Begriffsvielfalt im Hinblick auf das „Internationale

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§2
§ 2 Begriffsvielfalt im Hinblick auf das „Internationale Strafrecht“
I. Übersicht
1
Wenn von „Internationalem Strafrecht“ die Rede ist, so kann dieser Terminus eine Vielzahl von Bedeutungen haben. Es handelt sich insofern um einen unklaren, geradezu
schillernden und insbesondere auch in verschiedenen Rechtsordnungen unterschiedlich
gebrauchten Begriff. In einem äußerst weiten Sinn kann man zum „Internationalen Strafrecht“ jedenfalls all diejenigen Teilgebiete des Strafrechts zählen, die einen wie auch immer gearteten – rechtlichen oder tatsächlichen – Auslandsbezug aufweisen. Im Einzelnen
lassen sich folgende Bedeutungen unterscheiden:
II. Völkerstrafrecht
2
Das Völkerstrafrecht umfasst alle Normen, die eine unmittelbare Strafbarkeit nach Völkerrecht begründen.1 Es handelt sich insoweit um wirklich internationales Strafrecht, da
es internationalen Rechtsquellen entspringt. Insbesondere das anglo-amerikanische
Recht verwendet den Begriff „International Criminal Law“ (Internationales Strafrecht)
in diesem Sinn.2
Beispiele: Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit, Völkermord
Die Normen des nationalen Strafrechts, die spezifisch der Umsetzung des Völkerstrafrechts in die nationale Rechtsordnung dienen, lassen sich als „nationales Völkerstrafrecht“ bezeichnen und damit zum „Völkerstrafrecht im weiteren Sinn“ zählen.
Beispiele: In Deutschland trat mit Wirkung zum 30.6.2002 das Völkerstrafgesetzbuch3 in
Kraft, welches u.a. die materiellen Straftatbestände des Völkerstrafrechts enthält (zB Verbrechen gegen die Menschlichkeit) und so eine Anpassung des deutschen Strafrechts an das Statut
von Rom, die Grundlage für den Internationalen Strafgerichtshof, ermöglichen soll.
Eine vertiefte Darstellung des Völkerstrafrechts findet sich in Teil D (§§ 12 ff).
III. Supranationales, insbesondere Europäisches Strafrecht
3
Supranationales Strafrecht in seiner engsten und eigentlichen Bedeutung liegt vor, wenn
eine supranationale Rechtsordnung selbst Straftatbestände enthält, die unmittelbar in
den jeweiligen Staaten anwendbar sind. In diesem Fall können die Gerichte der jeweiligen
Mitgliedstaaten also wegen der Erfüllung eines solchen supranationalen Straftatbestands
eine Verurteilung aussprechen. Die aus deutscher Sicht bedeutsamste supranationale
Rechtsordnung ist die der Europäischen Union (früher: Europäischen Gemeinschaft).
Wie noch zu zeigen sein wird, ist ein „Europäisches Strafrecht“ im Sinne eines „Unionsstrafrechts“ allerdings erst im Entstehen.
1 Werle, Völkerstrafrecht, Rn 71; Triffterer, in: Gössel (Hrsg.), Gedächtnisschrift für Heinz Zipf, 1999, S. 500.
2 S. nur Oehler, Int. Strafrecht, Rn 2.
3 BGBl. 2002 I, S. 2254.
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§2
§ 2 Begriffsvielfalt im Hinblick auf das „Internationale Strafrecht“
Zum Begriff des Europäischen Strafrechts in einem weiteren Sinn kann aber jede rechtliche Regelung europäischer Herkunft gezählt werden, die einen strafrechtlichen Inhalt
hat. Darunter fallen dann zB Maßnahmen der EU, die darauf gerichtet sind, das Strafrecht der Mitgliedstaaten zu harmonisieren. Ebenso können hierzu internationale Verträge im Rahmen des Europarates gezählt werden, die Auswirkungen auf das nationale
Straf(prozess)recht haben, allen voran die Europäische Menschenrechtskonvention.
