SEMINAR – FORTBILDUNG SEMINAR An Diabetes erkrankt und berufstätig Ab wann ist die Tätigkeit zu riskant? K. Rinnert Diabetiker dürfen bei ihrer Berufswahl nicht benachteiligt werden. Je nach Krankheitsstadium/Medikation und Risiken am Arbeitsplatz (z. B. mög­liche Selbstgefährdung oder Gefährdung anderer) kann es jedoch Einschränkungen geben. Anhand einer Checkliste, in der auch Kompensationsmöglichkeiten berücksichtigt werden, können Sie individuell für jeden Dia­ betiker abschätzen, ob er auch in einem risikoreichen Beruf tätig sein darf. Dr. med. Kurt Rinnert Leiter des Betriebs­ ärztlichen Dienstes, Stadt Köln _ Die Amerikanische Diabetes Gesell­ schaft hat bereits 1984 in ihrer Leitlinie zu dem Thema „Diabetes und Beschäfti­ gung“ ausgeführt: „Jede Person mit Dia­ betes mellitus, ob mit Insulin behandelt oder nicht, sollte für jede Beschäftigung in Frage kommen, für die er/sie sonst qualifiziert ist“ [1]. Kritisch wird es immer dann, wenn die Rechtslage, auf der Entscheidungen getroffen werden müssten, nicht be­ kannt ist. Dann kann es zu Fehlbeurtei­ lungen oder Fehlberatungen kommen, die immer noch häufig zur Diskriminie­ rung von Diabetikern führen. Eine pau­ schale Beurteilung der Arbeitsfähigkeit von Personen nach Diagnoselisten ent­ spricht nicht mehr den gesetzlichen An­ forderungen und ist demnach unzu­ lässig [2]. Die Leistungsfähigkeit von Diabeti­ kern ist also in der Regel nicht einge­ schränkt. Nur wenige Tätigkeiten, bei denen sich die Betroffenen selbst oder Andere in besonderem Maße gefährden, können von Diabetikern, z. B. aufgrund 48 einer Insulintherapie, vorübergehend oder auf Dauer nicht ausgeübt werden. Was sagt das Arbeitsschutzgesetz? Nach § 5 Arbeitsschutzgesetz gilt, dass zur personenbezogenen Beurteilung der Arbeitsfähigkeit eine individuelle Be­ wertung der persönlichen körperlichen, psychischen und geistigen Fähigkeiten und Kompensationsmöglichkeiten so­ wie der konkreten Arbeitsplatzbedin­ gungen erforderlich ist. Faktoren, die zusammen mit der je­ weils aktuellen Medikation (Insulin und insulinotrope Substanzen wie z. B. Sulfo­ nylharnstoffpräparate) auf die Leis­ tungsfähigkeit einwirken, sind insbe­ sondere: ■ Tabletten- und Insulinwirkung ■ Ernährung ■ Körperliche Aktivitäten ■ Alkoholkonsum ■ Gewichtsabnahme ohne entspre­ chende Therapieanpassung ■ Fehlerhafte Ergebnisse der Stoffwech­ selselbstkontrolle. MMW-Fortbildungsinitiative: Diabetologie für den Hausarzt Regelmäßiger Sonderteil der MMW-Fortschritte der Medizin Herausgeber: Fachkommission Diabetes in Bayern – Landesverband der Deutschen Dia­betesGesellschaft, Dr. med. Andreas Liebl (1. Vorsitzender) m&i-Fachklinik Bad Heilbrunn Wörnerweg 30, D-83670 Bad Heilbrunn Redaktion: Priv.-Doz. Dr. M. Hummel, Rosenheim (Koor­dination); Prof. Dr. L. Schaaf, München (wissenschaftliche Leitung). platzes durch Schulung und praktisches Training, Stoffwechselmonitoring und Selbstadaptation der Therapie als auch die gesundheitliche Prognose. Allein aus der Diagnose „Diabetes mellitus“ ist es daher unzulässig, auf eine Nichteignung zu schließen. Mögliche Funktionsdefizite überprüfen Im Einzelfall müssen daher Funktions­ defizite überprüft werden, z. B. Mehr Möglichkeiten dank moderner Diabetestherapie Die moderne Diabetestherapie hat die Möglichkeiten der individuellen beruf­ lichen Rehabilitation in den letzten Jah­ ren