Abhandlungen Klaus Kraemer Prekarität – was ist das? Abstract: In den Sozialwissenschaften wird vermehrt auf den Begriff der „Prekarität“ zurückgegriffen, um die Transformation der Arbeitsgesellschaft und ihre Auswirkungen auf die sozialen Arrangements von Erwerbsarbeit zu analysieren. In diesem Beitrag wird dafür plädiert, Prekarisierungsprozesse nicht nur auf der Ebene der Erwerbsarbeit zu untersuchen. Vielmehr wird ein mehrdimensionales Konzept skizziert, das ausgehend von der besonderen Bedeutung von Erwerbsarbeit weitere Dimensionen der Lebenslage einbezieht, um differenziertere Aussagen über Prekarisierung in Gegenwartsgesellschaften machen zu können. Im Einzelnen wird zwischen den Untersuchungsdimensionen Erwerbsstelle, Erwerbsverlauf und Lebenslage unterschieden. Hierbei wird gezeigt, dass Aussagen über das prekäre Potential einer Erwerbsarbeit nur bedingt Rückschlüsse auf die Prekarität der Erwerbs- und Lebenslage zulassen. Zugleich wird vorgeschlagen, systematischer zwischen Prekarität im Sinne einer negativen statistischen Abweichung von den sozialen Normalstandards eines geschützten Arbeitsverhältnisses und einer subjektiv wahrgenommenen, „gefühlten“ Prekarität zu unterscheiden. Diese Unterscheidung bietet die Möglichkeit, die Auswirkungen von Prekarisierung nicht nur an den Rändern der Arbeitsgesellschaft zu untersuchen, sondern auch in ihrer Mitte. 1 Einleitung Prekarität ist ein schillernder Begriff, der nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern gerade auch in den Sozialwissenschaften mehrdeutig verwendet wird. In diesem Beitrag ist genauer zu problematisieren, was gemeint ist, wenn von Prekarität die Rede ist. Was ist das Besondere von Prekarität? Sind Prekarität und Armut das Gleiche? Oder werden unterschiedliche Phänomene mit ein und demselben Begriff angesprochen? Was unterscheidet Prekarität von anderen Formen der sozialen Benachteiligung oder ungleichen Chancenverteilung? Vor allem ist zu fragen: Wodurch wird Prekarität zu einer soziologischen Kategorie, die über eine rein sozialstatistische Bündelung von Merkmalen hinausgeht? Hierbei soll die Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet werden, ob Prekarität quer zu den Strukturen sozialer Ungleichheit liegt. Kann man von einer sozialen Entgrenzung von Prekarisierungsrisiken sprechen, wie dies Bourdieu (1998) in dem kleinen Beitrag „Prekarität ist überall“ nahe gelegt hat? Oder muss man von einer Wahrscheinlichkeitsverteilung von Prekarität entlang sozialer Lebenslagen ausgehen? Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen und konzeptionellen Unklarheiten erscheint es ratsam, Prekarisierung stärker in Beziehung Arbeit, Heft 1, Jg. 17 (2008), S. 77-90 78 Klaus Kraemer zu Strukturen sozialer Ungleichheit zu setzen und nicht hiervon abzukoppeln. Im Folgenden wird ein konzeptioneller Rahmen für die Analyse von Prekarität skizziert. Das Prekarisierungskonzept wird hierbei nicht nur – wie üblicherweise – auf die Analyse der Erwerbsarbeit und den Wandel der Arbeitsgesellschaft in einem engeren Sinne beschränkt. Zugleich wird die umfassendere Dimension der Lebenslage einbezogen, um Aussagen über die gegenwärtige Transformation der Sozialstruktur in modernen kapitalistischen Gesellschaften machen zu können. Im Einzelnen ist zu prüfen, inwieweit das in der Ungleichheitssoziologie und Sozialstrukturforschung entwickelte Konzept der Lebenslage für die Operationalisierung von Prekarität nutzbar gemacht werden kann. Im Zuge einer allgemeinen Kulturalisierung der Sozialstrukturanalyse seit den späten 1970er Jahren ist die Arbeitswelt aus dem soziologischen Beobachtungsfokus der Analyse von Strukturen sozialer Ungleichheit gerückt. So haben zahlreiche Autoren – exemplarisch sind Lüdtke (1989) und Schulze (1992) anzuführen – die These popularisiert, dass die ökonomischen Bedingungen keinen zentralen Beitrag zur Konstitution sozialstruktureller Ungleichheitsverhältnisse mehr leisten. Vielmehr seien ästhetisch-expressive Lebensstile konstitutiv für die subjektive Konstruktion sozial strukturierter Ungleichheiten geworden (ähnlich neuerdings auch Hellmann 2006). Derartige Ansätze haben zwar die soziologische Aufmerksamkeit auf neue Erscheinungsformen von sozialer Ungleichheit gerichtet und damit die Ungleichheitsforschung um wichtige Dimensionen erweitert. Zugleich wurde allerdings die fortdauernde Wirkung ökonomischer Ungleichheiten auf das sozialstrukturelle Gefüge unterschätzt. Gegenüber diesen Lebensstilanalysen hat etwa Kreckel (2004) an die herausragende Bedeutung von Arbeitsmarktlagen für Ungleichheitsanalysen festgehalten. Mit der Prekarisierungsdebatte scheint sich nun wieder, so könnte man an Max Weber erinnern, die sozioökonomische Marktlage gegenüber quasi-ständischen Lagen bzw. „Lebensstilen“ und „Milieus“ stärker in den Vordergrund der soziologischen Analyse zu schieben. Gerade Weber (1980: 539) hat darauf aufmerksam gemacht, dass marktvermittelte Erwerbsklassenlagen in Zeiten technisch-ökonomischer Umbrüche (wieder) an Bedeutung für soziale Stratifizierungsprozesse gewinnen, während „ständische“ Lagen und Vergemeinschaftungen an Einfluss verlieren, die nicht an der Marktlage, sondern am Prinzip der sozialen „Ehre“ ausgerichtet sind. 2 Prekäre Erwerbsarbeit Prekarität ist kein Begriff, mit dem ein beliebiger sozialer Wandel beschrieben wird. Vielmehr wird mit dem Begriff seit den wegweisenden Arbeiten von Robert Castel (2000; 2005) eine tiefgreifende Transformation gegenwärtiger Arbeitsgesellschaften diagnostiziert, die insbesondere durch die Rückkehr von Formen der Lohnarbeit (Rekommodifizierung) charakterisiert ist, von denen man unter den Bedingungen des fordistischen Kapitalismus und des rheinischen Wohlfahrtsstaates annahm, dass diese überwunden seien. Betrachtet man die Debatte genauer, dann fällt auf, dass von Prekarität gesprochen wird, um ein Beschäftigungsverhältnis zu charakterisieren, das bestimmte soziale und rechtliche Standards unterschreitet, die üblicherweise durch Arbeits- und Tarifrecht, Sozialpolitik und Sozialversicherung garantiert sind und als „normal“ angesehen werden (MayerAhuja 2003). Prekär, so lautet die Argumentation, ist Erwerbsarbeit dann, wenn sonst übliche Sicherheitsgarantien und Rechtsansprüche nur eingeschränkt gültig sind oder Prekarität – was ist das? 79 diese überhaupt nicht gewährt werden. Prekarität zeigt sich in der negativen Abweichung von Normalitätsstandards der Erwerbsarbeit bzw. in der strukturellen Benachteiligung gegenüber Formen der Erwerbsarbeit, die sich an der Norm des klassischen, sozial abgesicherten „Normalarbeitsverhältnisses“ (Mückenberger 1985) orientieren. So betrachtet ist ein Arbeitsverhältnis dann prekär, wenn Beschäftigung und Einkommen auf längere Sicht ungewiss sind, Arbeitnehmerrechte nur eingeschränkt gültig sind und der Wertigkeitsstatus fragil ist. Ein prekär Beschäftigter befindet sich damit in einer eigentümlichen sozialen Schwebelage (vgl. Kraemer/Speidel 2005; Kraemer 2007), in der die Hoffnung stets präsent ist, über den Umweg einer unsicheren Arbeitsstelle den Sprung in eine stabile Beschäftigung zu schaffen, zugleich aber auch die Sorge bzw. Angst verbreitet ist, sozial abzusteigen und sich dauerhaft in prekären Beschäftigungsverhältnissen einrichten zu müssen, falls die Rückkehr auf einen gesicherten Arbeitsplatz nicht gelingen sollte. 3 Beschäftigung vs. Arbeitstätigkeit An dieser Stelle ist eine weitere Differenzierung vorzunehmen, um belastbare Aussagen über Prekarität zu machen. Im Rahmen einer eigenen Untersuchung über prekäre Beschäftigungsverhältnisse1 wurden zahlreiche IT-Spezialisten in der Finanzwirtschaft, Freelancer in der Werbebranche sowie Wissenschaftler im universitären Feld befragt, deren Beschäftigungsverhältnisse von den Normalitätsstandrads dauerhafter, sozial geschützter Erwerbsstellen abweichen. Diese Befragten verfügen über keine „feste Stelle“ mit entsprechenden Entgeltregelungen, Kündigungsfristen und Sozialansprüchen, sondern sie sind im Rahmen von Werk-, Projekt- oder Kettenverträgen atypisch beschäftigt. Die Probanden geben an, dass sie über keine Planungssicherheit bezüglich ihres Arbeitsplatzes verfügen, da sie nicht wissen, bei welchem Arbeitgeber, in welcher Projektgruppe und in welcher Position sie in einigen Monaten beschäftigt sein werden. Trotz der Unstetigkeit ihrer Beschäftigungssituation wäre es jedoch kurzschlüssig, die Erwerbssituation der Befragten pauschal als prekär zu klassifizieren. Charakteristisch für die befragten IT-Spezialisten und Werbefachleute ist beispielsweise, dass sie sich in besonderer Weise mit den Inhalten und Produkten ihrer Arbeit sowie mit der Beruflichkeit und Professionalität ihrer Tätigkeit identifizieren. Trotz der unsicheren Rahmenbedingungen des Arbeitskontraktes verfügen die Befragten über relevante Autonomie- und Entscheidungsspielräume in der Arbeit, die ganz besonders wertgeschätzt werden. Hierin kommen ein ausgeprägtes fachlich-berufliches Selbstbewusstsein sowie hohe Ansprüche an die Professionalität der eigenen Arbeitstätigkeit zum Ausdruck. Um genauere Aussagen über die Prekarität einer Arbeitsstelle machen zu können, die derartige Besonderheiten berücksichtigt, sind deswegen auch zwei Ebenen analytisch voneinander zu unterscheiden: Auf der ersten Ebene ist die formale Struktur des Beschäftigungsverhältnisses zu betrachten, während auf der zweiten Ebene nach der konkreten Form der Arbeits- und Berufstätigkeit zu fragen ist. Unter der Struktur des Beschäftigungsverhältnisses ist der Arbeitskontrakt (z.B. befristet/unbefristet), das Erwerbseinkommen (z.B. stetig/unstetig), arbeitsrechtliche (Kündigungsschutz) sowie 1 Hierbei handelt es sich um das Forschungsprojekt „Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und soziale Desintegration“, das dem BMBF-Forschungsverbund „Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotentialen einer modernen Gesellschaft“ zugeordnet war. Zu Methodik und Untersuchungsdesign siehe Dörre/Kraemer/Speidel (2006). 