Schließlich lassen sich dem Begriff des Europäischen Strafrechts im weitesten Sinn auch
all diejenigen Strafrechtsnormen des nationalen Rechts zuordnen, die durch EU-Recht
inhaltlich berührt, modifiziert oder ergänzt werden. Man kann hier von „europäisiertem
nationalen Strafrecht“ sprechen.
Eine vertiefte Darstellung des Europäischen Strafrechts findet sich in Teil C (§§ 7 ff).
IV. Strafanwendungsrecht
Insbesondere die kontinentaleuropäische Rechtsterminologie versteht unter dem Begriff
„Internationales Strafrecht“ in erster Linie die Gesamtheit derjenigen Normen, die den
Anwendungsbereich des innerstaatlichen Strafrechts festlegen.4 Ein solches Strafanwendungsrecht ist im Wesentlichen5 Bestandteil des nationalen Rechts. So legt das deutsche
Recht in §§ 3 ff StGB die Grenzen der deutschen Strafgewalt fest, indem dort Regeln
aufgestellt werden, die bestimmen, ob auf einen Sachverhalt mit Auslandsbezug das
deutsche Strafrecht angewendet werden kann.
Davon zu unterscheiden ist das sog. „interlokale Strafrecht“. Dieses kommt zum Zuge,
wenn für mehrere inländische Teilgebiete unterschiedliche partikuläre Strafrechtsordnungen existieren.6 Dies setzt aber voraus, dass aufgrund der innerstaatlichen Kompetenzverteilung für Strafrecht nicht nur der Zentralstaat, sondern auch die Teilstaaten für
den Erlass von Strafrecht zuständig sind. Eine derartige Kompetenzverteilung findet sich
in einigen ausgeprägten Bundesstaaten, wo neben dem Bundesstrafrecht mehrere unterschiedliche Länderstrafrechte bestehen.
Beispiele: Vereinigtes Königreich, USA, Mexiko, Australien.
In Deutschland war dies ebenfalls bedeutsam für Taten auf dem Gebiet der früheren
DDR, welches in strafrechtlicher Hinsicht als Inland betrachtet wurde („strafrechtlicher
Inlandsbegriff“).7 Auch für nach der Wiedervereinigung begangene Taten existierten
bis 1994/95 vergleichbare Probleme, da wichtige DDR-Strafnormen zunächst für das
Gebiet der neuen Bundesländer Geltung behielten.8 Die §§ 3 ff StGB sind für diese Situationen keine Hilfe, da sie nur bestimmen, ob deutsches Strafrecht zur Anwendung
kommt, in diesen Fällen aber geklärt werden muss, welches Teilgebiet innerhalb der
deutschen Strafrechtsordnung anzuwenden ist. Hier kommt das interlokale Strafrecht,
ein innerstaatliches Kollisionsrecht, zur Anwendung, welches allein auf Gewohnheitsrecht beruht.9
4 Oehler, Int. Strafrecht, Rn 1; kritisch zu dieser Terminologie MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 1.
5 Außerhalb des nationalen Rechts müssen allerdings auch die Vorgaben durch völkerrechtliche Verträge, die die
Rahmenbedingungen für das nationale Strafanwendungsrecht schaffen, zum Strafanwendungsrecht gezählt
werden; so auch Oehler, Int. Strafrecht, Rn 1.
6 S. nur SK-Hoyer, Vor § 3 StGB Rn 53 ff.
7 Näher dazu unten § 5 Rn 55.
8 Dies waren insbes. das Recht des Schwangerschaftsabbruchs, des Bodenschutzes sowie des sexuellen Missbrauchs von Jugendlichen.
9 Zu dessen Prinzipien vgl SK-Hoyer, Vor § 3 StGB Rn 56 ff; LK-Werle/Jeßberger, Vor §§ 3-7 StGB Rn 420 ff.
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§2
A. Einführung
Eine vertiefte Darstellung des Strafanwendungsrechts findet sich in Teil B (§§ 3 ff).
