pdf-Datei - jürgen hartmann stuttgart

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Jürgen Hartmann
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Journalist, Dramaturg, Autor, Drucksachen, Internet
Nauheimer Straße 50
70372 Stuttgart
Telefon 0711 5058934 und 0177 4915705
Internet www.kulturchronist.de
e-mail [email protected]
Rezensionen Konzert, Oper, CD
01 Folgt er auf Norrington? Thomas Dausgaard beim RSO Stuttgart
02 Glänzendes Genie. René Jacobs dirigiert Mozarts "Idomeneo" (CD)
03 Nimm den Bassa, Konstanze! Mozarts "Entführung" in Ludwigsburg
04 Eine Opernreise durch Belgien
Portraits
05 Die Umarmung des Drachens. Helene Schneiderman feiert ihr 25. Bühnenjubiläum
06 "Gibt es ein sinnlicheres Instrument?" Der Organist Jean Guillou musiziert in Berlin
07 Von Finnland lernen. Der Dirigent Osmo Vänskä
08 Der besondere Griff. Helmuth Rilling wird 70
09 Viel Mut und ein bisschen Heimweh. Die armenische Sopranistin Karine Babajanian
Programmheft- und Magazinbeiträge
10 Ansichten von Modernität oder Was macht man mit der Sonate? (Lucerne Festival)
11 Felix Mendelssohn Bartholdy – das doppelte Problem (Forum Bachakademie)
12 Zum 300. Geburtstag der Klarinette (Berliner Philharmoniker)
13 Robert Schumanns Welt und Nachwelt (Forum Bachakademie)
14 Flexibler Nachwuchs. Ein Besuch bei den Hymnus-Chorknaben (Musikfestjournal)
15 Ein buntes Leben. Der SWR beim Musikfest (Musikfestjournal)
Kürzere Berichte
16 Das Defilee der Dirigenten oder Wie finde ich einen Chef? (Saison des RSO Stuttgart)
17 Die Schlacht hat begonnen. Sitzung des SWR-Rundfunkrates (2004)
18 Qualität und Spaß. Helmuth Rillings Gächinger Kantorei wird 50
19 Stars und Störche. Das Musikfestival in Colmar
Längere Reportagen
20 Zwischen den Welten. Ein junger Mönch am Staatstheater
21 Wie aufregend, ich geh ins Kino! Mit dem Kinomobil Baden-Württemberg auf Tour
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Rezensionen Oper, Konzert, CD
Folgt er auf Norrington?
Jubel beim Debüt: Thomas Dausgaard dirigiert erstmals das Radio-Sinfonieorchester Stuttgart
(Rezension für die Stuttgarter Zeitung, veröffentlicht heute)
Nicht nur in der Politik sind Personalspekulationen spannend, auch in der Kultur lässt sich die
Frage „Wer wird was?" kaum unterdrücken. Im Strudel der Opernkrise ging unter, dass auch
beim Radio-Sinfonieorchester Stuttgart (RSO) für 2011 die Neubesetzung des Chefpostens
ansteht. Zählt man die freudigen Gesichter im Orchester und den Jubel des Publikums im gut
besuchten Beethovensaal zusammen, dürfte der dänische Dirigent Thomas Dausgaard aus dem
Stand die Favoritenrolle im Schaulaufen um die Norrington-Nachfolge erobert haben.
Der 46-Jährige, der leitende Funktionen in Schweden und Dänemark innehat, eröffnete die
Abonnementsreihe des RSO gewiss nicht zufällig mit einem extravaganten Programm. Ein
modernes Werk von Dausgaards Landsmann Poul Ruders zum Auftakt, eine komplexe
Begleitaufgabe im ersten Klavierkonzert von Franz Liszt und die pompös dimensionierte zweite
Sinfonie von Sergej Rachmaninow - was will man mehr von einem ernsthaften Bewerber für
höhere Weihen? Dass die enorme Überlänge des Konzerts den Jubel für den Pultdebütanten
nicht verknappte, verrät viel über den außergewöhnlichen Abend.
Dem „Concerto in Pieces" von Poul Ruders hört man an, dass es für eine der legendär lockeren
„Last Night of the Proms" entstanden ist. Der dänische Komponist stellte sich dem Auftrag, eine
Art Neuaufguss von Brittens „Orchesterführer für junge Leute" herzustellen, unerschrocken und
mit Esprit. Mit vielen Instrumentationstricks, elektronisch garniert, schichtet er Jazziges und
Avantgardistisches auf. Das ist im Grunde „very british" - in der englischen Küche nennt man es
„Trifle", ein Dessert, das herrlich schmeckt, ohne dass man wirklich weiß, was drin ist. Kurzum:
ein musikalischer Spaß erster Güte.
Franz Liszts erstes Klavierkonzert entfaltet sich unter den zarten Händen von Lise de la Salle
aufs Angenehmste, denn die Französin beherrscht Träumerei und Tragik gleichermaßen, ist
gewandt in Ausdruck und Technik. Das RSO schmiegt sich mit überragenden Soli an das Klavier
an, Dausgaard erweist sich als aufmerksamer Vermittler zwischen Solistin und Orchester. Sergej
Rachmaninows zweite Sinfonie fließt unter seiner inspirierten und dabei immer freundlichen
Anleitung wie ein majestätischer Strom musikalischer Gedanken dahin. Anwandlungen von
Kitsch veredelt Dausgaard, indem er das Klangbild zu größter Klarheit aufspreizt und nicht
routiniert abdunkelt. Herzergreifend war das Klarinettensolo von Robert Oberaigner im dritten
Satz, das sich nahtlos in die erstklassige Orchesterleistung einfügte.
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Glänzendes Genie
Mozarts „Idomeneo“ mit René Jacobs - CD-Rezension für die Stuttgarter Zeitung, veröffentlicht
am 08.09.2009)
In seinem 1984 erschienenen Buch über Mozarts Opern schreibt Stefan Kunze, niemals später
habe sich „Mozarts musikalisches Erfindungsgenie glänzender bewährt“ als im „Idomeneo“, um
sogleich vor „leeren Beschönigungsformeln“ hinsichtlich der Ausformung der Charaktere zu
warnen. Die Fachleute haben sich immer wieder gegenseitig versichert, dass die Oper des jungen
Mozart etwas ganz Besonderes sei. Aber ist „Idomeneo“ deshalb ins Standardrepertoire
eingegangen? Gute Aufnahmen gibt es: Harnoncourts Pioniertat von 1980, Gardiners
Referenzeinspielung zehn Jahre später und Mackerras’ gediegene Interpretation von 2001. Im
Booklet der neuen Aufnahme macht sich der Dirigent René Jacobs Gedanken darüber, wie man
heutzutage Ungeheuer und göttlichen Verlautbarungen interpretieren könnte, und er kommt zu
überzeugenden Einsichten. Das stärkste Plädoyer für diese wahrhaft stürmische Oper ist
dennoch Jacobs’ Arbeit am Dirigentenpult – nicht einen Takt der wohl erstmals in voller Länge
und Pracht eingespielten Partitur möchte man missen, die Spannung lässt in keinem Augenblick
nach, und im Gegensatz zu Kunzes damaligem Verdikt stehen bei Jacobs glaubwürdige Personen
auf der imaginären Bühne, deren teils schicksalhafte, teils selbst verschuldete Konflikte man sehr
wohl ernst nimmt. Ein zugkräftiger Motor für das homogene, hochklassige Solistenensemble und
den ausdrucksstarken Chor ist das phänomenale Freiburger Barockorchester. Man darf sich
glücklich schätzen, seinen Mozart so erleben zu dürfen, weit entfernt vom „Mozartglück“
früherer Zeiten, als die Töne aus Salzburg und Wien immer ein wenig süßlich schmeckten.
Wolfgang Amadeus Mozart: Idomeneo. RIAS Kammerchor, Freiburger Barockorchester,
Dirigent René Jacobs. harmonia mundi HMC 902036.38 (3 CD + DVD „Making of“)
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Nimm den Bassa, Konstanze!
Mozarts „Entführung“ bei den Ludwigsburger Festspielen - Rezension für die Stuttgarter Zeitung
(leicht gekürzt veröffentlicht am 29.06.2009)
Ein Musikerquartett zieht durch die Gänge des Ludwigsburger Schlosses, um das Publikum zur
„Entführung aus dem Serail“ zusammenzutrommeln, und nicht ohne Grund wirft die Sängerin
Simone Kermes am Schluss der bejubelten Festspielpremiere ihren Blumenstrauß dem
Perkussionisten Murat Coskun zu. Unter dessen munterer Anleitung erklingen Wolfgang
Amadeus Mozarts „alla turca“-Passagen, die dieser Oper die orientalische Würze geben, endlich
einmal so richtig gepfeffert. Dirigent Michael Hofstetter vertraut ganz zu Recht auch hier auf
Spezialisten. Von ihm und seinem Orchester gehen im schmucken Schlosstheater die kräftigsten
Impulse aus. Mozarts Partitur wird geradezu schmerzhaft aufgeraspelt, und auch Peer Boysens
Inszenierung arbeitet die tragischen Anteile des gar nicht heiteren Singspiels heraus.
In so mancher Oper würde man der Sopranheldin gerne zurufen: Nimm den Bariton, nicht den
Tenor! Aber die Gattungskonvention will es nun mal anders. Mozarts „Entführung“ bietet eine
Alternative: Zwar hat der Bassa Selim – in Wirklichkeit ein aus Westeuropa in die Türkei
Geflüchteter – Konstanze entführen lassen, aber dass er sie ehrlich liebt, daran besteht kein
Zweifel. Den Status als Außenseiter schärft Mozart, indem er den Bassa als Sprechrolle
konzipiert, und wie Heio von Stetten in Ludwigsburg dessen tiefe Melancholie ganz leise
ausspielt, das geht ans Herz. Viel fehlt wohl nicht, und die tapfere Konstanze gäbe nach: Simone
Kermes gestaltet die vertrackte Partie nach mäßigem Beginn zu wahrhaft dramatischer Größe.
Mit glühendem Piano, heroischen Koloraturen und unendlichen vokalen Ausdrucksmitteln von
Florett bis Machete steigert sie sich in die hoch expressive „Martern-Arie“ hinein, in der
Hofstetter im Orchestergraben wahre Urgewalten entfesselt – ein glückhafter
Musiktheatermoment, für den allein sich alle Mühe lohnt.
Aber Belmonte – der mit wenig lyrischem Schmelz aufwartende Tenor Bernhard Berchtold –
kommt zur vermeintlich rechten Zeit und holt sich die abgekühlte Konstanze zurück. Peer
Boysens Regie zeigt deutlich, dass das wohl nicht auf Dauer gut gehen wird, und
interessanterweise spielt sich beim Dienerpaar Pedrillo und Blonde (Daniel Johannsen und Chen
Reiss, beide tadellos singend) das Gleiche ab. Dass Blonde den Reizen des durchaus attraktiven
Seraildieners Osmin (vokal korrekt, aber ein bisschen steif: Guido Jentjens) gar nicht abgeneigt
ist, ist eine Überraschung der Regie, die durch die Musik eigentlich nicht beglaubigt wird. Peer
Boysen hat die „Entführung“ wie ein Puppenspiel inszeniert: Durchdacht schematisch bewegen
sich die Figuren, hin und wieder im Zuschauerraum platziert, in einer vom Regisseur selber
angemessen historisch gestalteten Bühne und charakteristischen Kostümen von Ulrike Schlemm.
Das ist schön, denn es wertet Noten und Worte auf, wenngleich Boysen die gesprochenen
Dialoge in allzu karge Telegramme umgemodelt hat. Die humanistische Schlussansprache des
Bassa indes verfehlt ihre Wirkung nicht: Mucksmäuschenstill lauscht der ausverkaufte Saal Heio
von Stettens eindringlichen Worten. Ungerechtigkeit sei durch Wohltaten besser zu vergelten als
durch Rache: Das klingt eine Weile nach. Mindestens bis zur nächsten Nachrichtensendung.
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Eine Opernreise durch Belgien
März 2002 - Langfassung eines Beitrags für die Stuttgarter Zeitung
Wie silberne Fäden verschlingen sich die Stimmen von Oleg Riabets, Lawrence Zazzo und Alain
Aubin zu einem Ornament, wie es schöner an keinem Brüsseler Jugendstil-Haus gedacht werden
könnte. Nur dass musikalische Ornamente, wie sie die drei Countertenöre in Peter Eötvös' Oper
"Tri Sestry" kunstvoll gestalten, allzu schnell wieder zerfallen. Allzu vergänglich sind die
Opernwunder, von denen "Tri Sestry" am Königlichen Theater La Monnaie in der belgischen
Hauptstadt ein ganz besonderes ist. Das Stagione-System kennt Ensembles nur für die einzelne
Produktion und leidet nicht unter dem quantitativen Zwang, der das deutsche Opernleben prägt:
Die Produktion der Eötvös-Oper wird in Brüseel gerade neun Mal gespielt.
Bernd Loebe, derzeit noch künstlerischer Direktor der Brüsseler Oper und als ehemaliger HRRedakteur und designierter Frankfurter Intendant so etwas wie ein Bindeglied zur deutschen
Musiklandschaft, weiß sehr genau um die Potenzen von La Monnaie. Das Stagione-System kennt
Ensembles nur für die einzelne Produktion und leidet nicht unter dem quantitativen Zwang, der
das deutsche Opernleben prägt: „Bei 80 Aufführungen pro Saison gibt es eigentlich keine
Ausrede mehr für schlechte Qualität“, meint der betont lässig auftretende Theatermann
schmunzelnd.
Wenn Loebe seine Pläne für die Oper Frankfurt in seinem Brüsseler Büro erläutert, entfalten sich
diese deutlich auf der Folie der paradiesischen Zustände, die die belgische Nationaloper (eine der
wenigen Kulturinstitutionen, die in der zentralen Regie des 1994 in einen Bundesstaat
umgewandelten Königreichs verblieben sind) vor allem den Künstlern bietet. „Das Haus kann
sehr hohe Ansprüche beispielsweise an die Bühnentechnik erfüllen“, erzählt Loebe. Die 1986
beendete Grundsanierung und vor allem Ankauf und Sanierung eines heruntergekommenen
Gebäudekomplexes hinter der Oper, der jetzt Büros, Probebühnen und Werkstätten beherbergt,
machen die Brüsseler Oper auch in dieser Hinsicht zum Ausnahmefall.
Die Produktion von „Tri Sestry“ ist identisch mit der Uraufführung, die 1998 in Lyon herauskam
und auch als CD-Mitschnitt verfügbar ist. Loebe und sein Intendant Bernard Foccroulle haben
die Übernahme dieser Inszenierung erst vereinbart, nachdem sie den ungewöhnlichen Erfolg in
Lyon erlebt hatten. Insofern handelt es sich nicht um eine echte, von mehreren Häusern
gemeinsam konzipierte und vorbereitete Koproduktion. Aber auch solche Übernahmen sind
gerade im Stagione-System, in dem herausragende Produktionen kaum dauerhafte Wirkung
entfalten können, eine gute Sache. Da ein großer Teil der Brüsseler Besetzung an identisch mit
der Uraufführung ist und einige andere Partien mit Interpreten besetzt wurden, die diese
Produktion in Paris mitgestaltet hatten, reichten zehn Tage Proben aus. Es kommt hinzu, dass
Peter Eötvös, der die acht Aufführungen selbst dirigiert hat, ein langjähriger Berater der Brüsseler
Oper ist. Bernd Loebe schätzt ihn hoch: Man hänge an seinen Lippen, wenn er dem Orchester
die Eigenarten seiner Komposition vermittle. „Ich gönne Eötvös seinen jetzigen Erfolg“, sagt
Loebe über den Komponisten, der nach einigen mageren Jahren mit Aufträgen bis 2008
eingedeckt ist.
Die Brüsseler Oper ist eine Pralinenschachtel, eins der Foyers trägt sogar den Namen
„Bonbonnière“. In diesem Prachtstück würden sogar die „Jungen Wilden“ unter den Regisseuren
und Bühnenbildnern zahm, erzählt Bernd Loebe. Er nimmt für sich in Anspruch, seinem
Intendanten einiges vom deutschen Musiktheater schmackhaft gemacht zu haben, gesteht aber
auch, dass zwei Seelen in seiner Brust wohnen. Vielleicht wirkt sich der genius loci also auch auf
die Bühnenästhetik aus. „Ein Haus zum Wohlfühlen“ sei La Monnaie ohnehin, meint Loebe,
dem die freundschaftlichen Beziehungen zu vielen Sängern aber auch die Möglichkeit geben,
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„Tacheles zu reden“. Die Besetzungspolitik folgt einem einfachen, aber wirkungsvollen Prinzip:
„Sing heute eine kleine Partie, dann bekommst du morgen eine große.“ Auf diese Weise baute
Loebe, der in seinem Fach neben (Stuttgarts) Pamela Rosenberg zu den „Headhuntern“ mit der
besten Spürnase zählt, viele Sängerinnen und Sänger auf, die heute - berühmt geworden - für die
halbe Gage nach Brüssel kommen. „Wenn es auch kein festes Ensemble gibt, wir schaffen auf
jeden Fall die Atmosphäre eines Ensembles.“
Während es in der Region Brüssel, die im streitsüchtigen Belgien als zweisprachig etabliert ist,
wohl keinen Satz im öffentlichen Raum gibt, der nicht in flämisch und französisch erscheint
(sogar die Position der Übertitel bei „Tri Sestry“ wird in der Pause getauscht, um keiner Sprache
einen Vorteil zu verschaffen), verzichtet die Vlaamse Opera, das Musiktheater der Region
Flandern in Antwerpen mit Zweitsitz in Gent, fast gänzlich auf das Französische - bis auf eine
kurze Inhaltsangabe im Programmheft. Antwerpen ist die Hochburg der flämischen
Nationalisten, die sich die Zukunft ihrer prosperierenden Region durchaus als eigenständigen
Staat innerhalb der EU oder als Bestandteil der Niederlande vorstellen können. In auffälligem
Gegensatz zum Brüsseler Pralinenkästchen ist die Oper in Antwerpen auch optisch eine
bürgerliche Gründung, bei der Fragmente des Jugendstils und überreiche symbolische Plastik im
Zuschauerraum eine vom Aristokratischen abgegrenzte Atmosphäre der Repräsentation
erzeugen. Die Vlaamse Opera wird derzeit von der „flämischen Gemeinschaft“ (also der Region
Flandern) gemeinsam mit den Städten Antwerpen und Gent finanziert. Dies bedinge eine absolut
paritätische Bedienung der Spielstätten, berichtet Intendant Marc Clémeur ist anders als sein
Name erwarten lässt waschechter Flame und spricht als ehemaliger Kölner
Theaterwissenschaftsstudent perfekt Deutsch.
