5 Schuld 116 häufiger wiederholt. Im therapeutischen Alltag ist aufgefallen, dass Patienten mit besonders lange anhaltendem und sehr massivem Zwangserleben oft einen sehr starken Glauben haben. Zusammenfassung Innerhalb vieler religiöser Gemeinschaften spielen Schuld, Schuldvermeidung und yy Scham eine wichtige Rolle. Religiöse Werte und Normen dienen der individuellen Orientierung zugunsten des yy sozialen Gemeinwohls. Gesunder Glaube hat einen protektiven Charakter und fördert die Resilienz bei yy Menschen. Beichten, körperliche Waschungen und Reinigungsrituale werden als eine Form der yy Schuldverarbeitung und der moralischen Reinigung verstanden. Es scheint eine Verbindung zwischen einer Gewissenserleichterung und einem yy ­Waschdrang zu geben. 5.6 Konstruktive Aspekte von Schuld Der positive Charakter von Schuldgefühlen, Schuldempfinden, Schuldneigung und Schulderleben ist in den vorangegangenen Kapiteln immer wieder aufge­ griffen worden. Schuldgefühle sind kurzfristiger Natur. Sie sind als Reaktion des Organismus auf Situationen zu verstehen. Viele Forscher sprechen aufgrund der Komplexität einer Schuldreaktion lieber von Schulderleben. Schuld ist dabei universell und, trotz der Einordnung als negatives Empfinden, hilfreich. Negati­ ve Emotionen sind für uns Menschen ein Signal, unser Verhalten zu verändern; etwas zu tun, um dieses negative Empfinden zu beenden. Im Fall von Schuld führt die negative emotionale Komponente dazu, dass wir kurz innehalten und unser Verhalten besser an die jeweilige Situation anpassen. Übergeordnet dient dies dem Erhalt von Bindungen, sozialen Beziehungen. Es verhindert, dass wir aufgrund eines Fehlverhaltens aus der überlebenswichtigen Gemeinschaft aus­ gestoßen werden. Das negative Empfinden ist also ein wichtiges Hinweissignal. Daher wird Schuld als soziale Emotion verstanden. Tritt Schuld in Interaktionen mit anderen Menschen auf, dient das Äußern und Zeigen von Schuldgefühlen der Umverteilung von emotionalem Stresserleben. Schuld als soziale Emotion dient daher der (Wieder-)Herstellung von Harmo­ nie innerhalb eines Systems. Eine Äußerung von aktuell empfundener Schuld gegenüber der geschädigten Person entlastet erst einmal uns selbst (Baumeister et al. 1995b). Dies tun wir durch den Wunsch motiviert, unsere eigenen Schuld­ gefühle zu reduzieren. Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH 5.6 Konstruktive Aspekte von Schuld 117 Aus der Emotionsforschung wissen wir auch, dass sehr intensiv erlebte Emo­ tionen den präfrontalen Cortex hemmen. Die kognitiven Prozesse des präfron­ talen Cortex können dann nur sehr eingeschränkt ablaufen. Jeder, der schon einmal wirklich starke Angst gespürt hat oder der sehr intensiv verliebt war, weiß, dass Denken in diesen Momenten kaum möglich ist. Daher wird im Fall von intensiven Schuldgefühlen die notwendige Denkleistung maßgeblich einge­ schränkt. Normalerweise hilfreiche Gedanken, z. B. dahingehend, was jetzt zu tun sei, wie man sich besser verhalten könne, sind nicht zugänglich. Die spontane und zumeist recht automatisiert ablaufende Äußerung ermöglicht über die Reduktion der Intensität nun auch, den präfrontalen Cortex nutzen zu können. Erst jetzt ist es möglich, das eigene Verhalten anzupassen, über mögliche Formen der Entschuldigung oder Wiedergutmachung oder die reale Gefährdung einer Beziehung nachzudenken. Gleichzeitig dient uns die Erinnerung an das äußerst negative Empfinden von Schuld in zukünftigen Situationen als persönliches Hinweissignal. Wir sind