beiträge 2-2008.indd - Karl-Franzens

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Abhandlungen
Klaus Kraemer
Prekarität – was ist das?
Abstract:
In den Sozialwissenschaften wird vermehrt auf den Begriff der „Prekarität“ zurückgegriffen, um die
Transformation der Arbeitsgesellschaft und ihre Auswirkungen auf die sozialen Arrangements von
Erwerbsarbeit zu analysieren. In diesem Beitrag wird dafür plädiert, Prekarisierungsprozesse nicht
nur auf der Ebene der Erwerbsarbeit zu untersuchen. Vielmehr wird ein mehrdimensionales Konzept
skizziert, das ausgehend von der besonderen Bedeutung von Erwerbsarbeit weitere Dimensionen der
Lebenslage einbezieht, um differenziertere Aussagen über Prekarisierung in Gegenwartsgesellschaften
machen zu können. Im Einzelnen wird zwischen den Untersuchungsdimensionen Erwerbsstelle,
Erwerbsverlauf und Lebenslage unterschieden. Hierbei wird gezeigt, dass Aussagen über das prekäre Potential einer Erwerbsarbeit nur bedingt Rückschlüsse auf die Prekarität der Erwerbs- und
Lebenslage zulassen. Zugleich wird vorgeschlagen, systematischer zwischen Prekarität im Sinne
einer negativen statistischen Abweichung von den sozialen Normalstandards eines geschützten
Arbeitsverhältnisses und einer subjektiv wahrgenommenen, „gefühlten“ Prekarität zu unterscheiden.
Diese Unterscheidung bietet die Möglichkeit, die Auswirkungen von Prekarisierung nicht nur an
den Rändern der Arbeitsgesellschaft zu untersuchen, sondern auch in ihrer Mitte.
1
Einleitung
Prekarität ist ein schillernder Begriff, der nicht nur in der Öffentlichkeit, sondern gerade auch
in den Sozialwissenschaften mehrdeutig verwendet wird. In diesem Beitrag ist genauer zu
problematisieren, was gemeint ist, wenn von Prekarität die Rede ist. Was ist das Besondere
von Prekarität? Sind Prekarität und Armut das Gleiche? Oder werden unterschiedliche
Phänomene mit ein und demselben Begriff angesprochen? Was unterscheidet Prekarität
von anderen Formen der sozialen Benachteiligung oder ungleichen Chancenverteilung?
Vor allem ist zu fragen: Wodurch wird Prekarität zu einer soziologischen Kategorie, die
über eine rein sozialstatistische Bündelung von Merkmalen hinausgeht? Hierbei soll die
Aufmerksamkeit auf die Frage gerichtet werden, ob Prekarität quer zu den Strukturen
sozialer Ungleichheit liegt. Kann man von einer sozialen Entgrenzung von Prekarisierungsrisiken sprechen, wie dies Bourdieu (1998) in dem kleinen Beitrag „Prekarität ist überall“
nahe gelegt hat? Oder muss man von einer Wahrscheinlichkeitsverteilung von Prekarität
entlang sozialer Lebenslagen ausgehen? Vor dem Hintergrund dieser begrifflichen und
konzeptionellen Unklarheiten erscheint es ratsam, Prekarisierung stärker in Beziehung
Arbeit, Heft 1, Jg. 17 (2008), S. 77-90
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Klaus Kraemer
zu Strukturen sozialer Ungleichheit zu setzen und nicht hiervon abzukoppeln.
Im Folgenden wird ein konzeptioneller Rahmen für die Analyse von Prekarität skizziert. Das Prekarisierungskonzept wird hierbei nicht nur – wie üblicherweise – auf die
Analyse der Erwerbsarbeit und den Wandel der Arbeitsgesellschaft in einem engeren
Sinne beschränkt. Zugleich wird die umfassendere Dimension der Lebenslage einbezogen, um Aussagen über die gegenwärtige Transformation der Sozialstruktur in modernen
kapitalistischen Gesellschaften machen zu können. Im Einzelnen ist zu prüfen, inwieweit
das in der Ungleichheitssoziologie und Sozialstrukturforschung entwickelte Konzept der
Lebenslage für die Operationalisierung von Prekarität nutzbar gemacht werden kann.
Im Zuge einer allgemeinen Kulturalisierung der Sozialstrukturanalyse seit den späten
1970er Jahren ist die Arbeitswelt aus dem soziologischen Beobachtungsfokus der Analyse
von Strukturen sozialer Ungleichheit gerückt. So haben zahlreiche Autoren – exemplarisch
sind Lüdtke (1989) und Schulze (1992) anzuführen – die These popularisiert, dass die
ökonomischen Bedingungen keinen zentralen Beitrag zur Konstitution sozialstruktureller
Ungleichheitsverhältnisse mehr leisten. Vielmehr seien ästhetisch-expressive Lebensstile
konstitutiv für die subjektive Konstruktion sozial strukturierter Ungleichheiten geworden
(ähnlich neuerdings auch Hellmann 2006). Derartige Ansätze haben zwar die soziologische
Aufmerksamkeit auf neue Erscheinungsformen von sozialer Ungleichheit gerichtet und
damit die Ungleichheitsforschung um wichtige Dimensionen erweitert. Zugleich wurde
allerdings die fortdauernde Wirkung ökonomischer Ungleichheiten auf das sozialstrukturelle Gefüge unterschätzt. Gegenüber diesen Lebensstilanalysen hat etwa Kreckel (2004)
an die herausragende Bedeutung von Arbeitsmarktlagen für Ungleichheitsanalysen festgehalten. Mit der Prekarisierungsdebatte scheint sich nun wieder, so könnte man an Max
Weber erinnern, die sozioökonomische Marktlage gegenüber quasi-ständischen Lagen
bzw. „Lebensstilen“ und „Milieus“ stärker in den Vordergrund der soziologischen Analyse
zu schieben. Gerade Weber (1980: 539) hat darauf aufmerksam gemacht, dass marktvermittelte Erwerbsklassenlagen in Zeiten technisch-ökonomischer Umbrüche (wieder) an
Bedeutung für soziale Stratifizierungsprozesse gewinnen, während „ständische“ Lagen
und Vergemeinschaftungen an Einfluss verlieren, die nicht an der Marktlage, sondern am
Prinzip der sozialen „Ehre“ ausgerichtet sind.
