Dölemeyer, Anne; Mathias Rodatz (2010): Diskurse und die Welt der Ameisen. Foucault mit Latour lesen (und umgekehrt). Zur Publikation in: Robert Feustel; Maximilian Schochow (Hg.): Zwischen Sprachspiel und Methode. Perspektiven der Diskursanalyse. Bielefeld: transcript, 197-220. Final Draft Abstract: Die Actor-Network Theory (ANT) lässt sich für Gegenwartsanalysen von Regierungsprozessen und Machteffekten fruchtbar machen. Ziel des Beitrags ist es, dieser Anschlussfähigkeit Kontur zu verleihen. Die zentrale Frage richtet sich auf den Mehrwert einer entsprechenden Kombination mit Programmanalysen im Sinne der Studies of Governmentality: Lässt sich Foucault mit Latour lesen – und was passiert dabei? Was kann die ANT für die Auseinandersetzung mit Macht/Wissens-Komplexen, mit der Untersuchung von Machtverhältnissen, von »Regierung« im weitesten Sinn leisten? Das Ergebnis, so die Argumentation des Beitrags, wäre eine »gegenwartstaugliche«, praxeologische und materiale Form von »Diskursanalyse« (die dann vielleicht nicht mehr so heißt), mit der die Analyse von Texten mit der Analyse materialisierter Verbindungen zu deren Außenwelten verknüpft wird. Mit einer solchen Perspektive lässt sich die performative Kraft von Programmen konkret untersuchen. Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 1 Einleitung Bruno Latour, bekannt für seine scheinbar abstrusen Ideen, hat sich mit seinen MitstreiterInnen im Herkunftsfeld der von ihnen entwickelten Actor-NetworkTheory (ANT) – der Wissenschaftssoziologie, der Science and Technology Studies und insbesondere der Laboratory Studies – einen Namen gemacht. Zwar gelten die hier entstandenen Arbeiten als wegweisend, doch Latours Versuche einer Übertragung der konzeptionellen Erkenntnisse auf andere Felder der Sozialwissenschaften werden ambivalenter bewertet. Sie wecken »gemischte Gefühle«, wie Thomas Lemke (2010: 290) kürzlich für Latours Versuch, das Politische im Parlament der Dinge (Latour 2001) zu denken, festgestellt hat. Angesichts Latours ausfälliger Pöbeleien gegen »herkömmliche« und insbesondere »kritische« Soziologien (z. B. Latour 2007: 14ff.) sowie des schnell entstehenden Eindrucks, dass sich seine Alternative zu einer Analytik der Macht und einer Kritik des Regierens zunächst nur in Verfahren erschöpft, die das Wohlergehen des »Roten Thunfischs« (Latour 2009) und anderer nicht-menschlicher Akteure sicher zu stellen suchen, erscheint die bisweilen fundamentale Zurückweisung seiner Analytik als vollkommen berechtigt: Sie sei machtvergessen, eindimensional und so sehr auf Produktivität versteift, dass Machteffekte um Rasse, Klasse und Geschlecht systematisch aus dem Blick geraten (vgl. u. a. Harding 2008). Die harsche Kritik wird aber auch häufig mit dem Verweis auf die produktiven Werkzeuge der ANT kontrastiert: »Perhaps I have been too hard on Latour. His account is problematic but it provides valuable resources for rethinking modernity, tradition, and sciences« (ebd.: 46). Diese analytischen Ressourcen werden auch von einigen sozialwissenschaftlichen Ansätzen aufgegriffen, die sich vornehmlich mit der Analyse von Machteffekten beschäftigen. So gibt es insbesondere bei Studien im Anschluss an Michel Foucault immer wieder Versuche, Latours Welt der Dinge für Diskursanalysen fruchtbar zu machen (vgl. u. a. Murdoch 2004; Rose/Miller 1992; Rose/Valverde 1998; Schofield 2002; Valverde 2005 & 2008). David Murakami Wood behauptet gar, die ANT sei eine, wenn nicht die einzige würdige Nachfolge des Foucaultschen Denkens, weil sie dessen Machtbegriff weiterentwickle, indem die ANT Gesellschaft als Resultat komplexer Interaktionen zwischen menschlichen und nichtmenschlichen Elementen in heterogenen Assoziationen (Akteursnetzwerken) betrachte und genau auf diese Interaktionen ihren Fokus richte (Murakami Wood 2007: 256). Genau an dieser Stelle liegt der Ausgangspunkt für die folgende Argumentation, die die Einschätzung, dass die ANT für Gegenwartsanalysen von Regierungsprozessen und Machteffekten fruchtbar gemacht werden kann, grundsätzlich teilt. Das Ziel des Beitrags ist es, dieser Anschlussfähigkeit etwas mehr Kontur zu verleihen. Die zentrale Frage dieses Artikels richtet sich also auf den Mehrwert einer solchen Kombi nation: Was kann die ANT für die Auseinandersetzung mit Macht/Wissens-Komplexen, mit der Untersuchung von Machtverhältnissen, von Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 2 »Regierung« im weitesten Sinn leisten? Unsere These lautet: In der Welt der Ameisen1 wird die Analyse von Texten mit der Analyse materialisierter Verbindungen zu deren Außenwelten verknüpft und somit die performative Kraft von Programmen konkret untersucht. Aus dieser Perspektive bietet es sich an, Foucault und Latour parallel zu lesen, um bei der Bearbeitung von Gegenwartsanalysen des Regierens Verbindungen von programmatisch orientierten Diskursanalysen mit Untersuchungen der Niederungen des Alltags denkbar zu machen. Die zusätzliche Arbeit dieser Kombination lohnt sich insbesondere für gegenwartsbezogene Fragestellungen. Denn sie kann einen analytischen Rahmen liefern, in dem sich das Alltagsleben von programmatischen Logiken und Regierungstechniken verfolgen lässt, also die Anwendung, Umsetzung, Interpretation und Aussetzung. Praktisch wird dann gefragt, wie Regierungslogiken konkret übersetzt und transportiert oder verändert werden. Somit gerät der »Slash« zwischen Macht/Wissen in den Mittelpunkt des Interesses: »We need to know the relation between knowledge and power – and this is as true with the other slash, discourse/society« (Latour in Crawford 1993: 251). Das Ergebnis wäre eine »gegenwartstaugliche«, praxeologische und materiale Form von »Diskursanalyse« (die dann vielleicht nicht mehr so heißt). Ein solches Vorgehen unterscheidet sich auch von Foucaults Begriff der »Gouvernementalität« (Foucault 2004) und den sich hieran anschließenden Untersuchungen, die im deutschsprachigen Raum vor allem unter dem Label »Programmanalyse« bekannt geworden sind. Die Perspektive der Analyse verändert sich bei diesem Vorgehen: Statt »top- down« von allgemein gegenwärtigen Rationalitäten, Dispositiven, politischen Programmen oder Handlungsimperativen auszugehen und ggf. deren Präsenz in konkreten Situationen aufzuspüren, setzt eine solche Untersuchung des sozialen Lebens von diskursiven Formationen bei den konkreten Situationen/Konstellationen an. Sie untersucht, auf welchen Wegen und mit welchen Vehikeln dort politische Programme, Rationalitäten oder Diskursfragmente mobilisiert werden und ihre Wirkung im jeweiligen Akteurs-Netzwerk entfalten. Auf diese Weise wird nicht nur sichtbar, dass sich »Diskurse« oder »Rationalitäten« selten in der Form niederschlagen, in der sie formuliert werden, sondern auch, wie sie sich (re-)formieren und dabei Wirkungsmacht entfalten (oder eben auch nicht). Um das Potential und die Grenzen dieses Zugriffs herauszuarbeiten, lohnt es sich also, die »gemischten Gefühle« gegenüber Latours Polemiken zurückzustellen. Denn unter dem Label ANT haben Latour und seine KollegInnen eine ganze Reihe von analytischen Hilfsmitteln versammelt,2 die bei einem solchen empirischen Zugriff ein Verwechslung von »Diskursen« (ob als sprachlich artiku- 1 Latour nutzt die doppelte Bedeutung von ANT als Metapher: Das Bild der kurzsichtigen, langsam reisenden, aber gewissenhaften Ameise beschreibe den Kern der ANT vorzüglich (vgl. Latour 2005: 9). 