V. Rechtshilferecht
5
Der Begriff des Rechtshilferechts bezeichnet als Oberbegriff all diejenigen Regelungen,
die der grenzüberschreitenden Rechtsdurchsetzung dienen, insbesondere die Auslieferung von Straftätern, aber auch die Vollstreckungshilfe sowie die gegenseitige Unterstützung bei der Beweisbeschaffung.10 Die Notwendigkeit eines solchen Rechtshilferechts ergibt sich unmittelbar aus der Ausgestaltung der Strafanwendungsrechte der einzelnen Staaten. Danach ist es insbesondere möglich, dass sich ein Täter in einem Staat
aufhält, in welchem die von ihm begangene Tat auf Grund der Ausgestaltung des dortigen Strafanwendungsrechts der Strafgewalt nicht unterliegt. Der Staat, der die Strafgewalt ausüben kann und möchte, hat die Souveränität des Aufenthaltsstaates zu respektieren und darf sich deshalb des Beschuldigten nicht einseitig bemächtigen.11 Aus diesem
Grund werden durch das Gesetz über die internationale Rechtshilfe in Strafsachen
(IRG)12 sowie eine Vielzahl von bi- und multilateralen Verträgen detailliert die Voraussetzungen für eine Auslieferung wie auch für die sonstige Rechtshilfe aufgestellt. Gewisse
Überschneidungen mit dem Europäischen Strafrecht ergeben sich insoweit, als im Rahmen des EU-Rechts die dort geregelte Justitielle Zusammenarbeit in Strafsachen zunehmend an die Stelle des klassischen Rechtshilferechts tritt.
Diese – europäische – Entwicklung wird in Teil C (insbesondere § 10 II) näher beleuchtet.
Im Übrigen kann eine vertiefte Darstellung dieses komplexen Teilgebiets des Internationalen Strafrechts im Rahmen dieses Lehrbuchs nicht geleistet werden. Es muss auf Spezialliteratur verwiesen werden.13
6
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen
> Was versteht man unter Internationalem Strafrecht im weiteren Sinne? (§ 2 Rn 1)
> In welchen Konstellationen ist das „interlokale Strafrecht“ von Bedeutung? (§ 2 Rn 4)
> Was versteht man unter Rechtshilferecht? Wo ist es geregelt? (§ 2 Rn 5)
10 Werle/Jeßberger, JuS 2001, 36; Veh, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch, Kap. 22, Rn 3 ff; ausf. zu Grundbegriffen
und -prinzipien Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl.,
2006, Einl. Rn 1 ff; s. auch v. Heintschel-Heinegg, in: F.-C. Schroeder (Hrsg.), Justizreform in Osteuropa, 2004,
S. 107 ff.
11 Maurach/Zipf, AT, Teilband 1, § 11 Rn 37.
12 BGBl. 1982 I, S. 2071.
13 S. etwa Grützner/Pötz/Kreß, Internationaler Rechtshilfeverkehr in Strafsachen, 3. Aufl., Loseblattsammlung;
Schomburg/Lagodny/Gleß/Hackner, Internationale Rechtshilfe in Strafsachen, 4. Aufl., 2006; Vogler/Wilkitzki, IRG, Kommentar, Loseblattsammlung; Veh, in: Wabnitz/Janovsky, Handbuch, Kap. 22; vgl auch Popp,
Grundzüge der internationalen Rechtshilfe in Strafsachen, 2001.
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§3
B. Internationales Strafrecht als
„Strafanwendungsrecht“**
§ 3 Funktionen eines Strafanwendungsrechts
Als Teil der innerstaatlichen Rechtsordnung1 regelt das als „Internationales Strafrecht“
oder – besser gesagt2 – das als „Strafanwendungsrecht“ bezeichnete Recht zwei Punkte:
die Strafberechtigung eines Staates und das anwendbare Strafrecht.3
1
I. Strafberechtigung
Zunächst beantwortet das Strafanwendungsrecht die Frage, ob ein konkreter Sachverhalt mit Auslandsbezug überhaupt der eigenen nationalen Strafgewalt unterliegt. Nur
dann hat der Staat gegenüber dem Täter wie auch gegenüber allen anderen Staaten die
Befugnis, bezüglich einer Handlung strafrechtlich vorzugehen.4 Fehlt diese Strafberechtigung, so ist die Durchführung eines Strafverfahrens unzulässig. In deutschen Verfahrenskategorien besteht ein Prozesshindernis.5
2
II. Anwendbares Strafrecht
Wenn die Strafberechtigung jedoch feststeht, so bestimmt das Strafanwendungsrecht
darüber hinaus, ob das eigene materielle Strafrecht anzuwenden ist oder ob Strafrechtssätze eines anderen Staates heranzuziehen sind. Geht das Strafanwendungsrecht eines
Staates ausnahmsweise so weit, dass es festlegt, welche von mehreren möglichen Strafrechtsordnungen für einen Sachverhalt maßgeblich sein soll, so kann man auch insoweit
– ähnlich wie beim Internationalen Privatrecht6 – von einem echten Kollisionsrecht sprechen.
