Kinder haben nicht sinnvoll zum Maßstab der Beurteilung von Urteilen als wahr oder Handlungen als moralisch herangezogen werden kann. Heranwachsende sind gerade dadurch definiert, dass sie nicht schon in vollem Umfang Personen sind. Denn ihnen fehlen noch die Fähigkeiten zu einem selbstbestimmten Leben. Zudem sind wahre Urteile, die eine Person gefällt hat, immer und überall wahr. Ihre Geltung ist nicht an den Urteilenden oder eine andere Person gebunden. Je nach philosophischer Theorie gelten aber gewisse Voraussetzungen für sie. So muss eine Übereinstimmung mit der Wirklichkeit gegeben sein, ein Konsens über die Richtigkeit des Urteils herrschen und/ oder das Urteil muss widerspruchsfrei in ein Gesamtgefüge von Überzeugungen integrierbar sein. 164 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X Zwar sind personale Urteilskompetenzen hierbei nicht ausgeschlossen, aber es spielt keine Rolle, wer der Urteilende ist. Wenn das Urteil wahr ist, könnte es jeder gefällt haben, ohne dass sich am Wahrheitswert etwas ändert. Entsprechend verfährt auch der Liberalismus seit seinen Anfängen bei Thomas Hobbes. Er schließt Überlegungen zur Entwicklung personaler Kompetenzen explizit aus.1 Gleiches scheint auch für John Stuart Mill zu gelten. In On Liberty heißt es: It is, perhaps, hardly necessary to say that this doctrine is meant to apply only to human beings in the maturity of their faculties.2 Diese Voraussetzung erklärt sich daraus, dass Freiheit nicht solchen Wesen zugeschrieben werden kann, auf die der Begriff der Freiheit nicht in vollem Sinne anwendbar ist. Eine Verteidigung der Freiheit wäre von Anfang an zum Scheitern verurteilt, wenn die, deren Freiheit mit Notwendigkeit verteidigt werden soll, gar keine oder nur eine unzureichende haben. Und umgekehrt können diese Fälle kein Einwand gegen das Freiheitspostulat sein. Daher kann sich die Untersuchung von Freiheit nur auf autonome Personen beziehen. Die These, dass es Freiheit überhaupt gibt, wird von unterschiedlichen Seiten angegriffen, beispielsweise von den Neurowissenschaften. Der Gegenbegriff zur Freiheit ist aber der Zwang. Freiheit und Zwang stehen in einem diametralen Gegensatz zu einander: je mehr staatlicher oder moralischer Zwang in einer Gesellschaft herrscht, desto weniger Freiheit und umgekehrt. Liberalistische Ansätze beabsichtigen, die Notwendigkeit der Freiheit zu erklären bzw. zu verteidigen und damit jedem, der einen bestimmten Grad an Zwang für notwendig hält, rechtfertigungspflichtig zu machen. Zwang erscheint als Beseitigung von Freiheit. Diese kann höchstens durch Beseitigung von Zwang zurückgewonnen werden. Damit ist aus liberalistischer Sicht Freiheit grundlegender als der Zwang. Diese Sicht ist jedoch gewissermaßen statisch. Nimmt man die Perspektive der Entwicklung ein, so zeigt sich ein anderes Bild. Denn zur Konstitution der Freiheit der Person gehört, dass sie sich aus dem Zustand der Unfreiheit zur Freiheit entwickelt. Und als ein unfreies Wesen bedarf es eines gewissen Grades an Zwang, um nichts Falsches oder Schädliches zu tun. Es ist nicht durch den Zwang unfrei, aber es unterliegt den Zwang anderer (freier) Personen, um (im besten Fall) selbst ein freies Wesen zu werden.3 Daher geht in der Entwicklungsperspektive der Zwang der Freiheit voraus. Diese Sichtweise lässt sich nicht einfach dadurch wegerklären, dass es nur eine Beschreibung der Genese von Personalität darstellt und insofern nichts zur systematischen Begründung von Freiheit leistet. Vielmehr spricht nichts dagegen, die Konstitution der Person begrifflich in der Perspektive seiner Entwicklung zu analysieren. Personen sind keine historischen Objekte, sondern diesen kann der Status einer Person zugeschrieben werden. Damit kann man ihnen auch die Voraussetzungen, die der Begriff impliziert, zuschreiben. So behandelt Mill in seinen Ausführungen die Frage nach der Entwicklung 165 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X der notwendigen Fähigkeiten dann doch. Diese Frage bleibt aber ein Teilproblem in der Erörterung der Freiheit. Der gegensätzliche Zugang zum Begriff der Freiheit scheint mir der grundlegende Unterschied in Mills Freiheitsschrift gegenüber dem von ihm rezipierten Humboldt zu sein. Es gibt unterschiedliche Ansichten darüber, ob Humboldt ein liberaler oder ein konservativer Denker war.4 Diese Frage steht hier nicht im Zentrum, wenngleich dieser Beitrag dazu dienlich sein kann. Vielmehr geht es mir darum, auf eine Konsequenz aufmerksam zu machen, die aus dieser unterschiedlichen Herangehensweise folgt. Diese ergibt sich daraus, dass Mill nicht den naturphilosophisch fundierten Personbegriff von Humboldt übernimmt, obwohl er sich seine Grundthese aus Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen zu Eigen macht. Die daraus folgenden Erklärungsstrategien des Freiheitsbegriffs sollen systematisch in historischer Abfolge dargestellt werden, so dass sich Mill Rezeption von Humboldts Schrift zugleich als Revision zeigt. 1. Humboldts Freiheitsbegriff Humboldt nimmt in seiner Schrift Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen, wahrscheinlich aus dem Jahr 1792, eine Erklärung von Freiheit vor, die Teil seiner Bildungstheorie ist. Mit dieser Theorie beabsichtigt er zu erklären, wie sich ein Mensch seine eigene Identität schafft. Indem der Freiheitsbegriff die gesellschaftlichen Voraussetzungen dafür benennt, wird Freiheit als eine Bedingung zu ihrer Realisierung angesehen. Die Möglichkeit einer freien Gesellschaft beruht aber darauf, dass Menschen die Fähigkeit haben, frei zu denken und zu handeln. Als Teil seiner Bildungstheorie muss die Erklärung der Freiheit m. E. von Humboldts Konzeption menschlicher Individualität her interpretiert werden. Da dieses in seiner genannten Schrift weniger differenziert ausgeführt ist, werden weitere Schriften von ihm herangezogen. 1) Individuelle Identität Die individuelle Identität ist nach Humboldt in erster Linie keine gesellschaftliche Bestimmung, sondern ergibt sich aus dem Bildungsprozess des Individuums. In der Erklärung des Bildungsbegriffs geht Humboldt auf Aristoteles zurück, indem er dessen Dynamis- und Energeia-Konzeption aufgreift, um die erste Natur des Menschen zu bestimmen.5 So wie Energeia die Tätigkeit bezeichnet, gibt Dynamis die Fähigkeiten an, aus denen die Tätigkeiten hervor gehen. Die Möglichkeiten des Handelns (hiermit sind immer auch Denken und Sprechen gemeint) sind begrenzt durch die Fähigkeiten, die in der Natur des Menschen liegen, etwa Verstand, Einbildungskraft, Anschauung.6 Den Prozess der Aktualisierung der Fähigkeiten erklärt Humboldt durch den Kraft-Begriff, die dem Menschen als 166 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X ein spezifisches Lebewesen ausmacht. Damit sind keine deterministischen Annahmen verbunden. Diese Kraft ist das wahre a priori7, weil ihr nichts8 weiter zugrunde liegt und die Entwicklung des Menschen daraus hervor geht. Das a priori ist für Humboldt im Gegensatz zu Kant ein reales, das aufgrund seiner Ursprünglichkeit die erste Ursache aller menschlichen Lebensvollzüge darstellt, die nur Ausdrücke dieser Kraft unter je konkreten Umständen sind. Aber letztlich ist alles Wesentliche schon mit der Kraft gegeben. Daher setzt Humboldt sie mit dem Personsein gleich: Es ist die primitive Kraft, das ursprüngliche Ich, die mit dem Leben zugleich gegebne Persönlichkeit. Auf ihr beruht die Freiheit des Menschen, und sie ist daher sein eigentlicher Charakter.9 Da der Mensch aber mehr als die Summe seiner Handlungen ist, liegt noch eine weitere Dimension im Kraft-Begriff, nämlich eine spezifische Wirkungsweise, die dessen Einheit ausdrückt. Der Mensch stellt sich der Welt immer in Einheit gegenüber. Es ist immer dieselbe