2 Wohl gemerkt: Sie haben sie tatsächlich nur verfügbar gemacht. Obwohl Polemik und › revolutionäre‹ Begrifflichkeiten häufig etwas radikal Neues zu versprechen scheinen, erklärt Latour selbst diese Rhetorik zum Mittel einer spezifischen Betonung und Zusammenstellung (zum Teil bereits seit langem) bestehender Möglichkeiten der Sozialwissenschaften (vgl. Latour 2005: 23ff.). Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 3 lierte oder in einem umfassenderen Sinn verstanden) mit per se wirkungsmächtigen Strukturen verhindern. Die Argumentation des Beitrags ist wie folgt aufgebaut: Zunächst werden einige Charakteristika, Probleme und potentielle Fallstricke einer Übertragung von Foucaults genealogisch ausgerichteten Untersuchungen von Macht/WissensKomplexen und Regierungsweisen auf gegenwartsbezogene Probleme diskutiert.3 Ziel ist es, den grundsätzlichen Sinn und Zweck einer Operationalisierung der ANT in diesem Forschungsfeld zu identifizieren. Daran anschließend werden ausgehend vom Begriff der Macht relevante Aspekte der ANT vorgestellt und die wechselseitigen Anschlussstellen der beiden Theoriegebäude herausgearbeitet, um im letzten Teil des Beitrags einige Ansätze einer analytischen Kombination zu formulieren und Bedingungen und Potentiale entsprechender Untersuchungen beleuchten zu können. Genealogie , Diskurs und Gegenwart Versucht man die vielfältigen Arbeiten Foucaults auf einen allgemeinen Nenner zu bringen, ließe sich vielleicht sagen: Foucaults Interesse gilt vorrangig Diskursen, in denen bzw. mittels derer sich konstituiert, was als wahr gilt. Es geht ihm darüber hinaus um die Machtwirkungen dieses Wissens und Sprechens sowie um die damit verbundenen Logiken des Regierens. Er betrachtet die langen Linien, die prägenden diskursiven Formationen ganzer Epochen. Dabei geht er auch exemplarisch auf damit verbundene Praktiken (z. B. das Geständnis, die Einsperrung, das Onanie-Verbot, den Drill, kurz: die praktischen Zurichtungen) ein, die er als paradigmatisch bzw. als allgegenwärtig innerhalb bestimmter gesellschaftlicher Formationen versteht. Er untersucht die Entstehungsbedingungen hegemonialer Formen des Regierens von den Rändern her: den Wahnsinn, das Gefängnis, die sexuellen Perversionen usw. In diesem Sinne genealogisch arbeitende Diskursanalysen zeichnen die historisch spezifischen Konstellationen der Geburt von Diskursen nach oder machen Brüche in der Regelhaftigkeit der verwendeten Muster eines spezifischen Feldes oder einer Disziplin aus. Genau darin liegt eine Stärke von Foucaults Arbeiten und der daran anschließenden Analysen: das Herausarbeiten von Mustern, die »Methode« haben. In seinen Arbeiten mäandern die Begrifflichkeiten. Ob er sich unter der Überschrift »Diskursanalyse« mit Wissensformationen, regulativen Praktiken, baulichen Anordnungen oder mit allem zugleich beschäftigt, wandelt sich mit den jeweiligen Untersuchungsgegenständen. In einem Teil der diskursanalytischen Foucault-Rezeption hat sich durchgesetzt, vor allem Geschriebenes und Gesprochenes als »Diskurs« zu untersuchen. Im methodologischen Denken Foucaults und vieler daran anschließender Studien beschränkt sich »Diskurs« aber nicht nur 3 Vgl. zum Verhältnis von Genealogie und Diskursanalyse den Text von Hagen Schölzel in diesem Band. Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 4 auf die gesprochene oder geschriebene Sprache.4 Vielmehr ergibt sich die Materialität des Diskurses aus der Kombination von Texten, Praktiken, Gebäuden, räumlichen Anordnungen etc. (vgl. Schrage 2006: 1810ff.). Das ist es, was Foucault später gelegentlich als Dispositiv bezeichnen wird (Foucault 1978: 119ff.). Dieses bestimmt sich ähnlich wie sein Diskurs historisch spezifisch als »Formation, deren Hauptfunktion zu einem gegebenen historischen Zeitpunkt darin bestanden hat, auf einen Notstand (urgence) zu antworten. Das Dispositiv hat also eine vorwiegend strategische Funktion« (Foucault 1978: 119ff.). Foucaults analytischer Blick lässt sich folglich nicht auf eine politische Ideengeschichte beschränken und seine Geschichte der Denksysteme reduziert sich nicht »auf die Rekonstruktion der leitenden Paradigmen und Theorieentwürfe, die die Vorstellungen der Zeit konstituieren, vielmehr umfasst sie das ganze dichte und heterogene Gewebe der Wissensformationen und ihrer Repräsentationen, der sozialen Gegebenheiten und politischen Institutionen, der Technologien der Macht und der Prozesse der Normierung, die der Singularität dessen, › was wir sind‹, allererst ihre Gestalt verleihen« (Mersch 1999: 165). Gleichwohl entfaltet Foucault dieses »ganze dichte und heterogene Gewebe« immer nur in Relation zu spezifischen und unbestreitbar »wahren« Phänomenen der Gegenwart. Das ist der genealogische Blick: Er untersucht bestimmte Momente, Formationen und Wahrheiten der Gegenwart unter dem Gesichtspunkt ihrer Kontingenz, indem er die Aufmerksamkeit auf die Bedingungen ihrer Geschichte lenkt. Allein die Fragestellung nach den Entstehungs- und Existenzbedingungen spezifischer Gegenstände produziert die (oft implizite) Folie, vor der aus historischen Quellen überzeugende Beschreibungen der damit verbundenen Materialschlacht entstehen. Die Materialisierung der Diskurse selbst ist jedoch nur selten expliziter Gegenstand in Foucaults Untersuchungen. Sie wird auch nicht grundlegend theoretisch geklärt (vgl. Übersicht der Diskussion bei Jäger 2006: 90ff.). Aufgrund der genealogischen Perspektive braucht Foucault keine Theorie des Verhältnisses von Wissen und seiner materialen Einschreibung, um seinen Diskurs bzw. sein Dispositiv analytisch in seiner Materialität zu erfassen: Weil es Gefängnisse gibt und die großen Linien dieser Institution in der Gegenwart so unumstößlich »wahr« wie die Mauern der Gefängnisgebäude stabil sind, produziert Foucaults Analyse der Geburt einer realisierbaren (aber so nie realisierten) Programmatik (bspw. Benthams Panoptikum) valide Erkenntnisse über ein unbestreitbar realisiertes und äußerst materielles Dispositiv (das Gefängnis). Wenn Philipp Sarasin anmerkt, dass genealogische Diskursanalysen »tote Körper« sezieren, d. h. bereits »geronnene« Wissensformationen (Sarasin 2006: 126), so verweist dies auf diese Besonderheit der Foucaultschen »Gegenwartsforschung«: ihre historische Form. Untersuchungen, die aktuelle Denk- und Sagbarkeiten freizulegen suchen, entwickeln aus den historisch-konkreten analytischen Begriffen Foucaults »sozialwissenschaftliche Konzepte« (vgl. u. a. Pieper/GutiérreRodriguez 2003). Diese gehen dann (a) von bereits vorhandenen Diskursstrukturen aus, ohne deren Genese im 4 Vgl. zur irreführenden Unterscheidung von diskursiv und nicht-diskursiv den Text von Silke van Dyk in diesem Band. Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 5 Einzelnen zu verfolgen. Des Weiteren beschränken sie sich (b) auf die Analyse von (körperlosem) Wissen und von als hegemonial erkannten Rationalitäten, von denen man einfach vorauszusetzen scheint, dass sie eine bestimmte, in ihnen angelegte Wirkungsmacht entfalten. Im Fokus stehen dann zwar wie bei Foucault materialisierbare, programmatische Entwürfe. Machteffekte werden aber nicht als Potentialitäten untersucht, sondern als Spuren und Hinweise einer vermeintlich tatsächlichen und systematischen Zurichtung unserer Zeit. Dabei entspringen diese Annahmen nicht der analytischen Spannung von gegenwärtiger Singularität und genealogischer Untersuchung – also dem Wissen, dass die untersuchte Singularität im Kontext der bisherigen Geschichte bereits wahr geworden ist. Vielmehr schließen sie an ein zumindest missverständliches Moment Post-Foucaultscher Theoriebildung an: Ein Verständnis von Diskursanalyse, in dem eine Materialisierung von aktuellen Programmen schlicht angenommen und somit Wissen mit Macht gleichgesetzt wird. »Der« Diskurs droht dann zum »mächtigen« Subjekt einer Erklärung der gesellschaftlichen Wirklichkeit zu werden: »Diskurse üben Macht aus, da sie Wissen transportieren, das kollektives und individuelles Bewusstsein speist. Dieses zustande kommende Wissen ist die Grundlage für individuelles und kollektives Handeln und die Gestaltung von Wirklichkeit« (Jäger 2006: 89).5 Thomas Osborne verweist auf eine Gefahr entsprechender sozialwissenschaftlicher Generalisierungen. Er trennt dazu zwischen studies of governmentality und governmentality studies: »Erstere verfahren nominalistisch und sind, im Grunde genommen, eine Übung in der Geschichte des Denkens. Letztere ähneln eher einer realistischen politischen Soziologie auf der Suche nach genau jenen mehr oder weniger gesetzmäßigen Generalisierungen unserer Gegenwart, von denen uns die erstgenannten gerade zu befreien suchten! Es gibt keine › liberale‹ oder › neoliberale‹ Subjektivität als solche. Als Subjekte werden wir von allen möglichen Formen der Subjektivität durchkreuzt. Und natürlich versorgen uns Liberalismus wie Neoliberalismus mit – um mit Deleuze zu sprechen – › Fluchtlinien‹ der Subjektivität, denen wir folgen können oder die uns folgen; Fluchtlinien unter vielen natürlich, aber nichtsdestoweniger Fluchtlinien« (Osborne 2001: 14). Als Teil einer Geschichte des Denkens, so Osborne, untersuchen studies of governmentality also Programme und ihre Rationalitäten als mögliche Fluchtlinien im Deleuzeschen Sinne. Diese Fluchtlinien der Subjektivierung werden mit einer pragmatischen »als-ob« Hypothese, mit der für Programmanalysen ein beliebig formbares Menschenbild unterstellt wird, isoliert. »Programme sind performativ« – dieser Leitsatz meint dann zunächst nur, dass Programme als Eingriffe aufgestellt werden respektive eine Intention haben. Sie sollen also durch »Problemfeststellungen, Ziele und Strategien der Bearbeitung« eine bestimmte Wirklichkeit formen, tun es aber nicht unbedingt. Ob und wie sie sich in Praktiken, die Gestal- 5 Jäger selbst erkennt das Problem von Diskurs und Macht und diskutiert es ausführlich in späteren Kapiteln desselben Buches. Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 6 tung öffentlicher Räume oder Architektur materialisieren, bleibt zunächst offen (Kessl/Krasmann 2005: 231). Analysen, die Osbornes Dichotomie in Richtung einer »Geschichte des Denkens« folgen, untersuchen dann zwar die Entstehungsbedingungen (Genealogie) und potentiellen Wirklichkeitseffekte (Anthropologie/ Subjektivierungsformen) von Rationalitäten, Programmen und politischen Techniken. Die Frage »ob (und wie) Programme wirken« klammern sie aber systematisch aus: »Offen bleibt dabei, in welchem Maße die Programme des Regierens und Sich-selbst-Regierens das Denken und Tun der Menschen bestimmen« (Bröckling et al. 2004: 12; vgl. Bröckling et al. 2000). Solche Analysen umschiffen die Klippe einer angenommenen diskursiven Determination, indem sie zwar prinzipiell von einer diskursiven Wirkungsmacht ausgehen, diese aber systematisch nicht untersuchen. Diese Art des Forschens hat zweifelsohne einen hohen Wert, gerade wenn es um die großen Linien bestimmter dominanter Regierungsformen geht. Aber sie hilft nicht, um Fragen nach dem › sozialen Leben‹ dieser Programme zu betrachten und die (Un-)Ordnungen des Alltags,6 die Schnittstellen vielfacher und diffuser »Fluchtlinien der Subjektivität« und ihre unwahrscheinlichen Effekte in den Blick zu bekommen. Denn letzteres erfordert es, diesen Fluchtlinien zu ihren Kreuzungspunkten in konkreten Arrangements zu folgen oder diese Arrangements gleich zum Ausgangspunkt der Untersuchungen zu machen. Die These der Unwahrscheinlichkeit einer linearen Umsetzung von Programmen wird dabei nicht aufgegeben sondern selbst zum Untersuchungsgegenstand, wie auch Kessl und Krassmann betonen: »Die Analyse von Programmen geht indes nicht davon aus, dass Programmierungen einen einfachen Umsetzungsprozess beschreiben […]. Die Frage einer programmanalytischen Rekonstruktion wäre dann, wie diese Probleme aufgegriffen, übersetzt und umgebogen werden, unter welchen Bedingungen die Probleme, die sie formulieren, überhaupt Gehör finden und auf Akzeptanz bzw. auf Widerstand stoßen« (Kessl/Krasmann 2005: 232). Um dieser Frage nach dem konkreten Verhältnis von Wissen und Macht, von Programmen und Wirklichkeit(en) in spezifischen Arrangements nachzugehen, bietet die ANT eine Reihe von analytischen Hilfsmitteln und einen viel versprechenden Rahmen. Denn die Perspektive der ANT verhindert es, Materialisierungen mit einem diskursiven Determinationsverhältnis zu verwechseln. Sie macht gerade auf die hohen Übersetzungskosten eines verlustfreien Transports von Regierungsideen aufmerksam – und entsprechende Untersuchungen zeigen, dass diese Kosten nur selten beglichen werden. Genauso wenig lässt sich innerhalb dieses analytischen Rahmens von der Untersuchung konkreter Arrangements auf »gesetzmäßige Generalisierungen« schließen, weil entsprechend detailreiche Studien gerade zeigen, dass jedes lokale Arrangement anders ist – selbst dann, wenn diese Arrangements an den selben programmatischen Text anschließen.7 Somit 6 7 Vgl. dazu den Text von John Law in diesem Band. Diese Einsicht lässt sich bspw. aus Annemarie Mols eindrucksvoller Studie The body multiple ableiten. Sie zeigt, wie sich die Performativität von etwas, was man vielleicht als ein medizinisches Programm bezeichnen könnte, bei genauem Hinsehen zu zahlreichen Wirklichkeiten verfolgen lässt (Mol 2006). Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 7 hätte eine solche Analyse weniger das Ziel zu zeigen, dass (bestimmte) Diskurse (immer auf eine bestimmte Weise) Macht ausüben. Vielmehr wäre zu untersuchen wie Programme sich (immer wieder anders) materialisieren, wie sie (immer wieder anders) Macht ausüben und vor allem welche Transformationen sie dabei durchlaufen Die Welt der Ameisen Bei einem Blick auf die jeweiligen Objekte des Interesses erscheint der Graben zwischen Foucault respektive der im Anschluss an ihn entwickelten Diskursanalysen und dem Denken Latours riesig. Latour bzw. die ANT legt das Augenmerk vor allem auf die Interaktionen menschlicher und nichtmenschlicher »Akteure« bzw. »Aktanten«, in denen sich diese gegenseitig bestimmen. Diese Welt besteht aus einer unzähligen Menge von sich überschneidenden, ineinander verschachtelten Akteurs-Netzwerken, deren Konstitution und Aufrechterhaltung es zu untersuchen gilt. Vokabeln wie »Diskurs«, »Wissen« oder »Subjekt« fehlen genauso wie Referenzen zu »Rationalitäten«, »Taktiken« oder »Strategien«. Dafür geht es um die gegenseitige Konstitution und Interaktion von Akteuren bzw. Aktanten. Als solcher zählt jedes »Element, das Raum um sich herum beugt, andere Elemente von sich abhängig macht und deren Willen in seine eigene Sprache übersetzt« (Callon/Latour 2006/1981: 85). Ein Akteur/Aktant lässt sich nur durch seine Performanzen bestimmen, durch die äußerlich erkennbaren, unter gleichen Voraussetzungen immer wiederkehrenden Eigenschaften und Verhaltensweisen. Eine von der Performanz unabhängige Essenz ist nicht erfassbar und wird auch nicht angenommen. Es gibt keinen anderen Weg, »einen Akteur zu definieren, als durch seine Aktion, und keinen anderen Weg, eine Aktion zu bestimmen, als sich zu fragen, wie die jeweils interessierende Figur andere Akteure verändert, transformiert, stört oder hervorbringt« (Latour 2002: 148). Damit wird auch deutlich, wie Akteur und Netzwerk zueinander stehen: als reziprok konstitutiv, als gegenseitig formend und definierend. Selbst ein scheinbar Unteilbares, das Individuum, wird sofort zu einem Netzwerk und somit zu einem Dividuum, wenn man nur den richtigen Blick darauf wirft – bestehend aus den aktuellen und vergangenen Netzwerken, in die es eingebunden war und ist, und die seine Handlungsweisen und möglichkeiten maßgeblich mit bestimmen. Der Mensch wird zum dauerhaften Hybriden: z. B. als Waffen-Mensch, der mit dem Revolver in seiner Hand eine tödliche Einheit bildet (Latour 2002: 216ff.). Die ANT erklärt die Welt also zu einer buchstäblich unendlichen Vielzahl verschachtelter Akteurs-Netzwerke – alles löst sich darin auf, gleichzeitig Netzwerk und Akteur zu sein oder zumindest sein zu können. Diese Welt ist voller nebeneinander entstehender Realitäten, in denen Ontologien (im Plural) zwar existieren, aber nichts Essentielles mehr an sich haben und in denen die Akteure (oder Aktanten) nur als stabilisierte Hüllen in dem jeweiligen Akteurs-Netzwerk sichtbar werden. Dort allerdings erlangen sie Stabilität. Welche Akteurs-Netzwerke in welcher Form in den Blick der Forschenden geraten, welche Realität(en) in der akademischen Beschreibung zusätzliche Stabilisierung erfahren, wird durch den Ausgangspunkt der Rekonstruktion von einem bestimmten Punkt/Aktanten sowie Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 8 durch die Fragestellung festgelegt. Dann werden ganze Akteurs-Netzwerke durch »Black-Boxing« zu Knoten im Netz. Sie so zu behandeln, ist gerechtfertigt, wenn die Beziehungen im Akteurs-Netzwerk so stabilisiert sind, dass andere von ihrem Funktionieren und ihrer Zuverlässigkeit ausgehen können (Callon 2006/1991: 331f.). Aus ANT-Perspektive geht es nun um die Beschreibung dieser Konstitutionsprozesse und Stabilisierungen in einer Weise, in der die darin involvierten Menschen, technischen Artefakte, Ideen und andere nichtmenschliche Elemente als wichtige Aktanten Berücksichtigung finden. In technischen Artefakten sind bspw. spezifische Programme und Logiken eingeschrieben, die bestimmte Inhalte dauerhaft und transportabel machen, sie dabei aber auch transformieren. Gerade sie entpuppen sich als besonders effektive und machtvolle Handlungsimperative mit starken Subjektivierungseffekten. Ein technisches Objekt kann man demnach »als ein Handlungsprogramm […] betrachten, das ein Netzwerk von Rollen koordiniert. Diese Rollen werden von Nicht-Menschen (von der Maschine selbst und anderen Objekten wie Zubehör und Antriebsquellen) und › peripheren‹ Menschen (wie Verkäufern, Konsumenten, Reparaturpersonal) gespielt« (Callon 2006/1991: 314). Die Analyse von Materialitäten untersucht also stabilisierte Formen der Koordination, die die Gesellschaft bauen und zusammen halten. Dafür sind weder ein ominöses, immaterielles Soziales noch die Menschen aus sich selbst heraus verantwortlich (Callon/Latour 2006/1981; Latour 2008). Machteffekte : Beziehung und Übersetzung »Macht« erscheint als ein zentraler Faktor im diskursanalytischen Denken Foucaults. Sie ist der Name für die Strukturen und Kräfteverhältnis se, welche die Gesellschaft wie die Subjekte organisieren, sie durchziehen und prägen. Es sind die großen Linien der Machtstrategien, aber auch die konkreten Machttechniken, die Foucault in seinen Studien beschäftigen. Wie organisieren sie sich, und welche Effekte zeitigen sie insbesondere im Hinblick auf die Konstitution des Subjekts, auf die Modi des Regierens, die Entstehung und Wirkung von bestimmten Dispositiven? Die Frage, auf die Foucault uns weitgehend eine Antwort schuldig bleibt und für deren Erforschung er uns wenig Anweisungen hinterlässt (wenn auch einige beispielhafte Analysen), lautet: Wie »übersetzen« sich Machttechniken, so dass sie Wirkung entfalten, und was passiert dabei? Wie kommt es, dass am Ende häufig etwas anderes steht als das, was ursprünglich beabsichtigt war? Genau an diesem Punkt setzt Latour an. Das Modell des Akteur-Netzwerks und das Prinzip der Materialität aller Prozesse, auch als Weitergabe eines Befehls oder als Verbreitung und Wirkung eines Diskurses zu verstehen, greifen hier. In der Sprache der ANT ist dies das »Übersetzungsmodell«, das Latour mit dem – seiner Darstellung nach › herkömmlichen‹ – »Diffusionsmodell« der Macht kontrastiert. Ähnlich wie Foucault sieht er in der Macht keine Essenz oder etwas Feststehendes, das anderes erklärt, sondern etwas, das in seiner Entstehung und Wirkungs- Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 9 weise zu untersuchen ist und in vielfältiger Gestalt auftritt. »Macht« ist Ergebnis, nicht Ursache von Beziehungsgeflechten. An dieser Stelle ist allerdings ein (zumindest scheinbar) anderer Fokus als im Denken Foucaults zu erkennen: Für Foucault sind es Machtbeziehungen, die Subjekte konstituieren, indem sie Subjektivierungen hervorrufen. Woraus diese Macht resultiert, bleibt im Dunkeln; lediglich wie sie wirkt, wird beleuchtet. Was Latour und die ANT interessiert, ist eher die Frage, wie dauerhafte Macht-(A)symmetrien durch sich stabilisierende Akteurs-Netzwerke entstehen, welche Artefakte hierbei mobilisiert und welche »Black Boxes« (stabile, zumindest vorübergehend irreversible Verbindungen) dazu geschaffen werden. In dem von Latour ebenso wie von Foucault verworfenen Diffusionsmodell, so Latour, gehe man davon aus, dass