SCHULENTWICKLUNG DURCH BEGABUNGSFÖRDERUNG: Das BRG Wallererstraße (der Blick von außen) HR Dr. Günther Schmid beim Elternabend am 11. 10. 2011 In einer sich immer schneller verändernden Gesellschaft versteht es sich von selbst, dass sich auch Schule einer permanenten Veränderung nicht verschließen kann. Aber bloße Veränderung bedeutet nicht automatisch Verbesserung. „Neu“ ist nicht immer „gut“. Wenn es einer Institution gelingt, das heute aktuelle Neue in sinnvoller Weise mit dem Guten von gestern zu verschmelzen, kann man ihr immerhin attestieren, dass sie mit der Entwicklung Schritt gehalten hat. Aber bloß „Schritt zu halten“, „sich nicht zu verschlechtern“, mag den bescheidenen Ansprüchen einer durchschnittlichen Allerweltsschule genügen. Das BRG Wallererstraße hat für sich einen anderen Weg gewählt. Es hat sich eine echte Verbesserung im Sinne einer qualitativen Weiterentwicklung als Ziel gesetzt – kein bequemes Ziel, denn um dieses zu erreichen genügt es nicht, sich auf den Lorbeeren von gestern auszuruhen, sich über das Gute von heute zu freuen und auf das Bessere von morgen zu warten. Der gute Ruf einer Schule kann sich nicht bloß in historischen Verdiensten begründen; er muss täglich neu gerechtfertigt werden. Das Bessere von morgen muss schon im Hier und Heute aktiv angestrebt werden. Dass im Falle des BRG Wallererstraße auch das Gestern schon viel Gutes zu bieten hatte, beweist die Tatsache, dass Sie Ihre Kinder für diese Schule angemeldet haben. (Als verantwortungsbewussten Eltern war Ihnen die Qualität des künftigen Bildungsweges Ihrer Kinder schließlich nicht einerlei.) Seit damals ist einige Zeit vergangen, und Sie haben sicher mit kritischem Blick verfolgt, ob und wie es gelungen ist, dieses Gute von gestern, das Sie gewissermaßen „eingekauft“ haben, einerseits zu bewahren und gleichzeitig weiterzuentwickeln. Vom Gelingen dieses Bemühens wird vermutlich der Grad Ihrer Zufriedenheit abhängen, und Sie werden sich dabei ein eigenes Urteil gebildet haben. Weil es aber Sinn macht, ein subjektives Urteil über selbst Erlebtes durch die unvoreingenommene Außensicht eines unbeteiligten Beobachters zu objektivieren, möchte ich nicht nur dieses Bedürfnis abdecken und damit meine Rolle als „critical friend“ und professioneller Begleiter eines Schulentwicklungsprozesses erfüllen, sondern, damit verbunden, Ihnen auch einen kleinen Einblick in den größeren bildungswissenschaftlichen Kontext gewähren, in dem die Entwicklung Ihrer Schule und der erreichte Status quo zu sehen sind. Gestatten sie mir also einleitend ein paar theoretische Überlegungen. Das, was man für gemeinhin als eine „gute Schule“ bezeichnet, muss mehr sein als eine organisatorische Einheit, in der alles in bewährten Bahnen mehr oder weniger reibungslos läuft; in der es seitens der „Kunden“ keine nennenswerten Beschwerden gibt. (Vereinzelte Berufungen gegen getroffene Entscheidungen spielen dabei keine Rolle, sind sie doch oft nicht mehr als der Ausdruck eines obstinaten Beharren-Wollens auf dem Status quo ante bzw. des Versuches, die Wiederherstellung überkommener schlechter Gewohnheiten von gestern zu erzwingen.) Eine wirklich gute Schule muss das permanente Streben nach einer systematischen Weiterentwicklung als gemeinsame, nie endende Daueraufgabe empfinden. In der Organisationsentwicklung sprechen wir in einem solchen Zusammenhang von einem „lernenden System“. Der erste Teil dieses heute vertrauten Terminus technicus, das „Lernen“, bedeutet, dass Schwächen und Fehler einkalkuliert sind und nicht als Manko beklagt, sondern als Herausforderung, als Aufgabe, als Chance verstanden werden („trial & error“). Und wenn sich ein gesamtes Lehrerteam als einem gemeinsamen „System“ angehörig erlebt, an dem jeder einzelne als gleichberechtigtes und vollwertiges Mitglied teilhat, „partizipiert“, dann verändert das gegenüber der „klassischen“ Schulsituation, wie wir sie alle kennen, in signifikanter Weise die Organisationskultur: aus der „fragmentierten“ Schule, die sich aus einer Summe von „Einzelkämpfern“ zusammensetzt, wird ein kommunikatives und partnerschaftliches Kollektiv von Personen, in dem das System den Menschen untergeordnet ist, mehr noch, von diesen autonom gestaltet wird. Vom Einzelnen wird das in der Form erlebt, dass an die Stelle von Fremdbestimmung und des Bewusstseins der eigenen Ohnmacht Selbstbestimmung und - als positive Folgeerscheinung - Identifikation mit dem System treten. Das solcherart generierte „Wir-Gefühl“ („corporate identity“) steigert nicht nur die Effekti- vität des Gesamtsystems und die seiner Mitglieder in Bezug auf das zu erzeugende Produkt, sondern bewirkt auch eine Humanisierung des Prozesses. Die (in der Literatur noch sehr junge) Fachbezeichnung für ein solches Verständnis von „Lernen“ lautet „Personalisierung“. Diese geht weit über das heute weithin als das Alpha und Omega moderner Pädagogik angesehene Prinzip der Individualisierung hinaus. Bei Letzterer handelt es sich um eine Frage der Methodik: es geht darum, den unterschiedlichen Stärken und Lernstilen der einzelnen Lernenden durch differenzierende Organisationsformen des Unterrichts möglichst gerecht zu werden. Alleiniges Ziel ist es, das Produkt – die Leistung – zu optimieren. Dem gegenüber findet „personalisiertes“ Lernen nicht nur – und nicht einmal in erster Linie - im Unterricht statt. Die Aufmerksamkeit gilt nicht vordergründig dem unpersönlichen Produkt (der messbaren Leistung), sondern der Persönlichkeitsentwicklung der Lernenden: es geht um deren Bereitschaft zur Übernahme von Verantwortung für den eigenen Lernprozess und um die Fähigkeit, Gelerntes zu bewerten und zu einer sinnvollen Gestaltung des eigenen Lebens zu nutzen. Victor Müller-Oppliger spricht in diesem Zusammenhang vom „Eigen-Sinn“ des Lernens – der sich so ganz und gar von dem unterscheidet, was durch PISA getestet wird. Was hier über das Lernen von Schülern ausgesagt wurde, lässt sich analog auf das „lernende System“ Schule anwenden. Auch hier ist der Unterricht nicht das alleinige Entwicklungsfeld. (Für eine Optimierung dieses Bereiches ist in erster Linie die Fachdidaktik zuständig, die auch schon bisher – durchaus zu Recht – gebührend hoch geschätzt wurde.) Analog zur „Personalisierung“ des Lernprozesses bei den Schülern ist auch in der Schulentwicklung die Ebene der Personalentwicklung das alles entscheidende Kriterium. Im Gegensatz zur Didaktik, einer Fachdisziplin, die lehr- und lernbar ist, geht es bei dieser um eine grundsätzliche Haltung, die nicht gelehrt oder gelernt, sondern ausschließlich im Rahmen eines Bewusstseinsbildungsprozesses erworben und (vor)gelebt werden kann. In dieser pädagogischen Haltung manifestiert sich der Kern dessen, was wir richtigerweise unter „Begabungsförderung“ verstehen sollten. Könnte es sein, dass sich große Teile der Öffentlichkeit - dass sich vielleicht auch viele von Ihnen – unter diesem Begriff etwas Falsches vorstellen? Dass