bemüht, Schuld im Alltag zu vermeiden. Dies geschieht zumeist unbewusst und automatisiert. Die Schuldneigung und die Fähigkeit des Schuldempfindens aktivieren auch unsere Empathiefähigkeit. Wir durchdenken Interaktionen und ent­ wickeln Ideen, wie sich das Gegenüber vermutlich im Fall unseres Fehlverhaltens bzw. mit einem entstandenen Schaden wohl fühlen wird. Die Fähigkeit der An­ tizipation von Schuld hat daher eine sehr adaptive Funktion. Personen werden daran gehindert, destruktive Handlungen innerhalb eines sozialen Umfelds und an anderen vorzunehmen. Der Schädigung oder gar dem Abbruch von sozialen und notwendigen Beziehungen wird so vorgebeugt. Befürchtete Auswirkungen auf soziale Kontakte haben einen regulierenden Charakter. Schuld ist daher auch als ein Resultat (antizipierter) sozialer Prozesse und Regulationsmechanismen des menschlichen Zusammenlebens zu verstehen. Schuldempfinden fördert altruistisches Verhalten und stabilisiert Beziehungen. Auch die individuelle Schuldneigung als stabiles Reaktionsmuster schützt die Grenzen anderer Menschen und verhindert aggressive Handlungen sowie negative Bewertungen. Das zumeist implizit verfügbare Wissen um diese regulierende soziale Funktion schützt zeitgleich unsere Grenzen und gibt uns Sicherheit im sozialen Miteinander. Schuld signalisiert aber auch interpersonelle Probleme und zeigt, dass wir unser Fehlverhalten als solches anerkennen. Das sichert Bindung und Zugehörigkeit. Menschen, die Schuldempfinden besitzen und sich schuldig fühlen können, gelten als moralisch integer. In den meisten Gesellschaf­ ten ist dies sehr anerkannt. Anderen gegenüber individuelle Schuld zu zeigen hat bereits eine erste wiedergutmachende Funktion. Für das Gegenüber sichtbar unter Schuld zu leiden motiviert (es) zur Vergebungsbereitschaft. Spannenderweise erhöht das auch die Wahrscheinlichkeit dafür, dass die Bestrafung reduziert wird (Keltner u. Anderson 2000). Schuld begünstigt also beziehungsförderliches Verhalten, stärkt den Gemein­ schaftsinn durch die Akzeptanz von Werten und Normen. Damit können inter­ personelle Konflikte vermindert oder gar verhindert werden. Prosoziales Ver­ Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH 118 5 Schuld halten ist eine Konsequenz daraus. Schuldempfinden und Schuldneigung regen zu beziehungsfördernden Verhaltensweisen an. Wir sind dadurch mehr oder weniger bewusst zu gegenseitiger Rücksichtnahme motiviert. So kann die Häufigkeit von Regelverstößen zugunsten sozial übergeordneter Werte und Normen reduziert werden, was sich auch auf unser eigenes Sicherheitsempfinden auswirkt. Es ist für viele Menschen sehr beruhigend zu wissen, dass sich Personen, mit denen wir im Alltag zu tun haben, auch schuldig fühlen können. Selbst wenn es zu einem Fehlverhalten, Ausbleiben von Unterstützung oder zu einem Schaden kommt, wird dieser durch wiedergutmachende oder schadensregulierende Verhaltens­ weisen wieder ausgeglichen. Die Harmonie im Miteinander steht für die meisten Menschen an oberster Stelle. So hilft uns unsere Tendenz zur Schuldvermeidung z. B., das Gegenteil zu tun. Statt schuldhaften Verhaltens schenken wir anderen Menschen besondere Aufmerksamkeit, äußern ihnen gegenüber positive Ge­ fühle. Wir erhöhen dadurch die Verbundenheit zu nahestehenden Menschen. Ebenso zeigen Entschuldigungen und Versuche der Wiedergutmachung der anderen Person, dass einem die Beziehung wichtig und man sich des Vergehens bewusst ist. Selbst dies reduziert die emotionalen Belastungen des Geschädigten. Eine