Macht ähnlich ausgeübt werde, wie wenn ein Gegenstand durch den schwere und luftlosen Raum schwebt. Nach diesem Modell ist Macht etwas, das jemand besitzt. Will er diese Macht einsetzen, überträgt der Mächtige einem Medium seinen Auftrag, seinen Willen oder eine Information (ein »Token«) und schickt dieses mit seiner Macht versehene Medium los zu den Empfängern. Letztere erhalten den ohne Veränderung transportierten Befehl und führen ihn dank der Macht des Absenders mehr oder weniger getreu aus. Zwischen dem Ausgangspunkt der Reise und seiner Ausführung verändert sich das Transportierte nicht (Latour 2006/1986: 198). Dem Diffusionsmodell stellt Latour die Figur der Übersetzung gegenüber. »Macht« entsteht demnach als Resultat gelungener Übersetzungsketten, man könnte auch sagen: erfolgreicher Einbindungen anderer in die gewünschten Akteurs-Netzwerk-Ketten. Um dies zu verstehen, ist es erforderlich, noch einmal kurz auf die Übersetzung als dem »Bindestrich« zwischen Akteur und Netzwerk einzugehen, einem zentralen Element der ANT (die in ihrer frühen Zeit von Michel Callon auf den Namen »Soziologie der Übersetzung« getauft wurde). Im Anschluss an Michel Serres entwickelte Callon bereits in den 1970ern ein Modell, nach dem sich soziale Systeme als Netzwerke von Knotenpunkten beschreiben lassen, zwischen denen nachvollziehbare Bahnen mit materialen Trägern existieren müssen. Die soziale Welt besteht damit nicht nur aus Menschen und/oder immaterieller Kommunikation, sondern braucht nichtmenschliche, materiale Elemente, um existieren zu können. Genau diese muss man ernst nehmen, auch wenn es um die Untersuchung von Machtverhältnissen, Strategien und Taktiken geht, denn die › Träger‹ haben ihre eigene Logik. Sie › repräsentieren‹ immer das Transportierte, verändern es aber dabei. Ein gutes Beispiel von Latour (2002) ist die Beschreibung der Transformation eines Bodenstücks im Amazonas von einem Stück Land in einen wissenschaftlichen Text. Zwar ist der Urwaldboden, der am Ende in seiner Zusammensetzung in Tabellenform und im begleitenden Fließtext in einem wissenschaftlichen Artikel repräsentiert wird, durch eine enge Kette an ein physisches Stück Land in Brasilien gebunden und deshalb »getreu« repräsentiert, aber der Text ist gleichzeitig etwas komplett anderes als das Landstück selbst. Er kann anders reisen und bietet völlig neue Anschlussmöglichkeiten. Beide sind also komplett verschieden, und doch besteht über eine Referenzkette eine enge Verbindung, die uns sagen lässt, dass der Text den Boden adäquat abbildet. Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 10 Eine durch Kontinuität, Reversibilität und Standardisierung konstant gehaltene Bedeutung sichert dies ab (Latour 2002: 76, vgl. unten). Wie steht dies nun mit dem Entstehen und Ausüben von »Macht« in Beziehung? Die Antwort hat mindestens zwei relevante Aspekte: Einen, der die Behauptung der konstitutiven Effekte von Diskursen untermauert, und einen, der direkter auf die Frage nach den Rationalitäten des Regierens anwendbar ist. In einem frühen Text liefern Callon und Latour folgende kurze Definition von Übersetzung: »Übersetzung umfasst alle Verhandlungen, Intrigen, Kalkulationen, Überredungs- und Gewaltakte, dank derer ein Akteur oder eine Macht die Autorität, für einen anderen Akteur oder eine andere Macht zu sprechen oder zu handeln, an sich nimmt oder deren Übertragung auf sich veranlasst« (Callon/Latour 2006/1981: 76f.). Hier kommt auf einmal die Figur der Repräsentation ins Spiel und damit verbunden die Frage, wie ein Akteurs-Netzwerk entsteht und wie sich die darin eingebundenen Akteure konstituieren. Ausgangspunkt einer Übersetzung bildet immer eine Problematisierung, an der sich ein Netzwerk aufspannt, in dem die beteiligten Akteure bestimmt werden und ihnen ein Platz zugewiesen wird. Das spezifische Akteurs-Netzwerk entsteht also in Bezug auf die jeweilige Problematisierung, die zum (zunächst unterstellten) gemeinsamen Bezugspunkt wird und eine Synchronisierung erlaubt. Anders gesagt: Dieser gemeinsame Punkt versammelt die Akteure (Menschen, Artefakte, Ideen, Beschreibungen etc.), »artikuliert«, d. h. definiert sie in Bezug auf die jeweilige Problematisierung, und bringt sie damit in ein gemeinsames Bezugssystem. Eine Übersetzung kann nur als gelungen gelten, wenn sich die gelieferte Beschreibung als zutreffend erweist und sich das zunächst provisorische Netzwerk stabilisieren kann. Unter Umständen sind Aushandlungsprozesse erforderlich, damit eine allgemeine Anerkennung möglich wird – ansonsten zerfällt das (zuerst nur postulierte, dann getestete) Akteurs-Netzwerk.8 Ein Akteur wird demnach mächtig, wenn er viele Übersetzungsprozesse bestimmt, wenn es ihm gelingt, viele andere Akteure dauerhaft einzubinden und über geteilte Problematisierungen bzw. einen gemeinsamen »obligatorischen Passagepunkt«, den alle zur Erreichung ihrer Ziele durchqueren müssen, zu »synchronisieren«. Von Interesse ist nun, dass die Einbindung nur mithilfe von »Vermittlern« möglich ist. Diese sind häufig nicht-menschliche Akteure/Aktanten, die die Verbindungen zwischen den einzelnen Akteuren/Knoten herstellen und die Zuschreibungen, Anweisungen, Informationen etc. transportieren. Genau in der Analyse dieser konkreten Mechanik der Übersetzung liegt das Spezifische der ANT und des von Latour propagierten Macht-Konzepts. Macht im Übersetzungsmodell zeichnet sich demnach nicht schlicht durch die Fähigkeit aus, die einfache Weitergabe eines › Tokens‹ veranlassen zu können, sondern kann nur im Zusammenwirken verschiedenster Akteure/Aktanten wirksam werden, die als Vermittler- 8 So muss sich bspw. die Beschreibung anpassen oder Einbindungen müssen anders organisiert werden. Callon beschreibt dies sehr eindrucksvoll in einer Untersuchung zu Versuchen, den Kammuschel-Bestand in einer von Fischerei geprägten französischen Bucht aufzuforsten (vgl. Callon 2006/1986). Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 11 Übersetzer ungebunden, mit eigener Logik den › Token‹ weiter reichen. Dies bedeutet aber auch, dass sich der › Token‹ (ein Gegenstand, ein Befehl, ein Programm etc.) mit jeder Weitergabe verändert, unter Umständen seine Richtung wechselt, irgendwo stecken bleibt oder seinen Aggregatzustand ändert. »In anderen Worten besteht die Kette aus Akteuren (nicht passiven Vermittlern), und da der Token sich der Reihe nach in der Hand jedes Einzelnen befindet, formt ihn jeder entsprechend der verschiedenen Projekte. Aus diesem Grund heißt es Übersetzungsmodell: Der Token verändert sich, während er von Hand zu Hand geht, und die getreue Übertragung einer Aussage wird zu einem ungewöhnlichen Einzelfall unter viel wahrscheinlicheren anderen« (Latour 2006/1986: 199). Die Einbindung in Akteurs-Netzwerke impliziert eine potentielle »Ermächtigung« des konkreten Akteurs/Aktanten, insofern dieser immer besser »artikuliert« ist, je vielfältiger er eingebunden und je genauer er dadurch definiert wird (Latour 2005: 218). Wenn man so will, findet sich auch