sich beim Wort „Begabungsförderung“ sofort reflexartig die Assoziation mit den so genannten „Hochbegabten“ und mit dem Begriff einer „Elite“ einstellt? Und dass sich folglich viele (selbst unter Lehrern) davon a priori nicht betroffen fühlen, weil sie der Meinung sind, es in ihrem Umfeld nicht mit „Begabten“ zu tun zu haben? Wie tragisch, ja menschenverachtend ein solches Missverständnis ist, möchte ich an Hand einiger empirisch erhobener und wissenschaftlich gesicherter Fakten erläutern. „Begabung“ ist nicht etwas Gottgegebenes, Unveränderliches, Statisches, das manche Menschen haben und andere eben nicht. Vielmehr handelt es sich bei Begabung um ein dynamisches Potential, das in jedem Menschen – wenn auch in unterschiedlicher Ausformung und Dosierung – grundgelegt ist. Dieses Potential kann sich weiterentwickeln oder auch verkümmern, je nachdem, ob und wie effektiv es vom Umfeld stimuliert wird. Dieses alles entscheidende „Umfeld“ ist für das Kind zum Einen die Familie, zum anderen die Schule. Ein Versäumnis eines der beiden Bereiche fügt dem Kind nie wieder gut zu machenden Schaden zu. Daher besitzt jedes Kind gleichsam ein „Naturrecht“ auf die bestmögliche Förderung seiner jeweiligen Potentiale (Begabungen); Begabungsförderung wird damit zur moralischen Pflicht jeder Lehrperson und aller Eltern (und darf nicht als „Hobby“ einiger weniger „besonderer“ Schulen abgetan werden). Damit wir uns aber in Worthülsen verlieren, sollten wir auch die Bedeutung des Wortes „fördern“ klären. Ich definiere es als „das Schaffen von Bedingungen, unter denen personales Lernen optimal ablaufen kann“. Es kann auf drei Ebenen stattfinden: 1) auf der äußeren Ebene der Rahmenbedingungen („Gelingensbedingungen“) 2) auf der inneren, personalen Ebene der Haltungen der am Lernprozess beteiligten Personen 3) auf der strukturellen Ebene der Organisationsformen. Der Grad der Verwirklichung richtig verstandener Begabungsförderung auf diesen drei Ebenen ist ein verlässlicher Maßstab für die Qualität einer Schule, und diesen wollen wir im Folgenden an das BRG Wallererstraße anlegen. Was die äußeren Rahmenbedingungen betrifft, so sind manche bedauerlicherweise nicht beeinflussbar, weil sie derzeit noch durch starre gesetzliche Regelungen oder (wie im Falle der Klassengrößen in der Unterstufe) durch ebensolche Ideologien einzementiert sind. Glücklicherweise gibt es aber innerhalb der bestehenden gesetzlichen Vorgaben immer noch eine ausreichende Palette an Möglichkeiten, personalisiertes Lernen zu stimulieren und damit die Lernbedingungen in für die Schüler fühlbarer Weise zu verbessern. Es würde den Rahmen dieses Vortrags sprengen, wollte ich die einzelnen bewährten Instrumente der Bega2 bungsförderung hier im Detail erklären. Es muss genügen, wenn ich mit großer Freude feststelle, dass innovative Maßnahmen wie das Assignment (eine individualisierte Form von Hausübungen) oder das Drehtürmodell von einzelnen Mitgliedern des Lehrerteams bereits im Vorjahr erfolgreich erprobt wurden und dass Formen der Partizipation (oder Demokratisierung), wie z.B. das Contracting oder ein institutionalisiertes Schülerfeedback an Lehrpersonen, im Begriffe sind, auf breiterer Basis Fuß zu fassen. Weitere Schritte (neue Formen autonomen Lernens, zusätzliche Möglichkeiten zur Partizipation) sind in Planung. (So wurde z.B. die Einrichtung eines Schüler-Eltern-Lehrer-Forums bereits im abgelaufenen Schuljahr angekündigt.) Auf der Ebene der Haltungen