Richtung, dasselbe Ziel, dasselbe Maß der Bewegung, in welchen er die Gegenstände erfasst und behandelt. Auf dieser Einheit beruht seine Individualität.10 Diese Einheit ist der Charakter des Menschen. Darin drückt sich eine Kontinuität im Lebensvollzug aus, so dass sich eine Richtung darin zeigt. Damit ist zugleich eine eigene Ordnung der Kräfte bzw. Fähigkeiten verbunden, die unterschiedlich stark realisiert werden. Diese Ordnung ist eine übergeordnete Einheit, die mehr als die Summe der einzelnen Fähigkeiten sein muss, weil diese relativ zu einzelnen Lebensphasen entwickelt sind. So kann man beispielsweise nicht sagen, dass einem Kleinkind motorische Fähigkeiten fehlen, wenn diese im Vergleich zu anderen Kleinkindern ausgebildeter sind, aber im Vergleich zu Erwachsenen weniger ausgebildet. Die motorischen Fähigkeiten sind daher ein ausgeprägtes Charaktermerkmal dieses Kleinkindes. Der Bildungsprozess kann sich auch nicht auf den technischen Erwerb einzelner Fähigkeiten beschränken. Denn Bildung ist etwas so Allgemeines [...], dass es den ganzen Menschen in allen seinen Kräften und allen seinen Aeußerungen umfasst.11 Sie betrifft den Charakter insgesamt, indem sie die in dieser Einheit liegenden Fähigkeiten gemäß seiner Struktur entwickelt. Daher ist die Charakterbildung für Humboldt das grundlegende Phänomen. Durch sie realisiert sich die Individualität aus sich selbst heraus als Aktualisierung einer bestimmten gegebenen Ordnung von Fähigkeiten im Handeln. Diese je besondere Einheit eines Menschen macht sein Personsein aus. Personen sind gleichermaßen durch die Realisierung allgemeiner menschlicher Fähigkeiten ausgezeichnet. Da diese bei jedem Menschen eine unterschiedliche Einheit haben, sind sie zugleich individuell verschieden. Die Individualität entwickelt sich aus ihr selbst heraus. Durch die Aktualisierung eigener Fähigkeiten hängt dieser Prozess wesentlich von dem Einzelnen selbst ab. Was er macht, drückt in der Regel seinen Charakter aus. Auch wenn Abweichungen möglich sind, so geht es dem Einzelnen gerade darum, der zu sein, der er seinem Charakter nach schon ist. Daher hat die 167 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X Entwicklung der Individualität eine teleologische Struktur.12 Die Realisierung des eigenen Charakters ist die Aufgabe des Subjekts, die ihm von Natur aus zukommt. Indem es sie bewältigt, wird ihm Individualität zugeschrieben. Man kann von einer Aufgabe sprechen, weil die je konkreten Handlungsumstände Herausforderungen für die Realisierung einzelner Fähigkeiten darstellen. Andererseits ist es tautologisch von einer Aufgabe zu sprechen, da die charakteristischen Fähigkeiten deswegen charakteristisch sind, weil sie entsprechend realisiert werden. Daher ist die Frage, was Fähigkeiten leisten und inwiefern sich die Person daraus konstituieren lässt. Der Charakter verwirklicht sich in der Auseinandersetzung mit der Welt. Je nachdem, welche Handlungsmöglichkeiten in ihr bestehen, kann der Charakter gebildet werden. Die Möglichkeiten hängen von der Vielfältigkeit der Welt ab. Nicht ein bestimmter Zustand der Welt ist der Beste, sondern die größtmögliche Vielfalt dient der Charakterbildung. Denn um diesen zu bilden sucht er [der Mensch], soviel Welt, als möglich zu ergreifen, und so eng, als er nur kann, mit sich zu verbinden.13 So gibt der Charakter immer ein bestimmtes Bild von der Welt wieder, indem er sie nach seinen Maßstäben strukturiert, ohne dadurch etwas von ihr völlig auszuschließen. Bevor die daraus hervor gehenden Urteile als wahr oder falsch beurteilt werden können, muss man erst einmal, so Humboldt, einen Charakter unterstellen. Die konkreten äußeren Einflüsse können aufgrund der prinzipiellen Offenheit des Individuums nicht determinierend sein. Insofern beinhaltet die Individualität eine Abgrenzung zu ihnen. Jede Aneignung von Welt hat somit immer auch den Effekt, die Fähigkeiten zu entwickeln, so dass die Handlung nicht allein auf einen Gegenstand gerichtet ist, sondern als solche zwangsläufig auf die Fähigkeiten zurückwirkt. Daher geht das Individuum nicht vollständig in einer Kultur auf bzw. ist nicht auf eine bestimmte kulturelle Praxis festgelegt. Rein und in seiner Endabsicht betrachtet, ist sein Denken immer nur ein Versuch seines Geistes, vor sich selbst verständlich, sein Handeln ein Versuch seines Willens, in sich frei und unabhängig zu werden, seine ganze äussre Geschäftigkeit überhaupt aber nur ein Streben, nicht in sich müssig zu bleiben.14 In diesem Sinne sind die Fähigkeiten eines Charakters natürlich. Dies bedeutet aber nicht, dass sich ein Charakter ohne alle Kultur entwickeln könnte. Die Individualität erscheint in dieser Darstellung abstrakt, weil sie sich allein auf den Vollzug des menschlichen Lebens bezieht. Es ist nicht bloß die Verschiedenartigkeit menschlicher Lebensweisen gemeint, die jeweils aus den eigenen Entscheidungen resultieren, sondern die unterschiedlichen Begabungen, die den spezifischen theoretischen und praktischen Weltbezug konstituieren und damit auch die Entscheidungen. Das Individuum ist damit als ein natürliches von der Kultur analytisch unterschieden, aber nicht faktisch getrennt, weil einerseits die Kultur zumindest zu den bereits genannten 168 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X Umständen der Handlung gehören und andererseits die kulturelle Praxis nur von Individuen vollzogen werden kann. 2) Vernunfterkenntnis Der Bildungsprozess des Menschen umfasst nach Humboldt bereits eine Form von Freiheit, nämlich die, die in seiner Natur liegt. Mit der Annahme einer solchen Freiheit verläuft die Argumentation in gleicher Weise wie bei der gesellschaftlichen Freiheit, indem der Zwang erst aus ihr heraus erklärt wird. Dieses Vorgehen entgeht aber dennoch nicht dem Anspruch, den (von der Gesellschaft ausgehenden) Zwang zu berücksichtigen und auf dieser Grundlage die Möglichkeit gesellschaftlicher Freiheit zu erklären. Dieser Gang lässt sich bei Humboldt rekonstruieren. Die natürliche Freiheit15 geht nicht unmittelbar aus der Entwicklung der Fähigkeiten hervor. Denn in einer bloße Lebensregung durch Neigungen liegt noch keine Freiheit und ist daher noch keine Handlung. Diese geht von der Einheit des Charakters aus. Die Möglichkeit dazu beruht nach Humboldt auf der Erkenntnis von (eigenen und fremden) Charakteren durch die Vernunft. Die Vernunft ist ebenfalls eine natürliche Fähigkeit und der Grad ihrer Entwicklung hängt selbst vom individuellen Charakter ab. Zugleich ist aber auch dessen Verwirklichung im Handeln durch die Wirksamkeit der Vernunft bestimmt. Indem die Natur immer eine überwiegende Kraft begünstigt, und die bildende Vernunft zugleich den übrigen ihre freie Wirksamkeit sichert, verbinden sich alle fester und inniger miteinander, lernen gleichsam eine die Bahn der andern gehen, und bringen neue Verbindungen und Formen hervor.16 Das Vernunftvermögen strukturiert die Ausübung aller übrigen und realisiert dadurch den individuellen Charakter. Mit der Vernunft liegt die Autorität des Handelns beim Subjekt, weil einzelne Neigungen ihrer Kontrolle unterliegen. D. h. sie können vollzogen werden oder nicht. Da der Vollzug eine Einübung der Fähigkeiten bedeutet, wirkt eine Handlung immer auch auf den Charakter zurück, so dass er sich in eine bestimmte Richtung weiter entwickelt. In welche Richtung er sich entwickelt, hängt eben davon ab, was für ein Charakter er ist. Diese Erklärung der Identität des Charakters ist nicht tautologisch. Es geht vielmehr darum, dass dieser seine Identität einsehbar macht, wenn äußere Umstände ihn nicht daran hindern. Die Selbstbestimmung der Identität eines Charakters ist kein rein natürliches Geschehen. Es ist eine Auseinandersetzung mit der Kultur, durch