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Modelle, die sich schlecht benehmen
Kolumne von Emanuel Derman
Wenn Daten den Verstand verhexen
06.03.2013 · In Zeiten von Big Data, heißt es, wird Wahrheit zur Sache der Statistik.
Aber ein Berg von Daten enthält noch keine Intuition und Theorie. So groß wie
behauptet ist Big Data nicht.
Kolumne
V
or siebzig Jahren war die Kybernetik
groß in Mode, vor dreißig Jahren die
Katastrophentheorie. Diese vom Griechischen
inspirierten Bezeichnungen für zwei
Fachgebiete, die einst die Hoffnung
beflügelten, menschliches Verhalten erklären
zu können, lösen heute leicht nostalgische
© WWW.HUMANMETABOLISM.ORG
Gefühle aus - wie Polaroidfotos von jungen
Wissen wir jetzt Bescheid? Ausschnitt aus einer
langhaarigen Leuten in Glockenjeans und
neuen Darstellung des menschlichen Stoffwechsels
Batik-Shirts. Das neue Schlagwort unserer
für verschiedene Zelltypen, die sogenannte „GoogleKarte“ (www.humanmetabolism.org)
Zeit lautet „Big Data“. Es meint die Erfassung
und Analyse der gewaltigen Mengen an Informationen, die Menschen offenbaren, wenn
sie bei Amazon und Netflix einkaufen oder auf Facebook und Twitter schreiben.
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verkaufen oder uns zur Wahl bestimmter Politiker zu überreden, indem man das Image
des Produkts oder des betreffenden Politikers an unsere spezielle datengenerierte
Persönlichkeit anzupassen versucht. Manche behaupten auch, die computergestützte
Analyse von Mustern werde in der Medizin, in den Sozialwissenschaften wie auch in der
Physik schon bald an die Stelle traditioneller Methoden der Entdeckung der Wahrheit
treten. Worin bestanden diese klassischen Verfahren? Denken wir einmal zurück an
den großen Triumph zu Beginn der neuzeitlichen Naturwissenschaft: das Verständnis
der Gravitation und der Bewegung. Wie kam es dazu?
Kepler und der Fahrstrahl
Noch Jahrtausende nach den Griechen ließen Naturwissenschaftler sich durch
Vorurteile dazu verleiten, alle Planetenbewegungen als Kreise um eine stillstehende
Erde zu beschreiben. Aber aus der Sicht der um die Sonne kreisenden Erde ist die
Bewegung der Planeten zu komplex für einen einzelnen Kreis und scheint gelegentlich
sogar im Verhältnis zur Erde zurückzulaufen. Zu ihrer Beschreibung benötigt man
deshalb Kreise, die sich auf Kreisen bewegen, welche sich ihrerseits auf Kreisen
bewegen, die so genannten Epizykeln.
Schließlich zeigte Galilei, dass die Erde gar nicht stillsteht, sondern gemeinsam mit den
Planeten um die Sonne kreist und die absonderlichen, scheinbar rückläufigen
Bewegungen der Planeten nicht wirklich deren eigene Bewegungen waren, sondern eine
Folge der Tatsache, dass sie von der in Bewegung befindlichen Erde aus beobachtet
wurden. In den ersten Jahren des 17. Jahrhunderts untersuchte Kepler die Daten zu
den Positionen der Planeten und formulierte schließlich seine drei erstaunlichen
Gesetze der Planetenbewegung: Die Planeten bewegen sich auf Ellipsen (nicht auf
Kreisen) um die Sonne; die Verbindungslinie (der „Fahrstrahl“) zwischen einem
Planeten und der Sonne überstreicht in gleichen Zeiten gleiche Flächen; und die
Quadrate der Umlaufzeiten zweier Planeten verhalten sich wie die Kuben ihrer
Bahnradien.
Um einen Eindruck davon zu erlangen, welch ein Wunder diese Entdeckung war,
wollen wir uns das Zweite Keplersche Gesetz genauer anschauen: Die Verbindungslinie
(der „Fahrstrahl“) zwischen einem Planeten und der Sonne überstreicht in gleichen
Zeiten gleiche Flächen. Diese tiefgreifende Symmetrie der Planetenbewegung
impliziert, dass ein Planet sich schneller bewegt, je näher er der Sonne kommt.
Newtons Erkenntnismuskel
Erstaunlich daran ist der Umstand, dass Kepler gar keine Verbindungslinie zwischen
dem Planeten und der Sonne beobachten konnte. Seine Daten bestanden allein aus
Planetenstellungen am Nachthimmel. Wie kam er dann dazu, die Bewegung der
Planeten mit Hilfe einer unsichtbaren, imaginären Linie zu beschreiben? Das weiß
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niemand so genau, aber ganz sicher bedurfte es dazu einer tiefen Versenkung, eines
langes Kampfes und eines seltsamen assoziativen Denkens, das irgendwo in seinem
Inneren entsprang und schließlich - Aha! - zu der intuitiven Erkenntnis und ihrer
Überprüfung an den Daten führte.