80 Klaus Kraemer tarifliche und betriebliche Rahmenbedingungen (Sozialleistungen) der Erwerbsstelle zu fassen. Neben der Struktur des Beschäftigungsverhältnisses ist zugleich die konkrete Form der Arbeits- und Berufstätigkeit in den Blick zu nehmen. Hierbei geht es vor allem darum, sinnhaft-subjektbezogene und sozialkommunikative Dimensionen der konkreten Arbeitstätigkeit zu betrachten. Zu fragen ist, ob die Beschäftigten mit und in der Arbeit zufrieden sind, ob eigene Ansprüche an die Professionalität der Tätigkeit erfüllt werden können, ob die zeitlichen und sachlichen Arbeitsbedingungen mitgestaltet werden können, ob die Beschäftigten an betrieblichen Vergemeinschaftungen teilhaben oder Zugang zu beruflich-sozialen Netzwerken innerhalb und außerdem des Unternehmens haben. Wie am Beispiel der befragten hochqualifizierten IT-Experten und Freelancer in der Werbebranche aufgezeigt werden kann, ist jedenfalls kein einfacher kausaler Zusammenhang zwischen dem Prekaritätsgrad des Beschäftigungsverhältnisses und dem Ausmaß der Zufriedenheit in der Arbeit festzustellen. Umgekehrt verhält es sich bei befragten Fachverkäufern im Einzelhandel, die angeben, in hohem Maße mit der gegenwärtigen Arbeit unzufrieden zu sein, obwohl sie über eine dauerhafte und stabile Erwerbsstelle verfügen, die keinerlei Merkmale von Prekarität aufweist. Die beobachtete beruflich-soziale Unzufriedenheit ergibt sich in diesen Fällen aus dem Umstand, dass die qualifizierten Fachverkäufer im Unternehmen nicht mehr ausbildungsadäquat eingesetzt werden, sondern „in der Schnäppchenabteilung an der Kasse sitzen“ und dies als berufliche Dequalifizierung erfahren sowie als Entzug ihrer Anerkennung im Beruf bewerten. Diese Untersuchungsgruppe unterscheidet sich wiederum von befragten Leiharbeitern in der Automobilindustrie, deren Beschäftigungsverhältnisse die oben genannten Kriterien von Prekarität erfüllen. Zugleich haben sie alle qualitativen Ansprüche an die konkrete Arbeitstätigkeit zurückgestellt („Hauptsache Arbeit“) und bis auf weiteres suspendiert, um nach einer längeren Phase von Arbeitslosigkeit überhaupt wieder einen Arbeitsplatz zu haben. Eine prekäre Erwerbstelle erscheint ihnen als einzig verbliebene Exit-Option aus der Arbeitslosigkeit. Deswegen sind die befragten Leiharbeiter bereit, einer nicht ausbildungsadäquaten Tätigkeit nachzugehen, obwohl sie allesamt über eine qualifizierte Berufsausbildung verfügen und obendrein jahrelang im erlernten Beruf gearbeitet haben. In diesem Fall ist nicht nur das Beschäftigungsverhältnis, sondern auch die konkrete Arbeitstätigkeit als prekär zu bezeichnen. 4 Prekäre Erwerbslage Der Begriff der Prekarität ist im bisherigen Verlauf der Argumentation verwendet worden, um die Erosion sozial geschützter Beschäftigungsverhältnisse zu beschreiben. Es stellt sich jedoch die Frage, ob mit der Bewertung eines Beschäftigungsverhältnisses auch Rückschlüsse auf die allgemeine Erwerbslage eines Beschäftigten gemacht werden können. Sind Aussagen über Prekarisierungsrisiken im weiteren Erwerbsverlauf möglich, wenn der gegenwärtige Erwerbsstatus befristet ist, das Arbeitseinkommen nicht-existenzsichernd ist und auch sonst keine oder nur marginale Ansprüche gegenüber dem sozialen Sicherungssystem bestehen. Mit anderen Worten ist zu problematisieren: Kann eine Erwerbslage im Zeitverlauf als prekär bezeichnet werden, wenn die aktuelle Erwerbsstelle alle Merkmale von Prekarität aufweist? Um diese Frage zu beantworten, ist, ganz ähnlich wie in der soziologischen Armutsforschung (vgl. Ludwig-Mayerhofer/Barlösius 2001), Prekarität – was ist das? 81 eine Dynamisierung bzw. Verzeitlichung der Analyse von Prekarität unumgänglich. Um Aussagen über die Prekarität einer Erwerbslage machen zu können, ist nämlich nicht nur das aktuelle Beschäftigungsverhältnis, sondern der Erwerbsverlauf in die Betrachtung einzubeziehen. Eine dynamische oder verzeitlichte Analyse von Prekarität richtet die Aufmerksamkeit darauf, ob eine als prekär klassifizierte Erwerbsstelle dauerhaft ausgeübt wird oder ob eine prekäre Erwerbsarbeit eine kurze, nicht wiederkehrende Episode im Verlauf der Berufsbiografie darstellt bzw. eine Passage in eine stabile Erwerbslage ist. Verfestigt sich eine prekäre Erwerbssequenz im Erwerbsverlauf, so dass Übergänge in stabile Beschäftigung schwieriger oder unwahrscheinlicher sind? Atypisch oder befristet Beschäftigte befinden sind keineswegs zwangsläufig in einer prekären Erwerbslage. Auch wenn ihre Erwerbsstelle den rechtlichen Standards eines regulären Beschäftigungsverhältnisses nicht entspricht, so können sie durchaus auf eine stabile und kontinuierliche Erwerbsbeteiligung zurückblicken. Dies ist immer dann der Fall, wenn Übergänge zwischen den Arbeitsstellen relativ reibungsarm gelingen, Phasen der Sucharbeitslosigkeit kurz sind oder ein häufiger Arbeitsplatzwechsel sogar förderlich für berufliche Karrierepfade ist. Beispielsweise konnte unter befragten hochqualifizierten „Freelancern“ in der IT-Industrie, im Bankenbereich und in der Werbewirtschaft eine stabile Erwerbsbeteiligung beobachtet werden, obwohl sie – aufgrund der Projektförmigkeit der Arbeitsorganisation – die Arbeitsstelle oder den Arbeitgeber häufig wechseln. Eine stabile Erwerbsbeteiligung muss nicht mit einem stabilen Beschäftigungsverhältnis identisch sein. Deswegen ist es auch alles andere als zwingend, atypisch Beschäftigte a priori als prekär zu klassifizieren (vgl. auch Betzelt 2006). Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Frage, ob eine Erwerbsbeteiligung im Erwerbsverlauf stabil oder instabil ist, erst dann beantwortet werden kann, wenn erstens die Höhe und Stetigkeit des Arbeitseinkommens betrachtet, zweitens die Dauer von Beschäftigungszeiten in den Blick genommen, drittens die Dauer des Bezugs von Lohnersatzleistungen berücksichtigt und viertens die Nähe oder Ferne der einzelnen Erwerbsstellen zum dauerhaft gesicherten „Normalarbeitsverhältnis“ analysiert werden (vgl. Bartelheimer 2006). Genauer ist zu fragen: Welche Erwerbssequenzen dominieren im Erwerbsverlauf? Wie sind Übergänge im Erwerbsverlauf zu bewerten, z.B. von einer zur nächsten Erwerbsstelle, von Arbeit zu Nicht-Arbeit, von Nicht-Arbeit zu Weiterbildung, von Familienarbeit zurück zu Erwerbsarbeit etc.? Verweisen diese Übergänge im Erwerbsverlauf auf Statuspassagen mit positivem oder negativem Neigungswinkel? Bei einer nicht-isolierenden Betrachtung einzelner Stationen wird deutlich, dass weder Befristung gleich Befristung noch Arbeitslosigkeit gleich Arbeitslosigkeit ist. Es macht einen grundlegenden Unterschied, ob ein Arbeitsloser, wie etwa in Deutschland, Lohnersatzleistungen auf der Grundlage von Rechtsansprüchen (Arbeitslosengeld I) bezieht oder ob er nach dem Sozialgesetzbuch II hilfebedürftig ist und das sogenannte Arbeitslosengeld II erhält. Können in Phasen der Arbeitslosigkeit Weiterbildungsansprüche geltend gemacht werden, um die eigene „Beschäftigungsfähigkeit“ zu erhalten oder zu verbessern? Ist während der Arbeitslosigkeit die Ablehnung unterwertiger Erwerbsstellen und die Suche nach bildungsadäquater Beschäftigung noch möglich? Oder sind die individuellen Handlungsspielräume bereits so stark eingeschränkt, weil bedürftigkeitsgeprüfte Sozialleistungen in Anspruch genommen werden und staatliche Institutionen die Annahme jeder legalen Beschäftigung unter Androhung von Sanktionsmaßnahmen erzwingen können? Gelingt nach einer Arbeitslosigkeitsphase der Sprung zurück in eine angemessen 82 Klaus Kraemer entlohnte, stabile und längerfristige Beschäftigung? Ist eine prekäre Erwerbsstelle also nur ein temporäres Phänomen im Erwerbsverlauf oder ist sie zur neuen Normalität, zum Dauerzustand geworden? Um bestimmte Ereignisse im Erwerbsverlauf wie Befristungen, Werkverträge, Arbeitslosigkeit, Weiterbildung etc. bewerten zu können, ist die Qualität und Dauer jener Erwerbssequenzen zu analysieren, die an vorangegangene Sequenzen (z.B. Arbeitslosigkeit) anschließen. Erst wenn die einzelnen Stationen der Erwerbsbiografie nicht isoliert, sondern im Zusammenhang betrachtet werden, können Aussagen über den Neigungswinkel der Erwerbsbiografie und damit über die Nähe oder Ferne eines Erwerbsverlaufs zu wohlstandsnahen und armutsnahen Erwerbslagen gemacht werden. Erst dann kann auch die Frage beantwortet werden, ob Prekarität im Erwerbsverlauf ein transitorisches Problem ist, das von vorübergehender Bedeutung ist oder ob sich Prekarität dauerhaft verfestigt. Anzunehmen ist, dass Dauer und Intensität von Prekarität in wohlstandsnahen Lagen tendenziell begrenzt, während sie in armutsnahen Lagen tendenziell entgrenzt sind. 5 Prekäre Lebenslage Im vorangegangenen Abschnitt ist begründet worden, warum der aktuelle Erwerbsstatus für sich betrachtet kaum ausreicht, um belastbare Aussagen über Prekarisierungsrisiken zu machen. Deswegen ist der Erwerbsverlauf einbezogen und dafür plädiert worden, die „Marktlage“ (Weber) einer Erwerbsperson nicht isoliert zu betrachten, sondern sie erwerbsbiografisch einzuordnen und die einzelnen Erwerbsstationen in Beziehung zueinander zu setzen. Diese soziale Kontextualisierung der Prekarisierungsproblematik würde allerdings auf halbem Wege stehen bleiben, wenn lediglich individuelle Erwerbsverläufe berücksichtigt werden. Deswegen ist eine weitere Differenzierung von Prekarität vorzunehmen. Neben der sozialen Flugbahn des Erwerbsverlaufs einer Person ist zudem der Haushaltskontext in die Betrachtung einzubeziehen, wenn Aussagen über prekäre Lebenslagen gemacht werden sollen. Einerseits können prekäre Erwerbslagen im Haushalt aufgefangen und gewissermaßen entproblematisiert werden, wenn andere zuverlässige Erwerbseinkommen oder zusätzliche Einkommensquellen vorhanden sind, die die längerfristige Planbarkeit des eigenen Lebensentwurfs ermöglichen. Andererseits kann sich eine Person in einer stabilen und sozial abgesicherten Erwerbslage befinden, die auch im Zeitverlauf keinerlei Merkmale von Prekarität aufweist, und trotzdem aufgrund der Haushaltsstruktur in eine prekäre Lebenslage geraten. Von einer Kumulation der Prekarität auf der Ebene der Lebenslage kann dann gesprochen werden, wenn sowohl die aktuelle Arbeitsstelle als auch der bisherige Erwerbsverlauf prekär im obigen Sinne ist und diese Prekarität aufgrund des Haushaltskontextes eher noch verstärkt als abgemildert wird. In