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e&m| spektrum
Zur Diskussion
Bis heute gibt es keine belastbaren
wissenschaftlichen Beweise, dass
gesunde Erwachsene im gemäßigten
Klima bei leichter körperlicher Aktivität
die überall empfohlenen bis zu 2 Liter
trinken müssen.
Sie sind allgegenwärtig: Menschen jeden
Alters, die große oder kleine Flaschen
(meist aus Plastik) mit Wasser oder Zu­
cker enthaltenden Flüssigkeiten mit sich
herumtragen und immer wieder daraus
trinken, als ob sie verdursten würden,
wenn sie einige Stunden ohne Flüssigkeit
auskommen müssten. In Konferenzen
und Vorlesungen, auf dem Bahnhof oder
dem Flughafen, mit dem Handy am Ohr,
in der Talkshow – überall wird getrun­
ken.
„Drink to your health“ empfiehlt ein
unter amerikanischen Studenten verteil­
tes Flugblatt. Ärzte empfehlen ihren
Patienten, mehr zu trinken, englische
­
Schulen bestehen darauf, dass die Schü­
ler Wasser mitbringen. Die Initiative
­Hydration for Health schaltet Anzeigen in
medizinischen Fachzeitschriften und
propagiert eine tägliche Wasseraufnah­
me von 1,5–2 Liter.
Auf der Suche nach Beweisen
Heinz Valtin (1) hat bereits 2002 versucht
herauszufinden, ob es einen wissen­
schaftlichen Beweis für die in den USA
allgegenwärtige Empfehlung von „8 × 8“
(mindestens 8 Gläser à 8 ounces, ent­
spricht ca. 1,9 Liter und damit auch in
etwa der in Deutschland üblichen Emp­
fehlung) gibt. Zu dieser Zeit wurde auch
immer darauf hingewiesen, dass koffeinund alkoholhaltige Getränke nicht mit­
gezählt werden dürfen.
Der Autor hat hierfür nicht nur elek­
tronisch verfügbare Quellen, sondern
E&M – Ernährung und Medizin 2012; 27: 133 – 135 Egal, ob wir Durst haben oder nicht: Stets sollen wir trinken. Warum eigentlich? © Jupiterimages
auch ältere Literatur berücksichtigt. Dar­
über hinaus hat er Ernährungswissen­
schaftler konsultiert, die auf das Gebiet
Durst und Trinken spezialisiert sind. Im
Ergebnis fanden sich keine wissenschaft­
lichen Studien, die 8 × 8 unterstützen.
Flüssigkeitsaufnahme
Beobachtungen über die Flüssigkeitsauf­
nahme von tausenden von Erwachsenen
deuten darauf hin, dass eine Trinkmenge
von 2 Litern nicht nötig ist. Hinzu
kommt, dass das „Verbot“, Kaffee, Tee,
Bier etc. mitzuzählen, ein Missverständ­
nis war. Valtin verweist auf ältere Quel­
len, die 6–8 Gläser pro Tag empfehlen,
wobei alle Arten von Flüssigkeit berück­
sichtigt werden: Kaffee, Tee, Milch, Soft­
drinks, Bier, aber auch Obst und Gemüse
– zu finden als Fußnote am Ende eines
längeren Buchs der Ernährungswissen­
schaftler Stare und McWilliams (2). Auch
andere ältere Studien beziehen den Flüs­
sigkeitsgehalt von Speisen ein – eine bei
Zur Diskussion – Müssen wir wirklich soviel trinken?
den 8 × 8-Empfehlungen vollkommen
vernachlässigte Größe.
Untersuchungen zur Flüssigkeitsauf­
nahme von erwachsenen Amerikanern
im Zeitraum 1977/78 (also vor der Ein­
führung von 8 × 8) und 1994–96/1998
(nach 8 × 8) haben eine Zunahme von 1,7
auf 2,2 Liter pro Tag ergeben. Dabei be­
stand die Hälfte aus Kaffee, Tee, Soft­
drinks und Alkohol, also Getränke, die in
der 8 × 8-Empfehlung wegen ihrer ver­
meintlich diuretischen Wirkung nicht
mitgezählt werden sollten. Die Zunahme
erfolgte v. a. durch Wasser, Softdrinks,
Säfte und Alkohol – Letztere mit entspre­
chender Kalorienproblematik.
Mittlerweile fanden sich auch Studi­
en, die nahelegen, dass koffeinhaltige
Getränke und, in geringerem Maße,
Getränke mit geringem Alkoholgehalt
­
wie Bier, mitgezählt werden können.
Diese Auffassung hat sich ja mittlerweile
in unseren Breiten durchgesetzt, im eng­
lischsprachigen Raum wohl eher noch
nicht.
133
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Müssen wir wirklich soviel trinken?
Wasserhaushalt
Vielfältige und langjährige Untersuchun­
gen zum Wasserhaushalt Erwachsener in
gemäßigtem Klima ergaben nach Valtin
erstaunlich einheitliche Werte (▶ Tab. 1).