Intuition ist das erste Mittel der Erkenntnis. Der Beobachter kommt dem beobachteten
Objekt (oder der beobachteten Person) so nah, dass er dessen (oder deren) Existenz von
außen wie von innen erfährt. Intuition ist eine Verschmelzung des Beobachters mit dem
Beobachteten. Sie hat etwas Quantenähnliches - die Fähigkeit, an zwei Orten zugleich
zu sein.
Die Keplerschen Gesetze beschreiben die Planetenbewegungen, aber nicht deren
Ursachen. Erst Newton fand eine Ursache. Er zeigte, dass die Keplerschen Gesetze eine
mathematische Folge zweier von ihm entwickelter Theorien darstellen: seiner Theorie
der Gravitation und seiner Theorie der Bewegung.
Wie entdeckte Newton diese beiden Theorien? Ganz sicher zeigten die
Planetenbewegungen und der fallende Apfel nicht die Gesetze, denen sie folgten. John
Maynard Keynes schrieb einmal, er glaube, Newton sei deshalb zu so herausragenden
Leistungen fähig gewesen, weil seine „Intuitionsmuskeln“ die stärksten und
ausdauerndsten gewesen seien, die jemals ein Mensch besessen habe. Keynes hatte
etwas von der Entdeckung der Wahrheit verstanden, das seine formaler denkenden
Schüler unter den Ökonomen nie begriffen haben.
Gefahren der Götzenverehrung
Die Newtonschen Gesetze wurden durch die Einsteinschen ersetzt, aber das heißt nicht,
dass Newtons Gesetze eine Approximation der Einsteinschen darstellten. Newton
verhält sich zu Einstein wie die Handschrift zur Maschinenschrift oder wie die
Navigation nach den Sternen zum Global Positioning System (GPS). Zwei verschiedene
Ansätze erreichen mit verschiedenen Mitteln und unterschiedlicher Genauigkeit
dasselbe Ziel. Der eine ist keine Annäherung an den anderen. Beides sind Theorien, die
Tatsachen beschreiben.
Die nächste Form des Verstehens ist das Modell. Ein Modell vergleicht etwas, das wir
nicht verstehen, mit etwas, das wir bereits verstehen. Das berühmte Tropfenmodell des
Atoms etwa tut so, als wäre der Atomkern ein Wassertropfen, der schwingen und
rotieren und sich sogar teilen kann. Das ist nützlich, bildhaft, aber nicht ganz wahr. In
ähnlicher Weise vergleicht das Black-Scholes-Modell zur Bewertung von
Finanzoptionen die ungewisse Bewegung von Aktienkursen mit der Diffusion des
Rauchs, der an der Spitze einer Zigarette aufsteigt. Das ist bis zu einem gewissen Grade
nützlich - aber keine Tatsache. Modelle sind Metaphern, Bilder der Realität, aber nicht
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die Realität selbst. Ihr unvorsichtiger Gebrauch beschwört all jene Gefahren der
Götzenverehrung herauf, vor denen Gott im Zweiten Gebot warnt.
Daten haben keine Stimme
Es gibt noch eine letzte Form des Verstehens: die statistische Analyse, die hinter Big
Data steckt. Die Statistik versucht, in Daten aus der Vergangenheit Trends und
Korrelationen aufzuspüren, und unterstellt, dass diese Trends und Korrelationen auch
in Zukunft weiterbestünden. Aber nach einem berühmten, niemand zugeschriebenen
Satz bedeutet Korrelation nicht Verursachung.
Big Data ist nützlich, aber kein Ersatz für die klassischen Wege der Welterkenntnis.
Daten haben keine Stimme. Es gibt keine „Rohdaten“. Die Entscheidung, welche Daten
man sammelt, bedarf bereits der Einsicht. Wer das sinnvoll tun will, braucht die
klassischen Methoden: Man braucht weiterhin Modelle, Theorien oder Intuition, um
Ursachen ausfindig zu machen.
Wittgenstein hat einmal geschrieben: „Die Philosophie ist ein Kampf gegen die
Verhexung unsres Verstandes durch die Mittel unserer Sprache.“ Ich verstehe das so:
Die Sprache vermag unsere natürliche Intuition zu täuschen, und wir brauchen die
Philosophie, um diese Intuition zurückzugewinnen. Ganz ähnlich möchte ich
behaupten: Die Wissenschaft ist ein Kampf gegen die Verhexung unseres Verstandes
durch Daten.
Aus dem Englischen übersetzt von Michael Bischoff. Hier finden Sie die Originalfassung.
Quelle: F.A.Z.
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