Foucaults Subjekt-Begriff in der abstrakteren Figur des Akteurs-Netzwerks wieder. Die genealogischen Untersuchungen Foucaults beschäftigen sich mit Subjektivierungsprozessen, wobei er die Annahme zugrunde legt, dass sowohl Machtverhältnisse als auch Subjektivitäten gewordene sind, nicht vorgängig vorhandene (vgl. Saar 2009). Das Subjekt erscheint als Machteffekt, und zumindest prinzipiell geht auch Foucault nicht vom Individuum als letztem Grund aus, sondern vom Dividuum (Foucault 1978: 148), welches das Produkt von Disziplinierungen, diskursiven Anleitungen zur Selbstkontrolle und anderen Regierungstechniken ist. Auch mit Latours Begriffswelten lassen sich diese Prozesse fassen – er redet von Plug-Ins statt internalisierter Diskurse und beschreibt die Subjekte als Hybride, d. h. als Ergebnis einer Schichtung verschiedener (stabilisierter) Akteurs-Netzwerke, in denen das Subjekt, wie er sagen würde, »artikuliert« wurde (Latour 2005: 205ff.). Im Forschungsprogramm der ANT bestünde die Aufgabe dann darin, diese Artikulationsprozesse präzise empirisch zu erforschen, die Verbindungen und die darin enthaltenen Übersetzungen nachzuzeichnen: »Subjects are no more autochthonous than face-to-face interactions. They, too, depend on a flood of entities allowing them to exist. To be an › actor‹ is now at last a fully artificial and fully traceable gathering […] Some plug-ins are fairly easy to trace. For instance, there are all of those official and legal papers which designate › you‹ as being someone. If you doubt the ability of those humble paper techniques to generate quasi-subjects, try living in a large European city as an › undocumented alien‹ or extricating yourself out of the FBI’s grip because of a misspelling of your name« (Latour 2005: 208). Akteursnetzwerke und die Einebnung des Sozialen Imobenbereits erwähnten Text zum Amazonasboden (Zirkulierende Referenz, 2002) beschreibt Latour alle Elemente der Referenzkette zwischen Urwaldstück und fertigem Artikel als gleichzeitig Zeichen und Ding. Beides ist nicht voneinander zu trennen. In der ANT besteht das Referenzsystem, in dem sich Sinn konsti- Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 12 tuiert, nicht nur aus abstrakten Schriftzeichen, Symbolen oder Sprache, sondern auch aus anderen Elementen, deren Form und Materie im Zusammenspiel Sinn konstituieren, transformieren und zirkulieren (vgl. Belliger/Krieger 2006: 29). Während bspw. ein Setzkasten mit Bodenproben (»Pedokomparator«) in Relation zum Urwaldboden, dem die Proben entnommen sind, als Zeichen fungiert, ist er aus Perspektive der Zeichnung, die die Bodenzusammensetzung auf einem Blatt Papier zeigt, ein Ding, für das die Zeichnung das Zeichen bildet. An dieser wie an jeder weiteren Stelle in der Referenzkette findet ein Bruch statt, ein Wechsel zwischen Welt und Abbildung – zwischen Ding und Zeichen (Latour 2002: 78f.). Indem Sprache nicht privilegiert wird, sondern die Übersetzungsprozesse zwischen sehr verschiedenen Entitäten und in sehr verschiedenen Modalitäten als gleichwertig gesehen werden, ist der Abgrund zwischen »Welt« und »Sprache« eingeebnet – er unterscheidet sich nicht dramatisch von anderen Brüchen, die bei jeder Artikulation bzw. Übersetzung passiert (vgl. Latour 2002: 169ff.). Form, Materie und Sinn gehören untrennbar zusammen, da es keine von der Materie losgelösten Inhalte gibt. Die Folge ist zum Einen, dass wir nicht (immaterielle) Diskurse (im Sinne gesprochener oder geschriebener Sprache), auch nicht nur Diskurse und Praktiken auf der einen Seite haben und eine Welt, auf die sich diese beziehen, auf der anderen. Diskursinhalte sind kaum trennbar von ihren »Trägern« bzw. ihrer »Form«, weil erstere sich mit letzteren zusammen jeweils verändern. Zum Anderen erscheinen nun alle Entitäten – sprachliche Aussagen, Subjekte, Telefone usw. – innerhalb ein und desselben Koordinatensystems; sie gehören zu verschiedenen Kategorien und scheinen im konventionellen Sinne kaum »gleichartig«. Das sind sie auch aus Perspektive der ANT nicht, aber sie sind insofern vergleichbar, als sie allesamt als Akteurs-Netzwerke beschreibbar sind und auch alle in ein und demselben Akteurs-Netzwerk miteinander verbunden sein können. Text, darin formulierte Ideen (»Panoramen«), technisches Gerät, Tier und Mensch befinden sich dann im selben Referenzsystem und können mit dem gleichen analytischen Werkzeug bearbeitet werden. Sie alle sind, sofern sie sich aufeinander beziehen, gegenseitig konstitutiv. Wenn sich die Welt aus vielfältigen Akteurs-Netzwerken konstituiert, dann stellt sich die Frage nach der Mikro- und Makro-Ebene neu. Statt Mikro- und MakroDimensionen, lokalem und globalem Rahmen gliedert sich die Welt in »flache« Akteurs-Netzwerke, in der »Makro- Akteure« sich vor allem durch eine Vielzahl stabilisierter Beziehungen auszeichnen, aber nicht unbedingt dadurch, dass sie »umfassender« oder »größer« wären. Die scheinbare Makro-Ebene (Kapitalismus, Globalisierung, das internationale Finanzsystem oder der Staat) taucht in dieser Perspektive immer nur als ein Akteur oder Referenzpunkt im jeweils untersuchten Akteurs-Netzwerk auf, nicht aber als erklärender Rahmen. Für Erklärungen taugen die Makro-Ebene oder Programme in dieser Perspektive nur etwas, wenn sie als konkrete Referenz in Erscheinung treten, wenn sich also andere Akteure auf sie berufen und in die eigene Logik einbauen. Analog dazu sind scheinbare Mikro-Ebenen nie einfach lokal, bestehen nicht nur aus unmittelbarer Interaktion, sondern weisen Verbindungen zu Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 13 räumlich oder zeitlich nahen und fernen Knotenpunkten auf. Diskurse oder große Erzählungen, sozialwissenschaftliche Theorien und Medienberichte werden als »Panoramen« zu Akteuren, die durch Zeitungen, Internetkabel, Computer, Bücher oder den Fernsehapparat reisen und dort auf Subjekte treffen, mit denen sie interagieren (vgl. Latour 2005: 167ff.). Mit dieser in gewissem Sinne naiven Perspektive rückt im Kontext der Untersuchung von Regierungsformen die Frage in den Blick, wie verschiedene diskursive Elemente (also Rationalitäten oder Dispositive) in den konkreten AkteursNetzwerken auftreten und wirken; ob und wie sie mächtig werden und damit anderen ihre Logik aufzwingen. Die Analyseperspektive ist eine andere als in Diskursanalysen: Sie geht nicht von hegemonialen Texten aus, sondern von spezifischen Situationen. Das Augenmerk liegt auf den »Reisewegen«, auf den (materiellen) Formen der Übertragung und Übersetzung. Damit betont die ANT das Prozessuale, die ständige Veränderung, und geht gerade nicht von linearer Umsetzung von Diskursen oder einer Regelhaftigkeit ihres Wirkens aus. Folgt man Latour, lässt sich die Frage der Stabilität von Diskursen oder Dispositiven nicht abstrakt klären – auch dann nicht, wenn es um abstrakte Ordnungsvorstellungen der »Makroebene« geht, zu denen sich prinzipiell auch Rationalitäten zählen lassen: »[W]henever anyone speaks of a › system‹, a › global feature‹, a › structure‹, a › society‹, an › empire‹, a › world economy‹, an › organization‹, the first ANT reflex should be to ask: › In which building? In which bureau? Through which corridor is it accessible? Which colleagues has it been read to? How has it been compiled?