Kaum einer der im Bekanntenkreis des
Autoren Befragten erreichte die 8 
× 
8
ohne Berücksichtigung von Kaffee, Tee
und Alkohol. Ein eigenes Protokoll er­
brachte 1,44 Liter unter Berücksichti­
gung aller Getränke. Die Verfechter von
8 × 8 beharren weiter auf dieser Nichtbe­
rücksichtigung von Kaffee und Co. und
behaupten nach wie vor, dass die Ameri­
kaner nicht genug trinken.
Vor- und Nachteile
einer hohen Wasseraufnahme
Um die Zufuhrempfehlung von 8 × 8 ein­
ordnen zu können, haben sich Valtin
und andere Autoren (3, 4) mit möglichen
Auswirkungen befasst. Fazit: Generelle
­
­Aussagen über gesundheitliche Vorteile
durch hohe Wasseraufnahme halten sie
trotz einiger Hinweise in Studien für
nicht gerechtfertigt; bei bestimmten
Prädispositionen kann sie sinnvoll sein.
Schäden im Sinne einer Intoxikation
(Hyponatriämie) können schon bei einer
moderaten Erhöhung der Flüssigkeits­
zufuhr auftreten, wenn die renale Exkre­
tion beeinträchtigt ist. Ausdauersportler
sollten dies ebenfalls beachten.
Durch eine erhöhte Wasseraufnahme
kann auch die Aufnahme von Schadstof­
fen steigen, wenn solche vorhanden sind,
z. B. Arzneimittelrückstände in Leitungs­
wasser, Weichmacher aus Kunststoff­
flaschen. Schließlich sind die Kosten, die
entstehen, wenn jemand die 8 × 8 aus­
schließlich durch Mineralwasser zu sich
nehmen möchte, nicht zu unterschätzen.
Und mancher empfindet die mit einer er­
höhten Flüssigkeitsaufnahme verbunde­
ne erhöhte Urinproduktion als lästig.
­ nangenehm kann im Übrigen auch das
U
Schuldgefühl sein, nicht genug zu trin­
ken.
In den Bereich der Mythen ordnen die
Autoren Aussagen ein wie: „Der Durst
setzt zu spät ein (wenn schon Dehydrie­
rung besteht)“ oder „Dunkler Urin be­
deutet Dehydrierung“ – meist falsch (die
Farbe hängt u. a. vom Urinvolumen ab,
das individuell sehr unterschiedlich ist).
Schlussfolgerungen
Die Durchsicht der Literatur sowie viele
persönliche Diskussionen mit Ernäh­
rungs­
wissenschaftlern und Medizinern
hat Valtin zu dem Ergebnis geführt, dass
es keinen Beweis dafür gibt, dass wir alle
„mindestens acht Gläser Wasser pro Tag“
trinken müssen. Der Autor weist aus­
drücklich darauf hin, dass seine Erkennt­
nisse für gesunde Erwachsene in ge­
mäßigtem Klima bei leichter körperlicher
Aktivität gelten – genau die, denen 8 × 8
empfohlen wird. Er betont darüber hin­
aus die Tatsache, dass die Aufnahme von
8 × 8 oder mehr für die Prävention oder
Behandlung einiger Krankheiten oder bei
starker körperlicher Anstrengung, v. a. in
heißem Klima empfohlen wird.
Für die Aussage, dass wir nicht 8 × 8
trinken müssen, gibt es eine hohe Evi­
denz. Dazu zählen auch die Wirksamkeit
des osmoregulatorischen Systems, das
die Wasserbalance durch Vasopressin
und Durst aufrechterhält, und die ge­
messene tägliche Flüssigkeitsaufnahme
Tausender Gesunder von deutlich weni­
ger als 1,9 Liter.
Erfolg der Mineralwasser­
industrie?
2011 hat sich Margaret McCartney aus
Glasgow mit den Fakten hinter der Be­
hauptung, dass wir alle mehr trinken
▶Tab.
▶
1 Wasserhaushalt [ml] Erwachsener in gemäßigtem Klima nach (1). Die Angaben der DGE
unterscheiden sich davon minimal (6).
Aufnahme
Nahrung
Stoffwechsel
Wasser
– als Flüssigkeit
– in Lebensmitteln
gesamt
134
1220
1000
300
2520
Urin
Abgabe
Fäzes Haut, Lunge
1520 100
2520
900
müssen, beschäftigt (4). Neben dem so­
eben ausführlich referierten Text ver­
weist sie darauf, dass die Initiative Hydration for Health von Danone geschaffen
wurde und gesponsert wird – die Mine­
ralwässer Volvic, Evian und Badoit wer­
den von Danone produziert. Die Initiative
spricht sich für den Konsum von Mine­
ralwasser statt zuckerhaltigen Geträn­
ken aus. Außerdem behauptet sie, dass
insbesondere Kinder durch zu wenig
Trinken gefährdet seien und Ältere auf­
grund eines geringeren Durstgefühls.
Diese „Wir trinken nicht genug Wasser“Idee hat ungezählte Fürsprecher: Schu­
len bestehen darauf, dass die Schüler
Wasser mitbringen und dass sie 8 Gläser
pro Tag trinken sollen. Alle Arten von
­Organisationen einschließlich des Natio­
nal Health Service in Großbritannien
empfehlen 6–8 Gläser Wasser (oder auch
andere Flüssigkeiten) pro Tag, um Dehyd­
rierung vorzubeugen.