2
Prekäre Erwerbsarbeit
Prekarität ist kein Begriff, mit dem ein beliebiger sozialer Wandel beschrieben wird.
Vielmehr wird mit dem Begriff seit den wegweisenden Arbeiten von Robert Castel (2000;
2005) eine tiefgreifende Transformation gegenwärtiger Arbeitsgesellschaften diagnostiziert,
die insbesondere durch die Rückkehr von Formen der Lohnarbeit (Rekommodifizierung)
charakterisiert ist, von denen man unter den Bedingungen des fordistischen Kapitalismus
und des rheinischen Wohlfahrtsstaates annahm, dass diese überwunden seien. Betrachtet man die Debatte genauer, dann fällt auf, dass von Prekarität gesprochen wird, um
ein Beschäftigungsverhältnis zu charakterisieren, das bestimmte soziale und rechtliche
Standards unterschreitet, die üblicherweise durch Arbeits- und Tarifrecht, Sozialpolitik
und Sozialversicherung garantiert sind und als „normal“ angesehen werden (MayerAhuja 2003). Prekär, so lautet die Argumentation, ist Erwerbsarbeit dann, wenn sonst
übliche Sicherheitsgarantien und Rechtsansprüche nur eingeschränkt gültig sind oder
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diese überhaupt nicht gewährt werden. Prekarität zeigt sich in der negativen Abweichung
von Normalitätsstandards der Erwerbsarbeit bzw. in der strukturellen Benachteiligung
gegenüber Formen der Erwerbsarbeit, die sich an der Norm des klassischen, sozial abgesicherten „Normalarbeitsverhältnisses“ (Mückenberger 1985) orientieren. So betrachtet
ist ein Arbeitsverhältnis dann prekär, wenn Beschäftigung und Einkommen auf längere
Sicht ungewiss sind, Arbeitnehmerrechte nur eingeschränkt gültig sind und der Wertigkeitsstatus fragil ist. Ein prekär Beschäftigter befindet sich damit in einer eigentümlichen
sozialen Schwebelage (vgl. Kraemer/Speidel 2005; Kraemer 2007), in der die Hoffnung
stets präsent ist, über den Umweg einer unsicheren Arbeitsstelle den Sprung in eine stabile
Beschäftigung zu schaffen, zugleich aber auch die Sorge bzw. Angst verbreitet ist, sozial
abzusteigen und sich dauerhaft in prekären Beschäftigungsverhältnissen einrichten zu
müssen, falls die Rückkehr auf einen gesicherten Arbeitsplatz nicht gelingen sollte.
3
Beschäftigung vs. Arbeitstätigkeit
An dieser Stelle ist eine weitere Differenzierung vorzunehmen, um belastbare Aussagen über Prekarität zu machen. Im Rahmen einer eigenen Untersuchung über prekäre
Beschäftigungsverhältnisse1 wurden zahlreiche IT-Spezialisten in der Finanzwirtschaft,
Freelancer in der Werbebranche sowie Wissenschaftler im universitären Feld befragt,
deren Beschäftigungsverhältnisse von den Normalitätsstandrads dauerhafter, sozial geschützter Erwerbsstellen abweichen. Diese Befragten verfügen über keine „feste Stelle“
mit entsprechenden Entgeltregelungen, Kündigungsfristen und Sozialansprüchen, sondern
sie sind im Rahmen von Werk-, Projekt- oder Kettenverträgen atypisch beschäftigt. Die
Probanden geben an, dass sie über keine Planungssicherheit bezüglich ihres Arbeitsplatzes
verfügen, da sie nicht wissen, bei welchem Arbeitgeber, in welcher Projektgruppe und in
welcher Position sie in einigen Monaten beschäftigt sein werden. Trotz der Unstetigkeit
ihrer Beschäftigungssituation wäre es jedoch kurzschlüssig, die Erwerbssituation der
Befragten pauschal als prekär zu klassifizieren. Charakteristisch für die befragten IT-Spezialisten und Werbefachleute ist beispielsweise, dass sie sich in besonderer Weise mit den
Inhalten und Produkten ihrer Arbeit sowie mit der Beruflichkeit und Professionalität ihrer
Tätigkeit identifizieren. Trotz der unsicheren Rahmenbedingungen des Arbeitskontraktes verfügen die Befragten über relevante Autonomie- und Entscheidungsspielräume in
der Arbeit, die ganz besonders wertgeschätzt werden. Hierin kommen ein ausgeprägtes
fachlich-berufliches Selbstbewusstsein sowie hohe Ansprüche an die Professionalität der
eigenen Arbeitstätigkeit zum Ausdruck.
Um genauere Aussagen über die Prekarität einer Arbeitsstelle machen zu können,
die derartige Besonderheiten berücksichtigt, sind deswegen auch zwei Ebenen analytisch voneinander zu unterscheiden: Auf der ersten Ebene ist die formale Struktur des
Beschäftigungsverhältnisses zu betrachten, während auf der zweiten Ebene nach der
konkreten Form der Arbeits- und Berufstätigkeit zu fragen ist. Unter der Struktur des
Beschäftigungsverhältnisses ist der Arbeitskontrakt (z.B. befristet/unbefristet), das
Erwerbseinkommen (z.B. stetig/unstetig), arbeitsrechtliche (Kündigungsschutz) sowie
1
Hierbei handelt es sich um das Forschungsprojekt „Prekäre Beschäftigungsverhältnisse und soziale Desintegration“, das dem BMBF-Forschungsverbund „Desintegrationsprozesse – Stärkung von Integrationspotentialen einer modernen Gesellschaft“ zugeordnet war. Zu Methodik und Untersuchungsdesign siehe
Dörre/Kraemer/Speidel (2006).