deren Einfluss die eigene Natur begriffen und verfeinert wird, so dass die vollendete Bildung erreicht wird.17 Die Kultur steht hier nicht in Gegensatz zur individuellen Natur, sondern ist zu seiner Natur geworden, wie die Natur der Menschen kultiviert wurde. Auch wenn das Handeln im vollen Sinne erst aus einem selbstbestimmten Charakter erfolgen kann, so ist doch die Selbstbestimmung ebenfalls eine Fähigkeit, die sich entwickeln muss. Daher ist 169 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X der Charakter nur in seinen Fähigkeiten von Natur aus gegeben, bedarf für seine Realisierung aber einer Kultur. Ihre Leistung liegt darin, den Individuen zur Verwirklichung ihrer natürlichen Fähigkeiten zu verhelfen. Dazu muss Humboldt jedoch den Einfluss durch die Normativität, die eine Kultur wesentlich kennzeichnet, für so unverbindlich erklären, dass dessen Aneignung nach eigenem Belieben erfolgen könnte. Humboldts Anliegen scheint mir daher in erster Linie dahin zu gehen, dass bei der Bezugnahme auf kulturell gegebene Verständnisse von Personsein die Möglichkeit des Subjekts gegeben sein muss, sich über diese Verständnisse selbst zu artikulieren und nicht bloß eine personale Rolle zu übernehmen, weil es von Seiten der Gesellschaft geboten ist. In dieser Artikulation der eigenen Vorstellung des Personseins als Grundlage des eigenen Handelns ist das Individuum authentisch. Das Handeln drückt die Identität mit der eigenen Natur aus und das Individuum kann sich selbst zur Kultur ins Verhältnis setzen. Der eigentliche Bezugspunkt ist für Humboldt aber nicht die Kultur, sondern die Menschheit insgesamt. Zwar ist die Kultur, insbesondere aufgrund ihrer Sprache, für die Charakter-Erkenntnis eine notwendige Bedingung, doch werden die Charaktere in ihrer Vielfalt erst in der Bezugnahme auf die Menschheit erfahren. Damit ist die Ebene der Kultur nicht ausgeschlossen, aber sie offenbart nur einen Teilbereich dieser Vielfalt. Die Identität des eigenen Charakters ergibt sich nicht nur aus seiner begrifflichen Bestimmbarkeit, sondern v. a. aus dem Vergleich mit anderen Charakteren. Die Menschheitsperspektive stellt jedoch bestimmte Anforderungen an diesen, da die Bezugnahme auf die Menschheit eine Abstraktionsleistung erfordert, die sowohl die Verschiedenartigkeit der Menschen als auch deren Gemeinsamkeit als Menschen erfasst. Hierzu ist eine Reflexion notwendig, durch die von eigenen zufälligen Eigenschaften abgesehen und das eigene Wesen, der Charakter, mit der übrigen Menschheit in Beziehung gesetzt wird. Denn alles hier [in der Dichtung; L.O.] Geschilderte arbeitet allein darauf hin, die Wirklichkeit, so rein und so treu als möglich, zum Symbol der Unendlichkeit zu machen; indem man einestheils nur das an ihr heraushebt, was vorzüglich fähig ist, die sich in ihr ausprägende Idee darzustellen, und anderntheils das Gemüth stimmt in ihren Zügen nur diese Idee zu erkennen.18 Diese Idee ist das Wesen des Menschen, seine Person. Die Menschheit bringt zwar nicht die Normativität der Kultur mit sich, liefert jedoch zwei Maßstäbe für den individuellen Charakter. Zum einen liegt eine gewisse Normativität darin, dass die theoretisch-systematische Fähigkeit zur Charakter-Erkenntnis von Humboldt als wohl höchste Fähigkeit des Menschen angesehen wird, indem er dies zum Kennzeichen des Genies macht und die griechische Kunst dafür schätzt.19 Der Grund dafür ist, dass erst mit der Erkenntnis des eigenen Charakters (was nicht nur beim Genie der Fall ist) die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten als Aufgabe begriffen werden kann. Der Charakter soll sich in den Handlungen verwirklichen. Da dies aufgrund 170 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X der Umstände einer Handlungssituation nicht schon im Handeln selbst liegt, bedarf es der Kontrolle der Ausführung. Der durch Vergleich mit anderen sich selbst erkannte Charakter ist dann die Begründung für die Rechtmäßigkeit und die Erklärung für den Erfolg der Handlungen. Die Handlungen, die nicht dem Charakter entsprechen und bloß der aktuellen Situation geschuldet sind, können erst durch diese Einsicht in den eigenen Charakter korrigiert oder von vornherein unterbunden werden. Durch die explizite Berücksichtigung des eigenen Charakters erhält das eingangs genannte ursprüngliche Ich (s. Abschnitt I 1)) seinen Sinn. Denn Ich zu sagen, verweist dann auch dem Gehalt nach auf den eigenen Charakter und liegt nicht nur in der Performativität des Sagens. Ob das Ich-Sagen diesen Sinn jeweils tatsächlich hat, hängt von davon ab, wie sehr der Charakter durch das Erkenntnisvermögen definiert ist. Zum anderen ist die möglichst umfassende Entwicklung der eigenen Fähigkeiten der Maßstab, den die Menschheit vorgibt. Denn die Entwicklung der Menschheit ist von der Entwicklung der Menschen in ihrer Individualität, durch die sie ihren Platz in der Menschheit einnehmen, abhängig. Deren Vervollkommnung trägt somit zur Vollkommenheit der Menschheit bei. Daher sind große Persönlichkeiten für Humboldt keine Vorbilder, sondern Menschen, deren Charakter besonders anschaulich ist.20 Zur Vervollkommnung ist die ideelle Erkenntnis des Menschseins eine Voraussetzung wie die natürliche Individualität eine Voraussetzung für das Handeln ist: Es giebt keine freie und kraftvolle Aeusserung unsrer Fähigkeiten ohne eine sorgfältige Bewahrung unsrer ursprünglichen Naturanlagen; keine Energie ohne Individualität. Deswegen ist es so nothwendig, dass eine Charakteristik, wie die eben geschilderte [d.h. des menschlichen Gemüths in seinen möglichen Anlagen und in den wirklichen Verschiedenheiten, welche die Erfahrung aufzeigt; L.O.], dem menschlichen Geiste die Möglichkeit vorzeichne, mannigfaltige Bahnen zu verfolgen, ohne sich darum von dem einfachen Ziel allgemeiner Vollkommenheit zu entfernen, sondern demselben vielmehr von verschiedenen Seiten entgegenzueilen.21 Im Gegensatz zur Verwirklichung des Charakters liegt in der geschichtlichen Entwicklung der Menschheit also keine teleologische Annahme zugrunde. Die darin enthaltenen kulturellen Phänomene erscheinen daher auch nur im Hinblick auf das Personsein. Beide Merkmale der Menschheit, die Erkennbarkeit des Charakters durch sie und die Entwicklung zur Vollkommenheit, sind die Gründe dafür, dass die Menschheit kein bloßer Umstand des Handelns sein kann. Hieraus ergeben sich Schlussfolgerungen für Humboldts Freiheitsbegriff. 3) natürliche und gesellschaftliche Freiheit Der Bildungsprozess des Menschen ist nach Humboldt die Entwicklung der eigenen natürlichen Fähigkeiten in der spezifischen Individualität durch diese selbst. Als Selbst-Entwicklung der Natur liegen die Grenzen dieser 171 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X Entwicklung in der Natur selbst und es ist die Aufgabe des Menschen, den Bereich des Möglichen bis zu diesen Grenzen auszufüllen. Darin liegt nach Humboldt die natürliche Freiheit des Menschen, deren Realisierung v. a. von der Vernunft abhängt. So ist der verwirklichte Charakter die ursprüngliche Natur berichtigt und gebilligt durch die Vernunft und die Freiheit.22 Der dazu notwendige Einfluss der Kultur macht diese Entwicklung auch von der gesellschaftlichen Freiheit abhängig. Denn sie ist notwendig, um Personen als solche begreifen zu können und deren Handlungsspielräume erlauben die Entwicklung der eigenen Fähigkeiten. Beides sind Bedingungen dafür, dass die Vernunft praktisch wirksam sein kann, so dass die Mitmenschen als Personen betrachtet und behandelt werden können. Die Gebundenheit an eine Kultur wirkt sich auf die Entwicklung der eigenen Vernunft aus. Denn für deren Ausbildung sind andere Personen notwendig, die als solche erkannt werden sollen (dies können auch fiktionale Personen