Christine Mielitz’ von der Wiener Volksoper übernommene Inszenierung von Wagners
„Meistersingern“ gibt es fünf Mal hier und fünf Mal dort, obwohl die Nachfrage in Antwerpen,
wo schon ab 1913 alljährlich der „Parsifal“ zum Karfreitag erklang, größer ist als in Gent. Sollten
die aktuellen Überlegungen, die Finanzierung der Kulturinstitutionen zu entflechten und die
Museen ganz in städtische, dafür die Oper in regionale Obhut zu nehmen, aus der Vlaamse
Opera ein Staatstheater machen, will Clémeur die Aufführungen nach dem Bedarf und nicht nach
der äußerlichen Gleichberechtigung ansetzen. Die Opernhäuser in Antwerpen und Gent wurden
erst 1989 fusioniert, nachdem Gérard Mortier in Brüssel mit hoher, international beachteter
Qualität die Musiklandschaft Belgiens unter Zugzwang gesetzt hatte. Anders als bei den
Fusionsprojekten in Deutschland seit 1990 zu beobachten, machte Belgiens damaliger
Kulturminister in den beiden flämischen Städten tabula rasa - man ließ sogar Orchestermusiker
neu vorspielen und stellte eine ganz neue Mannschaft zusammen. Feste Künstler gibt es auch an
der Vlaamse Opera nicht, unter der bewusst unfestlichen, auf jeden Pomp verzichtenden Leitung
von Friedemann Layer sangen einige Solisten, die bereits in Wien dabei gewesen waren,
gemeinsam mit belgischen Eigengewächsen und weiteren internationalen Gästen. Die Freiheit
vom Besetzungszwang ermöglichte es, nicht nur ein Liebespaar mit ungewöhnlich jugendlicher
Ausstrahlung zu verpflichten (FMC und JD), sondern auch auf eine gemeinsame Auffassung vom
Wagner-Gesang zu achten: Die helle, schlanke Tongebung aller Sänger ließ Wagners Textmassen
ungewöhnlich klar über die Rampe kommen. Christine Mielitz hatte übrigens ihre in Wien
erprobte Inszenierung, die aus Wagners zwiespältiger Komödie einen vergnüglichen
Theaterabend macht, in Antwerpen sechs Wochen lang fleißig geprobt. Clémeur, der sich an
deutschen Opernhäusern gut auskennt, hatte eine „kritische“ Inszenierung einkaufen wollen, die
jedoch nicht - wie beispielsweise Neuenfels’ umstrittene Stuttgarter Produktion - „das Kind mit
dem Bade ausschüttet“. Dem Anspruch, „mit dem halben Etat, aber dafür in zwei Städten
Brüsseler Niveau zu erreichen“ (Clémeur), scheint die Flämische Oper mit dieser Produktion sehr
nahe zu kommen, zumal Chor und Orchester beachtliche Strahlkraft besitzen. Auch Marc
Clémeur kann sich eine künstlerische Entdeckung auf die Fahnen schreiben, hat er doch den
Kanadier Robert Carsen als Opernregisseur schon früh nach Belgien verpflichtet und
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kontinuierlich aufgebaut. Dessen Puccini-Zyklus an der Flämischen Oper wurde durch
Koproduktion und Übernahme auch ins deutsche Opernleben eingespeist: Neben der eher
matten Hamburger „Tosca“ wurde auch Mannheim mit Carsens psychologisch interessanter
„Turandot“ aus Belgien bedacht.
Auf der Autobahn von Brüssel nach Lüttich durchquert man mehrfach die Sprachgrenzen, die
den belgischen Staat nach seiner Föderalisierung zu einem nach außen kaum noch
aussagekräftigen Gebilde gemacht haben. Da die Regionen eine nur einsprachige Ausschilderung
als Ehrensache betrachten, wechselt also die Richtungsanzeige mehrfach von Liège nach Luik
und zurück - wer nicht genau weiß, dass er ins französischsprachige Lüttich will, könnte durchaus
in Verwirrung geraten (allerdings ist die flämische Bezeichnung für das nordfranzösische Lille,
nämlich Rijsel, noch um einiges verwirrender). Gegenüber dem ausgefegten Brügge, dem
quirligen Antwerpen und dem äußerst lebhaften Brüssel wirkt Lüttich wie das Stiefkind unter den
belgischen Großstädten. Einzelne architektonische Glanzstücke aus jüngster Zeit können nicht
über die noch immer herüberragende Vergangenheit als verfallende Industriestadt
hinwegtäuschen. Auch das Opernhaus hat seine glanzvollen Tage bereits hinter sich und hätte
eine optische Auffrischung nötig. Der österreichische Dirigent Friedrich Pleyer, seit 1994
musikalischer Chef der „Opéra Royal de Wallonie“, weiß die tückische, mehr ans Fernsehen als
an ein Opernhaus gemahnende Akustik des Hauses aus Erfahrung zu nutzen. Die zweite
Vorstellung der neuen Produktion von Richard Strauss’ „Elektra“ - vom Staatstheater Darmstadt
übernommen - profitierte von dieser Erfahrung und präsentierte ein auffällig transparentes
Klangbild. Rollendebütantin Martine Surais in der Titelpartie hat zwar hochdramatische Kraft, ist
sprachlich aber nicht auf der Höhe des Hofmannsthalschen Librettos. Dagegen gibt die auch in
Stuttgart bekannte Marcela de Loa als Chrysothemis ein Beispiel an genauer Textbehandlung und
klarer Intonation. Die Inszenierung von Friedrich Meyer-Oertel bestätigte wieder einmal, dass die
Treffsicherheit der eigentlichen Inszenierung durch eine altbackene Ausstattung (Heidrun
Schmelzer) empfindlich beeinträchtigt werden kann.
In Lüttich, dessen Oper von der "französischen Gemeinschaft", der Provinz und der Stadt
finanziert wird, gibt es zehn Premieren pro Saison, davon sieben Neuinszenierungen, größtenteils
als Koproduktionen. Ganz ähnlich sind die Verhältnisse in Brüssel und bei der Vlaamse Opera.
Die belgischen Opernhäuser zusammen kommen auf rund 250 Aufführungen pro Saison.
Verglichen mit den Gepflogenheiten des deutschen Repertoires ist das nicht viel - Stuttgart
beispielsweise bietet in der aktuellen Spielzeit rund 160 Opernvorstellungen. Durchschnittliche
und gute Abende gibt es überall. Aber Opernwunder wie Brüssels "Tri Sestry"? Sie erblühen
unter den aktuellen Bedigungen im deutschsprachigen Raum doch nur selten.
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Portraits
Die Umarmung des Drachens
Mit Stimme und Spielwitz erfreut sie das Publikum: Die amerikanische Sopranistin Helene
Schneiderman ist seit 25 Jahren im Ensemble der Stuttgarter Staatsoper (Artikel für die
Stuttgarter Zeitung, veröffentlicht heute)
Das muss man sich mal vorstellen: Vor 25 Jahren war Helmut Kohl fast noch schlank, seine
Partei ruhte sich gemächlich auf einem Wahlergebnis von 49 Prozent aus, das Privatfernsehen
schlich sich gerade in die Wohnstuben, und der Wald machte mit dem sauren Regen
Bekanntschaft. Zu dieser Zeit zog eine junge Amerikanerin von Heidelberg nach Stuttgart, wo sie
der damalige Operndirektor Wolfram Schwinger ins Ensemble geholt hatte. Ein großer Schritt
für Helene Schneiderman - und für die Opernwelt.
Seit 25 Jahren also ist Helene Schneiderman, 1998 mit dem Titel „Kammersängerin" geschmückt,
Stuttgart und seiner Oper treu. Abstecher zu anderen Bühnen, Konzertgastspiele hier und dort
sowie eine Lehrtätigkeit am Salzburger Mozarteum haben den Ruhm der Mezzosopranistin
vermehrt, ohne sie doch zu einer freischaffenden Tätigkeit verlocken zu können. Ein Ensemble
sei eben wie eine zweite Familie, meint die Sängerin und nimmt dafür in Kauf, dass neben
spektakulären Hauptrollen immer wieder auch die kleinen Partien, die sogenannten „Wurzen",
auf ihrem Programm stehen. Ausgerechnet in der Jubiläumsspielzeit wird der gefeierte
Publikumsliebling in keiner einzigen Stuttgarter Premiere zu erleben sein.
Immerhin wird ihr jetzt am Sonntag die Aufführung der Händel-Oper „Teseo" gewidmet, zum
Silberjubiläum - und als Medea dürfte Helene Schneiderman stimmlich und darstellerisch wie
gewohnt glänzen. In dieser sonst nicht sehr aufregenden Inszenierung gibt es einen Moment, der
vielleicht ein wenig vom Geheimnis der außergewöhnlichen Sängerin lüftet. Da watschelt
nämlich, während Schneiderman ihre große Arie singt, ein ferngesteuerter, blinkender Minidrache
auf die Bühne und stiehlt der furiosen Medea die Show. Die Sängerin lässt das geschehen, bis sie
nach einer Weile das Tierchen in den Arm nimmt und liebkost - eine Umarmungstaktik, mit der
die drohende Rivalität entschärft und nebenbei klargestellt wird, wer in dieser Oper den Ton
angibt.
Schneiderman weiß durchaus auf der Klaviatur der Diva zu spielen. Da wird beim Fototermin
mit der Haartracht kokettiert und das eigentlich längst anstehende Debüt an der Met angemahnt und ein Telefonat mit dem Mann von der Zeitung geht kurzfristig schon gar nicht. Das
Sympathische an der temperamentvollen Sängerin ist aber, dass sie von all dem auch Abstand
nehmen und über sich selbst lachen kann. „Wenn sie auf die Probe kommt, lockert sich sofort
die Atmosphäre", sagt der Solorepetitor Stephen Hess, der langjährige musikalische Gefährte von
Schneiderman. Sie verbinde den Spaß an der Arbeit mit höchster Konzentration, stelle sich
stilistisch auf jede Anforderung ein und sei vor jeder neuen Partie auch heute noch ehrlich
nervös, erzählt Hess.
Stuttgarts ehemaliger Opernintendant Klaus Zehelein bewundert insbesondere Schneidermans
Wandlungsfähigkeit, die „äußerst seltene Verbindung von musikalischer und szenischer
Intelligenz mit fulminanter Gesangstechnik" und den Zusammenklang von Individualität und
Gemeinsinn: „Helene war, ist und bleibt hoffentlich das Zentrum des Staatsopernensembles. Sie
will immer das Beste für die Kunst erreichen", so Zehelein. Das ist wohl der Kern der Sache:
Helene Schneiderman beherrscht ihr Metier, ohne daraus eine Attitüde oder gar Allüre zu
machen. Als Zuschauer erinnert man sich auch an die Persönlichkeit - und eben nicht nur an die
schönen Töne allein.
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Auch die Komponistin Adriana Hölszky gerät noch zwanzig Jahre nach der legendären
Uraufführung ihrer Oper „Bremer Freiheit", in der Helene Schneiderman die Hauptrolle sang, ins
Schwärmen: „Sie hat sich völlig eingesetzt, auch als Mensch, sie hat alle Feinheiten meiner Musik
erfasst, sie ist großartig, absolute Spitzenklasse." Seitdem standen für die Sängerin zwar
vorwiegend Klassiker wie Händel, Mozart und Rossini auf dem Programm, aber neugierig ist
Helene Schneiderman noch immer. Sogar das Twittern hat sie ausprobiert. Da sage noch einer,
Kammersängerinnen seien altmodisch.
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„Gibt es ein sinnlicheres Instrument?“
Jean Guillou musiziert an der Schuke-Orgel der Philharmonie - Beitrag für das Magazin der
Berliner Philharmoniker
Jean Guillou? Der Jean Guillou? Zwei Augenpaare leuchten auf. Für die Freunde, die häufig in
Paris sind, zählt ein Besuch der Messe in St. Eustache zu den größten Erlebnissen, die die
französische Hauptstadt bietet. Das hat weniger mit Religiosität zu tun als mit der Bewunderung
für den so genannten Titularorganisten der mitten in Paris gelegenen Renaissancekirche. Das
eigenartige Amt kann ganz unterschiedlich bekleidet werden: Manche Musiker erscheinen nur
selten persönlich am Instrument ihrer Kirche, andere – und zu diesen zählt Jean Guillou –
nehmen den Dienst als umfassende Verpflichtung. An St. Eustache ist deshalb nicht nur jede
Messe ein musikalisches Fest, meist gekrönt von einer rasanten Orgelimprovisation; Guillou gibt
vor den Gottesdiensten sogar ein Extrakonzert mit eloquenter Einführung.
In Angers, einer mittelgroßen Departementshauptstadt im Westen Frankreichs, kam Jean Guillou
1930 zur Welt. Wie ihn schon als Kind die „Königin der Instrumente“ fasziniert hat, beschreibt
er in seinem Buch „L’Orgue – Souvenir et Avenir“, das auch in deutscher Übersetzung vorliegt:
„Vor langer Zeit, als ganz kleines Kind, nahm ich mit einem riesigen Schlüssel in der Hand den
Weg auf die Orgelempore. Wie ein Abenteurer, der die schlaftrunkenen Wesen der Unterwelt
zum Leben erweckt, wagte ich es, der verheißungsvollen Maschine aus ihrem Schatten heraus
entgegenzutreten und eine Stimme wachzurufen; eine Stimme des höchsten Streites, des
Vergnügens, der zündenden Kraft.“ Das Orgelspiel brachte sich Jean Guillou selbst bei, und er
empfindet diese autodidaktische Ausbildung nicht als Nachteil; im Gegenteil: In vielen Fällen sei
dieser Weg der einzige, auf dem sich eine musikalische Persönlichkeit individuell ausformen
könne, meint der Musiker, der heute an den großen Orgeln in aller Welt konzertiert.
Schon als Zehnjähriger wurde Jean Guillou zum Titularorganisten der Kirche St. Serge in seiner
Heimatstadt Angers ernannt und erregte nicht zuletzt mit seiner Improvisationskunst Aufsehen.
Auf Empfehlung eines Musikkritikers wurde der kleine Jean dem Komponisten Marcel Dupré
vorgestellt, der ihn an die Kollegen Maurice Duruflé und Olivier Messiaen weitervermittelte. Es
muss eine aufregende Zeit gewesen sein am Pariser Conservatoire, denn mit Dupré, Durflé und
Messiaen fand der junge Guillou Lehrer und Mentoren, die ihm die fruchtbare Verbindung von
Orgelspiel, Pädagogik und Komposition vorlebten. Seine pädagogischen Talente waren zunächst
abseits von den großen Musikzentren gefragt: 1955 wurde er als Orgelprofessor nach Lissabon
berufen. Als Interpret hatte sich Guillou damals bereits einen guten Namen gemacht, wenngleich
ihm erst die Berufung an St. Eustache die Tore zur musikalischen Welt angemessen weit
aufschloss. Zwischen Lissabon und Paris aber liegt eine Station, die für Guillou für einige Jahre
auch privat bedeutsam war und an die er nun nach langer Zeit wieder zurückkehrt: Berlin. Hier
war Jean Guillou 1958 zu einem Konzertgastspiel eingeladen, hier absolvierte er anschließend
einen längeren Sanatoriumsaufenthalt, der einen praktischen Nebeneffekt hatte: Der Franzose
eignete sich die deutsche Sprache perfekt an – zunächst auf der Basis von Karl-May-Romane, die
ein Mitpatient in Unmengen verschlang! Guillou blieb fünf Jahre in Berlin und widmete sich
verstärkt der Kompositionstätigkeit, die ein überraschend vielseitiges Oeuvre auch abseits der
Orgel hervorgebracht hat. So liegen mehrere Sinfonien und weitere Orchesterwerke vor, die in
Deutschland noch nicht aufgeführt wurden, während die Orgelstücke von vielen Musikern
bewundert und gespielt werden.
„Gibt es ein sinnlicheres Instrument als dieses?“, fragt Jean Guillou in seinem Orgelbuch,
„schöpft nicht jeder Ton sein Leben aus der Luft, die wir atmen, um sich, erfüllt mit den tiefsten
und den höchsten Obertönen, mit den innersten Schwingungen unseres Körpers zu vereinen?“
So eindrucksvoll er „sein“ Instrument bewundert, so kompromisslos ist er, wenn er unterrichtet:
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„L’habitude“, die Gewohnheit, sei das Allerschlimmste, rügt er den allzu routiniert musizierenden
Nachwuchs. Die Kunst der Registrierung indes, die Guillou meisterhaft (und in ihrer
individuellen Radikalität immer wieder für Diskussionsstoff sorgend) beherrscht, mag er nicht
eigentlich „unterrichten“: Sie sei etwas Höchstpersönliches, ein intimer Dialog zwischen
Komponist und Interpret.
Der vielseitige Franzose ist ein gefragter Experte für die Konzeption von neuen Orgeln und ein
Visionär, der die Zukunft des Instruments durchaus nicht nur in der Kirche sieht. Anknüpfend
an antike Vorbilder und Ideen, hat der Franzose eine „Orgel mit variabler Struktur“ erdacht, ein
groß dimensioniertes und doch bewegliches Instrument, das die Musik zu den Menschen bringen
soll und nicht umgekehrt: „Die mystische oder die mythische Orgel, die eine wie die andere eine
Schöpfung des Menschen, wird nur dann Ruhm erlangen, wenn sie sich dem Menschen nähert.
Dort wollen wir sie wiedererstehen lassen, in der Nähe des Ohres und des Auges“, erklärt
Guillou und träumt lebhaft von einem Konzert mit dieser Orgel auf Berlins Waldbühne. Die
Pläne für das variable Instrument sind fertig, der Orgelbauer Klais in Bonn steht bereit, aber
noch fehlt der Mäzen, der aus der Vision Wirklichkeit werden lässt.
Die Musik, so sagt Jean Guillou, fange erst in dem Moment an zu existieren, in dem sie gehört
wird. „So entdecken wir mit dem Vergnügen zu spielen jenes, ein Werk zu schaffen, dieses Werk
ans Licht zu bringen, es an ein anderes Licht zu bringen als jenes, von dem es bei jeder seiner
vorhergehenden Aufführungen erhellt worden ist“. Und Jean Guillou wäre nicht Jean Guillou,
stellte er nicht auch an seine Hörer hohe Ansprüche. Das Publikum gebe es natürlich nicht, aber
das wahre, das ideale Publikum sei eines, das dem Musiker „wie bei einem Ritual assistiere“. Nun
spielt der visionäre Intellektuelle und charismatische Vollblutmusiker erstmals in einem Recital
die Schuke-Orgel in der Berliner Philharmonie – in einem Saal, an dessen Baustelle er in seinen
Berliner Jahren vorbeiflanierte: Ein Kreis schließt sich.