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Klaus Kraemer
tarifliche und betriebliche Rahmenbedingungen (Sozialleistungen) der Erwerbsstelle zu
fassen. Neben der Struktur des Beschäftigungsverhältnisses ist zugleich die konkrete
Form der Arbeits- und Berufstätigkeit in den Blick zu nehmen. Hierbei geht es vor allem
darum, sinnhaft-subjektbezogene und sozialkommunikative Dimensionen der konkreten
Arbeitstätigkeit zu betrachten. Zu fragen ist, ob die Beschäftigten mit und in der Arbeit
zufrieden sind, ob eigene Ansprüche an die Professionalität der Tätigkeit erfüllt werden
können, ob die zeitlichen und sachlichen Arbeitsbedingungen mitgestaltet werden können,
ob die Beschäftigten an betrieblichen Vergemeinschaftungen teilhaben oder Zugang zu
beruflich-sozialen Netzwerken innerhalb und außerdem des Unternehmens haben. Wie am
Beispiel der befragten hochqualifizierten IT-Experten und Freelancer in der Werbebranche
aufgezeigt werden kann, ist jedenfalls kein einfacher kausaler Zusammenhang zwischen
dem Prekaritätsgrad des Beschäftigungsverhältnisses und dem Ausmaß der Zufriedenheit
in der Arbeit festzustellen.
Umgekehrt verhält es sich bei befragten Fachverkäufern im Einzelhandel, die angeben,
in hohem Maße mit der gegenwärtigen Arbeit unzufrieden zu sein, obwohl sie über eine
dauerhafte und stabile Erwerbsstelle verfügen, die keinerlei Merkmale von Prekarität
aufweist. Die beobachtete beruflich-soziale Unzufriedenheit ergibt sich in diesen Fällen
aus dem Umstand, dass die qualifizierten Fachverkäufer im Unternehmen nicht mehr
ausbildungsadäquat eingesetzt werden, sondern „in der Schnäppchenabteilung an der
Kasse sitzen“ und dies als berufliche Dequalifizierung erfahren sowie als Entzug ihrer
Anerkennung im Beruf bewerten. Diese Untersuchungsgruppe unterscheidet sich wiederum
von befragten Leiharbeitern in der Automobilindustrie, deren Beschäftigungsverhältnisse
die oben genannten Kriterien von Prekarität erfüllen. Zugleich haben sie alle qualitativen
Ansprüche an die konkrete Arbeitstätigkeit zurückgestellt („Hauptsache Arbeit“) und bis
auf weiteres suspendiert, um nach einer längeren Phase von Arbeitslosigkeit überhaupt
wieder einen Arbeitsplatz zu haben. Eine prekäre Erwerbstelle erscheint ihnen als einzig
verbliebene Exit-Option aus der Arbeitslosigkeit. Deswegen sind die befragten Leiharbeiter
bereit, einer nicht ausbildungsadäquaten Tätigkeit nachzugehen, obwohl sie allesamt über
eine qualifizierte Berufsausbildung verfügen und obendrein jahrelang im erlernten Beruf
gearbeitet haben. In diesem Fall ist nicht nur das Beschäftigungsverhältnis, sondern auch
die konkrete Arbeitstätigkeit als prekär zu bezeichnen.
4
Prekäre Erwerbslage
Der Begriff der Prekarität ist im bisherigen Verlauf der Argumentation verwendet worden, um die Erosion sozial geschützter Beschäftigungsverhältnisse zu beschreiben. Es
stellt sich jedoch die Frage, ob mit der Bewertung eines Beschäftigungsverhältnisses
auch Rückschlüsse auf die allgemeine Erwerbslage eines Beschäftigten gemacht werden
können. Sind Aussagen über Prekarisierungsrisiken im weiteren Erwerbsverlauf möglich,
wenn der gegenwärtige Erwerbsstatus befristet ist, das Arbeitseinkommen nicht-existenzsichernd ist und auch sonst keine oder nur marginale Ansprüche gegenüber dem sozialen
Sicherungssystem bestehen. Mit anderen Worten ist zu problematisieren: Kann eine Erwerbslage im Zeitverlauf als prekär bezeichnet werden, wenn die aktuelle Erwerbsstelle
alle Merkmale von Prekarität aufweist? Um diese Frage zu beantworten, ist, ganz ähnlich
wie in der soziologischen Armutsforschung (vgl. Ludwig-Mayerhofer/Barlösius 2001),
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eine Dynamisierung bzw. Verzeitlichung der Analyse von Prekarität unumgänglich. Um
Aussagen über die Prekarität einer Erwerbslage machen zu können, ist nämlich nicht nur
das aktuelle Beschäftigungsverhältnis, sondern der Erwerbsverlauf in die Betrachtung
einzubeziehen. Eine dynamische oder verzeitlichte Analyse von Prekarität richtet die
Aufmerksamkeit darauf, ob eine als prekär klassifizierte Erwerbsstelle dauerhaft ausgeübt
wird oder ob eine prekäre Erwerbsarbeit eine kurze, nicht wiederkehrende Episode im
Verlauf der Berufsbiografie darstellt bzw. eine Passage in eine stabile Erwerbslage ist.
Verfestigt sich eine prekäre Erwerbssequenz im Erwerbsverlauf, so dass Übergänge in
stabile Beschäftigung schwieriger oder unwahrscheinlicher sind?
Atypisch oder befristet Beschäftigte befinden sind keineswegs zwangsläufig in einer
prekären Erwerbslage. Auch wenn ihre Erwerbsstelle den rechtlichen Standards eines
regulären Beschäftigungsverhältnisses nicht entspricht, so können sie durchaus auf eine
stabile und kontinuierliche Erwerbsbeteiligung zurückblicken. Dies ist immer dann der
Fall, wenn Übergänge zwischen den Arbeitsstellen relativ reibungsarm gelingen, Phasen
der Sucharbeitslosigkeit kurz sind oder ein häufiger Arbeitsplatzwechsel sogar förderlich
für berufliche Karrierepfade ist. Beispielsweise konnte unter befragten hochqualifizierten
„Freelancern“ in der IT-Industrie, im Bankenbereich und in der Werbewirtschaft eine
stabile Erwerbsbeteiligung beobachtet werden, obwohl sie – aufgrund der Projektförmigkeit der Arbeitsorganisation – die Arbeitsstelle oder den Arbeitgeber häufig wechseln.