sein). Die Entwicklung der Vernunft zur Erkenntnis der Mitmenschen als Personen kann schon allein aus deren Fehlen und deren Notwendigkeit für die selbständige Entwicklung des eigenen Charakters als eine Forderung an die Erziehung interpretiert werden. Die Erziehung soll diese Vermittlung des Personseins gerade durch Berücksichtigung unterschiedlicher Menschen leisten. Humboldt hatte mit seiner Schrift Plan einer vergleichenden Anthropologie selbst diese Intention. Zwar ist die Schrift unvollendet, aber mit der vergleichenden Darstellung verschiedener Charaktere ist die aufklärerische Absicht verbunden, dem Leser Einsicht in diese Sphäre zu geben und damit einen Bezug zu dessen eigenen Charakter herzustellen.23 Insofern sieht sich Humboldt als jemand, der Hilfestellung zur Selbstbildung gibt, in der die Vernunft zur Tätigkeit angeregt wird. Die Menschheitsperspektive ist konstitutiv für den praktischen Umgang mit den Mitmenschen. Denn diese werden darin ebenso als Personen behandelt wie man sich selbst als Person versteht und sein Handeln darauf hin ausrichtet. Die Mitmenschen werden nicht nach ihrer Nützlichkeit für eigene Zwecke betrachtet, sondern im Hinblick auf ihre Individualität und mit der Würde, die einer Person als Teil der Menschheit zukommt24 oder, mit Kant gesprochen, als Zweck an sich selbst. So entwickelt Humboldt aus den charakteristischen Fähigkeiten eines Menschen einen tugendethischen Ansatz, der die Individualität eines jeden Charakters würdigen soll, indem die Charaktere als solche als Personen betrachtet und behandelt werden sollen. Die Normativität kann m. E. aus der Betrachtung anderer als selbstbestimmte Wesen, die sich darin nicht von dem Betrachtenden unterscheiden und mit ihm an der Entwicklung der Menschheit teilhaben, gefolgert werden. Die Würde betrifft diese allgemeine Bestimmung, die durch den Erziehungs- und Bildungsprozess in Humboldts Theorie erklärt werden kann. Das theoretische Erkennen durch und das Handeln nach der Vernunft lassen, 172 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X so ist Humboldts Gedanke, die Vernunft wirklich werden. Eine Gesellschaft ist dann frei, wenn alle Individuen in ihr die Vernunft zur Grundlage ihres Denkens und Handelns machen. Für Humboldt ist dies in erster Linie das Resultat der natürlichen Entwicklung Fähigkeiten im individuellen Bildungsprozess. Die natürliche Freiheit geht in die gesellschaftliche über. Allerdings hängt die Verwirklichung dieses Zustandes wesentlich von der Einführung jedes einzelnen in eine Kultur ab. Dies betrifft im Hinblick auf das Handeln die äußeren Umstände. Vor allem aber setzt das Begreifen des Personseins eine Sprache voraus, in der die Begriffe artikulierbar sind.25 Sprache ist nach Humboldt die Tätigkeit des Sprechens und damit die Artikulation von Gedanken im Gegensatz zu einem rein grammatikalischen Sprachverständnis. Sie ist die sich ewig wiederholende Arbeit des Geistes, den articulirten Laut zum Ausdruck des Gedanken fähig zu machen.26 Die Artikulation vollzieht sich in je konkreten Sprachen durch deren Sprecher. Die gemeinsame Sprache offenbart den Charakter, der somit nicht nur anhand von (nonverbalen) Handlungen erkannt werden kann. Eine solche Sprachgemeinschaft ist nach Humboldt die Nation: Da die Entwicklung seiner menschlichen Natur im Menschen von der Sprache abhängt, so ist durch diese unmittelbar selbst der Begriff der Nation als der eines auf bestimmte Weise sprachbildenden Menschenhaufens gegeben.27 Die Gemeinsamkeit der Sprecher lässt auf eine relative Homogenität des Charakters schließen, so dass Humboldt, zumindest in Bezug auf das antike Griechenland, einer Nation einen Nationalcharakter zuschreibt.28 Damit stellt sich die Frage, ob sich der Nationalcharakter aus den Individualitäten entwickelt oder diese aus jenem. Nur im ersten Fall wäre die natürliche Freiheit der Ausgangspunkt für die gesellschaftliche Freiheit in einer Nation. Der Gedanke der Entfaltung der eigenen Fähigkeiten muss auch für die Sprache vorausgesetzt werden. Doch gerade deshalb verhält sich der Einzelne nicht von Anfang an frei zur Sprache. Er übernimmt die, die ihm beigebracht wird, ohne sich bewusst eine auszuwählen. Die Artikulation eigener Gedanken erfolgt dann innerhalb dieser Sprache. (Auf dieser Grundlage können dann auch weitere gewählt werden.) Die Artikulation der Gedanken ist jedoch immer davon abhängig, von anderen verstanden zu werden.29 Die Einübung sinnhafter Kommunikation erfolgt in der Erziehung. Darin wird die Normativität der Kultur, an der der Heranwachsende teilhaben soll, vermittelt. Diese Vermittlung ist aber notwendig präskriptiv. D. h. der Heranwachsende kann sich nur den gegebenen Bedingungen anpassen. Diese dürfen erzwungen werden, wenn sie die selbständige Aneignung durch den Einzelnen weder überfordern noch unterdrücken. Insofern ist die Kultur einer Nation vorgängig für die geistige Entwicklung. Mit ihr kann sie aber überschritten und die Perspektive der Menschheit eingenommen werden. Diese Einschränkung der Individualität durch die Kultur einer Nation liegt in Humboldts Konzeption der Selbstbildung zur Individualität. Sie wird aber 173 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X nicht vollständig entfaltet, weil die Menschheit der wesentliche Bezugspunkt ist.30 Weil in Humboldts Konzeption die Kultur einer Nation schon den Umgang der Menschen im Hinblick auf die Menschheit miteinander regelt, kommt dem Staat nur noch die Funktion einer Sanktionsmacht zu. Wenn sich jeder Mensch an der Würde der Menschheit orientieren würde, wären die Gesetze überflüssig.31 Im Umkehrschluss bedeutet das, dass der Staat nur eine Sanktionsmacht für unvernünftige Handlungen ist. Solche Handlungen sind die, die ausschließlich nach Nützlichkeitsüberlegungen ausgeführt werden, da der andere hierbei nur nach den Zwecken des Handelnden beurteilt wird. Damit fehlt dem Handeln die moralische Grundlage und es bedarf der rechtlichen Kontrolle. Der Zwang, den der Staat dabei ausübt, ergibt sich aus der defizitär entwickelten Vernunft des Handelnden. Er erhält seine Berechtigung daraus, dass er den Mangel an Vernunft kompensieren muss. Wenn der Staat durch Zwang in die freie Selbstbestimmung seiner Bürger eingreifen würde, würde er unzulässigerweise deren Freiheit beschneiden.32 Mögliche positive Maßnahmen können daher nur als Anregung zur Selbstbildung verstanden werden. Der einzige unvermeidliche Zwang geht also von der Kultur aus, ist aber zugleich die Grundlage für die Verwirklichung der individuellen Freiheit in konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen. 2. Mills Freiheitsbegriff 1) Staat und Gesellschaft als Garanten der Freiheit Nach Mill sind die Bereiche, in dem Freiheit und Zwang existieren, der Staat und die Gesellschaft. Es handelt sich einerseits um die rechtliche und andererseits um die moralische Dimension menschlichen Zusammenlebens. Diese ist zwar in jener staatlichen inkorporiert, verfügt aber über eine eigen Funktionsweise. Das Recht legt den Handlungsspielraum der Bürger eines Staates fest, während die Gesellschaft auch die Einstellung der Mitmenschen beurteilt. Die Moral entscheidet über die Denkfreiheit. Entsprechend ist On Liberty gegliedert. Der Staat stellt aber keine Gegenmacht zur Gesellschaft dar, sondern ist eine Art Institutionalisierung derselben. Die herrschende Moral einer Gesellschaft manifestiert sich im Staat. Dennoch sind die Freiheitsspielräume nicht identisch. Denn eine moralische Missbilligung einer Einstellung muss noch nicht rechtlich relevant sein. Zugleich kommt nur dem Staat die Aufgabe einer physischen Sanktionierung, etwa als Gefängnisstrafe, zu. So sind die Freiheitsspielräume in der Gesellschaft enger als im Staat (verstanden als eigenes Funktionsmechanismus), aber im Staat werden die Überschreitungen härter bestraft, da die physische Existenz völlig ausgelöscht werden kann. 174 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X Aufgrund dieser Unterscheidung führt Mill gleich zu Beginn zwei unterschiedliche Begrenzungen des Bereichs der Freiheit ein. Der Staat darf dann eingreifen, wenn die Sicherheit eines seiner Bürger gefährdet ist und eine moralische Ächtung ist legitim, wenn jemandes Handeln die Freiheit eines anderen einschränkt.33 Gerade das letzte Kriterium ist sehr vage und man muss fragen, ob nicht schon die räumliche Nähe, in der zwei Menschen ihre Handlungen unabhängig voneinander ausführen, ihre Handlungsfähigkeit gegenseitig einschränken. Da es Mill aber um ein Handeln auf der Basis von Moralvorstellungen geht, ist damit eher der Gedanke gemeint, dass niemand etwas für sich gutheißen soll, was andere daran hindert, ihrerseits etwas zu tun, das sie gutheißen. Zwei Handlungen, die unabhängig voneinander erfolgen, sind nur dann moralisch, wenn jeder die Handlung des anderen nicht als hinderlich für sich erachtet. Das Prinzip ist weiter gefasst als das Prinzip der Einigkeit, nach dem beide auf einer gemeinsamen moralischen Grundlage handeln müssen sowie die Kooperation, in der sich beide absichtlich beschränken, um gemeinsam zu handeln. Die in Mills Prinzip liegenden Spielräume sind aber wesentlich von zwei Faktoren abhängig, nämlich die Heterogenität der Gesellschaft und die Toleranz der Handelnden. Jene beschreibt die Notwendigkeit unterschiedliche Moralvorstellungen miteinander vereinbar zu machen. Denn je größer die Schnittmenge an Gemeinsamkeiten ist, desto unproblematischer ist das Prinzip. Die Toleranz bezieht sich darauf, dass das Maß der eigenen Beeinträchtigung im Verhältnis zur Sanktionswürdigkeit gesehen werden muss. Der Einzelne hat immer einen Ermessensspielraum in Bezug auf die Beurteilung anderer Moralvorstellungen. Genau genommen handelt es sich bei dem Prinzip selbst schon um eine Ethik. Diese soll ein Regulativ für unterschiedliche Moralvorstellungen darstellen. Deren parallele Existenz ist ein Ausdruck der Freiheit einer Gesellschaft. Einer solchen pluralistischen Gesellschaft droht besonders dann Gefahr, wenn es eine homogene Mehrheit gibt, die sich entweder als gesellschaftliche Mehrheit gegen die Minderheit wendet, oder den Staat für ihre Zwecke instrumentalisiert. Den ersten Fall soll das Moralprinzip unterbinden, den zweiten die Beschränkung der Berechtigung zur Intervention des Staates auf den schlimmsten Notfall. Mill zufolge ist es also nicht einmal die Aufgabe des Staates, die Pluralität seiner Gesellschaft aktiv sicher zu stellen. Die Freiheit generiert sich allein aus der Gesellschaft heraus. Versteht man Mills Prinzip staatlichen Handelns als eines der Nichteinmischung, kann man es als negative Freiheit ansehen.34 Freiheit im positiven Sinne besteht zwar in der Gesellschaft, geht aber nicht aus ihrer allgemeinen Struktur hervor, sondern gewährleistet die größtmögliche Selbstentfaltung in Denken, Sprechen und Handeln der Individuen. Mills Begriff der Freiheit liegt die Annahme zugrunde, dass sich jeder Mensch zu 175 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X dem entwickeln können soll, was er seiner eigenen Überzeugung nach für gut hält. 2) Individuelle Freiheit Die Freiheit im positiven Sinne geht von den Individuen aus, die eine Gesellschaft konstituieren. Deren Heterogenität liegt nicht schon im Begriff der Individualität. Allerdings muss sie unterstellt werden, um dem Problem der Freiheit Geltung zu verschaffen. Die Freiheitsprobleme in einer homogenen Gesellschaft (wenn überhaupt welche bestehen) sind denen in der heterogenen Gesellschaft untergeordnet, wie es sich aus Mills Prinzip ergibt. Denn die Toleranz der Handlungen anderer fällt umso leichter je gleichartiger die Handlungen sind. Darüber hinaus ist die Heterogenität nach Mill erstrebenswert. Denn durch die Meinungsvielfalt werden Aussagen viel strenger auf ihren Wahrheitsgehalt hin geprüft bzw. die Falschheit leichter aufgedeckt. Autoritäre Maßnahmen der Unterdrückung von Minderheitsmeinungen erscheinen somit als unlautere Mittel, der Überprüfung der eigenen Urteile zu entgehen. Weil zur Überprüfung auch die Äußerung in der Öffentlichkeit gehört, behandelt Mill die Gewissensfreiheit unter den Gesichtspunkt der öffentlichen discussion, in der jeder die Möglichkeit zur Korrektur eigener Urteile hat.35 Die Korrigierbarkeit eigener Fehler ist für ihn the source of everything respectable in man either as an intellectual or as a moral being.36 Die Gewissensfreiheit zielt im Gegensatz zur Freiheit, wahre Urteile zu fällen, nicht auf gemeinsame Überzeugungen. Das eigene Gewissen wird vielmehr auf die Vertretbarkeit der aus ihr folgenden Handlung hin überprüft. Innerhalb einer Gesellschaft muss jedoch ein Prinzip gelten, das die Vielfalt der Überzeugungen auf ihre Verträglichkeit miteinander prüft. Erst dadurch erhalten sie ihre Legitimität. Zwar soll nach Mill der eigene Standpunkt durch die Prüfung von objections und difficulties verbessert werden,37 doch gibt er kein eindeutiges Kriterium für die Qualität einer Überzeugung an. Denn der Verweis auf einen Standpunkt der Unparteilichkeit bleibt vage.38 Darin ist die Fähigkeit zur Distanzierung von den eigenen Moralvorstellungen sowie die Bereitschaft zur Übernahme anderer Überzeugungen impliziert. Als ein formales Kriterium der Prüfung der Vereinbarkeit unterschiedlicher Moralvorstellungen miteinander kann es seine Anwendung in darin finde, ob eine Moralvorstellung andere gelten lässt. Somit wäre Mills eigenes Freiheitsprinzip eingeholt. Daraus kann man die Konsequenz ziehen, dass erst durch die Berücksichtigung dieses Prinzips Moralvorstellungen tatsächlich moralisch sind. Innerhalb des Freiheitsprinzips wird kein Kriterium für bessere oder schlechtere Moralvorstellungen angegeben. Dies bleibt dem Belieben des Einzelnen überlassen. Damit würden moralische Konflikte allerdings nur 176 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X durch die Beschränkung auf die reine Selbstanwendung, auch auf eine Gemeinschaft gleichgesinnter, gelöst. Denn jede Anwendung auf andere wäre ein Verstoß gegen das Freiheitsprinzip. Und wenn moralische Standpunkte miteinander übereinstimmen, ist keine Diskussion erforderlich. Der Zweck der Diskussion über die einzelnen Standpunkte erschöpft sich also im Schutz vor der Dogmatisierung des eigenen Standpunktes. Zugleich besagt die Unparteilichkeit, dass subjektive Neigung und Autorität, die sich eo ipso der Legitimierung verweigert, als Fundierung eines Urteils ausgeschlossen sind. Die Unparteilichkeit ist der Standpunkt, mit dem man seine Überzeugungen nach einem allgemeingültigen Kriterium beurteilt. Aber schon die praktische Haltung, mit der man seine Überzeugungen vertritt, ist unterschiedlich ausgeprägt. Entweder wird die eigene Moral und das eigene Wissen dogmatisch vertreten oder aus Einsicht in ihre Grundlagen. Ersteres bezeichnet Mill als despotism of custom,39 letzteres erfolgt durch learning the grounds of one´s own opinions,40 etwa der Beweis, auf den eine Theorie gegründet ist. Um Gewissheit über die (inhaltliche) Legitimität des eigenen Standpunktes zu haben, auf dessen Grundlage man andere Ansätze berücksichtigen kann, ist daher die Ausbildung von intellect und judgement notwendig.41 Die Einsicht in die innere Folgerichtigkeit ändert jedoch nichts an der Verwerflichkeit vom Standpunkt der Unparteilichkeit. Da die Gefahr der Dogmatisierung im ersten Fall größer ist als in der Haltung, die den Inhalt des eigenen Überzeugungssystems durchdenkt, ist der Standpunkt der Unparteilichkeit im ersten