3
Eine derartige Anwendung einer ausländischen Strafnorm sah – bis vor kurzem –
Art. 5 I des schweizerischen StGB vor:
Wer im Auslande gegen einen Schweizer ein Verbrechen oder ein Vergehen verübt, ist, sofern die Tat auch am Begehungsorte strafbar ist, dem schweizerischen Gesetz unterworfen,
wenn er sich in der Schweiz befindet und nicht an das Ausland ausgeliefert, oder wenn er
der Eidgenossenschaft wegen dieser Tat ausgeliefert wird. Ist das Gesetz des Begehungsortes
für den Täter das mildere, so ist dieses anzuwenden.
Die §§ 3 ff StGB beruhen demgegenüber auf dem Grundprinzip, dass deutsche Strafgerichte immer nur deutsches Strafrecht anwenden. Dementsprechend bezwecken diese
Regelungen nicht die Lösung des Konfliktes mehrerer auf einen Sachverhalt anwendbarer
* Über die Internetseite http://www.lehrbuch-satzger.de können alle wichtigen Gerichtsentscheidungen,
Rechtsakte und sonstigen Dokumente, die im Lehrbuch zitiert sind, aufgerufen werden.
1 S. nur NK-Lemke, Vor § 3 StGB Rn 1; S/S-Eser, Vor §§ 3-7 StGB Rn 2.
2 S. unten § 3 Rn 4.
3 Jescheck, in: F.-C. Schroeder u.a. (Hrsg.), Festschrift für Reinhart Maurach, 1972, S. 580; LK-Werle/Jeßberger, Vor
§ 3 StGB Rn 3.
4 Jescheck/Weigend, § 18 I 1.
5 BGHSt 34, 3 f; BGH NJW 1995, 1845; LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 StGB Rn 10. Konsequenz hiervon ist die Einstellung des Verfahrens, ggf wegen § 260 III StPO auch in der Hauptverhandlung durch Urteil.
6 Vgl hierzu Kegel/Schurig, Internationales Privatrecht, 9. Aufl., 2004, S. 25.
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§3
B. Internationales Strafrecht als „Strafanwendungsrecht“*
Strafnormen, um zu bestimmen, welche Rechtsordnung für die Lösung des Falles einschlägig sein soll. Die §§ 3 ff StGB sind nach hM kein echtes Kollisionsrecht, sondern
lediglich Strafanwendungsrecht, indem sie im Sinne einer „Entweder-oder-Lösung“ bestimmen, ob deutsches Strafrecht anzuwenden ist oder nicht.7 Die Funktion des deutschen Strafanwendungsrechts liegt somit darin, den Anwendungsbereich des deutschen
materiellen Strafrechts einseitig festzulegen.8 Ist nach §§ 3 ff StGB deutsches Strafrecht
anwendbar, steht damit gleichzeitig auch die deutsche Strafberechtigung fest.