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Von Finnland lernen oder Das nordische Dirigentenwunder
Beitrag für das Magazin der Berliner Philharmoniker (September/Oktober 2004)
Von Finnland lernen? Zumindest beim alljährlichen Schlagerwettbewerb namens Eurovision
Song Contest ist die nordische Nation das, was man auf neudeutsch „loser“ nennt. Fünf
Jahrzehnte lang fand man sich meist auf den hinteren Rängen wieder, und heuer blieb der
finnische Beitrag – immerhin angelehnt an die weithin unbekannte, aber bemerkenswerte
landeseigene Tango-Tradition – bereits im Halbfinale stecken. Womöglich revanchiert sich
Europa auf diesem Nebenschauplatz dafür, dass Finnland in der so genannten Ernsten Musik
längst Weltgeltung erlangt hat?
Dass finnische Komponisten wie Einojuhani Rautavaara, Kaija Saariaho und Magnus Lindberg,
insbesondere jedoch Dirigenten wie Esa-Pekka Salonen, Jukka-Pekka Saraste, Sakari Oramo,
Mikko Franck und der im Oktober bei den Berliner Philharmonikern debütierende Osmo Vänskä
im internationalen Musikleben eine so auffällige Rolle spielen, kommt nicht von ungefähr. Die
meisten von ihnen wurden an der Sibelius-Akademie in Helsinki ausgebildet, aber das
renommierte Institut ist keine einsame, elitäre Kaderschmiede. Europas drittgrößte
Musikhochschule krönt vielmehr ein System, in dem der finnische Staat grundsätzlich jedem
Kind eine musikalische Ausbildung anbietet.
In den 60-er Jahren wurde in dem weitläufigen, dünn besiedelten Land ein dichtes Netz von
Musikschulen und Konservatorien geknüpft, getragen von den Gemeinden und von der
Regierung in Helsinki mitfinanziert. Alle Schulen haben Klassen mit musikalischem
Schwerpunkt, die öffentlichen Büchereien legen Wert auf eine gute Musikabteilung. Das hat
zweierlei Auswirkungen: Eine überdurchschnittliche Zahl von jungen Finnen schlägt den
professionellen Weg ein und wird durch großzügige Stipendien weiter gefördert, die anderen
formen ein offenes und begeisterungsfähiges Publikum für die zahlreichen Orchester, Festivals
und Operntruppen.
Auch Osmo Vänskä kam in der kleinen Hafenstadt Kotka früh mit diesem System in Berührung.
Seine Eltern wollten, dass jedes ihrer Kinder ein Instrument lernt, und Osmo als Jüngster begann
mit neun Jahren auf der Geige, bald darauf wechselte er zur Klarinette. Als Instrumentalist kam
er zur Sibelius-Akademie, für das Dirigieren interessierte er sich erst später. Dabei lernte er jene
Persönlichkeit kennen, die von großer Bedeutung für das finnische „Dirigentenwunder“ ist:
Jorma Panula. Lange Jahre prägte Panula die Dirigentenausbildung in Helsinki, seit seiner
Pensionierung unterrichtet er auf der ganzen Welt. Dabei spart Panula nicht mit kritischen
Worten, wenn ein Dirigent sein Orchester zu stark zu prägen versucht oder, wie sein Schüler
Mikko Franck, eine seiner Meinung nach zu frühe und schnelle Karriere macht: „Das beste Alter
für einen Dirigenten ist an die 80.“
Davon ist Osmo Vänskä, 1953 geboren, noch eine ganze Weile entfernt. Aber auch er hat bereits
Wunder bewirkt. Das Sinfonieorchester der 100.000-Einwohner-Stadt Lahti, das er 1988
übernahm, erzog er zum Spitzenensemble, und als sich die Göteborger Symphoniker für die
Fortsetzung eines kompletten Sibelius-Aufnahmezyklus beim kleinen Label BIS zu fein wurden,
sprangen Vänskä und sein Orchester mutig ein und stehen heute als Sibelius-Interpreten
einzigartig da. Gut 50 CDs sind bisher erschienen, zum 50. Todestag des Komponisten 2007 soll
die Edition mit rund 70 Silberscheiben komplett sein.
Seit letztem Herbst ist Osmo Vänskä, der vor 30 Jahren Privatunterricht beim philharmonischen
Klarinettisten Karl Leister in Berlin nahm und vom Chorpodium der Philharmonie aus Karajan
erlebte, Chefdirigent des Minnesota Orchestra und steht damit in einer eindrucksvollen Reihe mit
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Ormandy, Mitropoulos, Dorati und Marriner. Wiewohl für dieses Engagement sicher
künstlerische Gründe ausschlaggebend waren, dürfte sich Osmo Vänskä, dessen Familie aus
Karelien stammt und der ausgedehnte Wanderungen und Motorradtouren im winterlich
einsamen Lappland liebt, im berüchtigt kalten Minnesota fast wie zu Hause fühlen.
Für das „Dirigentenwunder“ macht Vänska übrigens neben der gründlichen, breiten
musikalischen Ausbildung letztlich Jean Sibelius verantwortlich, dessen Ruhm schon früher den
finnischen Orchesterchefs auf die internationalen Podien geholfen habe. Vielleicht kann ein Volk,
das als größten Nationalhelden einen Komponisten verehrt, gar nicht anders, als diesem
nachzueifern: „Wir reden zwar nicht viel, aber wir drücken uns durch Musik aus“, meint dazu
Vänskäs Kollege Jukka-Pekka Saraste.
Von Finnland lernen? Klassische und neue Musik allerorten, glänzende Ergebnisse bei der PISAStudie, nach der Parlamentseröffnung gehen die Abgeordneten in die Oper und nicht in die
Kneipe, und schon vor Jahren wählte sich die Nation ein weibliches Staatsoberhaupt - wie
schrieb der englische Musikkritiker Norman Lebrecht: „Die Zukunft gehört den Finnen.“ Da
darf man doch über Misserfolge mit der leichten Muse souverän hinwegsehen.
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Der besondere Griff
Der Stuttgarter Dirigent Helmuth Rilling wird 70. Feature ddp-Nachrichtenagentur 23.05.03
Der Stuttgarter Dirigent Helmuth Rilling feiert am kommenden Donnerstag seinen 70.
Geburtstag. Als Leiter der von ihm gegründeten Bachakademie und durch Tourneen mit seinen
Ensembles Gächinger Kantorei und Bach-Collegium Stuttgart ist Rilling weltweit gefragt. In
Stuttgart verantwortet er die Bachwoche und das Europäische Musikfest, bei dem Bachs Werk in
Zusammenhänge mit romantischer und neuer Musik gestellt wird. Sein Geburtstag wird in
Stuttgart mit einem Festgottesdienst, einem Festakt und einem Benefizkonzert begangen.
Manchmal greift Helmuth Rilling den Taktstock ganz anders als seine Kollegen. Der Stuttgarter
Dirigent, der am kommenden Donnerstag 70 wird, macht den kleinen Stab, der nicht selten für
Macht und Distanz gleichzeitig steht, durch eine besondere Haltung der Hand gleichsam kürzer
und verringert damit den Abstand zu Chor und Musikern. Das mag nur ein Detail sein und ist
dennoch sehr bezeichnend für Helmuth Rillings persönliche und am gemeinschaftlichen Wollen
ausgerichtete Art, das Werk von Johann Sebastian Bach – und nicht nur dieses – zu musizieren.
Zwar steht die Bach-Pflege im Mittelpunkt von Rillings Wirken als Dirigent und Pädagoge. Die
Gründung der Stuttgarter Bachakademie vor über 20 Jahren, die Einspielung aller Bach-Kantaten
auf Schallplatte und CD sowie die jährliche Bachwoche dokumentieren diesen Schwerpunkt nach
außen. Langweilig wird es Rilling dabei nicht. „Gerade Bach entdecke ich immer wieder neu“,
erklärt er und freut sich, wenn auf Tourneen die eigentlich unspektakulären Kantaten besonders
nachgefragt werden, wie kürzlich in Mailand geschehen.
Dennoch hat sich der Dirigent, der als junger Student 1953 die Gächinger Kantorei gründete und
sie schnell zum Spitzenensemble erzog, nie als Bach-Spezialist verstanden, obwohl er die großen
Passionen wohl mehrere hundert Male dirigiert hat. Im Gegenteil: Von Anfang an beschäftigte
sich Rilling intensiv und gegen den damaligen Zeitgeist mit den großen Oratorien des 19.
Jahrhunderts, und mit dem Europäischen Musikfest schuf er sich ein Forum, das die Werke von
Bach in größere Zusammenhänge stellt.
Dabei macht Rilling auch vor ganz neuer Musik nicht Halt. Das Musikfest 2000 setzte mit der
Uraufführung von vier neu komponierten Passionen ein besonderes Zeichen. Spätestens in
diesem Jahr setzte auch die internationale Resonanz ein, die sich Rilling für das 1990 gegründete
Stuttgarter Festival wünschte. In Sachen Bach gehört die weltweite Nachfrage längst zur Arbeit
des Dirigenten –nicht nur auf Tourneen, sondern immer wieder durch Kurse für junge
Musikerinnen und Musiker von Krakau bis Caracas. Den dortigen Ablegern der Bachakademie
hat der Dirigent die Spenden zugedacht, die er sich an Stelle von Geschenken wünscht – und die
Einnahmen des Benefizkonzerts am Abend des Ehrentags, bei dem sich Rilling das
Dirigentenpult mit seinem polnischen Kollegen und Freund Krzysztof Penderecki teilt.
Im Gespräch strahlt Helmuth Rilling eine charismatische Mischung aus Altersweisheit und fast
jugendlichem Schwung aus –für einen Dirigenten ist 70 schließlich kein Alter, in dem man ans
Aufhören denkt. Vor allem gelassen geht er auch mit der Diskussion um die historische
Aufführungspraxis um, die sich in den 80-er Jahren beinahe zum Glaubenskampf erweiterte.
Rilling ließ sich zwar anregen und experimentierte mit alten Instrumenten, geht aber seinen
persönlichen Weg unbeirrt weiter – die Macht des Dirigenten nie in den Vordergrund stellend,
aber auch nie auf das für ihn Wichtigste an der Musik verzichtend: das Gefühl.
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Viel Mut und ein bisschen Heimweh
Die armenische Sopranistin Karine Babajanian ist neu im Stuttgarter Opernensemble – Beitrag
für die Stuttgarter Zeitung (29.10.2003)
Falls Karine Babajanian irgendwann einmal im Betriebsbüro der Stuttgarter Oper um
Gastierurlaub für einen auswärtigen „Troubadour“ bittet, sollten dort die Alarmglocken schrillen.
Die Leonora in Verdis Oper scheint für die armenische Sopranistin, die seit kurzem
Ensemblemitglied in Stuttgart ist, eine „Wechselpartie“ zu sein. Von Koblenz, wo sie von 1999
bis 2001 sang, gastierte sie im Bielefelder „Troubadour“ – und erhielt das Angebot für ein festes
Engagement. Gleiches in Stuttgart: Im Dezember 2001 sprang Karine Babajanian ganz kurzfristig
für Catherine Naglestad ein. „Spät abends bin ich geflogen, vormittags war Probe, abends stand
ich auf der Bühne“, erzählt die Sängerin. Aller Hektik zum Trotz wurde es eine tolle Aufführung,
und Stuttgart warb Bielefeld kurzerhand seinen Sopranstar ab.
Vier Jahre Opernprovinz waren für die 1968 in Armeniens Hauptstadt Eriwan geborene
Künstlerin Teststrecke und Verwöhnprogramm zugleich. An einer größeren Bühne hätte sie
kaum Gelegenheit gehabt, so verschiedene Partien wie die Figaro-Gräfin, Senta, Jenufa,
Desdemona und Agathe zu singen. Im Sommer 2002 hat Karine Babajanian sogar Bellinis
Norma ausprobiert – an der südenglischen, von Liebhabern organisierten Dorset Opera, wo es
„richtig gemütlich“ gewesen sei. Überall schlossen Publikum und Presse die Sängerin ins Herz.
Lobeshymnen wie „vollendetes Puccini-Glück“ oder „Gesangsmagierin“ wollen nun am neuen
Wohn- und Arbeitsort Stuttgart ersungen sein. Dazu will die Sopranistin ihr ungewöhnlich breites
Repertoire ein wenig umsortieren. „Ich werde mich noch mehr auf das italienische Fach
konzentrieren“, sagt Babajanian und überrascht mit einer erfrischend ehrlichen Begründung:
„Damit habe ich bisher den größten Erfolg gehabt.“
Ihre von den Kritikern besonders gelobte Koloraturtechnik war Karine Babajanian zunächst eher
fremd. „Als ich mit dem Studium angefangen habe, konnte ich nur schöne große Töne singen“,
erinnert sie sich. Ihre Lehrerin an der Hochschule in Eriwan habe ihr die stimmliche
Beweglichkeit beigebracht: „Das war harte Arbeit!“ Jetzt beherrscht sie Koloratur, lyrische
Geschmeidigkeit und dramatische Attacke. Beste Voraussetzungen also für Erfolge von Mozart
über den Belcanto und Verdi bis zur veristischen Oper, zumal die Sängerin dem stimmlichen
Material eine sehr attraktive äußere Erscheinung mitgeben kann.
Ihre Heimatstadt Eriwan, rund doppelt so groß wie Stuttgart, verfügt trotz aller wirtschaftlichen
Probleme über ein breit gefächertes Kulturleben. „Wir haben mehrere Orchester, eine Oper, ein
Operettentheater, und alles auf hohem Niveau“, erzählt Karine Babajanian. Schon während ihrer
Ausbildung stand sie auf der Bühne der Armenischen Staatsoper und sang dort große Partien wie
Santuzza und Desdemona.
Nach Deutschland kam sie 1998 für ein kleineres Konzert in Hamburg und hörte dort beim
ersten Tag eines Gesangswettbewerbs zu. Zufällig lauschte eine Organisatorin an der Tür des
Übungsraums, als Karine Babajanian mit einer Landsmännin nur zum Spaß ein Duett sang. Über
Nacht fand sie sich selbst im Wettbewerb wieder - „zum Glück konnte ich die Pflichtstücke
schon“, lacht sie. Auch eine Agentur wurde in Hamburg auf sie aufmerksam und vermittelte das
Engagement nach Koblenz. Erst in dieser Zeit begann Karine Babajanian, Deutsch zu lernen –
heute beherrscht sie die schwere Sprache sehr gut und wundert sich im Nachhinein, dass sie im
Studium schon so viele deutsche Lieder lernen konnte.
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Am kommenden Samstag steht in Stuttgart die Premiere von Martin y Solers „Una cosa rara“ an,
in der Karine Babajanian die Isabella singt – laut Mitteilung der Operndramaturgie „eine
erfolgreiche Powerfrau“ und damit nicht weit vom Charakter der Darstellerin entfernt. Wie vielen
anderen Opernfreunden war der Sängerin dieses Werk nur in Form eines kurzen Zitats in
Mozarts „Don Giovanni“ bekannt gewesen. Bei Probenbeginn war sie ebenso wie ihre Partner
auf der Bühne skeptisch – „wir dachten, es ist eben doch kein Mozart“, erzählt sie. „Aber
inzwischen lieben wir alle das Stück“, fügt sie an. Regisseur Jossi Wieler und Dirigent Enrique
Mazzola scheinen auch das neue Ensemblemitglied von dem versunkenen Opernschatz
überzeugt zu haben: „Sie machen das Werk lebendig“, freut sie sich.
In dieser Spielzeit stehen noch Elvira, Mimi und Gräfin auf Karine Babajanians Programm. Rund
30 Abende in Stuttgart sollen es werden, ein paar mehr als ursprünglich geplant. Dennoch zieht
die Sängerin die feste Bindung an ein Ensemble der Freiberuflichkeit vor. „Als Gast kann man
auch nicht alles machen, was man will“, urteilt sie und freut sich, dass ihr die Stuttgarter Oper
Auftritte an anderen Häusern wie Essen, Hannover und wieder Bielefeld ermöglicht. An diesem
Ort ihrer bisher größten Erfolge will Karine Babjanian einmal pro Saison eine große Partie
erarbeiten und ausprobieren – in dieser Spielzeit wird es die Amelia in Verdis „Maskenball“ sein.
Wagemutig war die Sopranistin auch bei der Wohnungssuche in Stuttgart. Sehr optimistisch gab
sie eine Anzeige mit der Titelzeile „Sänger-Ehepaar sucht Wohnung“ auf und erhielt prompt das
Angebot eines opernbegeisterten Vermieters. Jetzt ist der Stuttgarter Westen auch für ihren in
Dortmund engagierten Ehemann und die elfjährige Tochter eine neue Heimat. „Mehr als West,
Ost und Mitte kenne ich aber noch nicht“, bedauert Karine Babajanian. Vielleicht hat sie nach
der Premiere etwas Zeit, die Stadt über Theater und Probebühne hinaus zu erkunden. Dem
immer mal wieder auftauchenden Heimweh nach Armenien werden aber auch die Schönheiten
der Schwabenmetropole sicher nicht völlig abhelfen. Jeden Sommer fährt die Sängerin in ihre
Heimat, nur dieses Jahr hat es wegen des Umzugs nach Stuttgart nicht geklappt. „Ich habe noch
immer viele Kontakte nach Armenien“, erzählt Karine Babajanian, und ihre großen dunklen
Augen strahlen: „Sie warten dort auf mich!“
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Programmheft- und Magazinbeiträge
Ansichten von Modernität oder Was macht man mit der Sonate?
Zum Debütkonzert von Boris Giltburg beim Lucerne Festival (Programmheftbeitrag, Konzert
am 01.09.2009)
„Er kann meine Sachen einfach nicht in Ruhe lassen“, soll Frédéric Chopin über die
Interpretationen seiner Stücke durch Franz Liszt gesagt haben. Liszt legte seiner musikalischen
Fantasie auch als Pianist keine Zügel an und ergänzte die Klavierwerke des rund ein Jahr Älteren
durch persönliche Zutaten. Das Paris der 1830er-Jahre bot beiden viel Raum – die französische
Hauptstadt, geprägt durch die in ihren vielfältigen Auswirkungen gern unterschätzte
Julirevolution von 1830, war die größte Plattform für die Musik und Musiker jener Zeit. Nun war
zwar Frédéric Chopin, der kaum große öffentliche Konzerte spielte, als Virtuose keine
Konkurrenz für Liszt. Der ehrgeizige Ungar betrachtete vor allem Sigismund Thalberg (18121871) als Rivalen und eilte beispielsweise 1836 von Genf nach Paris, um in einem eigens
angesetzten Konzert seine Überlegenheit zu beweisen. Allerdings war die einige Jahre zuvor
begonnene Freundschaft zwischen Liszt und Chopin nicht völlig frei von Konkurrenzdenken.