Fall dringender geboten und zugleich schwerer zu realisieren. Mit welcher Haltung man seine Moralvorstellungen vertritt, hängt auch von der Art der Moral ab. Denn wenn sie nur praktische Verhaltensanweisungen gibt oder im Gefühl fundiert ist, gibt es weniger zu durchdenken aus beispielsweise in der praktischen Vernunft Kants. Aber auch die faktischen Konstitutionsbedingungen der gesellschaftlichen Freiheit sind der Maßstab für individuelle Fähigkeiten. Die freie Gesellschaft setzt eine relative Homogenität der individuellen Fähigkeiten voraus. An der öffentlichen Diskussion über Wahrheit und Moral können nur Menschen teilnehmen, die ihre Position rechtfertigen können. Und nur so kann nach Mill dogmatische Erstarrung verhindert und Fortschritt erreicht werden. Die Pluralität der Überzeugungen setzt die Maßstäbe der Gültigkeit jeder einzelnen von ihnen. Der Erwerb der Kompetenzen ist die Bedingung für die Teilnahme an der gesellschaftlichen Entwicklung. Somit kennzeichnen sie nicht die Individualität der Menschen. Diese drückt sich zwar in einer bestimmten Überzeugung aus, basiert aber nicht auf einer individuellen Ausprägung menschlicher Fähigkeiten, die als allgemein menschliche von allen zu realisieren sind, während der Gehalt einer Überzeugung von anderen unterschieden und insofern individuell sein kann. Die formale Ebene der Fähigkeiten ist die allgemeine. Dagegen liegt die Individualität auf der 177 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X inhaltlichen Ebene der theoretischen und moralischen Überzeugungen. Mit der Entwicklung der allgemeinen menschlichen Fähigkeiten, Überzeugungen begreifen und beurteilen zu können soll gewährleistet sein, dass nur mündige Bürger an den Aktivitäten der gesellschaftlichen Öffentlichkeit teilnehmen. Denn nur sie können ihre Privatangelegenheiten selbständig bewältigen und das Freiheitsprinzip befolgen. Davon hängt wesentlich die Realisierung seines Personseins ab. Als Person unterscheidet sich der einzelne nicht wesentlich von den Mitmenschen. Diese Gleichheit ist vielmehr konstitutiv für die Gesellschaft, da bei Mill nur auf dieser Ebene öffentliches Handeln möglich ist. Die Mündigkeit wird von Mill nicht direkt in einen Zusammenhang mit der Identität des Einzelnen gebracht. Allerdings müssen beide miteinander vereinbar sein. D.h. jedes moralische Überzeugungssystem muss der gesellschaftlichen Voraussetzung entsprechen, andere Überzeugungssysteme für andere Menschen gelten zu lassen, um der Freiheit zu entsprechen. Alle Personen verhalten sich in einer freien Gesellschaft als Personen auf gleiche Weise. Darin liegt aber nur eine Gleichartigkeit und keine Gemeinsamkeit in dem Sinne, dass sie darin einander verbunden wären. Im Gegenteil, es handelt sich gerade um eine Beschränkung von Interaktion, den Status der Personalität der Mitmenschen durch Verzicht auf Zwang zu würdigen. Individuelle Freiheit wird also bei Mill so erklärt, dass das Prinzip der Freiheit in allgemeinen menschlichen Fähigkeiten manifestiert ist. Der Zwang liegt im Gebrauch derselben zu Zwecken, die den anderen daran hindert, seine eigenen anzuwenden, d. h. autonom Entscheidung über seine Lebensweise zu fällen. Die Pluralität einer Gesellschaft drückt sich in der Individualität der ihr zugehörigen Personen aus. Wahre Aussagen und gültige Moralvorstellungen variieren von Person zu Person. Deren Entwicklung geht mit der Ausbildung der personalen Kompetenzen einher. Begriffsvermögen und Urteilskraft können sich nicht ohne den Bezug auf einen konkreten Inhalt entwickeln. Daraus resultiert ein individueller Charakter. Dieser ist nur als ein Teil der Gesellschaft wirklich. Doch bevor man sagen kann, dass er einen Beitrag zur Pluralität der Gesellschaft leistet, muss dessen Zustandekommen erklärt werden. In einer Hinsicht bleibt Mill vage, wenn er sagt: A person whose desires and impulses are his own – are the expression of his own nature, as it has been developed and modified by his own culture – is said to have a character. One whose desires and impulses are not his own, has no character, no more than a steam-engine has a character.42 Die Betonung liegt in diesem Zitat auf der natürlichen Verfassung des Menschen. desires und impulses sind die notwendigen Bedingungen für die Charakterbildung. Denn erst durch sie entwickeln sich auch die Fähigkeiten im Lebensvollzug. Die Richtung, in die man sich entwickelt liegt aber nicht in den Begierden, sondern hängt von his own culture ab.43 Sie kann aber nicht dem 178 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X Individuum allein angehören, weil es sich sonst gar nicht mehr entwickeln bräuchte. Mill scheint eher den Bildungsprozess zu meinen, durch den der Einzelne sich Kultur als seine zweite Natur aneignet. Bevor ein Charakter sich in einer pluralistischen Gesellschaft positionieren kann, muss er sich also erst einmal durch Bildung und Erziehung zu einem Wesen mit Kultur entwickeln. Zugleich wird er darin auch zu einer Person. 3) Bildung in Freiheit Vom Standpunkt einer freien pluralistischen Gesellschaft ist Bildung notwendig, um eigene und fremde Überzeugungssysteme begreifen und beurteilen zu können. Insbesondere das eigene sollte durch dessen Rechtfertigung aus seinen letzten Gründen heraus eingesehen werden. Dafür sind entsprechende Fähigkeiten vorausgesetzt, die im Bildungsprozess eingeholt werden müssen. Erst dann ist man mündig. Eine solche Kultur ist für den Einzelnen schon geschichtliche Wirklichkeit und er ist ansatzweise schon ein Teil von ihr. Wenn die Kultur der Orientierungspunkt im Bildungsprozess sein soll, besteht eo ipso eine größere Distanz zu anderen Kulturen. Andernfalls würde sich die Heterogenität der pluralistischen (d. h. multikulturellen) Gesellschaft in einer großen Homogenität erschöpfen. Hier greift nicht das Freiheitsprinzip, sondern es ist ein stärkeres Prinzip der eigenen Unterscheidung notwendig. Die Konstitution der eigenen Identität durch Denken und Handeln geschieht nicht ohne Abgrenzung von anderen, aber bei Würdigung der Gleichheit auf der personalen Ebene. In der Unterscheidung von anderen liegt ja gerade der fruchtbare Gedanke der Pluralität. Auch bleibt hierbei die Toleranz gegenüber anderen Kulturen gewahrt. Denn tolerante Menschen heißen Menschen mit anderen Identitäten gut, ohne nach deren Identität zu streben. Wäre der Bildungsprozess unmittelbar auf die gesellschaftliche Pluralität gerichtet, müsste auch der Begriff der Kultur auf die ganze Gesellschaft bezogen werden und die Verschiedenartigkeit wären individuelle Variationen einer relativ homogenen Gesellschaft. Dies steht aber in Widerspruch zu Mills Verteidigung der Pluralität als Suche nach Wahrheit und Moral durch entgegengesetzte Überzeugungen. Damit sind individuelle Variationen innerhalb einer Kultur, die eine unter mehreren ist, nicht ausgeschlossen. Der Bildungsprozess ist kein reiner Anpassungsprozess, sondern in sich schon individuell. Die individuelle Aneignung von Kultur ist für Mill das Bildungsziel: But it is the privilege and proper condition of a human being, arrives at the maturity of his faculties, to use and interpret experience in his own way.44 Die Entwicklung der individuellen Begierden und Triebe hat einerseits einen Inhalt vorgegeben, nämlich das kulturelle Überzeugungssystem. Andererseits muss es die allgemeinen Fähigkeiten einer Person hervorbringen. Beides zusammen macht seine Individualität aus. Wenn 179 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X es aber nicht einfach der Anspruch der Kulturen einer pluralistischen Gesellschaft, den es seinen Individuen auferlegt, sein soll, muss Mill zeigen, dass und wie dieses Ziel durch die Entwicklung der Begierden und Triebe des Individuums realisiert