Eine stabile Erwerbsbeteiligung muss nicht mit einem stabilen Beschäftigungsverhältnis
identisch sein. Deswegen ist es auch alles andere als zwingend, atypisch Beschäftigte a
priori als prekär zu klassifizieren (vgl. auch Betzelt 2006).
Diese Befunde deuten darauf hin, dass die Frage, ob eine Erwerbsbeteiligung im
Erwerbsverlauf stabil oder instabil ist, erst dann beantwortet werden kann, wenn erstens die Höhe und Stetigkeit des Arbeitseinkommens betrachtet, zweitens die Dauer
von Beschäftigungszeiten in den Blick genommen, drittens die Dauer des Bezugs von
Lohnersatzleistungen berücksichtigt und viertens die Nähe oder Ferne der einzelnen
Erwerbsstellen zum dauerhaft gesicherten „Normalarbeitsverhältnis“ analysiert werden
(vgl. Bartelheimer 2006). Genauer ist zu fragen: Welche Erwerbssequenzen dominieren
im Erwerbsverlauf? Wie sind Übergänge im Erwerbsverlauf zu bewerten, z.B. von einer
zur nächsten Erwerbsstelle, von Arbeit zu Nicht-Arbeit, von Nicht-Arbeit zu Weiterbildung, von Familienarbeit zurück zu Erwerbsarbeit etc.? Verweisen diese Übergänge im
Erwerbsverlauf auf Statuspassagen mit positivem oder negativem Neigungswinkel?
Bei einer nicht-isolierenden Betrachtung einzelner Stationen wird deutlich, dass
weder Befristung gleich Befristung noch Arbeitslosigkeit gleich Arbeitslosigkeit ist. Es
macht einen grundlegenden Unterschied, ob ein Arbeitsloser, wie etwa in Deutschland,
Lohnersatzleistungen auf der Grundlage von Rechtsansprüchen (Arbeitslosengeld I)
bezieht oder ob er nach dem Sozialgesetzbuch II hilfebedürftig ist und das sogenannte
Arbeitslosengeld II erhält. Können in Phasen der Arbeitslosigkeit Weiterbildungsansprüche
geltend gemacht werden, um die eigene „Beschäftigungsfähigkeit“ zu erhalten oder zu
verbessern? Ist während der Arbeitslosigkeit die Ablehnung unterwertiger Erwerbsstellen
und die Suche nach bildungsadäquater Beschäftigung noch möglich? Oder sind die individuellen Handlungsspielräume bereits so stark eingeschränkt, weil bedürftigkeitsgeprüfte
Sozialleistungen in Anspruch genommen werden und staatliche Institutionen die Annahme jeder legalen Beschäftigung unter Androhung von Sanktionsmaßnahmen erzwingen
können? Gelingt nach einer Arbeitslosigkeitsphase der Sprung zurück in eine angemessen
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Klaus Kraemer
entlohnte, stabile und längerfristige Beschäftigung? Ist eine prekäre Erwerbsstelle also
nur ein temporäres Phänomen im Erwerbsverlauf oder ist sie zur neuen Normalität, zum
Dauerzustand geworden?
Um bestimmte Ereignisse im Erwerbsverlauf wie Befristungen, Werkverträge, Arbeitslosigkeit, Weiterbildung etc. bewerten zu können, ist die Qualität und Dauer jener
Erwerbssequenzen zu analysieren, die an vorangegangene Sequenzen (z.B. Arbeitslosigkeit)
anschließen. Erst wenn die einzelnen Stationen der Erwerbsbiografie nicht isoliert, sondern
im Zusammenhang betrachtet werden, können Aussagen über den Neigungswinkel der
Erwerbsbiografie und damit über die Nähe oder Ferne eines Erwerbsverlaufs zu wohlstandsnahen und armutsnahen Erwerbslagen gemacht werden. Erst dann kann auch die
Frage beantwortet werden, ob Prekarität im Erwerbsverlauf ein transitorisches Problem
ist, das von vorübergehender Bedeutung ist oder ob sich Prekarität dauerhaft verfestigt.
Anzunehmen ist, dass Dauer und Intensität von Prekarität in wohlstandsnahen Lagen
tendenziell begrenzt, während sie in armutsnahen Lagen tendenziell entgrenzt sind.
5
Prekäre Lebenslage
Im vorangegangenen Abschnitt ist begründet worden, warum der aktuelle Erwerbsstatus
für sich betrachtet kaum ausreicht, um belastbare Aussagen über Prekarisierungsrisiken
zu machen. Deswegen ist der Erwerbsverlauf einbezogen und dafür plädiert worden, die
„Marktlage“ (Weber) einer Erwerbsperson nicht isoliert zu betrachten, sondern sie erwerbsbiografisch einzuordnen und die einzelnen Erwerbsstationen in Beziehung zueinander zu
setzen. Diese soziale Kontextualisierung der Prekarisierungsproblematik würde allerdings
auf halbem Wege stehen bleiben, wenn lediglich individuelle Erwerbsverläufe berücksichtigt
werden. Deswegen ist eine weitere Differenzierung von Prekarität vorzunehmen. Neben
der sozialen Flugbahn des Erwerbsverlaufs einer Person ist zudem der Haushaltskontext
in die Betrachtung einzubeziehen, wenn Aussagen über prekäre Lebenslagen gemacht
werden sollen. Einerseits können prekäre Erwerbslagen im Haushalt aufgefangen und
gewissermaßen entproblematisiert werden, wenn andere zuverlässige Erwerbseinkommen
oder zusätzliche Einkommensquellen vorhanden sind, die die längerfristige Planbarkeit
des eigenen Lebensentwurfs ermöglichen. Andererseits kann sich eine Person in einer
stabilen und sozial abgesicherten Erwerbslage befinden, die auch im Zeitverlauf keinerlei
Merkmale von Prekarität aufweist, und trotzdem aufgrund der Haushaltsstruktur in eine
prekäre Lebenslage geraten.