‹« (Latour 2005: 183). Folglich geht es bei einer Operationalisierung der ANT in diesem Sinne nicht zwangsläufig um die Analyse von Dispositiven. Zwar steht analog zum Dispositivbegriff ein »heterogenes Ensemble, das Diskurse, Institutionen, architekturale Einrichtungen, reglementierende Entscheidungen, Gesetze, administrative Maßnahmen, […] umfasst«, im Fokus des Interesses (Foucault 1978: 119f.). Der Dispositivbegriff impliziert jedoch ein konzertierendes Ensemble (insofern es eine strategische Funktion erfüllt), das über einen längeren Zeitraum stabil bleibt, auch wenn es sich wandeln oder in andere Regime eingebunden werden kann (Foucault 1978, 1994). Im Gegensatz dazu ist das Akteurs-Netzwerk zunächst nichts anderes als eine Metapher, die den analytischen Blick auf die Transportwege und mittel von Informationen lenkt: »It is a tool to help describe something, not what is being described« (Latour 2005: 131). Es ist wesentlich kleinteiliger als ein Dispositiv und keinesfalls zwangsläufig ein stabilisiertes Arrangement, sondern kann sehr vorübergehend angelegt sein. Akteurs-Netzwerke wären dann eher wuchernde »Rhizome« (Deleuze/Guatari 1977) als strategische Dispositive (wobei letztere sich jedoch erst im Nachhinein als strategische Konstellation beschreiben lassen, d. h. dass Akteurs-Netzwerke wie Rhizome in Dispositiven resultieren könnten).9 Mit dieser Metapher ist noch keine Aussage über die Stabilität oder eine strategische Funktion des Untersu9 Vgl. zur ANT als »Actor-Rhizom-Theory« (Latour 2005: 9). Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 14 chungsgegenstandes verbunden. Im Sinne der Übersetzungsmacht gerät zwar die Materialität von Diskursen in den Fokus, aber Materialisierung bedeutet nicht zwangsläufig Stabilität. Genau diese Frage der Stabilisierung wird zum forschungsleitenden Interesse und Stabilität fungiert dann gleichzeitig als unwahrscheinlichste und in jedem Fall erklärungsbedürftige Arbeitshypothese (Latour 2005: 35). Das materielle Verhältnis von Macht/Wissen sichtbar machen Obwohl sich mittlerweile eine Reihe von Untersuchungen zu Regierungstechniken finden, die auf Elemente der ANT zurückgreifen, formulieren viele dieser Texte eher prinzipielle Argumentationen und sind dabei weder prozessorientiert, noch beziehen sie materielle Elemente oder die Frage der (unwahrscheinlichen) Stabilisierung tatsächlich ein (vgl. u. a. Murdoch 2004; Rose/Miller 1992; für ein Gegenbeispiel vgl. Walter 2008). Insbesondere das Moment der Übersetzung wird häufig betont, also die Transformationen und impliziten Rationalitäten, welche bspw. in die verschiedenen Techniken des Datensammelns und -aufbereitens oder in technische Artefakte wie Überwachungskameras eingeschrieben sind. So nutzen auch Rose/Miller Überlegungen von Latour, um Technologien des »Regierens auf Distanz« als Übersetzungsprozesse zu konzipieren: »To speak of the › power‹ of a Government, a Department of State, a local authority, a military commander or a manager in an enterprise is to substantialise that which arises from an assemblage of forces by which particular objectives and injunctions can shape the actions and calculations of others. Again, the notion of translation captures the process whereby this diversity is composed […]. Loose and flexible linkages are made between those who are separated spatially and temporally, and between events in spheres that remain formally distinct and autonomous. When each can translate the values of others into its own terms, such that they provide norms and standards for their own ambitions, judgments and conduct, a network has been composed that enables rule › at a distance‹« (Rose/Miller 1992: 184). Latours konzeptionelle Anmerkungen zur Untersuchung konkreter Arrangements fungieren hier als theoretisches Argument, um die generelle Bedeutung von Artefakten für die Wirkungsweisen von Rationalitäten und die Technologien des Regierens besser einzufangen. Es geht jedoch weiterhin darum, relativ stabile Arrangements als Regime des Regierens zu untersuchen, deren Dauerhaftigkeit und Ubiquität dann angenommen wird. Die Rolle von »konkreten« Arrangements bleibt auf Idealtypen beschränkt, die lediglich zur Diskussion programmatischer Kontroversen, für die Betonung der theoretisch möglichen (auch lokalen) Gleichzeitigkeit heterogener und widersprüchlicher Programme oder innerprogrammatischer Komplexitäten herangezogen werden. Wir schlagen demgegenüber vor, in der Einbeziehung der ANT zur Analyse von Regierungsweisen einen entscheidenden Schritt weiter zu gehen und sie nicht nur als Theorie, sondern auch als Methodologie, als Aufforderung zur empirischen Forschung zu lesen. Dabei sollte die Frage der Stabilität zu einem zentralen Untersuchungsgegenstand werden. Die Aufgabe besteht also darin, die Kosten stabi- Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 15 ler Übersetzungen und die Transformationen instabiler Übersetzungen zu beschreiben. Denn selbst wenn ein Programm als solches und an entscheidenden Orten der Expertisenproduktion (bspw. in den Büros von Regierungsakteuren) stabilisiert sein sollte, so lässt sich daraus für seine Reise durch den Alltag keine Stabilität, keine verlustfreie Übersetzung und kein kostenfreier Transport annehmen: »What is now highlighted much more vividly than before are all the connections, the cables, the means of transportation, the vehicles linking places together. This is their strength but also, as we are going to see, their frailty. If you cut some underlying structure from its local application, nothing happens: it remains there in its mysterious empyrean; if you cut a structuremaking site from its connections, it simply stops being able to structure anything« (Latour 2005: 176). Mit anderen Worten: An jedem Punkt einer Referenzkette ist eine Veränderung oder Unterbrechung möglich. In der Konsequenz für eine entsprechende Analytik von Regierungsprozessen heißt das dann, dass für Rationalitäten, Programme oder Dispositive das gleiche gilt, was Latour für die »Struktur« feststellt: Sie können überhaupt nur an Orten »wirken«, mit denen sie verbunden sind. Um dann auch noch ihre Eigenlogik durchzusetzen, ist darüber hinaus eine entsprechende Absicherung erforderlich. Das bedeutet: Selbst wenn sich eine bestimmte Rationalität in Programmen verschiedenster Felder in sich wiederholenden Mustern zeigt; selbst wenn sich eine Vielzahl von Regierungstechniken identifizieren lässt, die an diese Muster anschließbar sind; und selbst wenn sich nachweisen lässt, dass diese Regierungstechniken sich wiederholende Praktiken des Regierens induzieren: Auch dann ist es noch wahrscheinlich, dass im informellen Wuchern des Alltags heterogene Anschlusspunkte möglich sind, dass Akteure ihre eigenen Erfahrungen