werden kann. Andernfalls würde die freie Gesellschaft ihre Bedingungen den Individuen diktieren, so dass sie nicht aus Einsicht in die Freiheit handeln würden. Damit wäre Freiheit nur noch eine zufällige Seinsweise der Gesellschaft und hätte keine Basis ihrer weiteren Existenz mehr. Daher muss das moralische Überzeugungssystem einer Kultur auf Freiheit ausgerichtet sein und dies in der Erziehung vermitteln. Die Gefahr einer von der Kultur auferlegten bloßen Homogenisierung der Individuen soll dadurch vermieden werden, dass die Erziehungsmethoden sich nach der individuellen Natur richten, um zur jeweiligen mental, moral and aesthetic stature zu gelangen of which their nature is capable.45 Für die Vermittlung schlägt Mill Vorbilder vor. Diesen kann nach je eigenem Ermessen und Vermögen nachgeeifert werden, ohne dass den Heranwachsenden schon die Vorbildlichkeit bewusst ist.46 Der Einzelne soll sich das Vorbild aber nicht selbst wählen, sondern er erhält es im Rahmen der Erziehung, die jeweils auf eine Kultur hin ausgerichtet ist. Die Erziehung ermöglicht nicht allein die Entwicklung der individuellen Charaktere, sondern es geht ihr nicht zuletzt um die Vermittlung von Pflichten, in erster Linie soziale, aber auch solche gegen sich selbst (disinterested benevolence).47 Die Pflichten gegen sich selbst ergänzen das Freiheitsprinzip durch die Möglichkeit der Unterstützung der Mitmenschen. Auf diese Weise wird ihnen nichts aufgezwungen, aber zugleich auch Gleichgültigkeit gegen andere ausgeschlossen. Deren Vermittlung ist ebenfalls eine Aufgabe der Erziehung und fällt damit in den Bereich der Kultur. Da Mill die Pflicht gegen sich selbst der gegen andere (d. h. dem Freiheitsprinzip) nachordnet,48 geht seine Argumentation vom Zustand einer freien Gesellschaft aus. Die darin geforderten Kompetenzen beziehen sich erst in zweiter Linie auf die eigene Kultur als diejenige, in der die Pflichten bestehen und vermittelt werden. Wenn die Fähigkeiten aber aus der Kultur hervor gehen, und so die Entwicklung zu einem sozialen Wesen ermöglicht wird, ist es unplausibel anzunehmen, dass die Pflichten in ihrer Geltung gegenüber den Pflichten gegen andere nicht vorrangig wären. Es ist nahe liegend, für die Vermittlung der Pflichten die bereits genannten Vorbilder heranzuziehen. Doch Mill zufolge soll sie durch Überredung, Überzeugung und Zwang bewältigt werden, nur soll dieser nicht über Zeit der Erziehung hinaus reichen, weil die Notwendigkeit der Pflicht von selbst eingesehen werden kann, wenn die geistigen Fähigkeiten entsprechend entwickelt sind.49 Wie die Anwendung von Zwang, die immer gegen die individuellen Begierden und Triebe gerichtet ist, zur Möglichkeit führt, seine Pflichten selbständig einzusehen, bleibt bei Mill unklar. 180 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X Letztlich geht in Mills Argumentation die Konstitution einer freien pluralistischen Gesellschaft von ihr selbst aus. Sie muss die Bedingungen definieren, die für sie wesentlich sind. Hierbei spielt der individuelle Bildungsprozess eine zentrale Rolle, ist aber zugleich mit dem Problem verbunden, ihre Ansprüche unter Gewährung der Ansprüche der Individuen an ihre Rolle in dieser Gesellschaft einsichtig zu machen und durchzusetzen. Dies ist besonders schwierig, wenn die Mündigkeit, mit der eigene Ansprüche formuliert werden, von der Gesellschaft selbst erst hervorgebracht werden muss. Eine Voraussetzung für das Hervorbringen ist die Vermittlung mit einer Kultur, die als Teil einer pluralistischen Gesellschaft tolerant gegenüber den anderen Kulturen dieser Gesellschaft ist. 3. Fazit Humboldt erklärt die Möglichkeit von Freiheit im Rahmen einer Bildungstheorie, in der der Mensch bereits von Natur aus frei ist, insofern die Entwicklung seiner Fähigkeiten von ihm selbst abhängt. Diese Freiheit liegt aber nicht vor der gesellschaftlichen, sondern deren Realisierung ist auch von dieser abhängig. Auf der Ebene des Handelns betrifft das die Freiheiten, die eine Gesellschaft dem Einzelnen gewährt und auf der gedanklichen Ebene ist die Aneignung der Sprache die notwendige Bedingung zur Entwicklung der eigenen Fähigkeiten, weil die Realisierung der Individualität von der Reflexion auf die eigene Natur abhängt. Eine Kultur und ihre Sprache wirken in dem Sinne durch Zwang auf den Menschen, dass ihm grundlegende Entscheidungen zunächst vorgegeben sind. Aus dieser Einschränkung kann, wenn eine Kultur dies zulässt, aber erst die selbstbestimmte Entwicklung der eigenen Fähigkeiten hervor gehen. Für die Verwirklichung der individuellen Freiheit ist daher die Teilhabe an einer Kultur, in der sich das Individuum autonom verhalten kann unabdingbar. Bei Mill ist die Argumentationsweise umgekehrt. Er thematisiert die individuelle Freiheit im Lichte einer Gesellschaft in ihrer Gesamtheit. Die Vielfalt der Gesellschaft entspricht strukturell Humboldts Begriff der Menschheit, ordnet sie aber dem Staat unter. Die Freiheit liegt nicht in einer relativ homogenen Kultur, sondern unmittelbar in der heterogenen Gesellschaft, deren Heterogenität der Grund der individuellen Freiheit ist. So ist die Pluralität die Bedingung der Möglichkeit der Freiheit. Damit die Pluralität erhalten bleibt, untersagt Mills Freiheitsprinzip die Regulierung fremder Angelegenheit ohne die Zustimmung der anderen. Der Zwang anderer Menschen untergräbt nicht nur dessen Freiheit, sondern richtet sich gegen die Freiheit aller, weil die Heterogenität der Gesellschaft reduziert wird. Andererseits muss die in einer freien Gesellschaft gewährte Autonomie durch die individuellen Fähigkeiten eingeholt werden. Dazu gehört auch die Einsicht in den Wert der freien Gesellschaft selbst. Diese zeigt sich aber nicht im 181 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X Bezug auf die Pluralität selbst, sondern kann nur über die Erziehung vermittelt werden, die von einer Kultur als Teil der Gesellschaft ausgeht, indem sie Vorgaben in Form von Vorbildern und Pflichtbestimmungen macht. Die Kultur muss zwar dem Freiheitsprinzip genügen, zugleich aber deren Abgrenzung der Individualitäten voneinander durch eine gewisse Homogenität einholen, um die Hinführung der Heranwachsenden zur Gesellschaft und damit die Autonomie des Individuums zu gewährleisten. Wie der hierin liegende Zwang zur Freiheit führen kann, wird nicht systematisch ausgeführt. Humboldt ist hierin eindeutiger, indem er auf die Notwendigkeit kultureller Einflüsse für die Entwicklung der dem Individuum immanenten Freiheit aufmerksam macht. Zudem kommt bei Humboldt die Universalität der Pluralität der Menschheit stärker zum Tragen. Seine Darstellung fokussiert dabei primär auf den theoretischen Zugang und dessen Notwendigkeit für die Entwicklung der Individualität, während Mills Freiheitsprinzip die Pluralität v. a. im praktischen Umgang verteidigen will. Erst wenn beide Dimensionen gleichermaßen erfasst werden, kann Freiheit umfassend erklärt werden. Endnoten 1 Vgl.Th. Hobbes [1642/ 31994]: Vom Menschen. Vom Bürger, Hg.: Gawlick, Günter, Meiner, Hamburg, S. 76 2 J. St. Mill [1963-1991]: Collected Works, 33 Bd., Hg.: John M. Robson. Toronto, University of Toronto Press. Vol. XVIII Essays on Politics and Society, S. 224 3 Vgl. I. Kant [1968] Über Pädagogik. Hg.: Th. Rink in: Kants Werke Bd. 9, Berlin, Walter de Gruyter, Berlin, A 32 4 Vgl. D. Sorkin [1983]: Wilhelm von Humboldt. The Theory and Practice of Self-Formation (Bildung), 1791-1810, Journal of the History of Ideas 44, 1, S. 55-73 5 Vgl. Aristoteles [1995]: Über die Seele. H. Seidl (Hg.), Meiner, Hamburg, 417a 6 vgl. W. von Humboldt [31980], Theorie der Bildung des Menschen, in: A. Flitner und K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band I Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 237 7 W. von Humboldt [1981]: Brief an Brinckmann v. 22.10.1803. in: A. Flitner und K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band V [1981] Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt 8 Auch keine Materie, denn sie ist ja gerade eine bestimmte Wirkungsweise derselben und insofern trifft auch die Bezeichnung „Anlagen“ zu. Dies legt aber eine theoretische Betrachtung des Menschen nahe und vernachlässigt den Entwicklungsaspekt. 