Von einer Kumulation der Prekarität auf der Ebene der Lebenslage kann dann gesprochen werden, wenn sowohl die aktuelle Arbeitsstelle als auch der bisherige Erwerbsverlauf
prekär im obigen Sinne ist und diese Prekarität aufgrund des Haushaltskontextes eher
noch verstärkt als abgemildert wird. In diesem Zusammenhang ist auf eine Untersuchung
von Andreß/Seeck (2007) hinzuweisen, in der auf der Grundlage der Daten des Sozioökonomischen Panels (SOEP) aus den Jahren 1991 bis 2004 festgestellt werden konnte,
dass ein kleiner, aber zunehmender Teil der unbefristet Vollzeitbeschäftigten sich allein
vom Nettolohn kaum finanzieren kann (unter 700,56 €: Westdeutschland: 2,5 %, Ostdeutschland: 8,2 %; alle Angaben für 2004). Bemerkenswerterweise wird diese Quote
nicht geringer, sondern größer, wenn der Haushaltskontext dieser Vollzeitbeschäftigten,
also der jeweilige Einkommensbedarf, aber auch die zusätzlichen Einkommen weiterer
Prekarität – was ist das?
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Haushaltsmitglieder berücksichtigt werden (Westdeutschland: 8,3 %, Ostdeutschland 18,1
%). In diesen Fällen kann eine unzureichende individuelle Existenzsicherung durch unbefristete Vollzeiterwerbstätigkeit auch nicht mehr durch den gesamten Einkommenspool
des Haushalts aufgefangen werden. Wie Andreß/Seeck nachweisen können, wird diese
Einkommenslücke durch staatliche Transferleistungen nur teilweise ausgeglichen.
Diese Befunde sollten jedoch nicht zu vorschnellen Schlussfolgerungen verleiten. So
kann eine prekäre Erwerbslage nicht pauschal mit einer prekären Lebenslage gleichgesetzt werden. Nicht jede Erwerbsperson, die prekär beschäftigt ist oder auf eine prekäre
Berufsbiografie zurückschaut, lebt auch in prekärem Wohlstand. Unbestritten ist, dass
beispielsweise eine geringfügige Beschäftigung auf 400 €-Basis nicht zur eigenständigen Bestreitung des Lebensunterhalts ausreicht. Auch sind die üblicherweise an reguläre
Dauer- und Vollzeitbeschäftigung gekoppelten Rechtsansprüche wie Kündigungsschutz,
Abfindungsregelungen oder Anwartschaften für Altersrenten nicht gegeben. Alle weiter
oben angeführten Kriterien prekärer Arbeit sind erfüllt. Und doch wäre es ein Fehlschluss, von der Prekarität der Erwerbsstelle auf die Wohlstandslage der betreffenden
Person zu schließen. Gerade im Falle von sogenannten Mini-Jobs auf 400 €-Basis wird
das prekäre Potential der Erwerbsstelle immer dann eingehegt, wenn durch die geringfügige Beschäftigung ein Zusatzeinkommen zum Haushaltseinkommen erzielt wird
(„Hinzuverdienst“) und die betreffende Person ansonsten, etwa über risikoabsorbierende
Haushaltsstrukturen bzw. stabile Partnerbeziehung abgesichert ist. Im Falle von Arbeitslosigkeit, Scheidung, Trennung oder Tod des Partners können sich allerdings abrupt die
Lebensumstände ändern. Dann wird das schlummernde prekäre Potential buchstäblich
über Nacht geweckt und die vormals erwünschte geringfügige Beschäftigung kann leicht
zu einer Armutsfalle werden. Ganz ähnlich sind auch zahlreiche Arbeitsverhältnisse auf
Teilzeitbasis zu bewerten. Umgekehrt ist es aber auch möglich, dass eine Erwerbsperson
erst durch den Haushaltskontext in eine prekäre Lebenslage gerät, obwohl weder die
aktuelle Erwerbsstelle noch der bisherige Erwerbsverlauf als prekär bezeichnet werden
kann (vgl. Strengmann-Kuhn 2001). In diesem Falle wird Prekarität weder durch eine
Erosion von sozialen Standards des aktuellen Beschäftigungsverhältnisses noch durch
einen nach unten gerichteten Neigungswinkel der beruflichen Biografie hervorgerufen,
sondern dadurch, dass infolge von Arbeitslosigkeit des Lebenspartners ein zusätzliches
Arbeitseinkommen im Privathaushalt weggefallen ist oder mehrere nicht-erwerbsfähige
Personen, wie insbesondere minderjährige Kinder, versorgt werden müssen.
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Klaus Kraemer
Abb. 1: Was ist prekär?
Erwerbsstelle
Erwerbsbiografie
Lebenslage
Prekärer
Erwerbsverlauf
Prekäre
Wohlstandslage
Prekärer
Job
Temporalisierung
6
Kontextualisierung
Gefühlte Prekarisierung oder zum Verhältnis von Position und
Sichtweise
Eingangs ist Prekarität auf der Ebene der Erwerbsstelle bestimmt worden. Hierbei konnte
gezeigt werden, dass weitere Differenzierungen unverzichtbar sind, um Aussagen über
die Prekarität von Erwerbsverläufen und Lebenslagen machen zu können (vgl. Abb.1).
Bei aller Differenzierung ist diesen Begriffsbestimmungen jedoch gemeinsam, dass das
Phänomen von Prekarität oder Prekarisierung als objektive Benachteiligung gefasst wird,
also im Sinne einer negativen statistischen Abweichung von einem Normalstandard. Im
ersten Fall werden soziale und rechtliche Standards eines regulären Arbeitsverhältnisses
unterschritten, im zweiten Fall ist der Erwerbsverlauf von wiederkehrenden Beschäftigungsunsicherheiten gekennzeichnet und im dritten Fall wird vom durchschnittlichen
sozioökonomischen Absicherungsniveau eines Haushalts dauerhaft negativ abgewichen.
Der Prekarisierungsbegriff würde jedoch zu kurz greifen, wenn er lediglich auf ein objektiv
messbares, erhöhtes Risiko instabiler und ungeschützter Erwerbsstellen, Erwerbsverläufe
oder Lebenslagen Bezug nimmt.
Es gibt keine Erwerbsarbeit, die aufgrund spezifischer Merkmale an und für sich
prekär ist. Erwerbsarbeit ist nicht allein schon deshalb prekär, weil sie so ist wie sie ist,
sondern weil sie in Relation zu anderen Beschäftigungsformen als prekär bewertet wird.