erheblich verbessert. Dies betrifft sowohl die Anpassung der Therapie an die jeweiligen Bedingungen des Arbeits­ MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2013 (155. Jg.) SEMINAR – FORTBILDUNG Checkliste Was beachten, wenn Ihr Diabetiker in einem risikoreichen Beruf tätig ist? 1. W ho is who? Nachweisbare Zusammenarbeit von Patient, Hausarzt/Diabetologen und Betriebsarzt. In der Regel kennt der Hausarzt den Betriebsarzt nicht, der Betriebsarzt den Diabetologen nicht, der Diabetiker oft auch seinen zuständigen Betriebsarzt nicht usw. Jeder fällt für sich irgendwelche Entscheidungen, die nachher meist der Diabetiker ausbaden muss. 2. Gute Stoffwechseleinstellung (Blutglukose und HbA1c)? Entsprechend den vereinbarten Zielwerten (Diabetologe/Diabetespass) Ggf. Sonderuntersuchung Ergometrie + kontinuierliche Glukosemessung (in besonderen Fällen) _ _ 3. B lutglukose-Selbstmessung und Dokumentation? Plausible Messprotokolle im Blutglukosetagebuch 4. Kann am Arbeitsplatz Blutglukose gemessen und Insulin gespritzt werden? 5. Arbeitet der Patient bei der Behandlung gut und zuverlässig mit? Belastungsadaptiertes Therapiekonzept Besteht eine angemessene Selbstbehandlungskompetenz? __ 6. Hat der Patient eine geeignete Schulung besucht? ■ des Bewusstseins und weiterer zere­ braler Funktionen, ■ der Persönlichkeit, ■ der Beweglichkeit und Kraft, ■ der Sinnesorgane, ■ der physischen und psychischen Leis­ tungsfähigkeit und ■ auf akute und chronische Schmerzen. Funktionseinschränkungen können sich bei Diabetes mellitus vor allem auf­ grund akuter Komplikationen oder Fol­ geerkrankungen ergeben. Daneben be­ steht auch ein erhöhtes Risiko für Be­ gleiterkrankungen, die eine gesonderte Bewertung verlangen. Als Akutkomplikationen sind insbe­ sondere schwere Hypoglykämien und hyperglykämische Entgleisungen, als dia­betische Folgeerkrankungen die dia­ betische Retinopathie, Nephropathie, MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2013 (155. Jg.) __ S chulung gemäß DDG-Leitlinien Evtl. HypoglykämiewahrnehmungsTraining (BGAT® oder HyPOS®) 7. B estätigen die beteiligten Ärzte, dass keine relevanten Folgeschäden vorliegen und es bislang zu keinen schweren Unterzuckerungen gekommen ist? Stellungnahme Facharzt (Diabetologe/ Internist, Augenarzt, Neurologe): Diabetesdauer Dauer und Art der Behandlung Qualität der Einstellungen Folgeerkrankungen (Status und Prognose) Ab zehn Jahre Diabetesdauer: Untersuchung auf autonome Neuropathie, Herzfrequenzvariabilität __ __ _ 8. W issen Arbeitgeber und Kollegen im Notfall, was zu tun ist? Das soll natürlich keine Verpflichtung zur Information des Arbeitgebers oder der Kollegen über Diagnose und Gesundheitszustand sein. Sind aber die Kollegen oder der Arbeitgeber informiert und unterstützen sie den Mitarbeiter, können bei einem Problem wichtige Kompensationsmechanismen greifen. Insgesamt kommt es dadurch zu einer deutlichen Risikoreduktion, sodass die Arbeitsfähigkeit (work ability) eher gegeben ist. Diese ist nur z. T. durch körperliche Eigenschaften bedingt [9]. Polyneuropathie, sowie die Makroangio­ pathie in ihren Manifestationen am Herz, Gehirn und an den peripheren Gefäßen zu nennen. Bestehen berufliche Einschränkungen? Um die Umstände, die die Wahl und die Aus­übung eines Berufes oder einer Tä­ tigkeit bei Diabetikern beeinflussen können, zu analysieren, müssen zu­ nächst