Familienbande lockern – die Sprachlosigkeit überwinden Rigidität wurde im Aufsatz „Rigidität in Unternehmen – wenn das Unterbewusste die Weiterentwicklung blockiert“ eingehender beschrieben. Sie kann als unbewusst wirkende „Erkenntnisverweigerung“ gesehen werden. Und sie betrifft Einzelne und unter bestimmten Umständen ganze Organisationen. In diesem Aufsatz wird noch einen Schritt weiter gegangen, um Ursachen in der persönlichen Entwicklung aufzuzeigen und daraus Ansätze einer Aufgebung der Sprachlosigkeit abzuleiten. Rigidität in Familien: Der Grad einer Rigidität kann sehr unterschiedlich sein. Beispielsweise erscheint die Konformität einer Organisation relativ leicht zu überwinden, denn sie beruht zum Wesentlichen auf einer noch bewussten Anpassung eigentlich unsicherer oder heimlich konträrer Einzelner. Dagegen wird sich eine tief in der Persönlichkeit verwurzelte Rigidität als sehr resistent zeigen. „Der Untertan“ von Heinrich Mann hat einen derartigen bis zur Selbstaufgabe verbohrten Charakter literarisch aufgearbeitet. Als wenn es im Leben darauf ankomme, die Besonderheit wie eine Mission unbedingt zur Erfüllung zu bringen. Aber warum eine derartig sture Unerreichbarkeit? Der Schlüssel zu einem weitergehenden Verständnis ist die Prägung der Persönlichkeit in der Kindheit. In der Familie werden die Glaubenssätze vermittelt, die dem Erwachsenen oft die Grenzen bestimmen, die ihn am Alten festhalten lassen, bei anderem in ihm Widerstand oder Wut wecken. Menschen brauchen Zuwendung um leben zu können, mehr noch als Nahrung. Die Psyche eines Kindes entwickelt sich in der Erfahrung der unmittelbaren Umwelt. Der Säugling bezieht noch alles auf sich und fordert uneingeschränkt. Er lernt Vertrauen in die Eltern und muss dennoch feststellen, dass er kämpfen muss, um Bedürfnisse befriedigt zu bekommen. Je umfassender und vielfältiger die Bedürfnisse werden, umso mehr werden dann auch die Grenzen und Einschränkungen bewusst, nicht genug und nicht schnell genug zu bekommen. Das Kleinkind reagiert dann schon mit besonderen Strategien, die gewünschte Aufmerksamkeit zu erzielen und ein Optimum an sachlichen und emotionalen Zuwendungen zu erzielen. Es lernt dann immer auch ein Umgehen mit Verboten, Strafen H. Reinke-Dieker, 12/04 1 und Zurückweisungen. Mit der Zeit festigen sich Regeln, Glaubenssätze, ein Gewissen: „Messer, Schere, Feuer, Licht, sind für kleine Kinder nicht...“ Angsterfahrungen sind daher immer Bestandteil eines Entwicklungsprozesses und mit einem gefestigte Selbstwertgefühl haben wir gelernt, sie zu meistern. In der Regel schaffen es die Familien, dem Kind eine stabile Verlässlichkeit, Wärme und Halt zu geben. Und dabei dann auch deutlich zu machen, dass diese unabhängig von Fehlern, Schwächen, sogar von unbedachten Verletzungen durch die Eltern gilt. Eltern müssen Grenzen setzen und sind häufig überfordert. Es ist ganz gut, wenn sie selbst nicht perfekt sind, und auch nicht so tun. Es kommt jedoch vor, dass in der Familie Grundlegendes schief läuft: • • • • Eltern sind selbst Quell von Ängsten, z.B. bei übertriebenen, den Selbstwert des Kindes verletzenden Strafen, bei Herabsetzungen, bei Gewalttätigkeit oder Missbrauch. Eltern operieren zu häufig mit Liebesentzug, stellen also gerade die Verlässlichkeit in Frage. Eltern vermitteln restriktive Werte, Lebensfeindlichkeit oder Intoleranz, bestehen auf einer nur engen, ängstlich gewahrten gesellschaftlichen Selbstbeschränkung. Eltern haben selbst nicht eine angemessene Form der Konflikt- und Problembewältigung erlernt. Damit fehlt die so wichtige Anleitung durch Vorbild. Angst ist offenbar keineswegs gleich Angst. Im Extrem steht die Angst, verstoßen zu werden, nicht angenommen zu sein, nicht wirklich dazu zu gehören, nicht wirklich sicher zu sein. Geschlagene Kinder neigen selbst später zur Gewalt, obwohl sie gerade das immer weit von sich gewiesen haben. Sie haben die falschen