Ausnahme stellt die Situation dar, wenn Schuld nicht getilgt wird. Emotional bleibt beim Betroffenen oft eine innere Rechnung offen. Wut, Groll und Verbitterung entstehen zusätzlich zum realen Schaden, da die Schuld nicht beglichen und das Unrecht nicht anerkannt werden. Aber auch dieses Erleben schützt davor, die Beziehung mit einer derartigen Person aufrechtzuerhalten und so möglicherweise noch mehr Schaden oder Verlust zu erleiden. Schuld auszugleichen – z. B. durch Strafe, die abgegolten wird – ist nur möglich, wenn die Schuld auch anerkannt wird. Der Ausgleich und die Wiedergutmachung von entstandenen Folgen werden dabei entweder durch gesellschaftliche Regeln oder Normen oder durch betroffene Person veranlasst. Schuld und Verantwortung sind zwei wichtige Verbündete (vgl. dazu auch ▶ Kap. 5.1.3). Interpersonale Verantwortlichkeit beschreibt die Verantwortlich­ keit für andere als einen Aspekt prosozialen Verhaltens. Für viele Menschen ermöglicht es die persönliche Erfüllung durch Selbstwirksamkeitserleben in zwischenmenschlichen Beziehungen. Dazu gehört, zwischenmenschliches Ver­ halten den Situationen angemessen gestalten zu können, über Strategien in der Beziehungsgestaltung zu verfügen und die Bereitschaft, neue erlernen zu kön­ nen. Die Gestaltung zwischenmenschlicher Interaktionen enthält immer auch individuelle Wachstumschancen. Wir Menschen als soziale Wesen sind darauf ausgerichtet, die Komplexität von Situationen zu erfassen und uns neuen Gege­ benheiten anzupassen. Die Übernahme von angemessener sozialer Verantwortung hat dabei einen selbstwertstabilisierenden Charakter. Prosoziales Verhalten und der selbstwertstabilisierende Charakter von Verantwortungsübernahme lassen sich auch als Ursachen für »fleißiges« Verhalten deuten. Ein Übermaß an Verantwortungsübernahme ist jedoch maladaptiv, wenn die Stabilisierung des Selbstkonzept nur auf diese einseitige Strategie angewiesen ist (Montada 1981). Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH 5.6 Konstruktive Aspekte von Schuld 119 Es gibt einen Zusammenhang von Schulderleben, Selbststolz und Selbst­ wirksamkeitserleben zugunsten sozialer Beziehungsgestaltung. Die Fähigkeit zu Handlungen der Entschuldigung bzw. der Wiedergutmachung und Reue zu besitzen schützt unser Selbst. Wir müssen uns als Person deshalb nicht infrage stellen, wenn wir uns schuldig fühlen. Das Wissen über und der Nutzen von re­ gulierenden Verhaltensweisen schützt uns. Schuld erleben zu können begünstigt entsprechend auch ein »gutes Gewissen«. Das ermöglicht es uns, Verhaltensstolz zu haben. »Verhaltensstolz« ist ein Begriff für Stolzgefühle aufgrund eines eigenen angemessenen Verhaltens im Sinne eines positiven Selbstwirksamkeitserlebens. Die Formulierung wurde in Anlehnung an die Unterscheidung von Scham und Schuld nach Lewis (1971) entwickelt; wobei Scham sich auf die gesamte Person bezieht und Schuld auf das Verhalten eines Menschen. Dementsprechend schrei­ ben einige Autoren von Selbststolz als Gegenspieler zu Scham und Verhaltens­ stolz als Gegenspieler zu Schuld. Interessant ist auch die adaptive Funktion von schuldinduzierender Kom­ munikation, die der Beziehungsregulation dient. Die Induktion von Schuld stellt eine sehr spannende Form der Beziehungsgestaltung und -einflussnahme dar. Jede Mutter und jeder Vater ist mit einer entsprechenden Schuldneigung und Schuldempfinden gegenüber dem Säugling ausgerüstet. Das leiseste Schreien motiviert dazu, sich schnell und umfassend um die Versorgung des Kindes zu