Einspielung » sounding D

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Einspielung »
sounding D
Ausschnitt aus: LP Plattencover, Karlheinz Stockhausen, Spiral für Blockflöte und
Kurzwellen u.a., Wergo Hör Zu Black Label (SHZW 903 BL) 1969 © HörZu 1970
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The Rest
is Listening
Zu einer Geschichte des
Hörens in der Musik des
20. Jahrhunderts
von Wolfgang Rathert
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The Rest is Noise» — so lautet der
flotte und zugleich sinistre Titel
eines der erfolgreichsten Bücher
der letzten Jahre über die Musik
des 20. Jahrhunderts, geschrieben
von dem amerikanischen Journa­
listen Alex Ross.
Die Anspielung auf den berühmten letzten Satz Hamlets ist evident, denn Ross stellt dem finalen Schweigen des alt-nordischen Prinzen den weltlichen Lärm
unserer Zeit gegenüber. Er trifft damit eine pointierte
Aussage über ein Jahrhundert, in dem akustische Ereignisse, ob vertraut oder fremdartig, ‹los-› oder ‹freigelassen› wurden, in einer bis dahin unvorstellbaren
Intensität das menschliche Ohr und Hirn erobert und
unsere Hörerfahrung revolutioniert haben. Ross’ Formulierung hat aber nicht nur den Aspekt der Befreiung oder Emanzipation des Klangs vor Augen, sondern auch deren Kehrseite: Die Überflutung des Gehörs mit auralen Reizen hat extreme Formen angenommen, und es gibt düstere Prognosen darüber, wie
hoch der Prozentsatz unter heutigen Jugendlichen
sein mag, die durch die Dezibelbelastung in Diskotheken und Rockkonzerten sowie den Gebrauch der
allgegenwärtigen Ohrkopfhörer massive und unwiderrufliche Hörschäden davontragen werden. Wird
für diese Hörer irgendwann einmal der Rest ihres Lebens in erzwungene Stille einmünden? Als John Cage
1951 einen schalltoten Raum an der Harvard University betrat, stellte er zu seiner Überraschung fest, dass
es auch dort keine absolute Stille gab, sondern er etwas wahrnahm, was sich als basaler Klang unseres Körpers entpuppte: einen sehr hohen Ton, der die elektrischen Schwingungen des Nervensystem signalisiert,
und einen sehr tiefen, den der Blutkreislauf hervorbringt. Wir können also ‹nicht nicht› hören, und Cage
verschrieb sich danach der Aufgabe, jedem Schallereignis unabhängig von seinem Ursprung und Kontext
ästhetische Würde zu verleihen. Es ging ihm nun nicht
mehr primär darum, Kunstwerke herzustellen, sondern mit Hilfe bestimmter (und hauptsächlich zufallsgesteuerter) Operationen bestehende Wahrnehmungsgewohnheiten in Frage zu stellen und neue akus­tische
Welten zu erschaffen. Deshalb kann er mehr als jeder
andere große Komponist des 20. Jahrhunderts (seinen
Lehrer Schön­berg und seinen Vorläufer Edgard Varèse
nicht ausgenommen) als ein Aufklärer gelten. Dass er
damit den traditionellen Werkbegriff der europäischen
Musik in Frage stellte und im gleichen Atemzug auch
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die mit ihm verbundenen Aufführungskonventionen,
hat ihm den Argwohn reaktionärer Musikgelehrter
und die Feindschaft der «schlaffen Ohren» eingetragen. (So bezeichnete Charles Ives das verwöhnte und
zugleich völlig passive bürgerliche Konzertpublikum
um 1900, gegen dessen Hörgewohnheiten er mit seiner eigenen Musik aufbegehrte, die den Hör- und Em­
pfindungsmuskel
trainieren sollte.)