Die Bezeichnung des Strafanwendungsrechts als „Internationales Strafrecht“ weckt aber
nicht nur fehlgehende Assoziationen zum Internationalen Privatrecht. Sie suggeriert
auch, dass es sich bei den fraglichen Vorschriften um internationales Recht handelt, obwohl wir es – wie gesehen - mit nationalem Recht zu tun haben, durch das jeder Staat
einseitig die Ausdehnung des Geltungsbereichs seines Strafrechts auf transnational geprägte Sachverhalte festlegt,9
5
Das Beispiel aus der Schweiz zeigt, dass eine Ausgestaltung des Strafanwendungsrechts
als echtes Kollisionsrecht keine grundlegende Neuerung darstellte. Im Gegenteil: In einem immer enger zusammenwachsenden Europa mutet die eiserne Grundregel, dass
deutsche Gerichte nur deutsches Strafrecht anwenden, geradezu archaisch an. Eine europaweit harmonisierte Lösung, die – unabhängig vom Ort der Aburteilung – jeweils das
„sachnächste Strafrecht“ zur Anwendung brächte, könnte hier – trotz aller mit der Anwendung ausländischen Strafrechts verbundenen praktischen Probleme10 – zumindest
auf längere Sicht eine denkbare Alternative darstellen.11
Eine sog. Fremdrechtsanwendung ist dem deutschen Strafrichter auch nicht per se verboten.
Dies wird zum einen aus § 7 StGB erkennbar, wo die Anwendung ausländischen Strafrechts
zur Klärung der Frage der Tatortstrafbarkeit erforderlich ist.12 Zum anderen können auch bei
der Auslegung von Blankettstraftatbeständen13 und normativen Tatbestandsmerkmalen sowie im Rahmen verwaltungsakzessorischer Strafvorschriften wie denen des Umweltstrafrechts
Vgl statt vieler MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 1.
S. auch Satzger, NStZ 1998, 112; S/S-Eser, Vor §§ 3-7 StGB Rn 1.
MüKo-Ambos, Vor §§ 3-7,StGB, Rn 1; Satzger, Jura 2010, 109.
Zum Umgang mit Art. 5 schweiz. StGB aF s. nur Donatsch, Schweizerisches Strafgesetzbuch, 16. Aufl., 2004,
Anm. zu Art. 5 I 2 und Art. 6 Ziff. 1 S. 2 schweiz. StGB mwN.
11 S. LK-Gribbohm, 11. Aufl., Vor § 3 StGB Rn 3; Jescheck/Weigend, § 18 I.
12 Dazu ausf. unten § 5 Rn 88 ff.
13 S. hierzu § 9 Rn 58 ff sowie allgemein SSW-Satzger, § 1 StGB Rn 53.
7
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§3
§ 3 Funktionen eines Strafanwendungsrechts
Vorschriften und Wertungen anderer Rechtsordnungen heranzuziehen sein.14 Die Diskussion
um die Fragen der (indizenten) Fremdrechtsrechtsanwendung hat in den letzten Jahren an
neuem Schwung gewonnen, nachdem der EuGH entschieden hatte, dass in einem EU-Mitgliedstaat gegründete Gesellschaften das Recht des Gründungsstaats gleichsam „mitnehmen“,
wenn sie Geschäftstätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat entfalten und dort ihren tatsächlichen Verwaltungssitz einrichten.15 Diese Rechtsprechung hat nach vielfach vertretener Lesart zur Folge, dass wirtschaftsrechtsakzessorische Tatbestände des deutschen Strafrechts (z.B.
§§ 266, 283 ff StGB) durch das Recht des ausländischen Gründungsstaates „ausgefüllt“ werden.16 Dass dieses Vorgehen vor dem Hintergrund des verfassungsrechtlichen Bestimmtheitssatzes (Art. 103 II GG) freilich nicht unproblematisch ist, leuchtet ein, wenn man sich vor
Augen führt, dass letztlich ein (für die Betroffenen häufig nur schwer erkennbares) ausländisches Gesetz über die Strafbarkeit entscheidet.