kümmern. Die Überlebenschancen des Säuglings sind so bestens gesichert, obwohl sich dieser gegenüber den Eltern und der Umwelt offensichtlich in der schwächsten Position befindet. Anscheinend bleibt diese Fähigkeit der Kommunikation durch Lerneffekte erhalten. Etwas erwachsener dient der sprachlich deutlich ausgereiftere Kommunika­ tionsstil der Person, die sich in einer Beziehung als schwächer erlebt. Vergleiche des Partners mit anderen (besseren) Menschen oder das Äußern von Enttäu­ schungen führen dazu, dass sich die stärkere Person schuldig fühlt. Die sich als weniger stark erlebende Person kann auf diese Art vermutlich am ehesten ihren Willen durchsetzen. Formale Machtaspekte im Sinne der Dominanz des Stärkeren finden so nicht statt. Als notwendige Voraussetzung für diese Art der Kommunikation dient jedoch die als wichtig und positiv wahrgenommene Bindung zur anderen Person. Sie ermöglicht gegenüber der nahen (schwachen) Person, mehr Empathie und Anteilnahme an deren Wohlergehen zu empfin­ den. Sogenannte Meta-Schuld bei Personen, die diesen Kommunikationsstil benutzen, sowie entstandener Ärger bei der »manipulierten« Personen sorgen vermutlich dafür, dass zumeist die richtige Dosierung genutzt wird. Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH 5 Schuld 120 Zusammenfassung Schuld hat einen positiven und konstruktiven Charakter. yy Schuld dient dem Erhalt von sozialen Beziehungen und Bindungen, der Wiederyy herstellung von Harmonie und verhindert, aus der Gemeinschaft ausgestoßen zu werden. Das Äußern und Zeigen von Schuldgefühlen dient der Umverteilung von emotioyy nalem Stresserleben. Das Sichtbarmachen von Schulderleben yy –– führt zur emotionalen Entlastung innerhalb von Interaktionen, –– ermöglicht Vergebensbereitschaft, –– reduziert das Strafmaß und manchmal die Bereitschaft, »den Täter« zu bestrafen. Konstruktive Denk- und Anpassungsleistungen an die jeweilige Situation werden yy ermöglicht und sichern die individuellen Überlebenschancen. Schuldneigung und die Fähigkeit des Schuldempfindens aktivieren auch unsere yy Empathiefähigkeit und ermöglichen prosoziales Verhalten und Verantwortungsübernahme. Die Übernahme von angemessener sozialer Verantwortung hat dabei einen selbstyy wertstabilisierenden Charakter. Angemessenes adaptives Schulderleben schützt uns über den selbstwertstabilisieyy renden Charakter vor dysfunktionaler Scham. Adaptives Schulderleben begünstigt ein »gutes Gewissen« und ermöglicht Verhalyy tensstolz für angemessene Verhaltensweisen. Das Wissen um Schuldneigung und -empfindung bei anderen Personen gibt uns yy Sicherheit im sozialen Miteinander. Schuldinduzierende Kommunikation erhöht die Überlebenschancen und ermögyy licht der sich als schwächer wahrgenommenen Person, ihren Willen durchzusetzen. Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH 121 6Scham 6.1 Allgemeiner Teil Schamgefühle sind alltäglich und jedem von uns gut bekannt. Die Emotion be­ zieht sich auf das gesamte Selbst eines Menschen (Lewis 1971). Scham drückt aus: Wir als Person sind für diesen Moment nicht akzeptabel. Damit sind wesentliche innere Bereiche des Selbst betroffen. Die eigene entdeckte Unzulänglichkeit, ein erkannter Makel, empfundene Schwächen, sichtbare oder unsichtbare Defekte können Scham auslösen. Schamgefühle signalisieren, dass unser Selbst Schutz benötigt. Die meisten Menschen sind daher bemüht, schamerzeugende Situa­ tionen zu vermeiden. Korrekte Kleidung, angemessenes Benehmen, eine gute Körperhygiene, vorwegnehmende