Liszt, der auch als Komponist und Dirigent große Räder schwang, äußerte sich mit kaum
verdeckter Herablassung darüber, dass Chopin „nur“ für das Klavier komponierte und die
sinfonisch geprägten Großformen nicht bediente. Dies mag zu der Einschätzung von Frédéric
Chopin als „Salonkomponisten“ beigetragen haben, der eigentlich bis heute etwas
Deklassierendes anhaftet. Dabei wird negiert, dass der Pariser Salon kein Kaffeekränzchen mit
musikalischer Untermalung war, sondern eine kulturelle Institution, in der sich musikalische
Karrieren ohne Einbuße an vermeintlich „öffentlicher“ Wirkung manifestierten – zumal ein
Salon durchaus Ausmaße und Bedeutung eines mittleren Konzertsaales annehmen konnte.
Chopin und Liszt beendeten ihre Karrieren als Klaviervirtuosen jeweils zu der Zeit, in der ihre im
heutigen Konzert gespielten Werke entstanden: Chopin, um sich auch aus Scheu vor großen
Menschenmengen auf den Salon zu beschränken; Liszt, um sich konzentriert der
Kompositionstätigkeit und auch der Arbeit als Dirigent zuzuwenden. Für die Klaviermusik
insgesamt hatten beide eine ähnlich große Bedeutung wie vor ihnen Ludwig van Beethoven und
mit ihnen Robert Schumann, wobei Chopin die lyrischen, innigen Nuancen ausbaute und Liszt
die großen, pathetischen Töne. Dass Franz Liszt – vermittelt durch seinen Lehrer Carl Czerny –
ein „Enkelschüler“ Beethovens war und als rühriger Pädagoge selbst wiederum viele „Urenkel“
ausbildete, markiert Verbindung und Abgrenzung zugleich. Letztere drückt sich auch durch die
Abkehr von der Klaviersonate als Standardgattung aus, die bei Liszt ebenso wie bei Chopin keine
zentrale Bedeutung mehr hat. Dass Sergej Prokofjew rund ein Jahrhundert später die zwar nie
ganz versunkene, aber doch bedeutungsarm gewordene Gattung der Klaviersonate wieder
aufnahm, deutet auf die äußerst reizvolle Dialektik zwischen Tradition und Innovation, die ein
anonymer Rezensent der Allgemeinen Musikalischen Zeitung schon 1811 – Beethovens
„Appassionata“ war damals einige Jahre alt, Chopin und Liszt kaum in Kinderschuhen –
hellsichtig beschrieben hatte: „Uebrigens ist es recht sehr zu loben, dass manche unserer
denkenden Componisten Auswege suchen, die gemeyne Sonatenform zu verlassen. Es lässt sich
freilich auch in verbrauchten Formen etwas Gutes sagen: aber weniger anziehend ist es doch, und
auch gute Köpfe werden dadurch leicht, wenigstens hin und wieder, in einen gewissen bequemen
Schlendrian verlockt.“
Davon kann in Beethovens f-Moll-Sonate op. 57, die ihren Beinamen „Appassionata“ erst 1838
durch einen Verleger erhielt, allerdings keine Rede sein. Das Werk, dem fünf Jahre lang keine
Klaviersonaten in Beethovens Oeuvre folgen sollten, hat für die seinerzeit nicht mehr
unumstrittene Gattung einen hohen Stellenwert. Mit seiner schieren Größe in Ausmaß und
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Ausdruck fordert es auch für die adäquate Darstellung einen großen Rahmen, also den
Konzertsaal, die „Institution Klavierabend“, die zu Beethovens Zeit keineswegs ein
selbstverständlicher Bestandteil des sich erst bildenden bürgerlichen Konzertbetriebs war. Alle
musikalischen Parameter spannt Beethoven hier auf das Äußerste an: Die Harmonik wird immer
wieder verwischt und festigt sich kaum; die musikalische Thematik ist einerseits durch ein das
ganze Werk durchziehendes Motiv verklammert, lässt sich andererseits aber nicht mehr in
Hierarchien wie „Hauptthema und Begleitung“ oder „Einleitung und Hauptteil“ gliedern. Höchst
innovativ ist Beethovens Behandlung der Reprise (ohnehin ein der Sonatenform eingeborenes
Problem) im ersten Satz, wo er das Hauptthema in stark veränderter Anmutung wiederkehren
lässt und der Coda neuartiges formales Gewicht zuspricht. Die zunächst überraschende Idylle des
Mittelsatzes wird durch den unvermittelt hereinbrechenden, dämonischen Furor des Finales
zerstört, das zwar erneut die Sonatenform aufscheinen lässt, ihr jedoch kaum noch zu zügelnde
Sprengkraft einverleibt.
Für Franz Liszt war das Sprengen, oder besser: das Überwinden traditioneller Formen nichts
Ungewöhnliches. Gerade in seiner Weimarer Zeit ab 1848 zeigte er sich neben der
Dirigententätigkeit auch als Komponist höchst kreativ und schuf unter anderem die zwölf
sinfonischen Dichtungen, die historisch betrachtet seine größte Leistung sind, sowie die Faustund die Dante-Sinfonie. Nicht nur mit diesen Werken bereitete Liszt die großen Umwälzungen
des 20. Jahrhunderts vor, auch seine Klaviermusik ist innovativ vor allem in ihrer von
außermusikalischen Parametern beeinflussten und orchestralen Wirkungen sich annähernden
Klanglichkeit. Unter dieser Perspektive ist „La leggierezza“ ein untypisches, eher gefälliges Stück.
Es entstand 1848 als mittlere von drei „Études de concert“ (auch „Caprices poétiques“) und zeigt
in seiner brillanten Geläufigkeit mit chromatischen Einsprengseln eine sicher nicht zufällige
Ähnlichkeit mit Frédéric Chopins Etuden.
Als musikalische Komposition an sich ist auch Chopins g-Moll-Ballade wenig spektakulär. Als
instrumentale Form war die Ballade jedoch bis dahin nicht gebräuchlich, und Chopin kann
durchaus als ihr „Erfinder“ gelten. Er ließ sich hier – was eher selten geschah – von literarischen
Vorlagen aus seiner polnischen Heimat inspirieren, im konkreten Fall wohl von einem litauischen
Heldengedicht, dessen Einfluss aber eher allgemein bleibt und das nicht etwa vom Klavier
nacherzählt wird. Das rund achtminütige Werk beginnt mit einer düsteren Largo-Einleitung, um
sodann das „Sonatenproblem“ musikalisch zu thematisieren. Auffallend ist, nach einer durchaus
traditionellen Behandlung von Haupt- und Seitenthema, die Aufwertung der Coda gegenüber der
Durchführung und damit eben jene Umgewichtung der Formteile, die sich schon in Beethovens
„Appassionata“ manifestierte.
Das umfangreiche Oeuvre von Sergej Prokofjew wird von Klaviersonaten umrahmt. Als 18Jähriger hatte der Komponist eine solche (sein op. 1) komponiert, und er hinterließ bei seinem
Tode im Jahre 1953 sowohl Fragmente einer zehnten als auch Pläne für eine elfte Klaviersonate.
In dieser Konsequenz steht Prokofjew als „Sonatenkomponist“ in seiner Zeit allein da –
insbesondere die gesellschaftlichen Veränderungen nach 1918 riefen in vielen Komponisten eine
antibürgerliche Haltung hervor, und das Klavierstück, gar die Sonate, galten unter diesem
Blickwinkel als überholt. „Nimm keine Rücksichten auf das, was du in der Klavierstunde gelernt
hast“, instruierte Paul Hindemith den potenziellen Spieler seiner „Suite 1922“, und man darf dies
wohl auch im übertragenen Sinne, als Spitze gegen das „bürgerliche“ Komponieren für Klavier
werten. Man kann Sergej Prokofjew, der selbst ein namhafter und virtuoser Pianist war, allerdings
nicht wegen seiner Klaviersonaten als Konservativen abstempeln. Sein Biograf Thomas
Schipperges unterstreicht: „Früh und durchaus neben der Exaltiertheit seines aphoristischen
Klavierstils erschien dem Komponisten (…) auch die Rezeption der Klassiker als eine
Möglichkeit des Abweichens von romantisch ausgetretenen Bahnen“. Offenbar hat Prokofjew
die Sonatenform als geeignetes Gefäß für seine spezielle stilistische „clarté“ empfunden, die zwar
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tonale, rhythmische und dynamische Härten ganz und gar nicht ausschließt, sich aber von der
verfeinerten Überhitzung der Jahrhundertwende lossagt. So sind die neun vollendeten
Klaviersonaten von sehr unterschiedlichem Charakter, als habe der Komponist bei jedem dieser
Werke bestimmte Aspekte der Tonkunst bearbeiten wollen. Die Trias der „Kriegssonaten“ (Nr. 5
bis 8), die Prokofjew 1939 – nach über eineinhalb Jahrzehnten Pause in dieser Gattung – begann
und die er parallel bis 1944 komponierte, kann man als Triptychon ansehen, ohne dass ihnen eine
musikalische Verwandtschaft eingeschrieben wäre. Die Kriegsjahre ab 1941 wirkten auf die
ursprünglichen Pläne zur B-Dur-Sonate op. 84 ein, beeinflussten den Kompositionsprozess und
dessen Ergebnis. Man kann in den drei Sätzen – ursprünglich sollten es vier werden – durchaus
eine „Biografie“ heraushören, aber markanter ist doch die musikalische Meisterschaft als solche.
Das Werk beginnt ungewöhnlich, mit einem langsamen Eingangssatz, der zeitweilig große Wucht
entfaltet, jedoch im Pianissimo endet. Das musikalische Material ist mit der gleichzeitig
entstandenen Oper „Krieg und Frieden“ verwandt. In den zweiten Satz, der ein Menuett
vorspiegelt, bricht das Finale plötzlich und kraftvoll ein; ein vitales Rondo, das episodenhaft
sowohl lyrische Passagen als auch die für Prokofjew so charakteristischen perkussiven Elemente
umfasst.
„Mein einziger Ehrgeiz als Musiker war und wäre, meinen Speer in die grenzenlosen Räume der
Zukunft zu schleudern“, schrieb Franz Liszt 1874 an seine vormalige Lebensgefährtin, die
Fürstin Sayn-Wittgenstein. Dass in diesen grenzenlosen Räumen auch der Rekurs auf nur
vermeintlich „alte“ Formen möglich ist, ohne den bereits etablierten Fortschritt zu verraten, hat
Sergej Prokofjew in feiner Dialektik gerade mit seinen Klaviersonaten bewiesen. Er befindet sich
damit nahe am feinsinnigen Modernitätsbegriff von Charles Baudelaire, den dieser 1863 in
seinem Essay „Le peintre de la vie moderne“ folgendermaßen pointierte: „La modernité, c’est le
transitoire, le fugitif, la moitié de l’art, dont l’autre moitié est l’éternel et l’immuable” - Die
Modernität ist das Vergängliche, das Flüchtige, die eine Hälfte der Kunst, deren andere Hälfte das
Ewige und Unwandelbare ist.
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Felix Mendelssohn Bartholdy – das doppelte Problem
I
Vor rund 30 Jahren betitelte Carl Dahlhaus ein Symposium in Berlin mit „Das Problem
Mendelssohn“. Allerdings zielte der Musikwissenschaftler mit dieser seither gern zitierten
Formulierung nicht auf die heikle Rezeptionsgeschichte. Im Gegenteil: Das Symposium sollte die
„primär biografisch ausgerichtete“ Mendelssohn-Forschung auf die Werkinterpretation
ausrichten. Eine zwiespältige Sache: Einerseits mag die biografische Betrachtung den Blick auf
die musikgeschichtliche Stellung von Mendelssohns Werken zeitweise verdeckt haben,
andererseits sind gerade bei diesem Komponisten sachliche und persönliche Wertungen eng
verknüpft, und das bis heute.
Mendelssohns Musik berührt allerdings auch ein immerwährendes Problem der
Musikwissenschaft: die Abgrenzung von Klassik und Romantik. Schon unmittelbar nach dem
Tode des Komponisten, im November 1847, markierte G. Kühne in der Zeitschrift Europa
dieses Thema: „Mendelssohn war der letzte Träger der classischen Nüance in der romantischen
Richtung der Musik.“ Robert Schumann, der Mendelssohn bewunderte und sehr persönlich
gehaltene Aufzeichnungen über ihn verfasste, hat den Kollegen als „Mozart des 19.
Jahrhunderts“ bezeichnet. Später gebrauchte man häufig den Begriff „Klassizist“ oder
„klassizistischer Romantiker“. Aber Mendelssohn und Schumann waren immerhin Zeitgenossen
von Wagner, Liszt und Verdi, die niemand als Klassiker oder Klassizisten bezeichnen würde.
Mendelssohns früher Tod mit Mitte 30 und Schumanns verfallende Schöpferkraft verhinderten
indessen, dass sich die beiden Komponisten den musikalischen Neuerungen anschlossen, die im
Gefolge der bürgerlichen Revolution von 1848 aufkamen. Mendelssohn war Bewahrer und
Erneuerer zugleich. Sein Verhältnis zur Tradition ist von Respekt und Kreativität gekennzeichnet.
1830 schrieb er an Carl Friedrich Zelter: „Freilich kann mir niemand verwehren, mich dessen zu
erfreuen und an dem weiter zu arbeiten, was mir die großen Meister hinterlassen haben, denn von
vorne soll wohl nicht jeder wieder anfangen aber es soll auch ein Weiterarbeiten nach Kräften
sein, nicht ein totes Wiederholen des schon Vorhandenen.“
Carl Dahlhaus hat dargestellt, dass dieser Umgang mit der musikalischen Tradition auf
Mendelssohns Kompositionen unterschiedlich gewirkt hat: „Dass Mendelssohn in der
Vokalmusik eine Pietät gegenüber der ferneren Vergangenheit wahrte, an die er sich in der
Instrumentalmusik nicht gebunden fühlte, bedeutet, dass er Klassizist war, ohne Epigone zu
sein.“ Zwar seien Bach und Händel Fixpunkte für Mendelssohns große Oratorien gewesen,
Beethoven jedoch habe sich für die Sinfonik nicht als „Klassiker“ geeignet. So wurden (und
werden) Mendelssohns fünf reife Sinfonien, denen zwölf jugendliche Streichersinfonien
vorausgegangen waren, von Musikhistorikern nicht selten als Randerscheinungen abgetan.
Allerdings hat Mendelssohn, wie viel später noch Brahms, tatsächlich mit Idee und Anspruch der
sinfonischen Form gekämpft. Die frühen Streichersinfonien ließ er nie drucken, und weder mit
der 1830 komponierten „Reformationssinfonie“ noch mit der 1833 abgeschlossen „Italienischen“
war der Komponist zufrieden.
Reizvoll ist es, über die Bedeutung von Mendelssohns Instrumentalwerken für die Entwicklung
der Programmmusik nachzudenken. Besonders die 1832 uraufgeführten Ouvertüren
„Meeresstille und glückliche Fahrt“ und „Die Hebriden“, die von einer literarischen Erzählung
oder einem Bühnenwerk unabhängig sind, öffneten neue Perspektiven: „Hätte Mendelssohn
seinen einsätzigen Orchesterwerken den glücklichen Titel 'Sinfonische Dichtung' gegeben, den
Liszt später erfunden hat, so würde er heute wahrscheinlich als Schöpfer der Programmmusik
gefeiert und hätte seinen Platz am Anfang der neuen statt am Ende der alten Periode unserer
Kunst. Er hieße dann der 'erste Moderne' an statt der 'letzte Klassiker'“, schrieb Felix
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Weingartner schon 1898. Auch waren die „Italienische“ und die „Schottische“ Sinfonie als
bruchlose Verbindung von nationalromantischem Liedgut und streng sinfonischen
Formprinzipien eine durchaus „neue Lösung“ (Wolfram Steinbeck). Und in der 1840
uraufgeführten, von Beethovens Neunter beeinflussten Kantaten-Sinfonie „Lobgesang“
entdeckte schon Schumann etwas, das „im Symphonistischen noch nicht versucht ist, daß sich
die drei Orchestersätze ohne Pausen aneinander schließen.“ Was Mendelssohns Zeitgenosse als
„glücklich“ bezeichnete, hat Rainer Riehn 1980 als ein „Verfahren der konstruktiven
Konstruktion größter Zusammenhänge“ herausgestellt, „das in ausgezeichneten Momenten der
späteren Musikgeschichte zum Vehikel des kompositorischen Fortschritts par excellence werden
sollte: der Verklammerung der hergebrachten Sätze der zyklischen Form zu einem einzigen
übergeordneten Sonatensatz“ – Mendelssohn, the Progressive, sozusagen.
II
In seiner zum Landesjubiläum 2002 erschienenen „Geschichte von Baden und Württemberg“
schreibt Thomas Schnabel im Zusammenhang mit der kulturellen Gleichschaltung: „Auch der
Romantiker Felix Mendelssohn Bartholdy verschwand als Jude 1933 sofort aus den
Konzertprogrammen.“ Ein Marburger Professor erwähnt Mendelssohn in einer
Seminarbeschreibung im Internet als „den zum Christentum konvertierten Juden“. Weitere
Beispiele sind unschwer zu finden – allesamt harmlos und wohlwollend, aber falsch.