die Arbeitsbedingungen (sog. Gefährdungsbeurteilung nach § 5 Ar­ beitsschutzgesetz) beurteilt werden. Sie gliedern sich in: Krankheitsspezifische Risiken, z. B. ■ S elbst- und Fremdgefährdung durch schwere rezidivierende Hypoglykä­ mien, 9. B esteht bei leichten Unterzuckerun­ gen eine Gefahr für Dritte? Dauer der Berufstätigkeit Berufserfahrung Konkretisierung des beruflichen Einsatzes (Differenzierung!) Ggf. Arbeitsplatztraining mit Awareness-Protokoll __ _ _ 10. Kann die Arbeit unterbrochen werden, falls die Therapie angepasst werden muss, z. B. bei Unterzuckerung? 11. Wird der Patient alle sechs bis zwölf Monate von einem Arbeitsmediziner und Diabetologen untersucht und beraten? 12. Wird das Unternehmen sorgfältig mit arbeitsmedizinischen Informationen durch den Betriebsarzt versorgt? Anmerkungen Diese Liste soll der Orientierung dienen und ist nicht endgültig. Im begründeten Einzelfall kann auf einzelne Aspekte ggf. später eingegangen werden. Begründete individuelle Abweichungen oder Ergänzungen werden erforderlich sein. Begriffe wie z. B. „gute Stoffwechseleinstellung“ sind durch die Beteiligten in Anlehnung an aktuelle Behandlungsleitlinien individuell zu definieren. ■ Auftreten anderer Krankheiten als Folge des Diabetes (Mikro- und Makroangiopathie) oder als Begleit­ erkrankung (z. B. Schlafapnoe-Syn­ drom). Tätigkeitsspezifische Risiken, z. B.: ■B eeinträchtigungen der Planbarkeit des Tagesablaufes und der Selbststeue­ rung des Stoffwechsels (z. B. just-intime-Belastung), ■ Berufliche Expositionen, die das Auf­ treten von akuten oder chronischen Folgen des Diabetes begünstigen (z. B. Taucherarbeiten). Hauptrisikofaktor: Hypoglykämien Für Diabetiker sind Hypoglykämien das Hauptrisiko in Bezug auf Arbeitsfähig­ keit und Unfallgefährdung. Die Bewer­ tung der Relevanz von Hypoglykämien 49 SEMINAR – FORTBILDUNG in Bezug auf das arbeitsassoziierte Risi­ ko ist jedoch sehr uneinheitlich. In der Regel wird das Risiko von Diabetologen und auch Arbeitsmedizinern pauschal zu hoch eingeschätzt. Schwere Hypogly­ kämien sind im beruflichen Alltag eher selten. Angaben zur Häufigkeit von Hypo­ glykämien sind in der internationalen Literatur sehr unterschiedlich. Dies liegt an uneinheitlichen Defini­tionen bzw. an der unscharfen Abgrenzung zwischen leichter und schwerer Hypoglykämie in den Studien. Das Auftreten von Hypoglykämien kann aber bei manchen beruflichen Tä­ tigkeiten andere Menschen oder den Dia­b etiker selbst gefährden. Schwere Hypoglykämien bedeuten im Einzelfall eine Gefahr bei: ■ Überwachungsfunktionen mit beson­ derer Verantwortung für das Leben Anderer (z. B. Operateur, Kranken­ schwester, Kranführer) ■ Arbeiten an gefährlichen Arbeitsplät­ zen (z. B. Kampfpilot, Berufstaucher oder Feuerwehrmann im Angriffs­ trupp). Es gibt zahlreiche insulinbehandelte Diabetiker, bei denen auch nach langer Diabetesdauer keine mittelschweren oder gar schweren Unterzuckerungen auftreten [4]. In der Regel ist ein kleiner Teil der Diabetiker für einen großen Teil der therapiebedürftigen Hypoglykämien verantwortlich. Um das arbeitsplatzbe­ zogene Risiko für Diabetiker zu beurtei­ len, müssen vorrangig diese Hochrisiko­ personen identifiziert werden. Das Risiko für schwere Hypoglykä­ mien kann durch Anpassung der Stoff­ wechseleinstellung und evtl. durch ein Hypoglykämiewahrnehmungs-Training (z. B. BGAT® oder