Entschuldigungen etc. sind Ausdruck dafür. Die Befürchtung, uns vor den Augen anderer zu blamieren, uns bloßzustellen, uns peinlich oder unangenehm zu verhalten, lässt uns unser Verhalten regu­ lieren, das eigene Aussehen überprüfen. Damit sind potenzielle Schamthemen allgegenwärtig, auch unser Vermeidungsverhalten ist Ausdruck davon. Die körperlichen Aspekten des Schamgefühls kennt jeder von uns. Blick und Kopf senken sich, die Schultermuskulatur verliert an Spannung. Die Blutzufuhr zum Gehirn wird kurzfristig gestoppt, Hitze und Gesichtsröte breiten sich aus. Oft versteckt sich das Gefühl hinter einem starren Blick, einer emotionslos wir­ kenden Mimik oder einem eingefrorenen Lächeln. Sich schämen bedeutet, am liebsten in den Boden versinken zu wollen, um der Situation so zu entfliehen. Der Wunsch, im Erdboden zu verschwinden, geht einher damit, sich dem Blick, den Bewertungen der anderen zu entziehen, aber auch in der eigenen Schamre­ aktion nicht noch mehr bloßgestellt zu sein. Sich seiner Scham zu schämen ist etwas, das viele Menschen kennen. Jeder Mensch hat eine eigene individuelle emotionale Reaktion. Bei dem einen entsteht Scham, bei dem anderen Ärger vor Scham. Scham wird daher oft als Form des Selbsthasses beschrieben (Rosenberg 2012). Häufig verbirgt sich das Gefühl auch hinter einer Fassade von vielen Worten. Empörung über andere Personen dient dann als Schutz vor eigener Scham und Angst vor antizipierter Wertlosigkeit. Scham verbirgt sich in vielen Gestalten oder hinter Masken (Wurmser 1981, 1990). Genau wie bei der Schuld gilt es auch bei Scham, zwischen dem grundsätz­ lichen Empfinden und dem individuellen Erleben, z. B. im Zuge einer aktuell angemessenen Emotion, zu unterscheiden. Schamempfinden hilft uns, uns in Situationen und Interaktionen mit anderen Menschen hineinzuversetzen (vgl. auch ▶ Kap. 4). Das Empfinden hilft uns auch, potenziell beschämende Situatio­ nen vorwegzunehmen oder rechtzeitig zu erkennen. So können wir unser Ver­ halten anpassen und Scham oder andere unangenehme Emotionen vermeiden. Schamempfinden lässt uns zum einen sensibel und achtsam sein – eine durchaus hilfreiche Eigenschaft im Kontakt mit anderen. Zum anderen erleben Menschen mit einem hohen Schamempfinden viel schneller Schamgefühle. Ist das Scham­ Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH 6 Scham 122 empfinden zu groß ausgeprägt, sind insbesondere im Kontakt mit anderen Menschen Ängstlichkeit und Unsicherheit typische Begleiterscheinungen. Eine physiologische Besonderheit sei vorweggenommen. So ist von Dickerson et al. (2004a) eine Immunreaktion auf Schamerinnerungen gefunden worden. Schamvolle Erinnerungen können mit einer deutlichen Immunantwort ein­ hergehen. Der Botenstoff Tumor-Nekrose-Faktor alpha als ein Indikator für proinflammatorische Cytokin-Aktivität war im Speichel der Versuchspersonen umso mehr zu finden, je intensiver das empfundene Schamerleben der Proban­ den war. Bei einer Infektion sorgt diese Immunantwort üblicherweise dafür, dass Menschen sich zurückziehen und schonen. Für Schuldgefühle konnte keine derartige Reaktion gefunden werden. Zusammenfassung Schamgefühle yy und potenzielle Schamthemen sind alltäglich. Zumeist versuchen wir, die Emotion durch unser Verhalten zu vermeiden. Schamempfinden und aktuelle Schamemotionen gilt es zu unterscheiden. yy Emotion bezieht sich auf unsere gesamte Person, unser Selbst. Scham wird daher yy oft auch als Selbsthass wahrgenommen und beschrieben. Personen erleben sich oft als klein und