Prekarität – was ist das?
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Prekarität ist das Ergebnis sozialer Zuschreibungen auf der Basis eines normativen Vergleichsmaßstabs. Der Referenzmaßstab für Prekarität ist – auf der Untersuchungsebene
der Erwerbsstelle – das sogenannte Normalarbeitsverhältnis, das mit bestimmten generalisierten Erwartungsmustern verbunden ist. Diese Normalitätserwartungen beziehen sich
auf die Stetigkeit von Erwerbsverläufen, auf soziale Sicherheit durch kontinuierliche Erwerbsarbeit und auf einen spezifischen Arbeitnehmerstatus, der sich unter den historischen
Bedingungen des Fordismus herausbilden konnte. Das klassische Normalarbeitsverhältnis
ist – besser: war – gewissermaßen mit einem Schutzversprechen verbunden. Es fungierte
im rheinischen Wohlfahrtskapitalismus als Leitnorm für Arbeits- und Sozialgesetzgebung,
für Steuerrecht und Tarifparteien. Und es prägte die gesellschaftlichen Vorstellungen von
„normaler“ und „guter“ Arbeit. Dass es zugleich männlich dominiert („Ernährer“) und
auf der traditionellen geschlechtlichen Arbeitsverteilung im Haushalt beruhte, sollte nicht
vernachlässigt werden.
Was ist nun „gefühlte Prekarisierung“? Von „gefühlter Prekarisierung“ kann gesprochen
werden, wenn die mit regulärer Beschäftigung verbundenen normativen Sicherheitserwartungen enttäuscht werden und das Schutzversprechen des Normalarbeitsverhältnisses
erodiert; und zwar unabhängig davon, ob nach objektivierbaren Kriterien die aktuelle
Erwerbsstelle oder der bisherige Erwerbsverlauf gefährdet ist oder nicht. So konnte in
der bereits oben erwähnten Untersuchung unter Stammbelegschaften in der Automobilindustrie immer wieder die Sorge angetroffen werden, die eigene, bisher als sicher
wahrgenommene Beschäftigung könne in einem wachsenden Umfeld prekärer Arbeitsstellen an Sicherheit einbüßen, obwohl dies aufgrund der eigenen Beschäftigungslage
eher unwahrscheinlich ist.
Genauer betrachtet speist sich die „gefühlte Prekarisierung“ aus unterschiedlichen
Erfahrungen, die nicht nur in der Arbeitswelt, sondern auch im sozialen Nahbereich gemacht werden und eine tiefgreifende Transformation von Erwartungssicherheiten anzeigen.
Die bisherigen sozialen Erwartungssicherheiten beruhten auf dem Versprechen des alten
rheinischen Sozialmodells, dass alle am gesellschaftlichen Wohlstand teilhaben können,
solange man regulärer Erwerbsarbeit nachgeht oder zumindest im Falle von erzwungener
Arbeitslosigkeit bereit ist, legale Erwerbsarbeit anzunehmen, die der eigenen beruflichen
Qualifikation entspricht. Mit der Erosion des Sozialmodells werden zugleich die hieran
gekoppelten Erwartungssicherheiten enttäuscht. Dies betrifft insbesondere die Erwartungen,
dass reguläre Erwerbsarbeit ein hinreichender Garant für dauerhafte soziale Existenzsicherung sei (Kraemer 2006). Derartige Enttäuschungen schaffen einen Nährboden für eine
Mentalitätslage, die mit dem Begriff der „gefühlten Prekarisierung“ umschrieben werden
soll. Ein wesentliches Charakteristikum der gefühlten Prekarisierung besteht darin, dass
die Zunahme diskontinuierlicher Erwerbsverläufe und Lebensbiografien als „Rückkehr
der Unsicherheit“ (Castel 2005) bis weit in mittlere soziale Lagen hinein wahrgenommen
und als Bedrohung des einmal erreichten sozialen Lebensstandards bewertet wird.
Gefühlte Prekarisierung wird durch den Umstand genährt, dass dauerhafte, auf die
soziale Stellung im Erwerbssystem bezogene Statusgewissheiten nicht mehr selbstverständlich sind. Erwerbsbiografien verlaufen insbesondere gerade beim Übergang vom
Bildungssystem in den Arbeitsmarkt weniger geradlinig. Der Übertritt in ein stabiles
Beschäftigungsverhältnis dauert länger und Umwege über Werkverträge und Befristungen
sind häufiger in Kauf zu nehmen. Weiter oben ist bereits darauf hingewiesen worden, dass
sogar eine reguläre, unbefristete Vollzeitbeschäftigung nicht zwingend vor einer prekären
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Klaus Kraemer
Lebenslage oder sogar vor dem Abrutschen in Armut (working poor) schützen muss. Bezeichnend ist in diesem Zusammenhang, dass insbesondere in jüngeren Geburtskohorten
sowie unter Hochqualifizierten diskontinuierliche Erwerbsverläufe zugenommen haben und
berufliche Karrierepfade weniger planbar geworden sind (vgl. Blossfeld/Klijzing/Mills/Kurz
2005; Blossfeld 2006). Erwartungssicherheiten in die Stabilität der eigenen Erwerbsstelle
werden zudem in dem Maße untergraben wie betriebliche Senioritätsregeln aufgehoben,
Bewährungsaufstiege im Unternehmen durch Near- und Outsourcing buchstäblich über
Nacht zur Disposition gestellt und wohlerworbene betriebliche Sozialansprüche durch
externe Marktschocks oder gesteigerte Renditeerwartungen der shareholder entwertet
werden können.