Felix’ Großvater Moses Mendelssohn (1729-1786), Ikone der Aufklärung und zentrale Figur des
Berliner Geisteslebens, hatte sich noch ganz der religiösen Versöhnung und jüdischen
Emanzipation verschrieben. Doch nur zwei seiner sechs Kinder blieben Juden, die anderen
wurden Christen. Darunter war auch der Vater von Felix, Abraham Mendelssohn (1776-1835),
der selbst erst 1822 konvertierte, seine vier Kinder aber protestantisch erziehen ließ. 1816 wurde
auch Felix getauft. Den Namen Bartholdy nahm Abraham auf Drängen seines Schwagers an und
warf seinem Sohn später vor, den Zusatz ungebührlich zu vernachlässigen. Der Vater bestand auf
Bartholdy als wichtigstem Namensbestandteil: „Du kannst und darfst nicht Felix Mendelssohn
heißen. Felix Mendelssohn-Bartholdy ist zu lang, und kann kein täglicher Gebrauchsname seyn,
du mußt dich also Felix Bartholdy nennen weil der Name ein Kleid ist, und dieses der Zeit, dem
Bedürfniß, dem Stande angemessen seyn muß, wenn es nicht hinderlich sein soll.“ Und er setzt
fort: „Einen christlichen Mendelssohn gibt es so wenig als einen jüdischen Confucius. Heißt du
Mendelssohn so bist du eo ipso ein Jude, und das taugt dir nichts, schon weil es nicht wahr ist.“
Mendelssohns jüdische Herkunft war seiner Karriere nur selten hinderlich. Dieses Problem schuf
sich erst die Nachwelt: „Mendelssohn ist von den großen Komponisten des 19. Jahrhunderts der
einzige, dessen Einschätzung durch die Nachwelt eine fortwährend schwankende Kurve
zwischen völliger Ablehnung und hoher Bewunderung durchlaufen hat“ (Eric Werner). Dies hat
damit zu tun, dass sich das neue nationale Gedankengut zunächst nicht mit religiösen Fragen
verknüpfte: „Interessanterweise blieb das im Fahrwasser des Wiener Kongresses rasch um sich
greifende bürgerliche Nationalbewusstsein in Deutschland mit seinen zahlreichen, einander nicht
immer gut gesinnten politischen Einheiten vorläufig im großen und ganzen unberührt von
kulturellem Chauvinismus“ (Alexander Ringer). Erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
wurde es „Mode, die Juden nicht mehr nur als Angehörige einer anderen Religion, sondern als
Glieder einer anderen Nation und schließlich einer anderen Rasse zu bezeichnen“ (Karl-Heinz
Köhler).
Wir wissen, wohin das führte. Begonnen hat es mit Richard Wagners Aufsatz „Das Judentum in
der Musik“. Dort steht, 1850 erschienen: „Dieser [gemeint ist Mendelssohn, d.Red.] hat uns
gezeigt, daß ein Jude von reichster spezifischer Talentfülle sein, die feinste und mannigfache
Bildung, das gesteigertste zartempfindende Ehrgefühl besitzen kann, ohne durch die Hilfe aller
22
dieser Vorzüge es je ermöglichen zu können, auch nur ein einziges Mal die Tiefe, Herz und Seele
ergreifende Wirkung auf uns hervorzubringen, welche wir von der Kunst erwarten.“ Mit anderen
Worten: Deutsche, und deshalb tiefgründige, Musik konnte Felix Mendelssohn Bartholdy nicht
schreiben.
Das wirkte - und wirkt bis heute, wenn die Vorurteile über Mendelssohns vermeintlich „glatte“
und „oberflächliche“ Musik der Feder allzu rasch entfließen oder seine geistlichen
Kompositionen von ernsthaften Schreibern gar mit süßem Backwerk verglichen werden. Carl
Dahlhaus, der das „Problem“ Mendelssohn ausschließlich musikalisch verstanden wissen wollte,
ließ es Anfang der 70-er Jahre zu, dass sein Kollege Friedrich Krummacher in seinem Beitrag
über die Bühnenmusik zu Shakespeares „Sommernachtstraum“ zwar die Komposition Carl Orffs
zum selben Theaterstück erwähnt und Orffs polemische Bemerkungen zur Musik Mendelssohns
streift. Allerdings verschweigt der Musikwissenschaftler, dass Orff (nach einer Weigerung von
Hans Pfitzner) 1938 den Auftrag der Stadt Frankfurt erhielt, eine „Sommernachtstraum“-Musik
als rassisch unbedenklichen Mendelssohn-Ersatz zu komponieren, wofür er sich „mit ergebenen
Grüßen, heil Hitler“ überschwänglich bedankte.
Was Mendelssohns geistliche Werke angeht, hat Joachim Martini herausgearbeitet, dass 1933 nur
der Abschluss einer Entwicklung war: „Hier haben allerdings schon seit den frühen zwanziger
Jahren die Polemiker unter den Vertretern der Kirchenmusik- und Orgelbewegung dem Boden
einen nationalen Humus beigemischt. (…) An ihrer unreflektierten Hinwendung zu den sterilen
musikalischen Vorstellungen der Jugendmusikbewegung und an der Adaption ihrer Denkweise
hat die protestantische Kirchenmusik bis zum heutigen Tage zu tragen.“ Musikhistorische
Veröffentlichungen während des Dritten Reichs verunglimpften Mendelssohn als „Begründer des
Sammelsurium-Stils“ oder verweigerten als Verfasser einer „deutschen Musikgeschichte“
überhaupt die Beschäftigung mit seiner Musik. Die Freundschaft mit Schumann wurde verwischt,
die Verdienste um Bach geleugnet.
Ein halbes Jahrhundert später, Anfang der 90-er Jahre, veröffentlichte Hans Heinrich Eggebrecht
ein Buch über die „Musik im Abendland“. Mendelssohn wird darin nur in drei Nebensätzen
erwähnt. Ein fundiertes Werkverzeichnis gibt es bis heute nicht. Die Wiederentdeckung und
Neubewertung Felix Mendelssohn Bartholdys ist bis auf weiteres mehr Versprechen als
Erfüllung. 1959 begann die Arbeit an einer kritischen Gesamtausgabe, intensiviert wurde sie ab
1992 – ein wahrhaftes Jahrhundertwerk, denn erst 2047 soll die Ausgabe abgeschlossen sein.
23
Dieser Klang, dieser überirdische Klang!
Der Klarinette zum 300. Geburtstag - Beitrag für das Magazin der Berliner Philharmoniker
(Ausgabe September/Oktober)
Ein Geburtstagsgruß an die Klarinette ist überfällig, eine Ehrung für ein Instrument, das
rätselhaft klingen kann und dunkel, überirdisch schön und – wenn es der Komponist will und der
Spieler mittut – auch mal ordinär. Drei Jahrhunderte liegt ihre Erfindung zurück. Zwar wäre die
Musikologie keine Wissenschaft, wenn Geburtstag und Ursprung der Klarinette keinen
Diskussionsgegenstand bildeten. Aber auch wenn die Enzyklopädie „Musik in Geschichte und
Gegenwart“ die Erfindung der Klarinette durch den Nürnberger Instrumentenbauer Johann
Christian Denner um 1700 als „nicht völlig gesichert“ in Frage stellt – für hier und heute legen
wir fest: Die Klarinette wird 300. Denn wie sonst sollten wir ihr einen würdigen Geburtstagsgruß
entbieten?
Denner hatte lange mit dem Chalumeau experimentiert, einem einfachen Hirteninstrument, im
Deutschen noch heute trotz der möglichen Verwechslung mit einem späteren
Blechblasinstrument Schalmei genannt. Er fügte den wenigen Naturtönen, die dieses Chalumeau
produzieren konnte, die Möglichkeit des Überblasens in eine höhere Tonlage hinzu – und zwar
durch zunächst zwei zusätzliche Löcher, die so genannten Klappen, deren Anzahl spätere
Instrumentenbauer im Laufe der folgenden Jahrhunderte immer weiter erhöhten. Schnell
verbreitete sich das neue Instrument, das ursprünglich nur die besonders schwer zu blasenden
hohen Trompeten (Clarini) ersetzen sollte. Das berühmte Mannheimer Orchester hatte um 1780
zwei Vollzeitklarinettisten auf seiner Gehaltsliste, und ein Jahrzehnt später komponierte Mozart
sein wunderbares, seinerzeit kaum spielbares Klarinettenkonzert für den Freund Anton Stadler.
Dass eine Klarinette am besten klingt, wenn sie leise im Ofen knistert, ist ein typischer
Musikerwitz, der übrigens auch in einer Variation für Oboe kursiert. Gerade die Klarinette ist
klanglich und technisch besonders vielseitig, bewältigt locker vielerlei Artikulationsvarianten und
verfügt über dynamische Möglichkeiten vom Unhörbaren bis zum schmerzhaft Lauten. Der
faszinierende Klang der Klarinette hat viele unserer heutigen Virtuosen von Anfang an
beeindruckt. Ein Student der Musikhochschule in Trossingen habe mit einem Klangbeispiel auf
Tonband seine Begeisterung geweckt, erzählt Walter Seyfarth, einer der fünf Klarinettisten der
Berliner Philharmoniker. Da war er zwölf und damit just in dem Alter, in dem man die gängige,
gut 70 cm lange A- oder B-Klarinette greifen kann. Jörg Widmann, als Klarinettist und
Komponist gleichermaßen ein Star der aktuellen Musikszene, ließ sich vom „ungreifbaren Klang“
der Klarinette sogar schon mit sieben Jahren einfangen: „Von da an stand fest: Das wollte ich
lernen.“
Gelernt haben der kleine Jörg und der nicht mehr ganz so kleine Walter natürlich das „deutsche
System.“ Damit berühren wir ein Problem von historischer Tragweite, wenngleich Spieler wie
Widmann, Seyfarth und auch Karl-Heinz Steffens, Solo-Klarinettist der Berliner Philharmoniker,
damit ganz pragmatisch umgehen. „Natürlich bin ich mit dem deutschen Klangideal groß
geworden“, sagt Steffens, der als Zehnjähriger „wie so viele Kinder“ im Blasorchester seines
Heimatortes mit dem Instrument Bekanntschaft machte. Als Dozent an der Musikhochschule
oder auf Meisterkursen unterrichtet er indessen auch Studenten, die im so genannten
„französischen System“ zu Hause sind, und er hat damit ebenso wenig Probleme wie Jörg
Widmann, dessen Klarinettenklasse in Freiburg „ungefähr 50/50“ zusammengesetzt ist.
Es gibt nämlich in der Geschichte dieses bemerkenswerten Instruments eine Art Schisma – und
der religiöse Begriff ist hier gar nicht so fehl am Platze, denn die Auseinandersetzung um die
Frage, ob die „deutsche“ oder die „französische“ Schule die bessere oder gar einzig wahre sei,
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nahm zeitweise Merkmale eines Glaubenskrieges an. Der französische Klarinettentyp, der sich
außer in Deutschland und Österreich in der ganzen Welt durchgesetzt hat, wird „BoehmKlarinette“ genannt, obwohl der Instrumentenbauer Louis-Auguste Boehm nur ein Detail, die so
genannten Ringklappen, beisteuerte. Dieses Instrument geht vielmehr auf den Klarinettisten
Hyacinthe Eléonore Klosé (1808-80) zurück, während der deutsch-baltische Virtuose Iwan
Müller (1786-1854) eine Klarinette mit verbesserter Klappenmechanik entwickelte, an die
wiederum der Berliner Instrumentenbauer Oskar Oehler (1858-1936) anknüpfte.
Dabei sind die technischen Unterschiede zwischen Boehm- und Oehler-Klarinette gar nicht so
groß, wie der Streit um das „richtige“ Klangideal vermuten ließe. „Es geht dabei auch um Stilistik
und musikalisches Empfinden“, betont Karl-Heinz Steffens. Auf der dunkler klingenden OehlerKlarinette spielt man normalerweise ohne Vibrato, während die französische Schule mit ihrem
helleren Klang dieses Stilmittel akzeptiert. Schwierig wird es, wenn sich solche im Grunde
technischen Fragen in einer Komposition niederschlagen – Jörg Widmann stieß bei einem Werk
von Pierre Boulez auf dieses Problem: „Da konnte man manche Trillerketten auf einem
deutschen Instrument kaum spielen.“
Ein Klarinettist spielt im Laufe seiner Karriere eine ganze Reihe von Instrumenten, denn eine
einzelne Klarinette wird normalerweise nicht alt. Durch häufiges Spielen nutzt sich das
Instrument ab, vor allem kann die Bohrung des meist aus Grenadillholz bestehenden Körpers
durch den Speichelfluss beeinträchtigt werden. Sehr oft wechseln muss man in jedem Fall das
Blatt, das auf das Mundstück geschraubt oder gebunden wird und mit dem der Klarinettist den
Ton eigentlich erzeugt: Hier ist Spürsinn gefragt, sagt Walter Seyfarth, denn die Qualität des
Rohrholzes habe über die Jahre wegen der Umwelteinflüsse nachgelassen: „Das ist wie beim
Weinanbau, es gibt gute Jahrgänge und schlechte.“ Seyfarths ständiges Instrument stammt aus
dem Jahr 2000, aber seine Piccolo-Klarinette von 1979 spielt er bis heute. Jörg Widmann ist
„gerade in eine A-Klarinette verliebt“, während Karl-Heinz Steffens sein Verhältnis zum
Instrument betont nüchtern einschätzt: „Es ist nur die Basis dafür, gute Musik zu machen.“
Was wünschen die drei Herren der Klarinette zum Geburtstag? „Dass sie sich immer
weiterentwickelt, aber die Eigenheiten bleiben – wie in einer großen Familie“, sagt Steffens, und
Seyfarth sekundiert mit seiner Hoffnung auf viele Virtuosen mit ausdrücklicher „Hingabe an das
deutsche System.“ Jörg Widmann wünscht sich, dass sich niemand auf der Tradition ausruhen
möge „und wir die Komponisten ermutigen, weiter für die Klarinette zu schreiben.“ Seine
aktuelle Zusammenarbeit mit Wolfgang Rihm und Aribert Reimann sieht Widmann in einer Linie
mit den historischen Partnerschaften im Dienste des Instruments – Mozart mit Stadler, Weber
mit Baermann, Brahms mit Mühlfeld. Auch Walter Seyfarth wünscht sich „eine Vielfalt an neuen
Werken“ – also muss uns um das Engagement der Klarinettisten für das Neue offenbar nicht
bange sein.
25
Robert Schumanns Welt und Nachwelt
Beitrag für das Forum Bachakademie (August 2004)
Das Programm des diesjährigen Europäischen Musikfestes mit seiner Gegenüberstellung von
Felix Mendelssohn Bartholdy und Robert Schumann scheint, betrachtet man die zeitliche und
auch persönliche Nähe der beiden Komponisten, keine allzu starken Widersprüche aufzuwerfen.
Mendelssohn war nur ein Jahr älter als Schumann, sie lebten und arbeiteten parallel und zeitweise
sogar am gleichen Ort (Leipzig). Ihr Umgang beruhte auf gegenseitigem Respekt, auf
freundschaftlichem Interesse von Seiten Mendelssohns, auf Verehrung gar bei Schumann.
Mendelssohn, der fest im praktischen Musikleben stand, schon mit Mitte 20 als
Gewandhauskapellmeister in Leipzig erfolgreich war und bald sogar im Ausland als führende
Persönlichkeit des deutschen Musiklebens anerkannt wurde, führte Schumanns 1. und 2.
Symphonie erstmals auf und war dem Kollegen immer wieder behilflich. Schumann hingegen
bewunderte Mendelssohn, als gehöre der einer älteren Generation an; blickte zu ihm auf „wie zu
einem hohen Gebirge“, wiewohl seine Betrachtungen von Neid nicht frei waren („In ähnlichen
Verhältnissen wie er aufgewachsen, von Kindheit zur Musik bestimmt, würde ich Euch sammt
und sonders überflügeln – das fühle ich an der Energie meiner Empfindungen“). Einmal stichelte
er gar, Mendelssohn könne von ihm „einiges“ lernen. In der von ihm gegründeten Neuen
Zeitschrift für Musik spitzte Schumann seine Bewunderung aber geradezu archetypisch zu: „Er
ist der Mozart des 19. Jahrhunderts, der hellste Musiker, der die Widersprüche der Zeit am
klarsten durchschaut und zuerst versöhnt.“ Damit verdeutlichte er, dass „kaum ein anderer
Komponist des 19. Jahrhunderts (…) in seinen Voraussetzungen, in seiner Wirkung, in der
Rezeption seiner Werke so mit seiner Zeit – (…) der politischen und musikalischen Epoche
zwischen 1815 und 1848 – verwachsen (war) wie Mendelssohn“ (Wulf Konold). Und womöglich
markierte Schumann mit dieser Hommage an den fast spielerisch erfolgreichen Kollegen genau
das, was ihm fehlte, was er nicht erreichen konnte, und schließlich die Tatsache, dass er selbst
über seine Zeit hinausreichte.
Also doch Widersprüche, Kontraste. Zunächst rein äußerlich: Felix Mendelssohn Bartholdy war
ein Star seiner Zeit, und zwar als Komponist und Dirigent gleichermaßen. Robert Schumanns
Werke wurden in ihrer Bedeutung kaum erkannt, in der Praxis kämpfte er mit widrigen
Bedingungen und eigenen Unzulänglichkeiten, und nicht zuletzt wurde er in der Öffentlichkeit
nicht selten als eine Art Prinzgemahl der berühmten Klaviervirtuosin Clara Schumann
wahrgenommen, um die er – gegen deren Vater Friedrich Wieck, der ihn als Schwiegersohn
ablehnte – energisch gekämpft hatte. Während Mendelssohn von Anfang an auch für Orchester
komponierte und seine 1. Symphonie (der bereits zwölf Streichersymphonien vorausgegangen
waren) schon mit 16 vorstellte, tastete sich Schumann – wie später Brahms – nur langsam und
mühevoll, über einen ersten misslungenen Versuch 1832/33, an diese Königsdisziplin heran. Sein
Leben als Komponist lässt sich ungewöhnlich klar in Abschnitte teilen: In der offiziellen
Nummerierung findet sich bis zur Opuszahl 26 ausschließlich Klaviermusik, 1840 – in seinem
„Liederjahr“ – erweitert er sein Oeuvre auf die Singstimme, 1841 veröffentlicht er die 1.
Symphonie, die als Orchesterwerk noch eine Weile alleine steht, bis zwei Jahre später die erste
chorsymphonische Komposition „Das Paradies und die Peri“ folgt. Danach komponiert
Schumann zwar regelmäßig für große Besetzungen, im Gesamtwerk aber und in der Rezeption
durch die Nachwelt dominieren die Kammermusik und Lied.
Gerade Schumanns Symphonien zeigen jedoch, wie der Komponist im Gegensatz zu
Mendelssohn nicht in seine Zeit passte, und wie er auch nach seinem Tode 1856 der Musikwelt
als Orchesterkomponist lange fremd blieb. Die Tatsache, dass das Zukunftsträchtige dieser
Werke kaum erkannt wurde und sie meist nur Achtungserfolge erzielten, hat ihre Gründe wohl
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auch darin, dass Schumann von den „Neudeutschen“ wie Richard Wagner und Franz Liszt in
Sachen Fortschritt scheinbar „überflügelt“ wurde, wie Clara schon 1832 anmerkte, als Roberts
erster symphonischer Versuch im Gegensatz zur jugendlichen Symphonie des vier Jahre jüngeren
Wagner erfolglos blieb. Hinzu kommt, dass Schumanns frühes Klavierwerk gegen seine späteren
Orchesterkompositionen ausgespielt wurde, dass jene auch in biografischer Hinsicht einer
glücklicheren Zeit entstammen und außerdem von Claras Glanz als Pianistin profitierten,
während diese in latenter Verbindung zu der Geisteskrankheit stehen, die sich bereits in recht
frühen Jahren andeutete und nach und nach verstärkte.