McCartney bezeichnet dies als kom­
pletten Unsinn und bezieht sich dabei
nicht nur auf Valtin (s. o.), sondern auch
auf weitere Autoren, die in der Zwischen­
zeit zu ähnlichen Schlussfolgerungen ge­
kommen sind – es gibt keine klare Evi­
denz für die Vorteile erhöhter Wasser­
aufnahme, aber auch keine klaren Be­
weise für das Fehlen von Vorteilen.
Kompliziert wird es bei bestimmten Er­
krankungen wie Harnwegsinfektionen –
bei manchen ist eine erhöhte Flüssig­
keitszufuhr von Vorteil, bei anderen
nicht. Lediglich bei Nierensteinen scheint
Trinken die richtige Maßnahme zu sein.
Nach mehreren Artikeln in der Tages­
presse, die ihre Argumente möglicher­
weise verkürzt dargestellt haben, gibt es
in McCartneys Blog viele kontroverse
Meinungen. Sie betont daraufhin u. a.,
●● dass sie natürlich eher Wasser als
zuckerhaltige Getränke empfehle,
und eher Leitungswasser als Wasser
in Flaschen (billiger und besser für die
Umwelt)
●● dass ihr Anliegen darin bestehe, zu
vermitteln, dass wir nicht mehr
trinken müssen als wir es ohnehin
tun, weil uns irgendwelche gesund­
heitlichen Vorteile versprochen
werden, die es nicht gibt
●● dass sie nicht dagegen ist, dass
jemand etwas mehr trinkt als gegen
den Durst.
Zur Diskussion – Müssen wir wirklich soviel trinken? E&M – Ernährung und Medizin 2012; 27: 133 – 135
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Reinhold Carle (5) verweist darauf, dass insbesondere ener­
giehaltige Getränke durch 8 × 8 häufiger konsumiert wer­
den und daher die sog. Adipositasepidemie mit der Geträn­
kesüßung durch High-Fructose Corn Syrup (HFCS) in Ver­
bindung gebracht wird. HFCS wird enzymatisch aus Mais­
stärke gewonnen und besteht in der am häufigsten zum
Süßen verwendeten Form zu 55 % aus Fruktose und zu 42 %
aus Glukose. HFCS hat in den USA die Saccharose in der
­L ebensmittelindustrie seit den 80er-Jahren zunehmend er­
setzt, bei uns nicht in diesem Ausmaß. Während Glukose
über Insulin kontrolliert wird, fehlt diese Regulation aber
bei der Fruktose. Reine Fruktose findet sich also heute nicht
nur in Obst, Obstsäften und Honig, sondern – künstlich zu­
gesetzt – auch in Süßigkeiten, Getränken, Kinderlebensmit­
teln, Milchshakes und Speiseeis. Inwieweit eine hohe Fruk­
toseaufnahme einen möglichen Beitrag bei der Entwicklung
von Adipositas und dem metabolischen Syndrom leistet, ist
aber umstritten.
Empfehlungen
Europa ist mit den Empfehlungen teilweise schon etwas
weiter. So heißt es z. B. bei der Schweizerischen Gesellschaft
für Ernährung (SGE): „Wer sich an die Ernährungsempfeh­
lungen der SGE hält, ‚isst‘ bereits mehr als 1 Liter Wasser …
Die empfohlene Trinkmenge … beträgt rund 1–2 Liter pro
Tag; Wasser – Leitungswasser oder Mineralwasser – ist
grundsätzlich das sinnvollste Getränk.“ Im weiteren Sinne
zählen verschiedene Tees, Kaffee etc. dazu.
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung gibt für Er­
wachsene einen Richtwert von 2,25–2,7 Litern für die täg­
liche Flüssigkeitszufuhr an, der über Getränke und Nahrung
gedeckt werden soll, wobei mindestens 1,3–1,5 Liter als Ge­
tränke empfohlen werden – Leitungswasser, natriumarmes
Mineralwasser, ungesüßte Kräuter- und Früchtetees, stark
verdünnte Saftschorlen.
Dr. Sabine Wenzel, Berlin
Literatur
1 Valtin H. “Drink at least eight glasses of water a day.” Really?
Is there scientific evidence for “8 × 8”? Am J Physiol Regul Integr
Comp Physiol 2002; 283: R993–1004
2 Stare FJ, McWilliams M. Nurtion for Good Health. Fullerton, CA:
Phycon; 1974: 175, zitiert nach (1)
3 Negoianu D, Goldfarb S. Just add water. J Am Soc Nephrol 2008; 19:
1041–1043
4 McCartney M. Waterlogged? BMJ 2011; 343: d4280
5 Carle R. Flüssigkeit im Überfluss? Ernährung im Fokus 8/2011: 367
6 Deutsche Gesellschaft für Ernährung. Die ernährungsphysiologische Bedeutung von Wasser. DGEinfo 05/2010
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Ein Problem: mehr energie­haltige Getränke
durch 8 × 8
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