Weiter oben ist darauf hingewiesen worden, dass Prekarisierungsängste gerade auch
unter Beschäftigten beobachtet werden können, deren Erwerbsstelle weder akut gefährdet
ist noch deren Erwerbsbiografie droht, brüchig zu werden. Bereits Georg Simmel hat in
der Abhandlung „Der Arme“ aufzeigen können, dass sich die Wahrnehmung der eigenen
sozialen Lage als „arm“ nicht an statistischen Durchschnittsdaten oder objektivierbaren
Chancenverteilungen orientiert, sondern an schichtspezifischen Erwartungshorizonten
und damit an den Möglichkeiten des sozialen Nachbars. Dort formuliert es: „Vielmehr
jedes allgemeine Milieu und jede besondere soziale Schicht besitzt typische Bedürfnisse,
denen nicht genügen zu können Armut bedeutet. Daher ist es für alle entwickeltere Kultur
banale Tatsache, daß Personen, die innerhalb ihrer Klasse arm sind, es innerhalb einer
tieferen keineswegs wären, weil zu den für die letztere typischen Zwecken ihre Mittel
zulangen würden.“ Und weiter heißt es, dass „die Armut sich innerhalb jeder sozialen
Schicht zeigt, die einen Standard typischer (…) Bedürfnisse ausgebildet hat“ (Simmel
1992: 548f.). Aus diesem Grunde kann das jeweilige Armutsempfinden auch von offiziellen Armutsdefinitionen abweichen, woraus zu folgern ist, dass „Arm sein“ nur aus
dem sozialen Selbstverständnis der jeweiligen Gruppe und dem „sozialen Apriori, das
von Stand zu Stand wechselt“ (ebd.), eruiert werden kann. Dies gilt umso mehr für die
Prekarisierungsproblematik, zumal Prekarität eine Schwebelage zwischen Wohlstands- und
Armutslagen darstellt und deswegen auch vor allem ein transitorisches Phänomen ist.
Wenn man Simmels Überlegungen zu einem relativistischen Armutsbegriff auf diese
Problematik überträgt, dann kann geschlussfolgert werden, dass Prekarisierungsängste
(Sichtweise/Wahrnehmung) nur bedingt auf die Prekarität der objektiven Erwerbslage
(Position) zurückgeführt werden können. Selbst wenn die Position einer Erwerbslage
nicht den weiter oben ausgeführten Kriterien von Prekarität entspricht, so kann die eigene
Erwerbslage gleichwohl als gefährdet bewertet werden. Dies ist dann der Fall, wenn Erwerbspersonen spezifische Arbeitsplatzsicherheiten und Einkommenschancen nicht mehr
antreffen, die innerhalb derselben Berufs- oder Beschäftigtenkategorie bislang gültig waren.
Die gefühlte Prekarisierung dieser Erwerbspersonen gibt jedoch keinen Aufschluss darüber,
ob die aktuellen sozialen Standards ihres Beschäftigungsverhältnisses auch tatsächlich
unterhalb des durchschnittlichen Levels aller anderen Beschäftigungsgruppen gesunken
sind. Hieraus ist zu schlussfolgern: Es gibt keine einfache Kausalität zwischen Position
(Erwerbslage) und Sichtweise (Wahrnehmung). Beruflich-soziale Unsicherheiten werden
aufgrund einer spezifischen Wahrnehmung und Bewertung der sozialen Umbrüche von
Arbeit und Beschäftigung artikuliert, die sich im Umfeld des eigenen, bislang als sicher
wahrgenommenen Arbeitsplatzes abspielen. Sie können sind jedoch nicht als direkter
Ausfluss der eigenen Erwerbslage interpretiert werden.
Prekarität – was ist das?
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Ausblick
Abschließend sind vier Aspekte hervorzuheben, die für eine soziologische Analyse von
Prekarisierungsprozessen besonders bedeutsam erscheinen: (1) In der Prekarisierungsbedatte werden zuweilen die Begriffe Prekarität und Armut synonym verwendet. Bei
genauerer Betrachtung werden jedoch erhebliche Differenzen sichtbar. Der grundlegendste
Unterschied besteht darin, dass mit dem Begriff Prekarität soziale Schwebelagen zwischen
Wohlfahrt und Armut beschrieben werden sollen. Prekarität ist nicht mit Armut identisch.
Zwar sind im Falle einer prekären Lage soziale Schutzmechanismen brüchig geworden.
Von einem weitgehenden Schwund dieser Schutzmechanismen oder sogar von sozialer
Ausgrenzung – wie dies etwa mit der Rede vom „abgehängten Prekariat“ unterstellt wird
– kann hingegen nicht gesprochen werden. Personen in prekären Lagen sind Armutslagen
nicht schutzlos ausgeliefert. Sie befinden sich vielmehr in einer transitorischen Zwischenlage, von der aus ein weiterer sozialer Abstieg zweifelsohne möglich sein kann. Zugleich
ist aber auch in zahlreichen Fällen die – mühsame – Wiedererlangung einer schon einmal
eingenommenen (relativen) Wohlfahrtsposition durchaus wahrscheinlich. Diese buchstäbliche soziale Unentschiedenheit macht die Prekarität einer sozialen Lage aus – und
damit ihren sozialen Abstand sowohl zu Wohlstand als auch zu Armut. Übertragen auf die
Einkommensdimension folgt beispielsweise hieraus, dass die Armutsschwelle bei 60 % des
durchschnittlichen Haushaltsäquivalenzeinkommens zu veranschlagen ist, hingegen aber
die Wohlfahrtsschwelle bei über 100 %. Zwischen der Armuts- und Wohlfahrtsschwelle
wären dann prekäre Einkommenslagen anzusiedeln (vgl. Groh-Samberg 2004).
