11. Einspielung » sounding D Ausschnitt aus: LP Plattencover, Karlheinz Stockhausen, Spiral für Blockflöte und Kurzwellen u.a., Wergo Hör Zu Black Label (SHZW 903 BL) 1969 © HörZu 1970 nnm_nmfz11_RZ.indd 2 25.08.2010 16:50:25 Uhr The Rest is Listening Zu einer Geschichte des Hörens in der Musik des 20. Jahrhunderts von Wolfgang Rathert nnm_nmfz11_RZ.indd 3 25.08.2010 16:50:25 Uhr The Rest is Noise» — so lautet der flotte und zugleich sinistre Titel eines der erfolgreichsten Bücher der letzten Jahre über die Musik des 20. Jahrhunderts, geschrieben von dem amerikanischen Journa­ listen Alex Ross. Die Anspielung auf den berühmten letzten Satz Hamlets ist evident, denn Ross stellt dem finalen Schweigen des alt-nordischen Prinzen den weltlichen Lärm unserer Zeit gegenüber. Er trifft damit eine pointierte Aussage über ein Jahrhundert, in dem akustische Ereignisse, ob vertraut oder fremdartig, ‹los-› oder ‹freigelassen› wurden, in einer bis dahin unvorstellbaren Intensität das menschliche Ohr und Hirn erobert und unsere Hörerfahrung revolutioniert haben. Ross’ Formulierung hat aber nicht nur den Aspekt der Befreiung oder Emanzipation des Klangs vor Augen, sondern auch deren Kehrseite: Die Überflutung des Gehörs mit auralen Reizen hat extreme Formen angenommen, und es gibt düstere Prognosen darüber, wie hoch der Prozentsatz unter heutigen Jugendlichen sein mag, die durch die Dezibelbelastung in Diskotheken und Rockkonzerten sowie den Gebrauch der allgegenwärtigen Ohrkopfhörer massive und unwiderrufliche Hörschäden davontragen werden. Wird für diese Hörer irgendwann einmal der Rest ihres Lebens in erzwungene Stille einmünden? Als John Cage 1951 einen schalltoten Raum an der Harvard University betrat, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass es auch dort keine absolute Stille gab, sondern er etwas wahrnahm, was sich als basaler Klang unseres Körpers entpuppte: einen sehr hohen Ton, der die elektrischen Schwingungen des Nervensystem signalisiert, und einen sehr tiefen, den der Blutkreislauf hervorbringt. Wir können also ‹nicht nicht› hören, und Cage verschrieb sich danach der Aufgabe, jedem Schallereignis unabhängig von seinem Ursprung und Kontext ästhetische Würde zu verleihen. Es ging ihm nun nicht mehr primär darum, Kunstwerke herzustellen, sondern mit Hilfe bestimmter (und hauptsächlich zufallsgesteuerter) Operationen bestehende Wahrnehmungsgewohnheiten in Frage zu stellen und neue akus­tische Welten zu erschaffen. Deshalb kann er mehr als jeder andere große Komponist des 20. Jahrhunderts (seinen Lehrer Schön­berg und seinen Vorläufer Edgard Varèse nicht ausgenommen) als ein Aufklärer gelten. Dass er damit den traditionellen Werkbegriff der europäischen Musik in Frage stellte und im gleichen Atemzug auch nnm_nmfz11_RZ.indd 4 die mit ihm verbundenen Aufführungskonventionen, hat ihm den Argwohn reaktionärer Musikgelehrter und die Feindschaft der «schlaffen Ohren» eingetragen. (So bezeichnete Charles Ives das verwöhnte und zugleich völlig passive bürgerliche Konzertpublikum um 1900, gegen dessen Hörgewohnheiten er mit seiner eigenen Musik aufbegehrte, die den Hör- und Em­ pfindungsmuskel trainieren sollte.) Welche Komplexität an Hörformen und -erfahrungen das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, wird deutlich, wenn man sich das Spektrum vergegenwärtigt, das von den technisch erzeugten Alltags- und Verkehrsgeräuschen über die akustischen und