Dieser Trugschluss betrifft insbesondere – und noch stärker als die Symphonien – jene
Orchester- und Chorkompositionen, die nach 1850 entstanden sind und später von der Witwe
Clara unter dem Einfluss wohlmeinender Freunde wie Johannes Brahms und Joseph Joachim
bewusst zurückgehalten wurden, darunter das 1853 komponierte Violinkonzert, das erst 1937
uraufgeführt werden konnte – übrigens mit medialer Ausschlachtung der „Sensation“ durch die
Nationalsozialisten, die Schumann als „deutschen“ Romantiker brauchten, nachdem sie
Mendelssohn aus dem Musikleben getilgt hatten. Aber auch die Symphonien, unter denen die
„Rheinische“ von 1850, wiewohl als dritte von vier nummeriert, die chronologisch letzte ist (die
4. Symphonie entstand vorher, wurde aber 1851 umgearbeitet und neu beziffert), gerieten in ihrer
Verbindung von traditioneller Viersätzigkeit und innovativer, weil satzübergreifender
thematischer Struktur unter die Räder der Musikpraxis.
Insbesondere Richard Wagner, der glaubte, Schumann habe mit dem symphonischen Anspruch
die Grenzen seines Könnens überschritten, hat das Urteil der Nachwelt über diese Werke stark
geprägt (interessanterweise nahm er hier eine ähnlich einflussreiche Position ein wie hinsichtlich
der Mendelssohn-Rezeption, wenn auch mit ganz anderer Stoßrichtung): „Schöne Akzente, doch
solche Leere“ ist nur ein Urteil – in diesem Fall über die „Rheinische“ -, das durch Cosima
Wagner überliefert ist. Besonders perfide, weil eine Art Opferrolle Schumanns konstruierend und
ihn gegen Mendelssohn gleich doppelt ausspielend, äußerte sich Wagner allerdings in seiner
fatalen Schrift „Das Judentum in der Musik“: „In Trägheit versank auch Robert Schumanns
Genius, als es ihn belästigte, dem geschäftig unruhigen jüdischen Geiste standzuhalten (…) So
verlor er unbewusst seine edle Freiheit, und nun erleben es seine alten, von ihm endlich gar
verleugneten Freunde, dass er als einer der Ihrigen von den Musikjuden uns im Triumphe
dahergeführt wird.“ In Wagners ideologischen Gefolge redete Friedrich Nietzsche dann Robert
Schumann als „deutsches Ereignis“ im Gegensatz zum Europäer Beethoven klein: „Schumann
mit seinem Geschmack, der im Grunde ein kleiner Geschmack war (nämlich ein gefährlicher,
unter Deutschen doppelt gefährlicher Hang zur stillen Lyrik und Trunkenboldigkeit des Gefühls),
beständig beiseite gehend, sich scheu verziehend und zurückziehend, ein edler Zärtling, der in
lauter anonymem Glück und Weh schwelgte, eine Art Mädchen.“ Schon bald darauf erkannte
Gustav Mahler, dass gerade „Wagners Irrtum und heftige Parteilichkeit bedauerlichen Schaden
angerichtet“ hatten, veränderte allerdings als Dirigent selbst die Instrumentation der Symphonien,
um die vermeintlichen Ungeschicklichkeiten Schumanns der Kritik zu entziehen.
Dabei war er nicht der Einzige: Der Dirigent Felix Weingartner (1863-1942), zeitweise Assistent
bei den Bayreuther Festspielen und Nachfolger Mahlers als Operndirektor in Wien, schrieb: „Die
Klage, dass Schumanns Symphonien in vielen Partien orchestral wirkungslos sind, ist allgemein
und berechtigt. Hier wird die Freude an diesen Werken durch den oft geradezu schlechten
Orchestersatz verdorben.“ Und rund ein Jahrhundert später brachte Pierre Boulez, auch er als
Komponist und Dirigent gleichermaßen aktiv, die vermeintliche Tatsache zwar in einen
Zusammenhang mit Schumanns Absichten, ohne sie indessen in Frage zu stellen: „Vergleicht
man das Orchester von Berlioz mit dem von Schumann, der sein Zeitgenosse war, so ist das wie
Tag und Nacht. Im einen Fall eine wunderbare instrumentale Vorstellungsgabe, im anderen Fall
etwas Mattes, Farbloses. Die Instrumentation bei Schumann entspricht natürlich dem, was er
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geben wollte, aber man fühlt doch, dass sein Denken auf diesem Gebiet nicht sehr fortgeschritten
war.“ (Sicher ist es nur ein Zufall, aber doch ein bemerkenswerter, dass Boulez dies just im Jahr
1976 äußerte, in dem er in Wagners Bayreuth einen sensationellen „Ring“ dirigierte.)
Die im Grunde gut gemeinten Retuschen verfestigten letztlich die Meinung, als
Orchesterkomponist sei Robert Schumann zweitklassig gewesen. Es ist seltsam: Während Lied,
Klavier- und Kammermusik seit ihrer Entstehung bruchlos als Meisterwerke anerkannt sind und
Erfolg im Konzertleben feiern, erlitten die „heiklen“ Bereiche von Schumanns Oeuvre –
Chormusik und symphonische Werke – gleichsam spiegelbildliche Schicksale. Gerieten einerseits
die im 19. Jahrhundert noch populären und oft gesungenen Chorstücke mit dem Rückgang des
Laienchorwesens nach und nach in Vergessenheit, wurde Schumann andererseits erst im späten
20. Jahrhundert als originärer Symphoniker und gleichzeitig Bindeglied zwischen Beethoven und
Brahms – und damit auch zu Bruckner und Mahler – wirklich begriffen.
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Flexibler Nachwuchs
Ein Besuch bei den Stuttgarter Hymnus-Chorknaben (Beitrag für das Journal des Europäischen
Musikfest Stuttgart)
In schönster Aussichtslage auf den Killesberg residieren sie, die Stuttgarter Hymnus-Chorknaben,
und zwar nicht etwa in einer ehemaligen Schule, sondern in einem Anfang der 70-er Jahre in
Auftrag gegebenen Neubau vom späteren Olympia- und Bundestagsarchitekten Guenter
Behnisch. Das zeigt Stolz und Selbstbewusstsein, und tatsächlich hat sich der Knabenchor,
dessen Träger die Evangelische Gesamtkirchengemeinde Stuttgart ist, seit seiner Gründung im
Jahr 1900 zum gefragten Ensemble entwickelt. In einem Internat, wie bei manchen anderen
Knabenchören, leben die rund 200 Jungen und jungen Männer (denn Tenöre und Bässe gibt es
auch) aber nicht. Zwei Mal in der Woche ist regelmäßig Probe, hin und wieder gibt es
Sondertermine, ansonsten wohnen die Hymnus-Knaben zu Hause, gehen auf verschiedene
Schulen und pflegen dort ihre Freundschaften.
»Manchmal wundern sich die Mitschüler schon«, gibt Franz zu, der gerade 14 geworden ist und
(noch) Sopran singt. Klassische Musik ist eben nicht unbedingt cool unter Jugendlichen, aber
davon lässt er sich nicht beirren. Franz hat schon als Kind mit dem Großvater gesungen, spielt
seit der 1. Klasse Posaune und wurde bei einem von Chorleiter Hanns-Friedrich Kunz
arrangierten Vorsingen in seiner Schule für die Hymnus-Chorknaben »entdeckt«.
Früher konnte es bei bis zu sechs Proben wöchentlich recht streng zugehen - heute achten die
Verantwortlichen darauf, dass auch der Spaß nicht zu kurz kommt. Während der Chorfreizeit,
von der die Knaben gerade mit großem Hallo zurückgekehrt sind, wurde Fußball gespielt oder
eine Nachtwanderung unternommen. Dennoch: Um einige Stunden Probe täglich kamen die
jungen Sänger nicht herum. Vorbereitet wurde u.a. der Gottesdienst am letzten Tag des
Europäischen Musikfests, bei dem die Hymnusianer die Bachkantate »Der Himmel lacht, die
Erde jubilieret« singen werden.
Wie Franz ist auch der 13-jährige Leonard seit 1998 dabei. Inzwischen sind sie »Oldies« und
gehören zum so genannten C-Chor, der die großen Konzerte und Gottesdienste gestaltet. Eher
hinter den Kulissen üben A- und B-Chor, in denen die Knirpse erst einmal an die musikalischen
Grundbegriffe herangeführt werden und einfacheres Repertoire lernen.
Das bisher größte Erlebnis im Knabenchor war für Franz und Leo eine 10-tägige SkandinavienTournee (auch deshalb unvergesslich, weil auf Franz' T-Shirt die Konzerttermine aufgedruckt
sind). Ein ganz anderes Abenteuer steht beiden in naher Zukunft bevor: »Ich komme schon nicht
mehr ganz so hoch wie früher« - so kündigt sich der Stimmbruch an, der zunächst einmal eine
Zwangspause nach sich zieht. Ob die beiden danach bei den Hymnus-Knaben als Tenor oder
Bass weitermachen wollen? »Klar!«, bestätigen sie unsisono. Und noch später, was dann? »Ein
Beruf mit Musik wäre schön«, sagt Franz. Leo ist nicht ganz so fest gelegt: »Vielleicht Richter.
Aber Hornist oder Dirigent wäre auch toll.« Ist doch sehr flexibel, unser musikalischer
Nachwuchs.
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Ein buntes Leben
Der SWR beim Musikfest - Beitrag für das Journal des Europäischen Musikfests Stuttgart am
03.09.2003
Wenn am kommenden Sonntag fünf Sendungen vom Europäischen Musikfest den »Festlichen
Radiosommer« beschließen, können Marlene Weber-Schäfer und Thomas Angelkorte,
Redakteurin und Tonmeister beim Südwestrundfunk, erst einmal aufatmen. Viel Arbeit liegt
hinter ihnen, denn auch für einen so großen Sender ist ein Festival wie dieses kein alltägliches
Projekt.
»Als erstes zerbrechen wir uns in der Redaktion den Kopf über die Auswahl«, erzählt Marlene
Weber-Schäfer. Eine Mischung von Schnipseln unter dem Titel »best of EMS« komme nicht in
Frage: »Wir wollen Thematik und Dramaturgie des Musikfests abbilden und ein möglichst
geschlossenes Ganzes präsentieren«, betont die Redakteurin. Am besten gefiel ihr die
Kombination des Brahms-Requiems mit dem Violinkonzert von Alban Berg samt den darauf
vorbereitenden Gesprächskonzerten.
Um dieses Paket im SWR2-Programm unterzubringen, hat sich Weber-Schäfer alle Musiktermine
am Sonntagnachmittag gesichert. Ganz einfach war das nicht, denn normalerweise sind die
Sendezeiten aufgeteilt in Mittagskonzert, Große Interpreten und eine Stunde Jazz. Aber auch
beim SWR wäscht eine Hand die andere, und für Sonderprogramme wie zum Europäischen
Musikfest räumen die anderen Redaktionen schon mal die sorgsam gehütete Sendezeit - spätere
Gegenleistung vorausgesetzt. Die Aufzeichnung der Klavierprogramme als weiterer Schwerpunkt
des Musikfests sowie, einer persönlichen Vorliebe der Redakteurin folgend, die der Liederabende
von Cornelia Kallisch und Dietrich Henschel komplettieren die umfangreiche Beteiligung des
Südwestrundfunks am diesjährigen Musikfest.
Alle Aufzeichnungen gehen ins sendereigene Archiv, aus dem sich auch andere ARD-Mitglieder
bedienen können. Allerdings geschehe dies eher selten, sagt Weber-Schäfer, denn jeder Sender
nehme mit seinen Klangkörpern und regionalen Ensembles relativ viel selbst auf. Neben
Aufzeichnungen und Übertragungen von Konzerten gehören zur Aufnahmetätigkeit einer
Rundfunkanstalt auch so genannte »Produktionen«, bei denen die Künstler oder Ensembles im
Studio aufnehmen, ohne Publikum und mit viel Detailarbeit. Die Weiterverwertung auf CD
hingegen ist bisher eher Ausnahme als Regel - wobei die viel beachtete Gründung des Labels
»Faszination Musik« durch SWR und Hännsler-Verlag die Richtung zur intensiveren
Vermarktung der Radioarchive vorgegeben hat.
Verglichen mit dem Großprojekt »Passion 2000« ist Evgeni Koroliovs Klavierprogramm für
Thomas Angelkorte rein logistisch kein großer Aufwand. Allerdings kennt der Tonmeister den
Perfektionsdrang des Pianisten aus früherer Zusammenarbeit. Auch diesmal geht es nicht ohne
Nachaufnahmen ab, die die Dauer des eigentlichen Konzertes schnell überschreiten können. Vor
dem Mozart-Saal steht der Ü-Wagen - einer mit analoger Technik, bei dem das Ergebnis der
Aufzeichnung eine handliche DAT-Cassette ist. Beim Einsatz digitaler Technik wird direkt auf
eine Festplatte gespeichert, wodurch Angelkorte bei der Weiterverarbeitung im Schnittraum viel
Zeit spart. Ein Hauptmikrofon und bei großer Orchesterbesetzung mehr als 20 Stützmikrofone
garantieren den Ausgleich von Gesamtklang und Detail. Unter Experten ist das Verhältnis von
Haupt- und Stützmikros umstritten. Manch einer schwört auf den Grundsatz »weniger ist mehr«,
aber Angelkorte betont: »Wenn Sie zu wenig Stützmikrofone verwenden, ist das, als wenn ein
Film fast nur in der Totale aufgenommen würde.«
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Die Tontechnik solle vor allem den individuellen Klang von Musikern und Konzertsaal abbilden,
unterstreicht Angelkorte. »Die Klangbalance macht aber trotzdem der Dirigent«, betont der
Tonmeister, dessen Arbeit nicht erst mit dem Aufbau der Aufzeichnungstechnik beginnt.
Angelkorte besucht Proben und berät sich bei neuer Musik auch direkt mit dem Komponisten.
Der kann dem Tonmeister manchmal Kopfzerbrechen bereiten: Tan Dun beispielsweise verwarf
bei seiner Passion den gesamten Aufbau des Orchesters, und Angelkorte musste alle Mikrofone
neu positionieren. Er ist ein Fan von Live-Übertragungen: »Das ist die größte Aufgabe und
Berechtigung für den Rundfunk«, schwärmt er und freut sich, wenn er zwischen all der Ernsten
und Neuen Musik auch mal wieder die SWR Big Band betreuen kann: »Das ist ein richtig buntes
Leben.«
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Kürzere Berichte
Das Defilee der Dirigenten oder Wie finde ich einen Chef?
Zahlreiche Debüts prägen die neue Saison des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart - Bericht für
die Stuttgarter Zeitung (veröffentlicht heute)
Laut Fremdwörterbuch ist ein „Defilee“ das „feierliche Vorbeischreiten einzelner Personen an
hochgestellten Gastgebern“, in alter Militärsprache bedeutete der fast vergessene Begriff einen
Engpass, durch den sich die Kolonne schlängeln musste. Stellt man sich die Konzertsaison
2009/10 des Radio-Sinfonieorchesters Stuttgart (RSO) im Zeitraffer vor, wäre das Dirigentenpult
der Engpass für eine lange Reihe von Dirigenten, die an den Gastgebern – als die man sich nach
Belieben das Orchester oder das Publikum vorstellen darf – vorbeizuschreiten hätten. Es
wimmelt in der neuen Spielzeit von erstmalig oder in erster Wiederholung eingeladenen
Gastdirigenten, und der Orchestermanager Felix Fischer macht kein Geheimnis daraus, dass dies
eine weitere Runde in der Suche nach dem Nachfolger für den Chefdirigenten Sir Roger
Norrington bedeutet. Auch angesichts der knapp werdenden Zeit – Norrington scheidet im
Sommer 2011 aus – wolle man Sorgfalt vor Eile walten lassen und sich nicht unter Druck setzen,
sagt Fischer. Gegebenenfalls werde eben der Erste Gastdirigent Andrey Boreyko in einer
cheflosen Saison für Kontinuität sorgen.
Es wird also spannend, da man ein weiteres Jahr hindurch vielleicht nicht jeden, aber doch einige
der Gäste als Kandidaten für die Chefstelle betrachten darf. Kaum in Frage kommen dafür die
französischen Altmeister Michel Plasson und Serge Baudo, die im Oktober bzw. Juni
überwiegend Musik aus ihrem Heimatland vorstellen. Auch der erst 16-jährige Venezuelaner
Ilyich Rivas, der sich in der Konzertreihe „RSO afterWork“ im April u.a. mit Respighis
pompösen „Fontane di Roma“ befassen soll, dürfte noch nicht auf den Posten spekulieren.
Horcht man Felix Fischers fein abgestuften Belobigungen, dürfte ein heißer Tipp der Däne
Thomas Dausgaard sein, der im Oktober gemeinsam mit der jungen Pianistin Lise de la Salle die
Reihe der zehn Abonnementskonzerte eröffnen darf. „Ein ganz wichtiges Debüt“ sei das, so
Fischer; Dausgaard sei „ausgezeichnet auch für die zeitgenössische Musik“, außerdem
„psychologisch geschickt und teamfähig“ – ein Schelm, der da keine Präferenz heraushören mag.
Aber genug der Spekulation! Auch Bertrand de Billy (Dezember, gemeinsam mit Pascal Rogé am
Klavier) und Hans Graf (März, mit dem Bratscher Antoine Tamestit) debütieren am Pult des
RSO; der Tscheche Jakob Hrusa leitet im Februar erstmals ein Abonnementskonzert, das ein
Wiedersehen mit der Geigerin Hilary Hahn ermöglicht. Den Briten Michael Francis, kürzlich
virtuos für André Previn eingesprungen, hat sich das RSO für mehrere Termine im März
gesichert, und in den Mittagskonzerten gastieren Christopher Hogwood (Oktober), Alexander
Liebreich (November) und Marc Albrecht (Juni). Es ist aber nicht nur für Abwechslung an
Gesichtern gesorgt. Auch die Programme sind – von thematischen Vorgaben und Zwängen
befreit – in der Saison 2009/10 besonders vielfarbig. Sir Roger Norrington bringt seine Brahms-,
Schumann- und Bruckner-Zyklen zu Ende und stellt mit Michael Tippetts Oratorium „A Child
of Our Time“ im Januar ein weiteres Glanzstück englischer Kompositionskunst vor. Andrey
Boreyko hat sich ein eigenwilliges Juni-Programm mit Schostakowitsch, Wagner und Rossini
ausgedacht. Solisten wie Daniel Hope (im April mit dem Brahms-Violinkonzert), Jean-Guihen
Queyras (Schumanns Cellokonzert im Juli) und Alina Ibragimova (mit Ravels „Tzigane“ im
Dezember) gesellen sich zum bunten Defilee, das in den Mittagskonzerten von Kerstin Gebel
und in den afterWork-Programmen von Bernadette Schoog, Matthias Holtmann und Malte
Arkona moderiert wird.