unzulänglich. Physiologisch zeigt sich Scham häufig hinter einem gesenkten Blick und Kopf, yy ­einem Spannungsabfall der Schultermuskulatur, im Erröten oder in einer erstarrten Mimik. Der Wunsch, »im Boden versinken zu wollen« und aus der Situation zu entkomyy men, ist typisch für Scham. Intensive Schamerinnerungen können zu einer veränderten Immunreaktion führen. yy 6.1.1 Scham macht Sinn Scham dient der Regulierung sozialen Verhaltens. Damit ist Scham ein universelles Gefühl und in jeder Kultur zu finden. Individuell sind jedoch die Ausprägung, die Intensität und die Häufigkeit, mit der Scham bei Einzelnen und in verschie­ denen Kulturbereichen auftritt. Scham wird häufig als das unangenehmste Gefühl bezeichnet. Besonders der lähmende Charakter versetzt Menschen in einen besorgniserregenden inneren Zustand. Menschen mit einem guten Scham­ empfinden können soziale Kontakte achtsamer gestalten. Dennoch kann flüchtige, der Situation angemessene Scham hilfreich sein (▶ Kap. 6.1.4). Die Emotion dient als wichtiger Entwicklungs- und Regulationsmechanismus. Sie hilft uns, andere und die Realität zu überprüfen und mögliche Differenzen festzustellen. So motiviert das Gefühl zu Veränderungen. Scham kann uns zu besseren Leistungen anspornen. Ebenso unterstützt uns die Emo­ tion, uns als Mensch weiterzuentwickeln und die eigene Autonomie zu fördern. Situativ angemessene Scham zeigt uns in sozialen Kontakten, dass es notwendig Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH 6.1 Allgemeiner Teil 123 ist, die bisherige Interaktion zugunsten von Regeln, Normen und anerkannten Werten zu korrigieren. Dabei lässt die körperlich sehr intensive Reaktion uns kurz innehalten und ermöglicht so eine schnelle innere Überprüfung der ­schamauslösenden Situation. Schamerleben wird von komplexen, z. T. wenig bewussten, jedoch häufig als automatisiert wahrgenommenen kognitiven Prozessen begleitet. Scham als eine selbstreflexive Emotion stellt das, was wir wahrnehmen, in einen Zusammenhang mit dem, was wir als verinnerlichte Norm oder Wert voraussetzen. Die Verbin­ dung zwischen den internalisierten Werten, Normen, Regeln ist schnell und ermöglicht so ein vorausschauendes Denken sowie rasche Entscheidungen. Ein hohes Schamempfinden basiert auf guten verinnerlichten Werten und Normen sowie einer guten Empathiefähigkeit. Scham macht schweigsam, lässt uns zurückziehen und über uns nachdenken. Selbstzweifel und Grübeln sind oft der Ausdruck von diesem Rückzug aus der Realität und den bewertenden anderen in die eigene innere Wirklichkeit. Scham gehört deshalb zu den selbstreflexiven Emotionen. Sie entsteht durch die nega­ tive Bewertung des eigenen Selbst in Kombination mit der Identifizierung mit einem realen oder imaginierten Gegenüber. Das heißt, es braucht keinesfalls die Anwesenheit eines anderen Menschen. Es genügt die Fähigkeit, sich die Bewertung, den abschätzigen Blick von Personen vorstellen zu können. Daher kann Scham auch später als in der eigentlichen oder gar ganz ohne aktuelle be­ schämende Situation auftreten. So können wir uns in späteren Lebensjahren z. B. unseres früheren Verhaltens schämen. Die eigenen Gedanken, das neue Wissen lässt uns dann anders über uns denken (vgl. dazu ▶ Kap. 8.3). Die Emotion motiviert uns, z. B. unser Selbstkonzept mit der Realität zu vergleichen. Das Real-Selbst, als Teil unseres Selbstkonzeptes, steht dem Ideal-Ich gegenüber. Die Diskrepanz zwischen Real-Selbst und Ideal-Selbst kann uns auch ohne Beisein anderer Menschen beschämen. So wird