war es immer schon bewährte Tradition dieser Schule, den Fokus nicht auf die Schwächen, sondern auf die Stärken der Schüler zu richten. Die engagierte (und oft erfolgreiche) Teilnahme an Wettbewerben und Olympiaden ebenso wie die regelmäßige Beschickung der Sommerakademie legen dafür ein beredtes Zeugnis ab. Eine überaus wichtige Weiterentwicklung in diesem Bereich orte ich in der allmählichen Ausweitung des Blickes von einer vormals etwas verengten Ausrichtung auf Anzeichen von Hochbegabung auf das breite Feld aller Begabungen. Aber nicht nur in ihrem Blick auf die Schüler kann die begabungsfördernde Haltung des hiesigen Lehrerteams als ausgeprägt bezeichnet werden. Auch was die eigene Weiterentwicklung anlangt (die ja letztlich wiederum den Schülern zugute kommt), zeichnet sich eine wachsende Anzahl von Lehrpersonen durch jene Offenheit und reflektive Kompetenz aus, die Voraussetzung für die Bereitschaft ist, auch sich selbst in Frage zu stellen und auf diesem Weg, z.B. durch Tandembildung und kollegiale Hospitation mit anschließendem gegenseitigen Feedback, aneinander zu wachsen. Eine Organisation, in der die Personalentwicklung eine solche Richtung eingeschlagen hat, kann gar nicht anders, als sich auch auf der systemisch-strukturellen Ebene zu ändern. Auch in Zukunft werden noch manche der früher als gottgegeben angesehenen Strukturen und Traditionen nach und nach den neuen, humanisierten Zielvorstellungen untergeordnet und an diese angepasst werden müssen. Dies wird nicht immer ohne ein „Mitspielen“ der systemischen Umfelder möglich sein. Mit diesen meine ich, in aufsteigender Reihenfolge der Entfernung, die Eltern, die unmittelbar vorgesetzte Behörde (den LSR) und das Ministerium. Dem Ort des Geschehens am nächsten aber – und gleichzeitig die wichtigsten Verbündeten – sind Sie, meine Damen und Herren. Daher wird die Schule gut beraten sein, Sie ins Boot zu holen und zum Mitgestalten „Ihrer“ Schule nicht nur einzuladen, sondern geradezu zu animieren. Im gleichen Atemzug möchte ich es aber auch nicht verabsäumen, Sie an Ihre Bringschuld zu erinnern. Anders als in totalitären Staatssystemen ist bei uns die Erziehung der Kinder zum Glück noch immer zuallererst in der Zuständigkeit und Verantwortung der Eltern gelegen. Dass sich „Ihre“ Schule mittlerweile zu einer der führenden Experteninstanzen auf dem Gebiet einer richtig verstandenen Begabungsförderung entwickelt hat (einer Begabungsförderung, die Ihren Kindern vor allem durch „lebensgestaltendes Lernen“ zu einem wertvollen und sinnerfüllten Leben verhelfen will), sollte Ihnen die nötige Sicherheit geben, sich auf ein wirklich partnerschaftliches Verhältnis einzulassen, in dem beide Partner im Bewusstsein eines gemeinsamen Zieles vertrauensvoll aufeinander zugehen. Schule darf nicht als Schauplatz für die Austragung von Machtkämpfen oder als politischer Spielball für Behörden missbraucht werden. Schule ist für Schüler da (so wie Spitäler für Kranke da sind, und nicht für Ärzte oder Angehörige - oder gar für die Gesundheitsbehörde). Und Ihre Schule ist für Ihre Kinder da. Als Modellbeispiel einer „lernenden Schule“ trägt sie überdies noch den Keim in sich, das deklariertes Ziel, das das özbf mit der auf drei Jahre ausgelegten Begleitung dieses Prozesses verbunden hat, zu verwirklichen und Motor für eine ähnliche Schulentwicklung auf breiterer Basis zum Wohle ganzer Generationen zu werden. Helfen Sie mit, dieses hehre Ziel zu verwirklichen! 3