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SWR-Musikchefin Dorothea Enderle hob bei der Vorstellung des RSO-Saisonprogramms auch
hervor, dass sich die Aufführung zeitgenössischer Musik längst zur Selbstverständlichkeit
entwickelt habe und sich nicht nur in Spezialveranstaltungen, sondern auch im
Abonnementsbetrieb problemlos manifestiere. In der kommenden Spielzeit prägen einige Werke
von Wolfgang Rihm mehrere der Konzertprogramme. So dirigiert Roger Norrington im
November Rihms „Two Other Movements“, im Februar steht „IN-SCHRIFT“ auf dem
Programm, und zum „attacca-Tag“ am 5. Dezember, für den der Neue-Musik-Redakteur HansPeter Jahn verantwortlich zeichnet, erklingt Rihms „Schattenstück“. Jahn bringt dort und im
Konzert zum Eclat-Festival im Februar bewusst „ältere“ Komponisten wie Rihm und HansJoachim Hespos mit jungen Tonsetzern wie Markus Hechtle und Daniel Smutny zusammen.
Zehn Uraufführungen sind zu den genannten Anlässen angekündigt, bei denen – wie schon im
„Abo plus“-Konzert der RSO-Reihe im März – auch das SWR Vokalensemble mit seinem Leiter
Marcus Creed eine herausragende Rolle spielen wird.
Fortgesetzt werden die Kinder- und Jugendarbeit, die von der Konzerteinführung über eine
Schreibwerkstatt bis zum Tonmeisterworkshop reicht, sowie die Kammermusikreihe „Podium
RSO“ im Neuen Schloss, wo sich die Mitglieder des Orchesters in munter wechselnder
Besetzung vorstellen. Fleißig ist das RSO auch außerhalb Stuttgarts und weit über das
Sendegebiet des SWR hinaus. Stolz gespannt schaut man insbesondere einer weiteren AsienTournee entgegen, die als Höhepunkt das Eröffnungskonzert der Expo 2010 in Shanghai enthält
– sozusagen als weltliches Pendant zum unvergessenen Geburtstagskonzert für den Papst vor gut
zwei Jahren.
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Die Schlacht hat begonnen
Der SWR-Rundfunkrat beschließt (noch) nicht über die Zukunft der Klangkörper - Artikel für
die Esslinger Zeitung (04.12.2004)
Es ist noch nicht lange her, da beteuerte SWR-Musikchefin Dorothea Enderle, die
Klangkörperfrage stelle sich "derzeit nicht". Die Freude darüber währte nur kurz: Intendant Peter
Voß hat die wohl entscheidende Runde in der Diskussion eröffnet, wie viele Klangkörper sich
der SWR leisten kann und will. "Es ist meine feste Überzeugung, dass es nicht sechs sein
können", stellte Voß gestern bei der Sitzung des Rundfunkrats im Stuttgarter Funkhaus klar.
Zumindest vom Rundfunkorchester Kaiserslautern und vom SWR-Vokalensemble Stuttgart
scheint sich der Intendant innerlich schon losgesagt zu haben. Während für das RadioSinfonieorchester Stuttgart das Land und die Stadt als Partner gewonnen werden sollen und das
SWR-Sinfonieorchester Freiburg/Baden-Baden zu weiterer Rationalisierung aufgerufen ist, ist die
Fusion des Kaiserslauterner Ensembles mit dem Orchester des Saarländischen Rundfunks
offenbar kaum noch aufzuhalten.
Vor allem aber bedeutet die Strategie von Peter Voß das Ende des 36-köpfigen SWRVokalensembles in seiner jetzigen Form: "Die Beibehaltung der gegenwärtigen Struktur des
Vokalensembles wäre, unter den gegebenen finanziellen Rahmenbedingungen des SWR und
angesichts der aufgrund der Altersstruktur möglichen Handlungsspielräume, nicht sinnvoll",
heißt es so verquast wie lapidar in dem Papier des Intendanten. Falls ein Einstellungsstopp nicht
zu nennenswerten Einsparungen führt - was abzusehen ist -, wird der schrittweise Übergang in
einen "herausragenden semiprofessionellen Chor" angestrebt. So weit die Ansichten des
Intendanten.
Nun ist das SWR-Vokalensemble mit 40 Planstellen und knapp 2,7 Millionen Euro Kosten ein
verschwindend geringer Promille-Posten im Etat des Senders. Auch die vom Intendanten
"immens" genannte Summe von 30 Millionen Euro für alle Klangkörper einschließlich Big Band
und Experimentalstudio muss man in das Gesamtvolumen von über einer Milliarde Euro
einordnen. Umgekehrt gilt das Vokalensemble, zu dessen Spezialgebieten moderne Werke mit
teils exorbitanten Schwierigkeitsgraden zählen, als einer der weltweit besten Chöre überhaupt hoch geschätzt von Komponisten, Dirigenten und Festivalveranstaltern. Damit wäre es bei einer
Umwandlung in ein semiprofessionelles Ensemble schnell vorbei.
Obwohl Voß gegenüber den Rundfunkräten bestritt, den Programmauftrag neu definieren zu
wollen, bedeutet sein Papier einen Bruch mit der Vergangenheit. Da der Intendant "keine
ausgeprägte Programmrelevanz" der Klangkörper erkennen kann, ordnet er deren Finanzierung
als "freiwillig erbrachte Leistung", als "Mäzenatentum" ein. Wobei Voß auch in anderen
Bereichen das Messer ansetzt und soeben das Ende der SWR 3 Arena of Sound in Stuttgart und
einer vergleichbaren Veranstaltung in Rheinland-Pfalz angekündigt hat.
Dass die Leistungen der Klangkörper nicht ausreichend im Programm abgebildet werden, wird
aus deren Umfeld übrigens energisch bestritten. "Die Produktionen des Vokalensembles werden
zu hundert Prozent gesendet", betont Christoph Hans, der dem Ende Oktober gegründeten
Förderverein des Ensembles vorsteht. Aber genau hier lauert die heikle Frage, die der Intendant
für sich selbst bereits beantwortet hat: Voß hält die experimentellen und avantgardistischen
Produktionen für verzichtbar, weil er die "Erschließung künstlerischen Neulands" unter den
aktuell verschärften Sparzwängen nicht als primäre Aufgabe seines Senders sieht.
Beschlossen wurde gestern, nach einer kurzen und von vielen Mitgliedern des Rundfunkrats mit
beschämendem Desinteresse verfolgten Aussprache, nichts - noch nichts: Der Hörfunkausschuss
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soll mit der Fachebene diskutieren und über Konsequenzen Ende Februar in einer Sondersitzung
befinden. Nun ist die Zeit für die Lobbyisten gekommen. Die Schlacht hat begonnen, es wird
Verwundete geben.
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Qualität und Spaß
Helmuth Rillings Gächinger Kantorei wird 50 - Feature für die ddp-Nachrichtenagentur
Der Name des Chores ist es ganz sicher nicht, der die Gächinger Kantorei zu internationalem
Ruhm geführt hat. Die bei der Gründung des Ensembles vor 50 Jahren noch zutreffende,
bescheidene Benennung führt in anderen Ländern vielmehr zu Erklärungsbedarf, Schreibfehlern
und sympathischen Irrtümern: Auf den Internetseiten des Oregon Bach Festivals beispielsweise,
bei dem Helmuth Rillings Stammchor im Jubiläumsjahr erstmals auftritt, werden als Herkunftsort
des Chores die "Schwäbischen Alpen" genannt. Rilling, der als Student und mit Kommilitonen
das Ensemble im Albdorf Gächingen gründete, blieb der Bezeichnung treu, als die Gächinger
Kantorei längst in Stuttgart probte und die Welt von Japan bis Amerika bereiste. Und was
Helmuth Rilling entscheidet, das stellt bei den Gächingern niemand in Frage: Trotz gelegentlicher
Auftritte von Gastdirigenten wird kaum ein Chor dieser Kategorie so stark mit seinem Gründer
identifiziert wie dieser.
"Es geht um das Jubiläum vom Helmuth" – so wird denn auch Werner Huck von seiner Gattin
zum Telefoninterview gerufen. Huck, Jahrgang 1929, ist der Älteste unter den Gächingern und
seit über vier Jahrzehnten dabei. Dass von Anfang an nie alle Sängerinnen und Sänger gemeinsam
auftraten, die Gächinger Kantorei auf Projektarbeit statt Vereinsmeierei setzte, war Werner Huck
nur recht. Einzelne Konzerte konnte er mit seiner Arbeit bei Post und Telekom nur schwer
vereinbaren, aber für die Konzertreisen nahm er sich frei. "Mindestens die Hälfte des Urlaubs
ging dafür drauf", erzählt Werner Huck, "die Familie musste oft zurückstehen." Wie fast alle
Gächinger hatte Huck schon bei seinem Eintritt in den Chor reichlich Erfahrung, hat privaten
Gesangsunterricht genommen und sogar selbst einen kleinen Chor geleitet. Helmuth Rilling – "er
hat gelernt, wo es nur ging" – war ihm dabei großes Vorbild, und mit der persönlichen
Entwicklung des Dirigenten zum weltweit gefragten Interpreten vor allem der Musik Johann
Sebastian Bachs sieht Werner Huck auch den Werdegang der Gächinger Kantorei verknüpft:
"Wir sind von Jahr zu Jahr gewachsen", sagt der Senior.
Bei ihren Konzerten und Tourneen tritt die Gächinger Kantorei mal als 24-köpfiges
Vokalensemble, mal als Hundertschaft auf. Das Reservoir an Sängerinnen und Sängern ist üppig,
denn zu den Vorsingen, die mehrmals jährlich stattfinden, melden sich jeweils rund 100
Interessenten an. Organisatorische Basis des Chores ist die Internationale Bachakademie in
Stuttgart, die Helmuth Rilling in den 80-ern gründete, instrumentale Partner sind neben dem
hauseigenen Bach-Collegium auch größere Klangkörper wie das Radio-Sinfonieorchester
Stuttgart. Vom Gesangsstudenten bis zur privat singenden Hausfrau reicht die Spannweite im
Chor, es sind Freundschaften entstanden, Ehen wurden geschlossen und mittlerweile wirken in
der Gächinger Kantorei junge Leute mit, "die Helmuth Rillings Enkel sein könnten", wie
Andreas Bomba, Mitarbeiter der Bachakademie und selbst als Tenor im Chor aktiv, scherzt.
Das trifft zum Beispiel für Gudrun Otto zu. Mit ihrem Geburtsjahr – 1979 – ist sie just jene fünf
Jahrzehnte vom Senior Werner Huck entfernt, die die Gächinger Kantorei heuer besteht. Die
junge Sopranistin macht gerade ihr Diplom in Weimar und sieht einem Engagement bei den
Landesbühnen Dresden ab dem kommenden Herbst entgegen. Das Bach Festival in Oregon wird
deshalb ihre vorläufig letzte Reise mit den Gächingern sein, bei denen sie die Verbindung von
"Qualität und Spaß" und die charismatische Persönlichkeit von Helmuth Rilling "ohne Show und
Brimborium" schätzen gelernt hat. Wie Werner Huck nennt sie die Konzertreise nach Israel als
Höhepunkt – aber im Gegensatz zu ihrem älteren Kollegen klagt Gudrun Otto nicht über
Einschränkungen im Privaten. "Bei mir ist das eigentlich andersrum", sagt die junge Sängerin,
deren Leben durch die Gächinger Kantorei eine besondere Wendung nahm: Während der IsraelTournee lernte sie ihren Freund kennen.
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Stars und Störche
Das Musikfestival im elsässischen Colmar stellt Krzysztof Penderecki in den Mittelpunkt Festivalbericht für die Esslinger Zeitung und Westdeutsche Allgemeine Zeitung (07.07.2003)
Manierliche Fassaden, freundliche Menschen und über allem ein stolzes Storchenpaar im luftigen
Nest – im elsässischen Colmar scheint die Welt noch in Ordnung. Hier kann man getrost einen
Gang herunterschalten, das prächtige Stadtbild auf sich wirken lassen und die kulinarischen
Spezialitäten vom Sauerkraut bis zum Munsterkäse genießen.
In den ersten zwei Juli-Wochen ist Colmar aber auch Schauplatz eines Musikfestivals, das viele
deutsche Besucher anzieht. Es könnten noch mehr sein, denn Festivalchef Vladimir Spivakov
versammelt in seinem Programm Stars und Nachwuchs, musikalische Entdeckungen und immer
wieder gern Gehörtes.
Die Stadtoberhäupter knüpften 1989 mit Spivakovs Berufung an die sommerlichen Konzerte an,
die Karl Münchinger und sein Stuttgarter Kammerorchester früher in Colmar gegeben hatten.
Die Beziehungen und Überredungskünste des russischen Geigers und Dirigenten erweisen sich
Jahr für Jahr als wertvoll. Der bescheidene Etat von einer runden Million Euro ermöglicht trotz
mäßiger Eintrittspreise 24 Konzerte verschiedenen Formats mit mehreren Sinfonieorchestern,
zwei Chören und in diesem Jahr auch Klavierstars wie András Schiff und Ewa Kupiec.
Von der in Frankreich nicht seltenen Festival-Beliebigkeit grenzt sich Vladimir Spivakov durch
das Konzept der jährlichen „Hommage“ an einen Großen der Musikwelt ab. Während die so
Geehrten bisher meist verstorbene Musiker waren, steht heuer der polnische Komponist
Krzysztof Penderecki aus Anlass seines 70. Geburtstags im Mittelpunkt. 13 seiner Werke
erklingen in Colmar, und zwar nicht in kleinformatigen Spezialkonzerten, sondern verteilt auf
viele Programme – und verständlicherweise garniert mit Zugstücken von Schubert bis Chopin.
Natürlich reiste Penderecki zu dieser freundschaftlichen Ehrung an, dirigiert selbst vier Konzerte
und nimmt bei jeder Aufführung seiner Stücke den Applaus des kundigen Publikums entgegen.
Seine Interpretation von Schuberts 5. Sinfonie – kürzlich auch bei den Stuttgarter
Philharmonikern zu erleben – fiel allerdings beim Litauischen Staatsorchester, einem behäbigen
Klangkörper mit wenig Neigung zu überschäumendem Engagement, nicht auf fruchtbaren
Boden. Ganz anders kommt die Sinfonietta Cracovia daher – das junge Orchester aus der alten
Königsstadt Krakau brannte in Pendereckis Concerto grosso für drei Klaviere und Dvoraks
Sinfonie „Aus der Neuen Welt“ ein klangliches Feuerwerk ab, das seinesgleichen sucht.
Festivalchef Vladimir Spivakov ließ bei einem Kammerkonzert mit Schostakowitsch, Schnittke
und Dvorak einen wunderbar samtigen Geigenton hören, und der Star des Festivals, András
Schiff, wurde für sein entspanntes Bach-Chopin-Programm auf zwei verschiedenen Flügeln mit
stehenden Ovationen gefeiert.
Das Musikfestival in Colmar, ein heißer Ausflugstipp für württembergische Musikfreunde, dauert
noch bis zum 14. Juli. Am kommenden Wochenende dirigiert Penderecki die Sinfonia Varsovia,
Vladimir Spivakov steht am Pult des Russischen Nationalorchesters. Zwar ist das sehr gute
Programmbuch nur in französischer Sprache erhältlich – als Besucher kommt man jedoch mit
Deutsch problemlos durch.
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Längere Reportagen
Zwischen den Welten
Ein junger Mönch als Praktikant im Staatstheater - Beitrag für die Esslinger Zeitung,
veröffentlicht am 31.10.2003. Nachdruck in der WAZ am 06.12.2003
Die Lehrwerkstatt der Stuttgarter Staatstheater ist ein angenehmer Ort – schöne Stoffe, bunte
Utensilien, konzentrierte Atmosphäre und leise Musik. In der ehemaligen Musikhochschule am
Urbanplatz lernen 13 junge Leute das Handwerk des Herrenschneiders, und das auf höchstem
Niveau. Bundesweit sind die Staatstheater der größte Ausbilder für diesen Beruf, der Bedarf an
Maßschneidern für hochwertige Herrenbekleidung ist hoch.
Auf den ersten Blick fällt der junge Mann, der am Arbeitstisch links außen in seine Näharbeit
versunken ist, unter seinen Mitlehrlingen nicht weiter auf. Nur seine Kleidung wirkt ein wenig
dunkel. Dass es sich bei seinem Gewand um ein Ordenshabit handelt, bemerkt man erst, wenn
der 22-jährige Bruder Pius aufsteht und zu Lehrmeister Günter Joost geht, um sich Rat zu holen.
„Ja, die Kutte ist echt“, das musste Bruder Pius schon öfter versichern. Für fünf Wochen hat sich
der junge Benediktiner aus der Erzabtei Beuron verabschiedet und absolviert in der Stuttgarter
Lehrwerkstatt ein Praktikum. Von Beuron aus, wo er der einzige Schneiderlehrling ist, suchte er
nach einer Möglichkeit, seinen fachlichen Horizont zu erweitern und sich auf die Anforderungen
der bevorstehenden Zwischenprüfung umfassend vorzubereiten. Einer der Theaterlehrlinge, Karl
Christoph Gebauer, ebenfalls 22 Jahre jung, wird im Austausch einige Wochen im Kloster
hospitieren.
Rund 1.500 Frauen und Männer leben im deutschsprachigen Raum in Benediktinerklöstern und
folgen der im 6. Jahrhundert entstandenen Mönchsregel des Heiligen Benedikt. Die Erzabtei
Beuron, zwischen Tuttlingen und Sigmaringen an der Donau gelegen, ist ein einflussreicher und
aktiver Stützpunkt des Ordens. Das faszinierte Bruder Pius, der eine Klosterschule in
Niederbayern besuchte und zu Hause „gut katholisch“, wie er sagt, erzogen wurde. „Die Mönche
in meiner Schule führten ein einfaches Leben und wirkten immer zufrieden“, erinnert sich der
junge Mann. Gleichzeitig seien seine Lehrer „cool im Umgang mit jungen Leuten“ gewesen. Von
Beuron, wo derzeit 65 Benediktiner leben, erfuhr er durch einen Fernsehbericht. Er entschied
sich bewusst für diese Abtei – weil er einen gewissen Abstand von seiner „ersten Heimat“ wollte,
aber auch, weil Beuron besonders intensiv die Tradition pflegt.