oder Handlungslogiken so geschickt adaptieren, dass sie unter der Flagge einer bes timmten Rationalität ganz anderes tun. Viel wahrscheinlicher ist noch, dass schon lange vorher in einer Referenzkette die Kosten des Transports ihren Tribut gefordert haben – bspw. wenn street-level bureaucrats (Lipsky 1980) mit ihren Tricks jenseits eines »Dienst nach Vorschrift« dafür sorgen müssen, dass in ihrem Büro überhaupt noch etwas passiert und dabei die Übersetzung der programmatischen Ausrichtung nicht mehr ganz genau nehmen können – oder wenn schlicht das richtige Formblatt nicht existiert, um eine Übersetzung adäquat vornehmen zu können. In einigen ihrer Arbeiten versucht Mariana Valverde (u. a. 2005, 2008), genau dies zu berücksichtigen. So untersucht sie bspw. mit ethnographischen Methoden (vor allem teilnehmende Beobachtung) die Einbindung des allgemein in Toronto omnipräsenten Diversity-Diskurses in konkrete amtsgerichtliche Verhandlungen zwischen Taxifahrern (die im Allgemeinen aus einem anderen Land nach Kanada eingewandert sind) und einem fast ausnahmslos aus weißen Kanadiern bestehenden Gremium, das über die Rückgabe von entzogenen Taxi-Lizenzen entscheidet (Valverde 2008). Hier zeigt sich, dass die Mobilisierung dieses Diversity- Diskurses äußerst selektiv erfolgt, während er im Hinblick auf die Frage nach »Unkraut« in Vorgärten auf einmal zum zentralen Argument wird, weil ein Richter entscheidet, dass auch für Vorgartenpflanzen der dem Diversity-Konzept innewohnende Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 16 Gleichbehandlungsanspruch gilt und Brennnesseln nicht weniger Entfaltungsrecht haben als Stiefmütterchen. Schluss Der produktive Raum einer Kombination von Regierungsanalysen (Foucault) mit der ANT (Latour) eröffnet, jenseits der von Osborne diskutierten Alternativen, eine dritte Möglichkeit: eine Analyse von Praktiken der Gegenwart im Sinne einer relationalen Soziologie der Übersetzungen. Der methodische Mehrwert besteht in einer empirischen und theoretischen Ausweitung des Untersuchungsfeldes und der Forschungsgegenstände. In den Blick geraten dabei Regierungsprozesse, also konkrete, materielle Transportwege und Transformationen von Regierungswissen, Regierungstechniken und Rationalitäten. Zu den diachronen, historischen Brüchen und Transformationen, die Foucault expliziert, kommen in dieser Perspektive synchrone Fissuren, Ungereimtheiten, Heterogenitäten innerhalb und zwischen Programmatiken, Rationalitäten und politischen Techniken. Die Frage nach den Effekten des Wissens wird also im Hinblick auf (zwar weiterhin kontingente, aber dennoch) konkrete Auswirkungen präzisiert: Wie wird dieses Wissen transportiert? Wird es dabei unverändert überliefert, transformiert, rekodiert oder geht es verloren? Dabei gerät nicht »der« Diskurs, sondern das soziale Leben von Wissen in Referenzketten, von materiellen Informationsträgern in den Blick. Die »Wirkung« bspw. eines bestimmten Programms lässt sich dann nur von den Verbindungen von Programminhalten, von den konkreten Trägern (also bspw. einem Gesetzestext oder einer Expertise) und von deren Einbindung in die lokalen Handlungszusammenhänge aus untersuchen. Sie wird weder hypothetisch unterstellt, um sich auf die möglichen Effekte konzentrieren zu können, noch als Erklärung von sozialer Wirklichkeit herangezogen. Die zu stellenden Fragen lauten dann bspw., wie einzelne Artefakte Heterogenes versammeln und dadurch eigene Repräsentationen, eigene Übersetzungen liefern, die eine bestimmte Logik bzw. ein spezifisches Handlungsprogramm vorgeben (das gilt für das Mittel der Statistik, den Stimmzettel, die Akte, die Landkarte und vieles mehr); wie dadurch z. B. »die Bevölkerung« nicht nur für »die Demographen« sichtbar und regierbar wird (und dabei erst als Regulierungsgegenstand entsteht), sondern wie der statistische Apparat, die Bevölkerung, die Demographen, wie wissenschaftliche Texte oder Medienberichte zu einem über die Statistiken verbundenen Akteurs-Netzwerk werden. Dabei erlaubt eine Kombination der ANT mit einer Foucaultschen Diskursanalyse auch die nicht zu knappen Blindstellen der ANT selbst zu verkleinern. Die Konzentration von ANT-Untersuchungen auf häufig kleinteilige Prozesse erlaubt es kaum, Strukturen und dauerhafte Muster zu erkennen – es sei denn als etwas, das von Akteuren rezipiert wird, als ein von ihnen mobilisiertes (oder erschaffenes) »Panorama«. Die ForscherInnen, die der ANT treu bleiben wollen, sehen immer nur Ausschnitte, die sich nur aus ihrer jeweiligen Beobachtungsposition ergeben. Die Kleinteiligkeit der Analyse – mit der Konzentration auf die Transportwege, die Verbindungen – erzwingt, will man konsequent sein, letztlich eine analytische Blindheit für strukturelle Macht- und Herrschaftsfragen. Allerdings lässt sich die- Dölemeyer/Rodatz: Diskurse und die Welt der Ameisen 17 se Blindheit durch die Kombination verschiedener Werkzeuge umgehen, wie Valverde betont: »If one attempts to capture the dynamics of knowledge processes, rather than categorizing knowledges statically, one sees new things. But of course every act of seeing also renders other things invisible. Along these lines, Bourdieu would no doubt say that Latour’s methodology renders systemic power relations invisible, and he would have a point. We who are neither Latour nor Bourdieu, however, do not have to take sides in this hypothetical debate. Given that, especially in Latour’s usage, concepts such as actor and network are merely tools, not parts of a general › theory‹ […] (see debate between Latour and John Law in Law 1999), it should be possible for sociolegal scholars concerned about systemic inequality to borrow some tools from actornetwork analysis to analyze the workings of a knowledge network while complementing such an analysis with a substantive study of power relations« (Valverde 2005: 421). Entscheidend ist, wie so oft, auch hier das »Wie, Wann und Wo«. Latour nach Foucault zu lesen, legt Fragestellungen nahe, die sich vor allem mit dem Wie der Konstitution und Funktionsweise von Machtverhältnissen beschäftigen. Handlungsprogramme sind unter diesem Blickwinkel vor allem als Subjektivierungsprozesse von Interesse. Damit erfolgt zwangsläufig eine Re-Zentrierung um das menschliche Subjekt, denn dessen Subjektivierung (oder in Latours Vokabular: Artikulation), die Mechanismen der Regierung von (kollektiven) menschlichen Subjekten stehen im Mittelpunkt des Erkenntnisinteresses. Die Artikulationen von nicht- menschlichen Akteuren interessiert nur mittelbar, insofern sie analytisch auf das eigentliche Erkenntnisinteresse bezogen sind, d. h. wenn sich dadurch Machteffekte verändern. Zumindest auf den ersten Blick läuft gerade dies Latours zentralen Absichten – der Ausweitung der politisch relevanten Akteure – komplett entgegen; wobei (an anderer Stelle) zu fragen wäre, ob diese Ausweitung bei Latour nicht im Grunde ebenso mittelbar auf das menschliche Schicksal bezogen bleibt. 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