Regeln kennen gelernt und im Stress rasten dann die „stärksten“ inneren Programme ein. Im Ergebnis aller dieser Erziehungsdefizite steht ein Gefühl von Bedrohtheit. Die so notwendige Liebe und bedingungslose Wertschätzung, damit erst das eigene Selbstwertgefühl, bleiben auf unsicherem Boden. Sie dürfen daher nicht weiter gefährdet werden. Wer fürchtet, vom Vater nicht geliebt zu werden, wird ihn nicht kritisieren, ja selbst das in sich aufsteigende Gefühl von Ärger und Wut in höchstem Maße alarmierend empfinden. Wenn auf der einen Seite Enttäuschung und Wut, auf der anderen Liebe und Verlangen stehen, dann löst dieser Widerspruch Stress aus, einen Stress, den Kinder noch nicht zu bewältigen gelernt haben. Wenn diese Emotion folglich nicht ertragen werden kann und schon gar nicht ausgelebt werden darf, dann bleibt nichts anderes, als ein Einsperren, möglichst weit weg im hintersten Verließ des Bewusstseins. H. Reinke-Dieker, 12/04 2 Und auch möglichst so, dass die Vernunft nicht einmal weiter beunruhigt wird. Der Stressmechanismus besorgt die Bewachung, alles ist unterbewusst geregelt, die Gefahr scheint vorerst beseitigt. Konsequenz ist dann allerdings immer, des scheinbar Guten zu viel zu tun. Denn nicht nur die einzelne Emotion wird verdrängt, vielleicht eine erschreckende Mordfantasie, sondern auch die ganze Abteilung unbotmäßiger Aggression und Kritik. Der Mechanismus der Anpassung beginnt wie beim Untertan meist mit tiefer Verletztheit. Die so gefürchtete Strenge des Vaters wird zuletzt selbst vorbehaltlos verinnerlicht. Der so käglich gescheiterte Rebell wird zum Anpasser. Der Vater wird nicht nur nicht kritisiert, sondern gegen jegliche Infragestellung voll Empörung verteidigt. Wer auf einem emotionalen Pulverfass sitzt, wird übervorsichtig sein und lieber das Lied der Mächtigeren singen. Die Rigidität wird damit zu einem inneren Bedürfnis. Die Anpassung gibt Halt, schafft die ideelle Vereinigung, inneren Frieden. Tiefe und Umfassendheit der „Rigidisierung“ kann möglicherweise mit einer Formel erfasst werden: R = f(Angst, Ungefestigtheit, Einheitlichkeit des Umfeldes) Die Rigidität ist umso größer, je erschütternder die Angsterfahrung ist, je früher dieser Einfluss stattfindet, und je weniger das Umfeld ein Gegenmodell als Ausgleich schafft. Recht alltäglich ist das Beispiel zwiespältiger Botschaften: Ein Vater, selbst mit seiner Berufsausbildung gescheitert, sagt seinem Sohn: „Du musst fleißig sein und erfolgreich werden“ - die Gefühlsbotschaft lautet jedoch: Sei nicht besser als ich... Eine Mutter zur Tochter: „Eine Ehefrau muss sich oft einfach überwinden, auch wenn es nicht Spass macht.“ - unausgesprochen: ...wenn du so unglücklich werden willst, wie ich geworden bin... Unabhängig vom Inhalt dieser Botschaften ist das Resultat Verunsicherung, und die mündet in Sprachlosigkeit. Damit geht das Mittel verloren, die Widersprüchlichkeit durch Annäherung im Dialog und bewusste Auseinandersetzung zu bewältigen. Die Rigidität erscheint dann in engerem Sinne als Entwicklungsstopp, als Barriere der unbewussten Einflüsse. Unerheblich bleibt, ob die Forderungen der Eltern rigide befolgt oder ebenso rigide bekämpft werden. Beides bleibt unbeweglich. Traumaerfahrungen sind verbreitet, aber meist verborgen: Traumaerfahrungen bilden die höchste Stufe der Angst: existenzielle Angst, größte Panik. Sie sind sozusagen ein „Blick in die Hölle“, auch wenn man nicht selbst das unmittelbare Opfer war. Um wieviel schlimmer H. Reinke-Dieker, 12/04 3 bei der Bewältigung allein gelassen zu sein, und erst recht, wenn die geliebten Eltern selbst Täter waren. Vor allem bei Missbrauch, Misshandlungen, Verlassenwerden. Die neben die Verzweiflung tretende Wut würde aber noch mehr Gefahr für die ersehnte Liebe bedeuten und muss folglich unterdrückt oder umgeleitet werden. Auch hier mündet der unbewältigte Zwiespalt in die Sprachlosigkeit. Für traumatisierte