diesem Zusammenhang ist auf eine Untersuchung von Andreß/Seeck (2007) hinzuweisen, in der auf der Grundlage der Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 1991 bis 2004 festgestellt werden konnte, dass ein kleiner, aber zunehmender Teil der unbefristet Vollzeitbeschäftigten sich allein vom Nettolohn kaum finanzieren kann (unter 700,56 €: Westdeutschland: 2,5 %, Ostdeutschland: 8,2 %; alle Angaben für 2004). Bemerkenswerterweise wird diese Quote nicht geringer, sondern größer, wenn der Haushaltskontext dieser Vollzeitbeschäftigten, also der jeweilige Einkommensbedarf, aber auch die zusätzlichen Einkommen weiterer Prekarität – was ist das? 83 Haushaltsmitglieder berücksichtigt werden (Westdeutschland: 8,3 %, Ostdeutschland 18,1 %). In diesen Fällen kann eine unzureichende individuelle Existenzsicherung durch unbefristete Vollzeiterwerbstätigkeit auch nicht mehr durch den gesamten Einkommenspool des Haushalts aufgefangen werden. Wie Andreß/Seeck nachweisen können, wird diese Einkommenslücke durch staatliche Transferleistungen nur teilweise ausgeglichen. Diese Befunde sollten jedoch nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen verleiten. So kann eine prekäre Erwerbslage nicht pauschal mit einer prekären Lebenslage gleichgesetzt werden. Nicht jede Erwerbsperson, die prekär beschäftigt ist oder auf eine prekäre Berufsbiografie zurückschaut, lebt auch in prekärem Wohlstand. Unbestritten ist, dass beispielsweise eine geringfügige Beschäftigung auf 400 €-Basis nicht zur eigenständigen Bestreitung des Lebensunterhalts ausreicht. Auch sind die üblicherweise an reguläre Dauer- und Vollzeitbeschäftigung gekoppelten Rechtsansprüche wie Kündigungsschutz, Abfindungsregelungen oder Anwartschaften für Altersrenten nicht gegeben. Alle weiter oben angeführten Kriterien prekärer Arbeit sind erfüllt. Und doch wäre es ein Fehlschluss, von der Prekarität der Erwerbsstelle auf die Wohlstandslage der betreffenden Person zu schließen. Gerade im Falle von sogenannten Mini-Jobs auf 400 €-Basis wird das prekäre Potential der Erwerbsstelle immer dann eingehegt, wenn durch die geringfügige Beschäftigung ein Zusatzeinkommen zum Haushaltseinkommen erzielt wird („Hinzuverdienst“) und die betreffende Person ansonsten, etwa über risikoabsorbierende Haushaltsstrukturen bzw. stabile Partnerbeziehung abgesichert ist. Im Falle von Arbeitslosigkeit, Scheidung, Trennung oder Tod des Partners können sich allerdings abrupt die Lebensumstände ändern. Dann wird das schlummernde prekäre Potential buchstäblich über Nacht geweckt und die vormals erwünschte geringfügige Beschäftigung kann leicht zu einer Armutsfalle werden. Ganz ähnlich sind auch zahlreiche Arbeitsverhältnisse auf Teilzeitbasis zu bewerten. Umgekehrt ist es aber auch möglich, dass eine Erwerbsperson erst durch den Haushaltskontext in eine prekäre Lebenslage gerät, obwohl weder die aktuelle Erwerbsstelle noch der bisherige Erwerbsverlauf als prekär bezeichnet werden kann (vgl. Strengmann-Kuhn 2001). In diesem Falle wird Prekarität weder durch eine Erosion von sozialen Standards des aktuellen Beschäftigungsverhältnisses noch durch einen nach unten gerichteten Neigungswinkel der beruflichen Biografie hervorgerufen, sondern dadurch, dass infolge von Arbeitslosigkeit des Lebenspartners ein zusätzliches Arbeitseinkommen im Privathaushalt weggefallen ist oder mehrere nicht-erwerbsfähige Personen, wie insbesondere minderjährige Kinder, versorgt werden müssen. 84 Klaus Kraemer Abb. 1: Was ist prekär? Erwerbsstelle Erwerbsbiografie Lebenslage Prekärer Erwerbsverlauf Prekäre Wohlstandslage Prekärer Job Temporalisierung 6 Kontextualisierung Gefühlte Prekarisierung oder zum Verhältnis von Position und Sichtweise Eingangs ist Prekarität auf der Ebene der Erwerbsstelle bestimmt worden. Hierbei konnte gezeigt werden, dass weitere Differenzierungen unverzichtbar sind, um Aussagen über die Prekarität von Erwerbsverläufen und Lebenslagen machen zu können (vgl. Abb.1). Bei aller Differenzierung ist diesen Begriffsbestimmungen jedoch gemeinsam, dass das Phänomen von Prekarität oder Prekarisierung als objektive Benachteiligung gefasst wird, also im Sinne einer negativen statistischen Abweichung von einem Normalstandard. Im ersten Fall werden soziale und rechtliche Standards eines regulären Arbeitsverhältnisses unterschritten, im zweiten Fall ist der Erwerbsverlauf von wiederkehrenden Beschäftigungsunsicherheiten gekennzeichnet und im dritten Fall wird vom durchschnittlichen sozioökonomischen Absicherungsniveau eines Haushalts dauerhaft negativ abgewichen. Der Prekarisierungsbegriff würde jedoch zu kurz greifen, wenn er lediglich auf ein objektiv messbares, erhöhtes Risiko instabiler und ungeschützter Erwerbsstellen, Erwerbsverläufe oder Lebenslagen Bezug nimmt. Es gibt keine Erwerbsarbeit, die aufgrund spezifischer Merkmale an und für sich prekär ist. Erwerbsarbeit ist nicht allein schon deshalb prekär, weil sie so ist wie sie ist, sondern weil sie in Relation zu anderen Beschäftigungsformen als prekär bewertet wird. Prekarität – was ist das? 85 Prekarität ist das Ergebnis