die Entwicklung unseres Selbstsystems angeregt oder in ungünstigem Fall blockiert. Im Fall einer Blocka­ de verhindert das dysfunktionale Schamgefühl, dass wir uns gesund weiterent­ wickeln können. Stattdessen erleben Menschen die Emotion immer und immer wieder in derselben Intensität, quälend und lähmend, unfähig, klare Gedanken zu fassen. Sie schämen sich häufiger, antizipieren ungünstige Bewertungen anderer, nehmen durch Selbstabwertungen diese vorweg oder versagen sich be­ dürfnisorientiertes Handeln. Der kleinste Gedanke, die eigene Bedürftigkeit, ein Blick in den Spiegel auf den eigenen Körper, ein irritierender Blick von Mitmen­ schen kann diese Emotion sofort und mit voller Wucht auslösen. Maladaptive Scham führt manchmal auch dazu, dass wir zu viel Verantwortung übernehmen oder uns sehr häufig schuldig fühlen (vgl. dazu ▶ Kap. 5.1.8 und ▶ Kap. 6.1.4). Zu viel Schamerleben kann in eine psychische Erkrankung münden oder be­ reits Ausdruck davon sein (▶ Kap. 8). Bedürfnisbezogene Gedanken lösen Scham aus. Dies ist ein Phänomen, das nicht nur innerhalb von Psychotherapien zu beobachten ist. »Darf ich das denn denken?« und »Ist das egoistisch, wenn man an sich denkt?« sind Fragen, die auch im Alltag auftauchen. Oft helfen Freunde Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH 124 6 Scham oder nahe Bekannte, bei denen man sich Rat holen kann, ob man »zu egoistisch denkt«. Scham und Selbstabwertung treten häufig zusammen auf. Selbstab­ wertung schützt wiederum davor, von anderen beschämt zu werden: »Ich bin so dumm«, »Ich bin doch wirklich wertlos«. Schlimmer kann die Bewertung anderer Menschen gar nicht ausfallen, und immerhin entsteht so der Eindruck von Kontrolle, wenn man sich dem schlimmsten Gedanken »der eigenen Wert­ losigkeit« bereits selbst gestellt hat. Maladaptive Scham steht bei Patienten oft im Hintergrund. Sie beschämen sich durch selbstabwertende Gedanken selbst (▶ Kap. 8.2 ff.). Ist das Schamerleben sehr intensiv, zeichnet es sich oft auch durch eine quälende Befangenheit oder den Eindruck des »Blockiertseins« aus. Manchmal begleitet Scham daher auch noch eine emotionale Ängstlichkeit, Hilflosigkeit oder Unsicherheit. Schamgefühle sind die am meisten verborgenen bzw. kontrol­ lierten Emotionen (Wallbott u. Scherer 1986). Übermäßiges Schamerleben und -empfinden isoliert und bringt Menschen in eine erlebte Einsamkeit. Personen erfahren sich innerlich und äußerlich isoliert, abgelehnt sowie aller Kompeten­ zen beraubt. Scham und Angst sind generalisierende Emotionen mit sich schnell ausbreitendem Charakter. Beide Emotionen werden meist als plötzliche »innere Überflutung« erlebt. Sinnvoll ist daher die Unterscheidung einer situativ kurz auftauchenden Emo­ tion von tief verinnerlichten biografisch verankertem Schamerleben. Scham ist, wie bereits ausgeführt, eben keinesfalls nur eine schmerzhaft-defizitäre oder pa­ thologische Emotion. Ausgeprägte Schamgefühle hemmen jedoch wichtige po­ sitive Gefühle wie Freude, Neugierde und Lust. Scham wird daher als unteilbare Emotion wahrgenommen. Das entspricht jedoch nicht der Realität. Der aktive Akt der Mitteilung »Ich schäme mich« ist angesichts der äußeren Ausprägung zumeist nicht notwendig. Menschen, die Empathie empfinden können, erken­ nen und erspüren die Scham des Gegenüber. Oft genug bieten sie im richtigen Moment Hilfe und Unterstützung, gar Trost an. Scham ist auch eine moralische Emotion und signalisiert mit ihrem Auftreten, dass die Person ein moralisches Grundverständnis hat. Der