Vor allem der gregorianische Gesang hat es Bruder Pius angetan, und man kann sich seine
kernige Stimme mit dem typischen rollenden „R“ gut im Chor vorstellen. Während seiner
Stuttgarter Zeit jedoch muss er den klösterlichen Tagesablauf weitestgehend ent­behren. Zwar
fährt er zum Wochenende „nach Hause“ – wie er Beuron ganz selbst­verständlich und für den
Außenstehenden doch irritierend bezeichnet -, unter der Woche jedoch ist fast alles anders als im
Kloster. Dort stehen die Mönche bald nach 4.00 Uhr auf, vor dem Arbeitsbeginn um acht sind
bereits zwei der traditionellen Gebete, Morgenhore und Terz, vorüber. In Stuttgart, wo Bruder
Pius in einem Sillenbucher Pfarrhaus untergekommen ist, kommt er meist erst abends zum
ausführlichen Gebet oder sucht in der Domkirche St. Eberhard stille Einkehr. „Ich bin schon ein
bisschen aus der Bahn“, gibt er zu.
In die Lehrwerkstatt vermittelt haben den jungen Mönch einer seiner Berufsschullehrer in
Balingen und Kurt Schaufenberg, der als Landesinnungsmeister an der Ausarbeitung der
einheitlichen Prüfungsaufgaben beteiligt ist. Auf die Frage, wo Bruder Pius sich hinsichtlich
bestimmter Verarbeitungstechniken fortbilden könne, schlug Schaufenberg die Staatstheater vor.
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Gemeinsam mit seinem Beuroner Meister, Bruder Werner, besichtigte Bruder Pius im Juni die
Lehrwerkstatt und sorgte dort für einiges Aufsehen. „Es war ganz locker, entgegen allen
Vor­urteilen“, erzählt Günter Joost, der die Werkstatt leitet. Sofort plante er mit Bruder Werner
den Lehrlingstausch, und mit Karl Christoph Gebauer fand sich schnell ein Auszubildender, der
vorübergehend „ins Kloster gehen“ wollte.
Die kleine Schneiderei der Erzabtei Beuron, in einem uralten Haus im Klosterareal
untergebracht, beherbergt zwar wertvolle historische Gewänder. Die tägliche Arbeit jedoch
beschränkt sich meist auf den eigenen Bedarf der Mönche, hinzu kommen Aus­besserungen und
Reinigungsarbeiten. Nur hin und wieder fertigte Bruder Werner auch Gewänder für den Bischof
an – und dabei ging es natürlich nicht um „weltliche“ Kleidungsstücke wie Weste und Sakko, die
zum amtlichen Ausbildungsprogramm des Herrenschneiders gehören. In Stuttgart lernt Bruder
Pius genau dies und staunt über das Können seiner zeitweiligen Kolleginnen und Kollegen. „Die
sind schon brutal gut“, urteilt er und hofft darauf, dass ihm sein Erzabt ein erneutes Praktikum
im nächsten Jahr erlaubt.
Ein Mönch, noch dazu ein so junger, sorgt auch – oder gerade – im Großstadtleben für
Aufmerksamkeit. Mancher schaut ihm nach, einige Menschen sprechen Bruder Pius auch an. „Es
gibt wirklich Leute, die gar nicht wissen, dass es noch Mönche gibt“, erzählt er. Dabei kann
gerade Beuron über Nachwuchs nicht klagen. Zwar ist Bruder Pius der Jüngste an Lebensjahren,
nach seinem Eintritt 2001 jedoch kamen schon weitere fünf Männer ins Kloster. „Wir leben ja
auch nicht hinter dem Mond“, sagt er und schmunzelt über Meinungen, die das heutige
Klosterleben mit Eindrücken aus dem Kino gleichsetzen: Der Film „Der Name der Rose“, der
im Mittelalter spielt, habe vieles geprägt.
Dass es in Beuron sogar Internet gibt, scheint auch Karl Christoph Gebauer ein wenig beruhigt
zu haben. Als es um den Austausch ging, habe er gar nicht lange nachgedacht und sein Interesse
angemeldet, erinnert er sich: „Erst während der Sommerferien wurde mir klar, dass das mehr ist
als ein gewöhnliches Praktikum.“ Über das, was anders sein wird als gewohnt, hat er sich viele
Gedanken gemacht. „Man kann abends nicht einfach jemandem etwas erzählen, man ist ganz für
sich“, überlegt er. Um das bewusst zu durchleben, will er nicht einmal sein Handy mitnehmen:
„Es ist ganz gut, mal nicht immer erreichbar zu sein.“
„Man ist ja auch ein bisschen entmündigt“ – im Gespräch stellt Gebauer das eher als Frage in
den Raum, als dass er es behauptet. Seinem Altersgenossen in der Mönchskutte scheint dieser
Gedanke vertraut, aber er fasst das Regelwerk, das bei den Benediktinern Handeln und Denken
bestimmt, als Halt und nicht als Hindernis auf. Bruder Pius schätzt auch sein so genanntes
„Habit“ – es sei schließlich Zeugnis für seinen Glauben, und gleichzeitig Schutz vor
Anfechtungen. Dass die Kutte darüber hinaus ein gesellschaftsfähiges Kleidungsstück ist, erweist
sich als angenehmer Nebeneffekt. Weder beim Opernbesuch noch bei der Ehrung von drei
Auszubildenden des Theaters als so genannte „Kammersieger“ musste er sich über ein
angemessenes Outfit Gedanken machen. Allerdings: „Nicht die Kutte macht den Mönch“, sagt
Bruder Pius und erläutert, dass man nach sorgfältiger Abwägung auch in der Öffentlichkeit zivil
auftreten dürfe. Das hat er während seines Praktikums hin und wieder getan - und wurde prompt
von einer jungen Dame um seine Telefonnummer gebeten.
Bruder Pius befindet sich derzeit in der so genannten „zeitlichen Profess“, zwischen dem meist
einjährigen Noviziat und den „ewigen Gelübden“, die jeder Mönch nach gut vier Jahren in einem
besonders festlichen Gottesdienst ablegt. Die Freiheiten des ganz normalen Lebens habe er in
der Anfangszeit schon mal vermisst, gibt er zu. Die Spaßgesellschaft und die Warenwelt aber
scheinen ihm während seiner Jahre im Kloster fremd geworden zu sein. „Ganz schön viele
Leute“, kommentiert er das übliche Gedränge der Stuttgarter Königsstraße, der Unterschied zum
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Leben in Beuron sei schon „krass“. Das „komische Gefühl“, das er auf der Reise vom Kloster in
die Landeshauptstadt hatte, wird auf dem Weg nach Beuron wohl auch Karl Christoph Gebauer
spüren. Für ihn handelt es sich letztlich „nur“ um ein mehrwöchiges Praktikum. Bruder Pius
hingegen hat eine Lebensentscheidung getroffen. „Man muss wissen, wer man ist“, beantwortet
er knapp die Frage nach den Anfechtungen im weltlichen Leben, in das er für einige Wochen
wieder eingetaucht ist. Seinen Ordensnamen, es war einer von drei eigenen Vorschlägen, hat er
nach Papst Pius X. gewählt, dessen Pontifikat von 1903 bis 1914 dauerte. Der war, sagt das
Heiligenlexikon, „ein innerlicher und frommer Mann, einfach und verständl ich in seiner Rede.“
Die Benediktinerregel, dass ein Mönch „ruhig und ohne Gelächter, demütig und mit Würde
wenige und vernünftige Worte“ sprechen solle, hat auch Bruder Pius schon längst verinnerlicht.
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Wie aufregend, ich geh ins Kino!
Filmkunst in der Kleinstadt – Baden-Württembergs Kinomobil macht’s möglich - Eine
Reportage für die Esslinger Zeitung (17.04.2004)
In den 70-er Jahren begann das große Kinosterben. Filmtheater in kleineren Städten wurden
geschlossen oder abgerissen. 1988 startete das Kinomobil Baden-Württemberg, um in diesen
Gemeinden regelmäßig Filme zu zeigen. Das kleine Team im Stuttgarter Filmhaus betreut
inzwischen rund 70 Orte. Drei Filme pro Spieltag werden präsentiert, vom Kinderfilm über den
Jugendstreifen bis zum Abendprogramm. Ein Kinomobil-Tag in Besigheim.
+++ 12.15 Uhr – Christian Weishäupl kommt ins Büro des Kinomobils BadenWürttemberg im Stuttgarter Filmhaus. Nach ein paar Absprachen mit
Geschäftsführerin Anja Grunwald macht er sich mit Linnea Larsson, die beim
Kinomobil ein Freiwilliges Kulturelles Jahr absolviert, auf den Weg. Aus
dem Tiefgaragenlabyrinth zwischen Friedrich- und Lautenschlagerstraße lenkt
Weishäupl den mit Projektor, Filmrollen, Tonanlage und Kabeln
vollgestopften VW-Transporter in Richtung Besigheim. +++
Das Weinstädtchen am Neckar ist einer der regelmäßig bespielten Orte, die auf Anja Grunwalds
Baden-Württemberg-Karte rot markiert sind. Dorthin fährt das Kinomobil monatlich. Gelb
bedeutet alle zwei Monate oder seltener; grün sind jene Orte markiert, die neu hinzugekommen
sind oder erst angefragt haben. Anja Grunwald ist seit drei Jahren Geschäftsführerin beim 1988
gestarteten Kinomobil. Ebenso wie ihre Buchhalterin arbeitet sie halbtags. Vollzeitangestellte sind
die beiden Vorführer, von Fall zu Fall kommen Aushilfen und Praktikanten hinzu. Gefördert
wird das Kinomobil als gemeinnütziger Verein von der landeseigenen Medien- und
Filmgesellschaft (MFG). Die rund 70 bespielten Gemeinden garantieren eine Summe von 250
Euro für drei Filme – das heißt: Nur bei geringeren Einnahmen trägt die Gemeinde den
Unterschiedsbetrag.
+++ 13.00 Uhr – Christian Weishäupl steuert das Kinomobil auf den Parkplatz
vor Besigheims Alter Kelter, die in den 80-er Jahren zur Stadthalle
umgebaut wurde. Hausmeister Friedrich Gauger bringt einen Rollwagen, mit
denen die Gerätschaften in den 1. Stock gebracht werden können. Eine halbe
Stunde später steht der Projektor im Rang des Kleinen Saals – „ist leider
ein bisschen laut ohne separate Kabine“, entschuldigt sich Weishäupl,
Gauger verspricht baldige Abhilfe durch eine Holzkonstruktion. +++
Die Gemeinden knausern. „Manche beklagen sich schon über 50 Euro Zuzahlung“, erzählt die
Kinomobil-Chefin. Die verzweifelte finanzielle Lage der Kommunen zeitigt aber auch andere
Ergebnisse. „Neu hinzukommende Gemeinden haben sich ausgerechnet, dass sie mit dem
Kinomobil ein preiswertes Kulturprogramm bekommen“, sagt Anja Grunwald. Bei jedem
Kinomobil-Termin wird jeweils ein Film für Kinder, Jugendliche und erwachsenes Publikum
gezeigt.
+++ 14.00 Uhr – Die ersten Kinderstimmen im Treppenhaus. „In zehn Minuten
könnt Ihr rein“, ruft Christian Weishäupl, legt noch mal Hand an den
Projektor und bereitet die Kasse vor. „Wie aufregend, ich geh’ ins Kino“,
scherzt eine Mutter. Eine andere moniert, dass im Kindergarten keine
Werbezettel für das Kinomobil gelegen hätten, eine dritte beschwert sich
über den gegenüber der Ankündigung um einen Euro höheren Eintritt. Der
Verleih habe für „Sams in Gefahr“ auf dem höheren Preis bestanden, erklärt
Weishäupl der Frau, deren Verständnis begrenzt bleibt. Linnea Larsson lässt
vor Filmbeginn die rund 50 kleinen Zuschauer überlegen, was sie sich
wünschen würden, hätten sie Wunschpunkte wie das fabelhafte Sams. Nach dem
Film sollen sie mit ihren Ideen das Filmplakat bekleben. +++
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Eine späte Reaktion auf das Verschwinden der Filmtheater auf dem Land sei das Kinomobil
gewesen, sagt Anja Grunwald. In letzter Zeit bemüht sich ihr Team verstärkt um
Begleitprogramme. So soll Linnea Larsson während ihres Freiwilligen Jahrs weitere Aktionen wie
die mit den Sams-Punkten entwickeln.
+++ 16.15 Uhr – Das „Sams“ ist aus der Gefahr gerettet. Christian Weishäupl verliert keine Zeit
und spult den Film zurück. Der transportable 35-mm-Projektor aus Mailand ist fünf Jahre alt und
11.000 Euro wert. Er sei kompakt und praktisch, erzählt Weishäupl, aber auch wartungsintensiv:
„Da wird man entweder zum Tüftler oder wahnsinnig.“ Während sich im Rang die Filmrollen
zurückdrehen, beschriften vor dem Saal die Kinder die Wunschpunkte. Wonach sich die Kleinen
sehnen: Gameboy, Pferde – und drei Mal „Geld“. Eine der kleinen Zuschauerinnen zeigt mehr
Fantasie und wünscht sich, „dass das Sams mal in die Grundschule Besigheim kommt.“ +++
Den Cinemaxxen kann und will das Kinomobil keine Konkurrenz machen. Bei einem
„Nachspieler“ kommen die Filme zwar erst sechs bis acht Wochen nach der Premiere ins
Programm. Dafür ist der Verleih günstiger, denn das kommerzielle Interesse flaut zu diesem
Zeitpunkt bereits ab. Vor allem bei den Jugendlichen teilt das Kinomobil das Schicksal aller
Filmtheater – viele Streifen werden kopiert oder aus dem Internet gesaugt, und der Kinobesuch
entfällt.
+++ 16.45 Uhr – Die ersten Jugendlichen kreuzen auf. Der Altersunterschied
zum Kinderfilm ist gar nicht so groß: Rund 40 junge Leute zwischen zehn und
15 interessieren sich für „Freaky Friday“ mit Jamie Lee Curtis, darunter
nur ein einziger Junge. Der Film beginnt, draußen vor dem Saal wird es
ruhig. Wie wird man Filmvorführer? „Durch Zufall“, antwortet Christian
Weishäupl. Er ging als Schüler bei einem Kinobesitzer in Stammheim in die
(inoffizielle) Lehre, hat während des Studiums in vielen Filmtheatern
ausgeholfen und ist nach einer Station beim benachbarten Kommunalen Kino
jetzt beim Kinomobil angestellt. +++
Für Anja Grunwald ist die „gute Mischung“ im Programm wichtig. Ab und zu fokussiert sie die
Auswahl auf Deutsches, auch Baden-Württembergisches. „Da sehen manche zu Unrecht drauf
herab“, sagt die Geschäftsführerin. Sie versucht, die Filme zeitnah am aktuellen Kinoprogramm
auszurichten. Für Sonderprojekte wie sommerliches Freilichtkino bestellt sie auch Klassiker,
vielfach auf Wunsch der Gemeinden, die ansonsten das vom Kinomobil vorgegebene Programm
akzeptieren müssen, wenn sie nicht draufzahlen wollen.
+++ 19.00 Uhr – Wieder heißt es für Christian Weishäupl: Zurückspulen. Die
Tage können lang sein beim Kinomobil, vor allem wenn die Spielorte weit
entfernt sind. Von den regelmäßigen Zielen hat Meersburg die größte
Entfernung von Stuttgart. Wenn Christian Weishäupl den 40 kg schweren
Projektor und die je 15 kg wiegenden Filmrollen ins Auto gewuchtet hat, ist
der Dienstschluss manchmal noch fern. Einmal stand er nachts im Stau und
war erst um 3.00 Uhr zu Hause. +++
Nicht nur Baden-Württemberg hat ein Kinomobil. Im Berchtesgadener Land beispielsweise ist
Elke Lachmann die mobile Vorführerin. Im Auftrag des Kreisjugendamts zeigt sie an einem
Dutzend Spielorten Filme für Kinder, bekommt ein festes Honorar und trägt eventuelle Verluste
durch geringe Einnahmen selbst. „Da ist ganz schön Druck im Nacken“, sagt die
Sozialpädagogin, die schon an ihren früheren Wohnorten Darmstadt und München Kino
gemacht hat. Auch für sie sind die Zeiten schwieriger geworden. Das Kinderkino steht selbst in
Bayern ganz oben auf der Abschussliste, wenn das kommunale Sparen losgeht.
+++ 19.40 Uhr – Für „Blueprint“ mit Franka Potente haben sich mehrere
Besigheimer Schulklassen angemeldet, denn das dem Film zu Grunde liegende
Buch von Charlotte Kerner ist offizieller Stoff für die Deutschprüfung an
Realschulen. Während der Vorführung herrscht gelegentlich Unruhe, in der
42
kurzen Pause, wenn Christian Weishäupl die Filmrolle wechselt, flammen die
Handydisplays auf. Wohl nur halb im Spaß meint ein erwachsener Zuschauer
später, er müsse eigentlich sein Geld zurückverlangen. +++
Die tollsten Orte sind gut erhaltene, „richtige alte Kinos“, findet Anja Grunwald. LaudaKönigshofen und Creglingen haben solche nostalgischen Spielstätten. Vor Ort gibt es immer
wieder freiwillige Mitarbeiter, manchmal macht eine Jugendgruppe für die Zuschauer Popcorn.
+++ 22.00 Uhr – Auch der Abendfilm ist vorbei. Christian Weishäupl und
Linnea Larsson haben ihren Hunger mit Nudeln vom Pizza-Service gestillt und
zusammen mit Hausmeister Gauger den Kabelsalat geordnet. Eine halbe Stunde
dauert es, bis das Material im Transporter verstaut ist. Während der
Heimfahrt diskutiert man noch über die Filme und die Planung der nächsten
Tage. Weishäupl setzt Linnea in Heslach ab und nimmt Kurs auf StuttgartOst. Es wird wohl bald Mitternacht sein, wenn er zu Hause ist. „Blueprint“
hat er nicht mehr zurückgespult. Morgen ist schließlich auch noch ein Tag.
+++
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