HyPOS®) vermindert werden [5, 6]. Es muss aber auch darauf geachtet werden, dass die leitlinienkon­ formen Therapieziele (HbA1c < 7% oder niedriger) zur Vermeidung von Folgeer­ krankungen nicht als Indikatoren für Arbeits- oder Fahreignung geeignet sind. Sie können mit einem erhöhten Hypoglykämierisiko und damit auch ei­ ner Eigen- und Fremdgefährdung ein­ hergehen. Die Aufklärungspflicht darü­ ber obliegt dem behandelnden Arzt. 50 liche Bedenken bestehen. Im Einzelfall können diese gegen die Aufnahme einer solchen Tätigkeit sprechen oder entspre­ chend der Beurteilung der Gefähr­ dungen am Arbeitsplatz bei Diabetikern zusätzliche Schutzmaßnahmen erfor­ derlich machen [7]. Mögliche arbeitsplatzbezogene Einschränkungen Berufe und Tätigkeiten, bei deren Aus­ übung der Tagesablauf nicht ausrei­ chend vorausplanbar ist, können eine adäquate Behandlung erschweren – et­ wa durch sehr unregelmäßige Essens­ zeiten, stark wechselnde körperliche Be­ lastungen oder auch durch eine er­ schwerte Stoffwechselselbstkontrolle. Das Risiko für Hypoglykämien ist bei Berufen größer, deren Arbeitsbedin­ gungen eine Nahrungsaufnahme zu je­ der Zeit, z. B. bei Hitzearbeiten durch die vorgeschriebene Schutzkleidung, verhindern. Dazu zählen auch Arbeiten unter großem Zeitdruck wie z. B. bei Rettungseinsätzen oder bei Paketdienst­ auslieferungsfahrern. Arbeiten mit Wechselschicht stellen für Diabetiker ei­ ne besondere Anforderung dar. Für die­ se Berufe und Tätigkeiten gilt im beson­ deren Maße, dass eine adäquate Schu­ lung des Patienten über seine Erkran­ kung und die Behandlung mit täglichen Stoffwechselselbstkontrollen und daraus abgeleiteten Konsequenzen manche der einschränkenden Bedingungen ab­ mildern oder bedeutungslos machen können. Bei Berufen, bei denen man besonde­ ren Klimabedingungen (Hitze- oder Kältearbeitsplatz) und Überdruck (Ar­ beiten im Überdruck) ausgesetzt ist oder bei denen es zu anderen besonderen Be­ lastungen kommt, können gesundheit­ Hilfreiche Checkliste Um die Eignung eines Diabetikers in einem Beruf, bei dessen Ausübung rea­ listisch eine Selbst- und/oder eine Fremd­gefährdung eintreten kann, ver­ antwortbar zu beurteilen, ist die Check­ liste (s. Kasten S.49) hilfreich [8]. Die genannten Vorbedingungen gelten für alle medikamentös behandelten Diabe­ tiker, bei denen es durch die medika­ mentöse Therapie zu einer Hypoglykä­ mie kommen kann. Es werden keine metabolischen Sollwerte, sondern Ziel­ werte genannt, für die medizinische und soziale Funktionen abgefragt werden. Die individuellen Zielwerte sind von den Gesprächspartnern gemeinsam zu vereinbaren. Literatur unter mmw.de Anschrift des Verfassers: Dr. med. Kurt Rinnert Stadt Köln Leiter des Betriebsärztlichen Dienst Neumarkt 15–21, D-50676 Köln E-Mail: [email protected] Fazit für die Praxis Wahl und Ausübung eines Berufs oder einer Tätigkeit können für einzelne Diabetiker durch arbeitsbedingte Risiken und/oder diabetesassoziierte Belastungen eingeschränkt sein. Deshalb sind wenige Tätigkeiten für sie nicht oder weniger gut geeignet. Eine individuelle Analyse und Bewertung der tätigkeits- und krankheitsbedingten Risiken ist notwendig, um Benachteiligungen von Menschen mit Diabetes mellitus zu verhindern. Keywords Diabetes and employment – what risk is acceptable? Diabetes – employment – risk – work ability MMW-Fortschr. Med. Nr. 11 / 2013 (155. Jg.)