III. Gefahr mehrfacher Strafverfolgung
Wenn das Strafanwendungsrecht Deutschlands und der meisten anderen Staaten nur eine
einseitige, nicht auf Kollisionslösung bedachte Regelung des Anwendungsbereichs des
eigenen sachlichen Rechts trifft, so ist die logische Folge, dass auf ein und dieselbe Tat
das Strafrecht verschiedener Staaten Anwendung finden kann. Dahinter steht einerseits
der – im Grundsatz vernünftige – Gedanke, dass durch ein möglichst dichtes Netz von
konkurrierenden Strafansprüchen sichergestellt werden soll, dass jede Straftat auch verfolgt werden kann.17 Andererseits wäre es unbillig und unverhältnismäßig, wenn der
Täter wegen einer Tat mit Auslandsbezug in allen betroffenen Staaten voll und unabhängig von Verurteilungen in anderen Staaten zur Verantwortung gezogen würde. Die
Lösung dieses Problems ist allerdings nicht einfach: Der in Art. 103 III GG verankerte
Grundsatz „ne bis in idem“ (Verbot der Doppelbestrafung) gilt nämlich nur im innerstaatlichen Bereich. Ein zwischenstaatliches Doppelbestrafungsverbot kann daher nur –
wie teilweise geschehen – durch völkerrechtliche Verträge geschaffen werden.18 Das bekannteste Beispiel hierfür ist Art. 54 Schengener Durchführungsübereinkommen
(SDÜ).19
6
Die deutsche Rechtsordnung eröffnet aber die Möglichkeit, die ausländische Strafverfolgung prozessual (§ 153c StPO) und bei der Strafbemessung (§ 51 III StGB) zu berücksichtigen:
7
n § 153c StPO erlaubt es den deutschen Strafverfolgungsorganen bei Auslands- und
Distanzdelikten – in Abweichung vom sonst grundsätzlich bestehenden Verfolgungszwang (Legalitätsprinzip) –, ausnahmsweise von der Verfolgung abzusehen.
n Wird der Täter nach Verurteilung im Ausland von einem deutschen Gericht noch
einmal verurteilt, so muss die im Ausland bereits vollstreckte Strafe bei der Strafbemessung angerechnet werden (§ 51 III StGB).
14 Ausf. zu diesen Fragen Mankowski/Bock, ZStW 120 (2008), 704 ff; Cornils, Die Fremdrechtsanwendung im
Strafrecht, 1978, passim.
15 EuGHE 2003, I–10.155 - Rs. C-167/01 „Inspire Art“; zuvor bereits EuGHE 1999, I-1459 - Rs. C-212–97 „Centros“ und
EuGHE 2002, I-9919 - Rs. C-208/00 „Überseeing“.
16 Zur Diskussion NK-Böse, Vor § 3 Rn. 63 ff; Mosiek, StV 2008, 94 f; Radtke, GmbHR 2008, 729 ff; Ransiek/Hüls,
ZGR 2009, 174 ff; Rönnau, ZGR 2005, 854 f; Schlösser, wistra 2006, 81 ff; Worm, Die Strafbarkeit eines directors
einer englischen Limited nach deutschem Strafrecht, 2009, S. 75 ff, 109 ff.
17 Werle/Jeßberger, JuS 2001, 36.
18 Ausf. hierzu unten § 10 Rn 66 ff.
19 BGBl. 1993 II, S. 1013 (Sartorius II, Nr. 280; Nomos, Textsammlung EU-Strafrecht, 2. Aufl., 2008, S. 51).
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§3
B. Internationales Strafrecht als „Strafanwendungsrecht“*
IV. Verhältnis des Strafanwendungsrechts zum Schutzbereich einzelner Tatbestände
8
Selbst wenn die Grundsätze des Strafanwendungsrechts zu dem Ergebnis führen, dass
ein deutsches Strafgesetz auf einen Sachverhalt mit Auslandsberührung Anwendung finden kann, so ist damit noch nicht gesagt, dass dieser Tatbestand tatsächlich einschlägig
ist. Stets stellt sich zusätzlich die Frage, ob die begangene Tat im Hinblick auf das verletzte Rechtsgut in den Schutzbereich des konkreten deutschen Straftatbestandes fällt.
Beispiel: Die Widerstandshandlung eines Deutschen gegen einen ausländischen Polizeibeamten ist nicht vom Schutzbereich des § 113 StGB erfasst. Der Grund hierfür liegt darin, dass
§ 113 StGB die staatlichen Vollstreckungshandlungen – und damit ein „öffentliches Rechtsgut“ – schützt. Nach den anerkannten Auslegungsgrundsätzen (dazu ausführlicher unten § 6
Rn 1 ff) werden von deutschen Straftatbeständen grundsätzlich nur deutsche, nicht aber auch
ausländische öffentliche Rechtsgüter geschützt.