elektronischen Klanggewitter der Popular- und Filmmusik bis hin zu den faszinierenden Konstruktionen der Klangkunst reicht, die zu Recht als eine «Ars Acustica» bezeichnet worden ist Die zahllosen und oftmals unversöhnlich endenden Auseinandersetzungen um das Wesen und den Weg der Musik seit Wagners Kunstwerk der Zukunft rücken freilich in eine andere Perspektive, wenn man sie als Teil einer Geschichte des Hörens versteht und liest. Eine solche Geschichte ist — sieht man von Hans Mersmanns klugem, aber in der Nachfolge des Bauhauses vornehmlich didaktisch orientiertem und durch sein Erscheinungsjahr 1938 unter naheliegenden ideologischen Zwängen stehendem Buch Musikhören ab — bislang noch nicht geschrieben worden, was angesichts der Subjektivität und Heterogenität des Hörens von Musik kaum verwundert. Dass das Hören aber seit dem 19. Jahrhundert in der westlichen Musikgeschichte selbst zum Gegenstand von Musik geworden ist, kann kaum geleugnet werden. Die Kunst des Hörens, die Karlheinz Stockhausen in zahllosen eigenen Werke fördern wollte und der er 1980 einen eigenen Vortrag widmete, rückte unmerklich, aber unaufhaltsam in den Fokus der Komponisten — und damit auch der Interpreten und Hörer. Diese Entwicklung wäre nicht allein durch das Durchschreiten der unendlichen Möglichkeiten zwischen den Extremen von ‹Geräusch› und ‹Schweigen› beschrieben, sondern müsste die enormen sozialen, kulturellen, mentalen, psychischen und vermutlich auch physiologischen Veränderungen mit in Betracht ziehen, die auf das Hören einwirken. Und dies gilt auch für die Reproduktion der tonalen Musik, die vor der Emanzipation des Geräuschs (und der ihr vorangegangenen Dissonanz) bestand. So hören wir eine Sinfonie oder Klaviersonate von Beethoven, vorgetragen von einem modernen Orchester oder auf einem Steinway, fast einen Halbton höher als zu Beethovens Zeiten, dafür aber um ein Drittel langsamer, und klanglich vergleichsweise uni- oder sogar deformiert. Die historische Aufführungspraxis ermöglicht uns zwar, den Eindruck, den die Musik auf einen Hörer von 1810 machte, zu rekonstruieren. Aber diese Rekonstruktion ist zugleich eine Fiktion: Die Empfin- 25.08.2010 16:50:25 Uhr dung für Tonarten, harmonische Prozesse und klangliche Valeurs, die eine Aufführung bei einem damaligen Hörer auslöste, lässt sich nicht wiederholen. So hören wir vermutlich vieles an früherer Musik gröber und weniger nuanciert, im Hinblick auf den Gehalt und Rang eines Werkes aber auch wesentlich differenzierter. Wie wir aus den zeitgenössischen Rezensionen wissen, war eine Sinfonie Beethovens für viele damalige Hörer entweder ‹bizarr› oder besaß den Status bloßer Zerstreuung und Unterhaltung. Geschult durch eine unerhört vielgestaltige Interpretationskultur, die Erfahrung mit der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts und versehen mit der Möglichkeit der Reproduktion, können wir uns die historischen und stilistischen Kontexte oder die formalen und dramaturgischen Strategien, die den Komponisten leiteten, hörend viel bewusster machen. Die Eroica ist für uns kein musikalisches Monster oder Rätsel mehr, sondern eine großartige klangliche und geistige Architektur. Kann das Hören voraussetzungslos erfolgen? Auch in komplexer Musik, die wie die westliche in der Regel der schriftlichen Fixierung bedarf, ist diese Frage nicht so leicht zu beantworten, wie es zunächst erscheint. Die Antwort hängt ebenso stark von den