sozialer Zuschreibungen auf der Basis eines normativen Vergleichsmaßstabs. Der Referenzmaßstab für Prekarität ist – auf der Untersuchungsebene der Erwerbsstelle – das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, das mit bestimmten generalisierten Erwartungsmustern verbunden ist. Diese Normalitätserwartungen beziehen sich auf die Stetigkeit von Erwerbsverläufen, auf soziale Sicherheit durch kontinuierliche Erwerbsarbeit und auf einen spezifischen Arbeitnehmerstatus, der sich unter den historischen Bedingungen des Fordismus herausbilden konnte. Das klassische Normalarbeitsverhältnis ist – besser: war – gewissermaßen mit einem Schutzversprechen verbunden. Es fungierte im rheinischen Wohlfahrtskapitalismus als Leitnorm für Arbeits- und Sozialgesetzgebung, für Steuerrecht und Tarifparteien. Und es prägte die gesellschaftlichen Vorstellungen von „normaler“ und „guter“ Arbeit. Dass es zugleich männlich dominiert („Ernährer“) und auf der traditionellen geschlechtlichen Arbeitsverteilung im Haushalt beruhte, sollte nicht vernachlässigt werden. Was ist nun „gefühlte Prekarisierung“? Von „gefühlter Prekarisierung“ kann gesprochen werden, wenn die mit regulärer Beschäftigung verbundenen normativen Sicherheitserwartungen enttäuscht werden und das Schutzversprechen des Normalarbeitsverhältnisses erodiert; und zwar unabhängig davon, ob nach objektivierbaren Kriterien die aktuelle Erwerbsstelle oder der bisherige Erwerbsverlauf gefährdet ist oder nicht. So konnte in der bereits oben erwähnten Untersuchung unter Stammbelegschaften in der Automobilindustrie immer wieder die Sorge angetroffen werden, die eigene, bisher als sicher wahrgenommene Beschäftigung könne in einem wachsenden Umfeld prekärer Arbeitsstellen an Sicherheit einbüßen, obwohl dies aufgrund der eigenen Beschäftigungslage eher unwahrscheinlich ist. Genauer betrachtet speist sich die „gefühlte Prekarisierung“ aus unterschiedlichen Erfahrungen, die nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im sozialen Nahbereich gemacht werden und eine tiefgreifende Transformation von Erwartungssicherheiten anzeigen. Die bisherigen sozialen Erwartungssicherheiten beruhten auf dem Versprechen des alten rheinischen Sozialmodells, dass alle am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben können, solange man regulärer Erwerbsarbeit nachgeht oder zumindest im Falle von erzwungener Arbeitslosigkeit bereit ist, legale Erwerbsarbeit anzunehmen, die der eigenen beruflichen Qualifikation entspricht. Mit der Erosion des Sozialmodells werden zugleich die hieran gekoppelten Erwartungssicherheiten enttäuscht. Dies betrifft insbesondere die Erwartungen, dass reguläre Erwerbsarbeit ein hinreichender Garant für dauerhafte soziale Existenzsicherung sei (Kraemer 2006). Derartige Enttäuschungen schaffen einen Nährboden für eine Mentalitätslage, die mit dem Begriff der „gefühlten Prekarisierung“ umschrieben werden soll. Ein wesentliches Charakteristikum der gefühlten Prekarisierung besteht darin, dass die Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe und Lebensbiografien als „Rückkehr der Unsicherheit“ (Castel 2005) bis weit in mittlere soziale Lagen hinein wahrgenommen und als Bedrohung des einmal erreichten sozialen Lebensstandards bewertet wird. Gefühlte Prekarisierung wird durch den Umstand genährt, dass dauerhafte, auf die soziale Stellung im Erwerbssystem bezogene Statusgewissheiten nicht mehr selbstverständlich sind. Erwerbsbiografien verlaufen insbesondere gerade beim Übergang vom Bildungssystem in den Arbeitsmarkt weniger geradlinig. Der Übertritt in ein stabiles Beschäftigungsverhältnis dauert länger und Umwege über Werkverträge und Befristungen sind häufiger in Kauf zu nehmen. Weiter oben ist bereits darauf hingewiesen worden, dass sogar eine reguläre, unbefristete Vollzeitbeschäftigung nicht zwingend vor einer prekären 86 Klaus Kraemer Lebenslage oder sogar vor dem Abrutschen in Armut (working poor) schützen muss. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass insbesondere in jüngeren Geburtskohorten sowie unter Hochqualifizierten diskontinuierliche Erwerbsverläufe zugenommen haben und berufliche Karrierepfade weniger planbar geworden sind (vgl. Blossfeld/Klijzing/Mills/Kurz 2005; Blossfeld 2006). Erwartungssicherheiten in die Stabilität der eigenen Erwerbsstelle werden zudem in dem Maße untergraben wie betriebliche Senioritätsregeln aufgehoben, Bewährungsaufstiege im Unternehmen durch Near- und Outsourcing buchstäblich über Nacht zur Disposition gestellt und wohlerworbene betriebliche Sozialansprüche durch externe Marktschocks oder gesteigerte Renditeerwartungen der shareholder entwertet werden können. Weiter oben ist darauf hingewiesen worden, dass Prekarisierungsängste gerade auch unter Beschäftigten beobachtet werden können, deren Erwerbsstelle weder akut gefährdet ist noch deren Erwerbsbiografie droht, brüchig zu werden. Bereits Georg Simmel hat in der Abhandlung „Der Arme“ aufzeigen können, dass sich die Wahrnehmung der eigenen sozialen Lage als „arm“ nicht an statistischen Durchschnittsdaten oder objektivierbaren Chancenverteilungen orientiert, sondern an schichtspezifischen Erwartungshorizonten und damit an den Möglichkeiten des sozialen Nachbars. Dort formuliert es: „Vielmehr jedes allgemeine Milieu und jede besondere soziale Schicht besitzt typische Bedürfnisse, denen nicht genügen zu können Armut bedeutet. Daher ist es für alle entwickeltere Kultur banale Tatsache, daß Personen, die innerhalb ihrer Klasse arm sind, es innerhalb einer tieferen keineswegs wären, weil zu den für die letztere typischen Zwecken ihre Mittel zulangen würden.