9 W. von Humboldt [31980]: Das achtzehnte Jahrhundert, in: A. Flitner und K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band I Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 479 10 Wilhelm von Humboldt [61988]: Ueber die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaues und ihren Einfluss auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts, in A. Flitner und K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band III Schriften zur Sprachphilosophie, 6. Aufl., Darmstadt 1988, S. 568. 182 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X 11 W. von Humboldt [31980]: Über den Geist der Menschheit, in: A. Flitner und K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band I Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, Punkt 9 12 Dies steht in Gegensatz zu D. Benners Interpretation. Ders.[2003]: Wilhelm von Humboldts Bildungstheorie: eine problemgeschichtliche Studie zum Begründungszusammenhang neuzeitlicher Bildungsreform. Juventa, Weinheim und München S. 53 13 W. von Humboldt [Fn. 6], S. 236 14 Wilhelm von Humboldt [Fn. 6], S. 237 15 W. von Humboldt [41986]: Ueber Göthes Herrmann und Dorothea, in A. Flitner und K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band II Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik Die Vasken, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 340 16 W. von Humboldt [Fn. 9], S. 441 17 W. von Humboldt [Fn. 15], S. 340 18 W. von Humboldt [41986]: Latium und Hellas, in A. Flitner und K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band II Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik Die Vasken, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 41 19 Vgl. W. Von Humboldt [31980]: Plan einer vergleichenden Anthropologie, in: A. Flitner und K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band I Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 349 20 Vgl. W. von Humboldt [Fn. 11], Punkt 20 21 Wilhelm von Humboldt [Fn. 15], S. 128. Die Möglichkeit der Vervollkommnung steht nicht im Widerspruch zu Realisierung des individuellen Charakters, weil die Vervollkommnung ein Ideal ist, auf das hin der Charakter nur den Weg vorzeichnet. 22 W. von Humboldt [Fn. 9], S. 471 23 Vgl. ebd. [Fn. 19], S. 344 24 W. von Humboldt [Fn. 11], S. 512 25 Humboldt behandelt verschiedene, subjektive wie objektive, Erkenntnisstufen. Ausschlaggebend scheint mir aber der in einer bestimmten Sprache gefasste Begriff zu sein, denn nur durch diesen kann man die Menschheit in ihrer Universalität fassen. Diese Ebene geht bei G. Zenkert [2004] durch die Beschränkung auf die Bildlichkeit einer Sprache verloren. Ders.: Fragmentarische Individualität. Wilhelm von Humboldts Idee sprachlicher Bildung, in: Deutsche Zeitschrift für Philosophie 52, 5, S. 697 26 W. von Humboldt [Fn. 10], S. 418 27 W. von Humboldt [Fn. 10], S. 561. Vgl. die neunte der Thesen zur Grundlegung einer Allgemeinen Sprachwissenschaft in: Ders.: [Fn. 10] 28 Vgl. W. von Humboldt [41986]: Über das Studium des Alterthums, und des Griechischen insbesondre. in A. Flitner und K. Giel Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band II Schriften zur Altertumskunde und Ästhetik Die Vasken, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 20. Die grundlegende Bedeutung der Gemeinsamkeit bleibt unberücksichtigt, wenn man, wie D. Benner [Fn. 12, S. 63], Nation als Öffentlichkeit versteht. Eine diskursiv verstandene Öffentlichkeit setzt eine gemeinsame Kultur voraus, auch wenn moderne Kulturen heterogener sein mögen als antike. Andererseits kann D. Sorkin [Fn. 4, S. 63] Humboldt durch die Fokussierung auf die Person als Teil der Menschheit kein „nascent nationalism“ unterstellen. 29 Vgl. G. Zenkert [Fn. 25], S. 702 30 Vgl. W. Von Humboldt [Fn. 15], S. 129 31 W. von Humboldt [Fn. 11], S. 512 183 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X 32 Vgl. W. von Humboldt [31980]: Ideen zu einem Versuch, die Gränzen der Wirksamkeit des Staats zu bestimmen. in: A. Flitner und K. Giel (Hg.): Wilhelm von Humboldt. Werke in fünf Bänden. Band I Schriften zur Anthropologie und Geschichte, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, Darmstadt, S. 71f 33 Vgl. J. St. Mill [Fn. 2], S. 223f 34 Vgl. ebd., S. 294 35 Ebd., S. 231 36 Ebd. 37 Ebd., S. 232 38 Vgl. ebd., S. 245, 254 39 Ebd., S. 272 40 Ebd., S. 244 41 Vgl. ebd. 42 Ebd., S. 264 43 Ebd. Diese Formulierung ist – wörtlich genommen – zweideutig. Aber selbst wenn my culture rein individuell verstanden wird, bleibt die Frage, wie die Kultivierung der desires aus ihnen heraus zustande kommt. Daher muss der Begriff, auch wenn er für Mills Anthropologie nicht zentral ist, ernst genommen werden. Zugleich kann Kultur auch als der Dogmatismus verstanden werden, gegen den sich Mill gerade richtet. M. E. werden beide Probleme ausgeschlossen, wenn man die Bedeutung der Kultur für Mills zentralen Begriff der Wahl (choice) erkennt, die ein differenziertes Urteilsvermögen bestehender Sachverhalte impliziert. Daraus können Gewohnheiten entstehen, die nicht mehr hinterfragt und somit dogmatisch werden. Dies kann zugleich durch das Wählen verhindert werden, da man nicht wählt, wenn man bloß Gewohnheiten ausübt (vgl. J. St. Mill [Fn. 2], S. 262). Auf diese Weise kann man dann bei Mill das Dilemma ausschließen, dass happiness als Ziel des Handelns auch aus dogmatischen Gewohnheiten folgen kann (vgl. I. Berlin [1992], Four Essays on liberty, Oxford University Press, Oxford, S. 192). Denn die Berücksichtigung der Wahl für jedes vernünftige Handeln (und anderes verteidigt Mill nicht), bedeutet, dass nicht die Gewohnheit selbst, sondern das eigene Urteil darüber entscheidet, worin happiness besteht. Hierdurch kann auch die nun folgende Rede über individuelle Identität deutlicher gemacht werden. Vgl. zu dieser Fragestellung F. Höntzsch [2010]: Individuelle Freiheit zum Wohle Aller. Die soziale Dimension des Freiheitsbegriffs im Werk des John Stuart Mill, Wiesbaden Verlag VS Verlag für Sozialwissenschaften / GWV Fachverlage GmbH, Wiesbaden, insbesondere Kap. II 2.2 44 Ebd. [Fn. 2], S. 262. Die hier aufgestellte These, dass Individualität nicht direkt aus der Pluralität einer Gesellschaft resultieren kann, sondern der Vermittlung durch die Kultur bedarf, bleibt bei F. Wilson unberücksichtigt. Zum einen wird Individualität bloß aus der Verschiedenheit der Aneignung sozialer Normen interpretiert (Ders. [1998] Psychology and the moral sciences, in: J. Skorupski: Cambridge Companion to Mill, S. 232ff). Zum anderen hängt Wilson zufolge die Infragestellung von Autoritäten und damit die Liberalität einer Gesellschaft von dessen Bildungsinstitutionen ab (ebd., S, 234). Aus beiden würde ohne die Annahme kulturell geprägter Bildungsinstitutionen gar keine Vorstellung von der Zukunft der Gesellschaft möglich sein, weil es keine positive Ausrichtung der Erziehung auf etwas gibt. Zudem beruht die Fähigkeit, Autoritäten zu hinterfragen, bereits auf basale Voraussetzungen des Denkenkönnens, die bzw. deren Vermittlung in der Erziehung nicht schon hinterfragt werden können. 45 Ebd., S. 270 46 Vgl. ebd., S. 267 184 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X 47 48 49 Vgl. ebd., S. 277 Vgl. ebd. Vgl. ebd., s. a. S. 282 185 GCSI – Anno 3, numero 5, ISSN 2035-732X