Menschen wird sich ein Vertrauen in eine „sichere Liebe“ daher nur schwerlich entwickeln. Unser Selbsterhaltungsinstinkt drängt darauf, Traumaerfahrungen unbedingt aus dem Bewusstsein abzuschotten und zu verdrängen. Jedes Erneuern der Erinnerung würde zuerst das Panikgefühl, Schuldgefühle, Scham, explosive Aggressionen freilassen. Das Einsperren und Bewachen der Angst ist daher oft der Hintergrund für den Schutzwall der Rigidität, ein unbewusstes „Niemals-Wieder“. Es reduziert die Verhaltensmöglichkeiten und strahlt auf sonst harmlose oder sogar lebenswichtige Bereiche aus. Gleiches und Ähnliches wird daher zum Tabu.Und das Bewachen der Angst erfordert ein ständiges Auf-Der-Hut-Sein, Anspannung, Stress. Dieser Stress ist aber zumeist in das Unbewusste verlagert und zeigt sich dann oft an unerklärlichen psychosomatischen Reaktionen des Körpers. Oft wird so die ursprüngliche Problemlösung zum mittlerweile eigentlichen Problem. Im Privaten kennen wir die extremen Formen: Z.B. Angstreaktionen, Phobien, Zwänge oder Neurosen. „Sucht“ ist demnach eine Ablenkungsreaktion, die sich verselbständigt hat. In allen diesen Fällen ist der Selbstschutz aus dem Ruder gelaufen. Die Abgrenzungs-Rigidität: Ein Großteil der rigiden Verhaltensformen beruht auf Angst und sie zeigt sich darin, sich nicht von den Eltern abgrenzen zu können. Häufig gibt es aber die gegenteilige Form. Ein sehr bestimmtes „Niemals so wie mein Vater....!“ Auch die in diesem Fall gerade betonte Abgrenzung ist ein Schutz der eigenen Identität. Es ist so wie bei der Pubertät: Ich muss mich abgrenzen, um ich selbst werden zu können. Nur, die Pubertät ist ein allgemeiner Abwehr-Rundumschlag und in der Regel nach einigen Jahren überwunden. Wenn aber ein ganz bestimmtes Verhalten, eine ganz bestimmte Eigenschaft dauerhaft mit so starker negativen Energie belegt ist, dann steckt mehr dahinter. Das Kriterium ist also auch hier die Unbedingtheit des Wertes. Bei sehr großer Emotionalität ist der vordergründig genannte Kritikpunkt oft nur das Ventil, das eine übergroße so erschütternde Emotion erträglich macht. In diesem Fall dominiert die aggressive Form der Stressbewältigung. Lieber angreifen als die eigene Verzweiflung sichbar werden zu lassen. Allerdings wirkt diese so stark H. Reinke-Dieker, 12/04 4 erscheinende Abgrenzung keineswegs befreiend. Die Aggression hält gefangen in der äußeren Konfrontation, die innere Konflikte verdeckt. Oft müssen die gleichen Anteile bei sich selbst unterdrückt werden. Immer aber ist es der ungelöste Konflikt zwischen dem Lieben und dem Hass. Auch hier kann als Ursache oder Auslöser eine Panikerfahrung stehen. Wenn z.B. der Vater die Mutter geschlagen hat und das Kleinkind das hilflos mitansehen musste. Wohin mit dem Hass, der wie ein Graben zwischen Kind und Vater steht? Kinder sind dazu verurteilt, ihre Eltern zu lieben. Oft eine schizophrene, das Innere zerreißende Situation. Das gemeinsame Lebensgefühl: Ängste und deren Bewältigungsformen in der Familie sind immer Teil der persönlichen Entwicklungsgeschichte. Neben ausdrücklichen Verhaltensregeln prägen die unausgesprochenen Erwartungen und Werte. Auch Ängste können weitervererbt werden. Eine von der Mutter erlebte Todesangst in Friedhofsnähe taucht z.B. auch beim Kind auf, ohne dass eine eigene Angsterfahrung stattgefunden haben muss. Es lässt sich entsprechend feststellen, dass zu jeder Familie auch ein Bündel von Selbstverständnissen, Verhaltensregeln und Gefühlsreaktionen gehört, die das gemeinsame Lebensgefühl ausmachen. Dieses Lebensgefühl ist eine Brille, mit der die Familienmitglieder z.B. ihre Umgebung sehen und bewerten. Wenn der Nachbar ein größeres Auto gekauft hat – ist das ein Problem? Gefährdet das unser Selbstwertgefühl? Eine Antwort haben wir gewöhnlich in der Familie gelernt. Das Lebensgefühl gibt damit an, woran wir uns orientieren und was unser Selbstwertgefühl als Bestätigung braucht. Z.B. das