Bedürfnissen und Erwartungen des Hörers ab wie von den gesellschaftlichen Funktionen, die der Musik zugewiesen werden. Die Auffassung, dass Musik autonom sei und ihren Zweck in sich selbst besitze, ist relativ jung. Sie wurde als ästhetisches und philosophisches Programm erst am Ausgang des 18. Jahrhunderts in der Frühromantik formuliert und war auch Folge eines bürgerlichen Emanzipationsprozesses, der Musik als höfische Unterhaltung und religiöse Erbauung in Frage stellte. Das eigentlich Neue der Musikauffassung um 1800 ist aber die Aktivierung des Hörens und die Forderung, dass sich das musikalische Kunstwerk gewissermaßen im Kopf des (Zu-) Hörers vollenden möge. Dieses Paradigma durchzieht die gesamte klassisch-romantische Musikästhetik und gipfelt in Arnold Schönbergs Gründung eines «Vereins für musikalische Privataufführungen», dessen strenge Regularien jeder Form des beliebigen Spielens und Hörens den Kampf ansagte. Beide Tätigkeiten sollten auf den Stand des Komponierens gehoben werden, das den Verlust der alten Gesetze der Tonalität durch verschiedenste musiksprachliche Innovationen bereits kompensiert hatte. Zwar ging es Schönberg bei der Entwicklung der Zwölftontechnik primär um ein handwerklich flexibles System, doch war er in seinen radikalen Werken der so genannten ‹atonalen› Phase in eine neue Dimension des Hörens vorgestoßen, die durch einen spekulativen, mehr-dimensionalen musikalischen Raum möglich wurde. Die emotionale Kraft dieser Musik erschien präzedenzlos und voraussetzungslos — sie konfrontierte den Hörer mit einer als Schock empfundenen Dichte und Unvorhersehbarkeit, die den konstruktiven Aufwand der Partitur vergessen ließ. Adorno sprach fünfzig Jahre später davon, dass es Aufgabe einer neuen, «informellen» Musik der Gegenwart sei, diesen Zustand einer traumartigen Unmittelbarkeit wiederzuerlangen. Adornos Forderung wurde in der Musik nach 1960 auf ganz anderen als von ihm intendierten Wegen eingelöst: in den psychoakustischen Strukturen der Minimal Music, die — vom Komponisten nicht steuerbar und auch nicht in der Partitur fixiert — sich im Kopf des Hörers ereignen, oder in Stockhausens Intuitiver Musik um 1970, die Hören, Spielen und spontanes Komponieren in eins setzt (und damit den Gegenpol zur seriellen Determination bildet). György Ligetis akustische Labyrinthe und Täuschungen, die sich der 1964 entdeckten Shepard-Skala bedienen, und Morton Feldmans Makrostrukturen, die der Zeit enthoben scheinen und den Hörer mit sich selbst konfrontieren, gehören ebenso dazu wie Luigi Nonos Vermächtnis seiner Komposition Prometeo, die er im Untertitel als eine «tragedia dell’ascolto», eine Tragödie des Hörens, bezeichnete. Der Echo-Raum dieser Musik ist ein geschichtlicher und zum Kollektiv sich öffnender, zugleich aber auch ein innerer, paradox geborgener und schutzloser des Einzelnen. Im drohenden Verstummen und den bis ins Äußerste verästelten vokalen, instrumentalen und elektronischen Klangsäulen liegt das utopische Versprechen einer humanen Gesellschaft. Hörend sollen wir zu Handelnden werden und die Geschichte der neuen Musik auf eigene Weise fortschreiben. Netzwerk Neue Musik Mehr Informationen zu sounding D in der Zei- tung 5'33" und im Gesamtprogramm, erhältlich beim Netzwerk Neue Mu­sik, Netzwerkprojekten und bei den Veranstaltungen vor Ort: Medienpartner www.sounding-D.net www.netzwerkneuemusik.de nnm_nmfz11_RZ.indd 5 25.08.2010 16:50:25 Uhr