Welche Komplexität
an Hörformen und
-erfahrungen das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat,
wird deutlich, wenn man sich das Spektrum vergegenwärtigt, das von den technisch erzeugten Alltags- und
Verkehrsgeräuschen über die akustischen und elektronischen Klanggewitter der Popular- und Filmmusik
bis hin zu den faszinierenden Konstruktionen der
Klangkunst reicht, die zu Recht als eine «Ars Acustica» bezeichnet worden ist Die zahllosen und oftmals
unversöhnlich endenden Auseinandersetzungen um
das Wesen und den Weg der Musik seit Wagners
Kunstwerk der Zukunft rücken freilich in eine andere
Perspektive, wenn man sie als Teil einer Geschichte
des Hörens versteht und liest. Eine solche Geschichte
ist — sieht man von Hans Mersmanns klugem, aber
in der Nachfolge des Bauhauses vornehmlich didaktisch orientiertem und durch sein Erscheinungsjahr
1938 unter naheliegenden ideologischen Zwängen stehendem Buch Musikhören ab — bislang noch nicht
geschrieben worden, was angesichts der Subjektivität
und Heterogenität des Hörens von Musik kaum verwundert. Dass das Hören aber seit dem 19. Jahrhundert in der westlichen Musikgeschichte selbst zum
Gegenstand von Musik geworden ist, kann kaum geleugnet werden. Die Kunst des Hörens, die Karlheinz
Stockhausen in zahllosen eigenen Werke fördern wollte
und der er 1980 einen eigenen Vortrag widmete, rückte
unmerklich, aber unaufhaltsam in den Fokus der
Komponisten — und damit auch der Interpreten und
Hörer. Diese Entwicklung wäre nicht allein durch das
Durchschreiten der unendlichen Möglichkeiten zwischen den Extremen von ‹Geräusch› und ‹Schweigen›
beschrieben, sondern müsste die enormen sozialen, kulturellen, mentalen, psychischen und vermutlich auch
physiologischen Veränderungen mit in Betracht ziehen, die auf das Hören einwirken. Und dies gilt auch
für die Reproduktion der tonalen Musik, die vor der
Emanzipation des Geräuschs (und der ihr vorangegangenen Dissonanz) bestand. So hören wir eine Sinfonie oder Klaviersonate von Beethoven, vorgetragen
von einem modernen Orchester oder auf einem Steinway, fast einen Halbton höher als zu Beethovens
Zeiten, dafür aber um ein Drittel langsamer, und
klanglich vergleichsweise uni- oder sogar deformiert.
Die historische Aufführungspraxis ermöglicht uns
zwar, den Eindruck, den die Musik auf einen Hörer
von 1810 machte, zu rekonstruieren. Aber diese Rekonstruktion ist zugleich eine Fiktion: Die Empfin-
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dung für Tonarten, harmonische Prozesse und klangliche Valeurs, die eine Aufführung bei einem damaligen Hörer auslöste, lässt sich nicht wiederholen. So
hören wir vermutlich vieles an früherer Musik gröber
und weniger nuanciert, im Hinblick auf den Gehalt
und Rang eines Werkes aber auch wesentlich differenzierter. Wie wir aus den zeitgenössischen Rezensionen
wissen, war eine Sinfonie Beethovens für viele damalige Hörer entweder ‹bizarr› oder besaß den Status
bloßer Zerstreuung und Unterhaltung. Geschult durch
eine unerhört vielgestaltige Interpretationskultur, die
Erfahrung mit der Musik des 19. und 20. Jahrhunderts
und versehen mit der Möglichkeit der Reproduktion,
können wir uns die historischen und stilistischen Kontexte oder die formalen und dramaturgischen Strategien, die den Komponisten leiteten, hörend viel bewusster machen. Die Eroica ist für uns kein musikalisches Monster oder Rätsel mehr, sondern eine
großartige klangliche und geistige Architektur.
Kann das Hören voraussetzungslos erfolgen?