Streben nach Reichtum, nach Schönheit, nach innerer Ruhe – was auch immer. Menschen brauchen Ziele und Maßstäbe. Die Frage ist nur, helfen diese Werte bei der Lebensbewältigung oder schaffen sie unnötige Hindernisse. Erlauben uns diese Regeln, offen zu sein für andere Wege und Entwicklungen? Oder müssen wir dann fürchten, die Bindung zur Familie zu verlieren? Gerade in Familien mit gefährdetem oder beschädigten Selbstwertgefühlen beobachtet man einen Hang zu besonderer Rigidität im Einfordern enger Regeln. Die Forderungen nach Einigkeit und Gleichartigkeit gehen oft zu Lasten einer freien Selbstentwicklung. Die Familien betonen den eigenen „Stand“, halten Traditionen und H. Reinke-Dieker, 12/04 5 Konventionen hoch, oder konzentrieren ihre Kontakte auf den engen Kreis „der Unsrigen“, unabhängig davon, ob es die engere Verwandtschft, eine religiöse Gemeinschaft oder ein Gesellschaftskreis ist. Hinter der Enge verbirgt sich immer die Angst, einen ohnehin schwachen Halt zu verlieren. Viele auf den ersten Blick belanglose Lebensprinzipien und Werte erhalten ihre Bedeutung allein durch diese Bindung mit der Familie. Die Identifikation mit dem Vater kann gerade darin bestehen, so wie er ein Schlipstragen abzulehnen, Schlipsträger zu verachten. Dieser Wert also in einer sonst neutralen Sache wird unreflektiert Bestandteil der eigenen Identität. „Ich fühle mich einfach besser ohne....“ Ausgangspunkt für die meisten inneren Verbote sind Loyalität und Liebe. Die Überwindung der Sprachlosigkeit: Das Bemühen um Wiedergewinnung der inneren Balance kann nur durch „Umprogrammierung“ der doch auch schützenden Verbote erfolgen. Die Wiedererlangung der vollen Verhaltensvielfalt erfordert einen größeren Spielraum des Erlaubens. Dem steht jedoch die geheime Angst entgegen, sich damit vollends von der Familie zu lösen. In den meisten Fällen bestätigt sich das nicht. Die Beziehungen werden stattdessen von belastenden Aspekten befreit und häufig für beide Seiten erleichternd vertieft. Die Eltern bekommen ein menschlicheres Gesicht und können mitsamt ihrer Schwächen und Fehler geliebt werden. Auch die Angst, den mühsam stabilisierten Halt zu verlieren, ist fast immer unberechtigt. Überwunden wird lediglich deren Irrationalität. Die bisher so starken Gefühlsblockaden werden z.B. sichtbar und gleichzeitig überwindbar bei Familienaufstellungen. Die Besonderheit ist dabei, das umfassendere emotionale Einflusssystem sichtbar zu machen und einen Weg zu finden, mit einer neuen Sichtweise den unterdrückten Zwiespalt zu bewältigen. Die Los-Lösung kann nur auf dem Wege des Verstehens erfolgen. Ein Unterdrücken von Gefühlen hält gefangen. Mit einer besseren Selbsterkenntnis und umfassenderen Selbstakzeptanz wird erst der Weg frei, unsere Grenzen nach eigenen Erwägungen weiter zu stecken. Keineswegs werden wir zu haltlosen, unmoralischen Egoisten, aber eher lernen wir das zu tun, was zu einem Leben in der Balance dazugehört: Geben und nehmen können, Nein sagen und Ja sagen können, Nähe und Distanz zulassen können. Es gibt einen Weg, unsere Ängste zu bewältigen, ohne uns von ihnen beherrschen zu lassen. Dieser Weg bedeutet, die Sprachlosigkeit zu überwinden. H. Reinke-Dieker, 12/04 6 Zwei Definitionen von „Glück“: ● Glücklich ist, wer gemäß seiner inneren Regeln lebt. ● Glück ist inneres Wachsen, ist das Erweitern von Möglichkeiten. Fragen für den Einstieg in einen inneren Dialog: 1. Was ist es genau, was mir wichtig ist und mir in meinem Umfeld Schwierigkeiten macht? 2. Zu welcher Person des Kreises Eltern, Großeltern, Familienumkreis passt dieser Wert am besten – zu welcher am wenigsten? 3. Würde sich diese Beziehung ändern, wenn ich mir im Verhalten mehr Großzügigkeit erlauben würde? Welche Anhaltspunkte gibt es dafür? 4. Was hindert mich, diese Person um Verständnis zu bitten? 5. Was hindert mich, den mir gemäßen Weg selbst zu definieren? H. Reinke-Dieker, 12/04 7