“ Und weiter heißt es, dass „die Armut sich innerhalb jeder sozialen Schicht zeigt, die einen Standard typischer (…) Bedürfnisse ausgebildet hat“ (Simmel 1992: 548f.). Aus diesem Grunde kann das jeweilige Armutsempfinden auch von offiziellen Armutsdefinitionen abweichen, woraus zu folgern ist, dass „Arm sein“ nur aus dem sozialen Selbstverständnis der jeweiligen Gruppe und dem „sozialen Apriori, das von Stand zu Stand wechselt“ (ebd.), eruiert werden kann. Dies gilt umso mehr für die Prekarisierungsproblematik, zumal Prekarität eine Schwebelage zwischen Wohlstands- und Armutslagen darstellt und deswegen auch vor allem ein transitorisches Phänomen ist. Wenn man Simmels Überlegungen zu einem relativistischen Armutsbegriff auf diese Problematik überträgt, dann kann geschlussfolgert werden, dass Prekarisierungsängste (Sichtweise/Wahrnehmung) nur bedingt auf die Prekarität der objektiven Erwerbslage (Position) zurückgeführt werden können. Selbst wenn die Position einer Erwerbslage nicht den weiter oben ausgeführten Kriterien von Prekarität entspricht, so kann die eigene Erwerbslage gleichwohl als gefährdet bewertet werden. Dies ist dann der Fall, wenn Erwerbspersonen spezifische Arbeitsplatzsicherheiten und Einkommenschancen nicht mehr antreffen, die innerhalb derselben Berufs- oder Beschäftigtenkategorie bislang gültig waren. Die gefühlte Prekarisierung dieser Erwerbspersonen gibt jedoch keinen Aufschluss darüber, ob die aktuellen sozialen Standards ihres Beschäftigungsverhältnisses auch tatsächlich unterhalb des durchschnittlichen Levels aller anderen Beschäftigungsgruppen gesunken sind. Hieraus ist zu schlussfolgern: Es gibt keine einfache Kausalität zwischen Position (Erwerbslage) und Sichtweise (Wahrnehmung). Beruflich-soziale Unsicherheiten werden aufgrund einer spezifischen Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Umbrüche von Arbeit und Beschäftigung artikuliert, die sich im Umfeld des eigenen, bislang als sicher wahrgenommenen Arbeitsplatzes abspielen. Sie können sind jedoch nicht als direkter Ausfluss der eigenen Erwerbslage interpretiert werden. Prekarität – was ist das? 7 87 Ausblick Abschließend sind vier Aspekte hervorzuheben, die für eine soziologische Analyse von Prekarisierungsprozessen besonders bedeutsam erscheinen: (1) In der Prekarisierungsbedatte werden zuweilen die Begriffe Prekarität und Armut synonym verwendet. Bei genauerer Betrachtung werden jedoch erhebliche Differenzen sichtbar. Der grundlegendste Unterschied besteht darin, dass mit dem Begriff Prekarität soziale Schwebelagen zwischen Wohlfahrt und Armut beschrieben werden sollen. Prekarität ist nicht mit Armut identisch. Zwar sind im Falle einer prekären Lage soziale Schutzmechanismen brüchig geworden. Von einem weitgehenden Schwund dieser Schutzmechanismen oder sogar von sozialer Ausgrenzung – wie dies etwa mit der Rede vom „abgehängten Prekariat“ unterstellt wird – kann hingegen nicht gesprochen werden. Personen in prekären Lagen sind Armutslagen nicht schutzlos ausgeliefert. Sie befinden sich vielmehr in einer transitorischen Zwischenlage, von der aus ein weiterer sozialer Abstieg zweifelsohne möglich sein kann. Zugleich ist aber auch in zahlreichen Fällen die – mühsame – Wiedererlangung einer schon einmal eingenommenen (relativen) Wohlfahrtsposition durchaus wahrscheinlich. Diese buchstäbliche soziale Unentschiedenheit macht die Prekarität einer sozialen Lage aus – und damit ihren sozialen Abstand sowohl zu Wohlstand als auch zu Armut. Übertragen auf die Einkommensdimension folgt beispielsweise hieraus, dass die Armutsschwelle bei 60 % des durchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommens zu veranschlagen ist, hingegen aber die Wohlfahrtsschwelle bei über 100 %. Zwischen der Armuts- und Wohlfahrtsschwelle wären dann prekäre Einkommenslagen anzusiedeln (vgl. Groh-Samberg 2004). (2) So wie das Verhältnis von Prekarität und Armut bislang kaum geklärt ist, so verhält es sich auch bei der Frage nach der Sozialstruktur der Prekarität. Die unzureichende sozialstrukturelle Erdung kann darauf zurückgeführt werden, dass Prekarisierung bislang ein zeitdiagnostischer Begriff zur Charakterisierung der sozialen Umbrüche der Arbeitsgesellschaft geblieben ist. In diesem Beitrag ist dafür plädiert worden, das Prekarisierungskonzept aus dem relativ engen Korsett der Arbeitssoziologie herauszulösen und es für weiterreichende Transformationsprozesse der Sozialstruktur zu nutzen, um den Wandel ungleicher Chancenverteilungen auch über den Horizont der Arbeitsgesellschaft hinaus in den