Prozess des Er­ wachsenwerdens ist bei den meisten Menschen mit der Aneignung von Werten, Idealen, Normen und Regeln verbunden. Diese gelten für die Menschen, die zusammen leben, soziale Beziehungen unterhalten. Die Verinnerlichung dieses Wissens hilft, gemeinsam und mit anderen lebenswerte Ziele verfolgen zu kön­ nen und zwischenmenschliche Rücksichtsnahme zu entwickeln. Bewertungen von eigenem und fremdem Verhalten wird gemessen an diesen Normen und Regeln. »Richtig oder falsch« ist damit schnell verfügbar und sorgt für die Auf­ rechterhaltung von moralischem Denken. Wichtig ist jedoch, dass diese Normen und Regeln auch für die zu bewertende Person gilt. Probleme im Alltag lassen sich an dieser Stelle z. B. bei Menschen aus anderen Kulturkreisen festmachen. Konflikte entstehen dann aufgrund anderer mora­ lischer Ausgangsvoraussetzungen. Die Botschaft des Schamgefühls vermittelt, dass die betroffene Person den Normen, Regeln, Kriterien der herangetragenen Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH 6.1 Allgemeiner Teil 125 Rolle und des Status nicht gerecht wird. So wird das Schamgefühl zum Aus­ druck der Unterlegenheit der eigenen Person. Manchmal jedoch schämt sich die bewertete Person gar nicht, weil Regeln und Normen gar nicht verfügbar oder nachvollziehbar sind. Dann ist die Empörung groß. Nicht die Dinge oder Akti­ vitäten an sich aktivieren Scham, sondern die Bedeutung für die eigene Person innerhalb der Gesellschaft. Die Regeln und Normen müssen für das Individuum anerkannt sein. Scham signalisiert, dass die soziale Zugehörigkeit gefährdet ist. Die Zugehörigkeit zu einer Gruppe muss also für Menschen von Bedeutung sein, um Scham empfinden zu können. Aus der eigenen Sippe ausgestoßen zu werden bedeutete in Urzeiten meist das Todesurteil. Es war kaum möglich, alleine außerhalb der Gemeinschaft zu überleben. Vielleicht kommt daher die umgangssprachliche Formulierung »Vor Scham sterben wollen«. Daher hängen Scham und Einsamkeit oft zusammen. Zusammenfassung Das yy Schamgefühl hat trotz der unangenehmen Emotionsqualität auch positive ­Aspekte. Es unterstützt und fördert individuelle Entwicklungs- und Regulationsmechanisyy men. Schamerzeugende Situationen zu vermeiden gehört zum Alltag. yy Die körperlichen Aspekte sind sehr eindrücklich und werden meist als »innere yy Überflutung« erlebt. Auf gedanklicher Ebene wird die Emotion von komplexen, z. T. wenig bewussten yy oder häufig als automatisierten kognitiven Prozessen begleitet. Es gilt, situativ angemessene Schamreaktionen von tiefsitzendem, biografisch veryy ankertem Schamerleben zu unterscheiden. Dysfunktionales Schamgefühl tritt häufiger und in der gleichen, meist zu intensiyy ven Intensität auf. Individuelle Entwicklungs- und Regulationsprozesse von Menschen werden durch yy dysfunktionales Schamerleben gehemmt. Scham, Einsamkeit und Angst treten oft zusammen auf. yy Scham wird auch der selbstreflexiven, sozialen, moralischen oder Attributions-­ yy Emotion zugeordnet. 6.1.2 Die sechs Ebenen der Schamaktivierung Schamaktivierende Erfahrungen können auf verschiedenen Ebenen stattfinden: Bindungsebene Insbesondere frühe invalidierende, fehlende oder nicht erreich­ bare nahe Bezugspersonen können schamprägend sein. Manche Menschen erle­ ben Nähe als beschämend, vor dem Hintergrund der Idee, dass Scham für eine nahe Person fühlbar ist, oder der Angst, in der Schwäche entdeckt zu werden. Lammers: Emotionsbezogene Psychotherapie von Scham und Schuld. ISBN: 978-3-7945-3054-0. © Schattauer GmbH