(2) So wie das Verhältnis von Prekarität und Armut bislang kaum geklärt ist, so verhält es sich auch bei der Frage nach der Sozialstruktur der Prekarität. Die unzureichende
sozialstrukturelle Erdung kann darauf zurückgeführt werden, dass Prekarisierung bislang
ein zeitdiagnostischer Begriff zur Charakterisierung der sozialen Umbrüche der Arbeitsgesellschaft geblieben ist. In diesem Beitrag ist dafür plädiert worden, das Prekarisierungskonzept aus dem relativ engen Korsett der Arbeitssoziologie herauszulösen und es für
weiterreichende Transformationsprozesse der Sozialstruktur zu nutzen, um den Wandel
ungleicher Chancenverteilungen auch über den Horizont der Arbeitsgesellschaft hinaus
in den Blick zu nehmen. Hierbei ist es unverzichtbar, den Prekarisierungsbegriff für die
Analyse von Erwerbsverläufen und Lebenslagen fruchtbar zu machen und ihn damit für
die allgemeine Sozialstrukturanalyse zu erschließen. Drei Kriterien sind bei der Analyse
von Prekarität im sozialstrukturellen Gefüge unverzichtbar: Erstens ist Prekarität mehrdimensional zu analysieren. Auf der Individualebene bildet die Analyse der Erwerbslage
sicherlich den Ausgangspunkt, während auf der Mesoebene der private Haushalt die zentrale
Untersuchungsebene darstellt (Mehrdimensionalität). Zweitens verweist bereits der Begriff
„Prekarisierung“ auf die Notwendigkeit einer dynamischen Sichtweise, die sich nicht in
einer einfachen Dichotomisierung nach dem Muster drinnen/draußen erschöpft, sondern
die Aufmerksamkeit auf abgestufte Lagen, Übergänge, Bewegungen und „Flugbahnen“
richtet. Prekarisierung ist kein Zustand, sondern ein sozialer Prozess der Gefährdung
von stabilen Erwerbs- und Wohlfahrtslagen (Dynamisierung). Und drittens sind kaum
zuverlässige Aussagen über das Ausmaß von Prekarisierung möglich, wenn der Haushaltskontext beispielsweise von prekär Beschäftigten nicht systematisch berücksichtigt
wird. (Kontextualisierung). In den Blick zu nehmen ist die umfassendere Dimension der
Lebenslage in diachroner (Erwerbsverlauf) und synchroner (Haushaltskontext) Hinsicht.
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Klaus Kraemer
Die Analyse der aktuellen Markt- bzw. Erwerbslage eines Individuums ist um die Analyse
des Erwerbsverlaufs und die der Lebenslage zu ergänzen. In Analogie zur Armutsforschung
wäre hierfür ein multidimensionales Konzept zu entwickeln, das die Analyse von Arbeit
und Nicht-Arbeit einschließt und nach kumulierter Prekarität fragt. Die Erweiterung der
Forschungsperspektive sollte zugleich darauf abzielen, nicht nur – im Sinne des Ressourcenansatzes – die Prekarität von Versorgungslagen (inputs) zu untersuchen, sondern
gerade aus dem Blickwinkel des Erwerbsverlaufs und des Haushaltskontextes vorhandene
bzw. verbliebene Handlungsspielräume (outcomes) auszuloten.
(3) Konzepte der Sozialstrukturanalyse sind heranzuziehen, um die Frage zu überprüfen, ob Prekarisierung im Sinne einer positionalen, objektiven Prekarität buchstäblich
überall anzutreffen und unabhängig von den Strukturen sozialer Ungleichheit verteilt ist.
Zahlreiche empirische Studien haben eine signifikante Häufung von Prekarisierungsrisiken in bestimmten Alterskohorten, Berufs-, Bildungsgruppen und erwerbsbiografischen
Phasen nachweisen können. So gelingt Gut- und Höherqualifizierten der Übergang von
Befristung zu Unbefristung häufiger und rascher als Geringqualifizierten, ethnischen
Minderheiten oder Personen mit niedriger Stellung innerhalb der betrieblichen Arbeitsorganisation (vgl. exemplarisch Giesecke/Groß 2002). Auffallend ist auch, dass die
Befristungswahrscheinlichkeit von Erwerbsstellen beim Übergang vom Bildungssystem
in den Arbeitsmarkt (Berufseinsteiger), nach längeren Arbeitslosigkeitsphasen oder bei
der Rückkehr in Erwerbsarbeit nach der Betreuungsphase von Kindern (Frauen) überdurchschnittlich hoch ist. Überhaupt gilt: Multiple, dauerhafte, armutsnahe Prekarität
ist häufiger in unterprivilegierten Berufsklassen – im Sinne des EGP-Klassenschemata
– anzutreffen, während temporäre, wohlstandsnahe Prekarität besonders in mittleren
Berufsklassen verbreitet ist (Groh-Samberg 2004). Auch ist die gefühlte Prekarisierung,
etwa im Hinblick auf Arbeitsplatzunsicherheiten, nicht sozial indifferent auf alle Lagen
verteilt. Ganz in diesem Sinne können beispielsweise auch die empirischen Befunde der
subjektiven Wohlfahrtsforschung gedeutet werden, die eine signifikante Streuung der
subjektiven Wahrnehmungen über das „bisher im leben Erreichte“, über den angemessenen
Lebensstandard in Deutschland und dessen gerechte Verteilung zwischen den einzelnen
sozialen Lagen belegen (StBA 2006: 590).
(4) Die soziopolitische Brisanz von Prekarisierungsprozessen wird allerdings nicht
nur innerhalb, sondern gerade auch außerhalb der „Zone der Prekarität“ sichtbar, wenn
nicht nur positionale Merkmale der Erwerbs- und Lebenslage („erlebte Prekarisierung“)
berücksichtigt, sondern zugleich beruflich-soziale Verunsicherungen („gefühlte Prekarisierung“) in die Betrachtung einbezogen werden. Gefühlte Prekarisierung, so lautet die
abschließende These, ist nicht so sehr an den prekären Rändern der Arbeitsgesellschaft
anzutreffen, sondern in ihrer Mitte. Mit anderen Worten ist die gefühlte Prekarisierung
vornehmlich in Mittelklassenlagen anzutreffen, hingegen aber die erlebte Prekarisierung
in unterprivilegierten Arbeitsmarktlagen. Die erlebte Prekarisierung sagt allerdings wenig
über ihre Skandalisierbarkeit im öffentlichen Repräsentationsraum aus (vgl. Barlösius
2005). Dies gilt umso mehr, wenn man bedenkt, dass die sozialen Träger von Skandalisierungstechniken eher in den mittleren Soziallagen beheimatet sind.
Prekarität – was ist das?
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Anschrift des Verfassers:
PD. Dr. Klaus Kraemer
Vertretungsprofessur
Institut für Soziologie
Westfälische Wilhelms-Universität Münster
Scharnhorststr. 121
D-48151 Münster
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Schlagwörter: Arbeitsgesellschaft, Erwerbsverlauf, Prekäre Arbeit,
Sozialstruktur
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