Blick zu nehmen. Hierbei ist es unverzichtbar, den Prekarisierungsbegriff für die Analyse von Erwerbsverläufen und Lebenslagen fruchtbar zu machen und ihn damit für die allgemeine Sozialstrukturanalyse zu erschließen. Drei Kriterien sind bei der Analyse von Prekarität im sozialstrukturellen Gefüge unverzichtbar: Erstens ist Prekarität mehrdimensional zu analysieren. Auf der Individualebene bildet die Analyse der Erwerbslage sicherlich den Ausgangspunkt, während auf der Mesoebene der private Haushalt die zentrale Untersuchungsebene darstellt (Mehrdimensionalität). Zweitens verweist bereits der Begriff „Prekarisierung“ auf die Notwendigkeit einer dynamischen Sichtweise, die sich nicht in einer einfachen Dichotomisierung nach dem Muster drinnen/draußen erschöpft, sondern die Aufmerksamkeit auf abgestufte Lagen, Übergänge, Bewegungen und „Flugbahnen“ richtet. Prekarisierung ist kein Zustand, sondern ein sozialer Prozess der Gefährdung von stabilen Erwerbs- und Wohlfahrtslagen (Dynamisierung). Und drittens sind kaum zuverlässige Aussagen über das Ausmaß von Prekarisierung möglich, wenn der Haushaltskontext beispielsweise von prekär Beschäftigten nicht systematisch berücksichtigt wird. (Kontextualisierung). In den Blick zu nehmen ist die umfassendere Dimension der Lebenslage in diachroner (Erwerbsverlauf) und synchroner (Haushaltskontext) Hinsicht. 88 Klaus Kraemer Die Analyse der aktuellen Markt- bzw. Erwerbslage eines Individuums ist um die Analyse des Erwerbsverlaufs und die der Lebenslage zu ergänzen. In Analogie zur Armutsforschung wäre hierfür ein multidimensionales Konzept zu entwickeln, das die Analyse von Arbeit und Nicht-Arbeit einschließt und nach kumulierter Prekarität fragt. Die Erweiterung der Forschungsperspektive sollte zugleich darauf abzielen, nicht nur – im Sinne des Ressourcenansatzes – die Prekarität von Versorgungslagen (inputs) zu untersuchen, sondern gerade aus dem Blickwinkel des Erwerbsverlaufs und des Haushaltskontextes vorhandene bzw. verbliebene Handlungsspielräume (outcomes) auszuloten. (3) Konzepte der Sozialstrukturanalyse sind heranzuziehen, um die Frage zu überprüfen, ob Prekarisierung im Sinne einer positionalen, objektiven Prekarität buchstäblich überall anzutreffen und unabhängig von den Strukturen sozialer Ungleichheit verteilt ist. Zahlreiche empirische Studien haben eine signifikante Häufung von Prekarisierungsrisiken in bestimmten Alterskohorten, Berufs-, Bildungsgruppen und erwerbsbiografischen Phasen nachweisen können. So gelingt Gut- und Höherqualifizierten der Übergang von Befristung zu Unbefristung häufiger und rascher als Geringqualifizierten, ethnischen Minderheiten oder Personen mit niedriger Stellung innerhalb der betrieblichen Arbeitsorganisation (vgl. exemplarisch Giesecke/Groß 2002). Auffallend ist auch, dass die Befristungswahrscheinlichkeit von Erwerbsstellen beim Übergang vom Bildungssystem in den Arbeitsmarkt (Berufseinsteiger), nach längeren Arbeitslosigkeitsphasen oder bei der Rückkehr in Erwerbsarbeit nach der Betreuungsphase von Kindern (Frauen) überdurchschnittlich hoch ist. Überhaupt gilt: Multiple, dauerhafte, armutsnahe Prekarität ist häufiger in unterprivilegierten Berufsklassen – im Sinne des EGP-Klassenschemata – anzutreffen, während temporäre, wohlstandsnahe Prekarität besonders in mittleren Berufsklassen verbreitet ist (Groh-Samberg 2004). Auch ist die gefühlte Prekarisierung, etwa im Hinblick auf Arbeitsplatzunsicherheiten, nicht sozial indifferent auf alle Lagen verteilt. Ganz in diesem Sinne können beispielsweise auch die empirischen Befunde der subjektiven Wohlfahrtsforschung gedeutet werden, die eine signifikante Streuung der subjektiven Wahrnehmungen über das „bisher im leben Erreichte“, über den angemessenen Lebensstandard in Deutschland und dessen gerechte Verteilung zwischen den einzelnen sozialen Lagen belegen (StBA 2006: 590). (4) Die soziopolitische Brisanz von Prekarisierungsprozessen wird allerdings nicht nur innerhalb, sondern gerade auch außerhalb der „Zone der Prekarität“ sichtbar, wenn nicht nur positionale Merkmale der Erwerbs- und Lebenslage („erlebte Prekarisierung“) berücksichtigt, sondern zugleich beruflich-soziale Verunsicherungen („gefühlte Prekarisierung“) in die Betrachtung einbezogen werden. Gefühlte Prekarisierung, so lautet die abschließende These, ist nicht so sehr an den prekären Rändern der Arbeitsgesellschaft anzutreffen, sondern in ihrer Mitte. Mit anderen Worten ist die gefühlte Prekarisierung vornehmlich in Mittelklassenlagen anzutreffen, hingegen aber die erlebte Prekarisierung in unterprivilegierten Arbeitsmarktlagen. Die erlebte Prekarisierung sagt allerdings wenig über ihre Skandalisierbarkeit im öffentlichen Repräsentationsraum aus (vgl. Barlösius 2005). Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die sozialen Träger von Skandalisierungstechniken eher in den mittleren Soziallagen beheimatet sind. Prekarität – was ist das? 89 Literatur: Andreß, Hans-Jürgen, Till Seeck (2007): Ist das Normalarbeitsverhältnis noch armutsvermeidend? 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