Auch in komplexer Musik, die wie die westliche in der Regel der schriftlichen Fixierung bedarf,
ist diese Frage nicht so leicht zu beantworten, wie es
zunächst erscheint. Die Antwort hängt ebenso stark
von den Bedürfnissen und Erwartungen des Hörers
ab wie von den gesellschaftlichen Funktionen, die der
Musik zugewiesen werden. Die Auffassung, dass Musik autonom sei und ihren Zweck in sich selbst besitze, ist relativ jung. Sie wurde als ästhetisches und
philosophisches Programm erst am Ausgang des 18.
Jahrhunderts in der Frühromantik formuliert und war
auch Folge eines bürgerlichen Emanzipationsprozesses, der Musik als höfische Unterhaltung und religiöse Erbauung in Frage stellte. Das eigentlich Neue
der Musikauffassung um 1800 ist aber die Aktivierung
des Hörens und die Forderung, dass sich das musikalische Kunstwerk gewissermaßen im Kopf des (Zu-)
Hörers vollenden möge. Dieses Paradigma durchzieht
die gesamte klassisch-romantische Musikästhetik und
gipfelt in Arnold Schönbergs Gründung eines «Vereins für musikalische Privataufführungen», dessen
strenge Regularien jeder Form des beliebigen Spielens
und Hörens den Kampf ansagte. Beide Tätigkeiten
sollten auf den Stand des Komponierens gehoben
werden, das den Verlust der alten Gesetze der Tonalität durch verschiedenste musiksprachliche Innovationen bereits kompensiert hatte. Zwar ging es Schönberg bei der Entwicklung der Zwölftontechnik primär
um ein handwerklich flexibles System, doch war er in
seinen radikalen Werken der so genannten ‹atonalen›
Phase in eine neue Dimension des Hörens vorgestoßen, die durch einen spekulativen, mehr-dimensionalen musikalischen Raum möglich wurde. Die emotionale Kraft dieser Musik erschien präzedenzlos und
voraussetzungslos — sie konfrontierte den Hörer mit
einer als Schock empfundenen Dichte und Unvorhersehbarkeit, die den konstruktiven Aufwand der Partitur vergessen ließ. Adorno sprach fünfzig Jahre später
davon, dass es Aufgabe einer neuen, «informellen»
Musik der Gegenwart sei, diesen Zustand einer
traumartigen Unmittelbarkeit wiederzuerlangen. Adornos Forderung wurde in der Musik nach 1960 auf
ganz anderen als von ihm intendierten Wegen eingelöst: in den psychoakustischen Strukturen der Minimal Music, die — vom Komponisten nicht steuerbar
und auch nicht in der Partitur fixiert — sich im Kopf
des Hörers ereignen, oder in Stockhausens Intuitiver
Musik um 1970, die Hören, Spielen und spontanes
Komponieren in eins setzt (und damit den Gegenpol
zur seriellen Determination bildet). György Ligetis
akustische Labyrinthe und Täuschungen, die sich der
1964 entdeckten Shepard-Skala bedienen, und Morton Feldmans Makrostrukturen, die der Zeit enthoben scheinen und den Hörer mit sich selbst konfrontieren, gehören ebenso dazu wie Luigi Nonos Vermächtnis seiner Komposition Prometeo, die er im
Untertitel als eine «tragedia dell’ascolto», eine Tragödie des Hörens, bezeichnete. Der Echo-Raum dieser
Musik ist ein geschichtlicher und zum Kollektiv sich
öffnender, zugleich aber auch ein innerer, paradox geborgener und schutzloser des Einzelnen. Im drohenden Verstummen und den bis ins Äußerste verästelten vokalen, instrumentalen und elektronischen
Klangsäulen liegt das utopische Versprechen einer humanen Gesellschaft. Hörend sollen wir zu Handelnden werden und die Geschichte der neuen Musik auf eigene Weise fortschreiben.
Netzwerk
Neue Musik
Mehr Informationen zu sounding D in der Zei-
tung 5'33" und im Gesamtprogramm, erhältlich
beim Netzwerk Neue Mu­sik, Netzwerkprojekten
und bei den Veranstaltungen vor Ort:
Medienpartner
www.sounding-D.net
www.netzwerkneuemusik.de
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