9
Über die Reihenfolge der Prüfung des Strafanwendungsrechts der §§ 3 ff StGB und der
Schutzbereichsbestimmung besteht zwar Streit. Den Schutzumfang eines deutschen Straftatbestandes ermittelt man jedoch durch Auslegung. Da man sich mit der Auslegung der
Strafvorschrift aber bereits in der Phase der Anwendung deutschen Rechts befindet, steht
die Prüfung der §§ 3 ff StGB zwingend an erster Stelle.20 Auch die prozessualen Konsequenzen sprechen für die hier vertretene Ansicht: Ist deutsches Strafrecht nach den
Grundsätzen der §§ 3 ff StGB nicht anwendbar, so liegt bereits ein Prozesshindernis vor;
ob der deutsche Straftatbestand in Anbetracht seines Schutzzwecks erfüllt ist, wird dann
gar nicht mehr relevant.21
Daraus ergibt sich folgende Prüfungsreihenfolge:
1. Prüfung der Prinzipien des Strafanwendungsrechts der §§ 3 ff StGB
2. Prüfung des Schutzbereichs der konkreten Norm in Hinblick auf ausländische Rechtsgüter
10
Wiederholungs- und Vertiefungsfragen
> Wodurch unterscheidet sich das Strafanwendungsrecht funktional vom Internationalen
Privatrecht? (§ 3 Rn 3 ff)
> Wie lässt sich erreichen, dass trotz der Anwendbarkeit des Strafrechts mehrerer Staaten
auf ein und dieselbe Tat keine Doppelbestrafung erfolgt? (§ 3 Rn 6 f)
20 So auch SK-Hoyer, Vor § 3 StGB Rn 31; LK-Tröndle, 10. Aufl., Vor § 1 StGB Rn 23; Satzger, Jura 2010, 111; Schroeder, NJW 1990, 1406; aA NK-Lemke, Vor § 3 StGB Rn 26; S/S-Eser, Vor §§ 3-7 StGB Rn 13 f; Oehler, JR 1978, 382;
T. Walter, JuS 2006, 870.
21 So zu Recht SK-Hoyer, Vor § 3 StGB Rn 31.
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§4
§ 4 Anknüpfungsmodelle
u Fall 1: Ein 1993 verabschiedetes belgisches Gesetz sah vor, dass Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und (später auch) Völkermord in Belgien ungeachtet des
Orts der Taten bestraft werden konnten. Auf Grund dieses Gesetzes wurden etwa Klagen im
Hinblick auf die 1982 verübten Massaker an 800 Palästinensern in den libanesischen Flüchtlingslagern Sabra und Shatilla eingeleitet, u.a. gegen den damaligen israelischen Verteidigungsminister Ariel Scharon. Durfte Belgien sein Strafrecht auf einen solchen Fall überhaupt
anwenden? (dazu § 4 Rn 14) t
1
I. Kompetenz-Kompetenz der Staaten
Wie bereits dargelegt, handelt es sich bei dem Strafanwendungsrecht um nationales
Recht. Jeder Staat bestimmt also grundsätzlich selbst, auf welche Sachverhalte er sein
Strafrecht anwenden möchte. Ursprünglich wurde angenommen, dem Staat stünde eine
unbeschränkte Autonomie bei der Ausdehnung seines Strafrechts zu.1 Allerdings gerät
eine solche Auffassung notwendigerweise in Konflikt mit dem völkerrechtlichen Nichteinmischungsgebot.2 Denn ohne einen sinnvollen Bezug zwischen normierendem Staat
und normiertem Sachverhalt bedeutete die Erstreckung der eigenen Strafgewalt auf diesen Sachverhalt eine Verletzung fremder Souveränität und wäre daher völkerrechtswidrig. Demnach wird zwar auch heute die Kompetenz-Kompetenz zur Regelung des jeweiligen Strafanwendungsrechts den Nationalstaaten zugeschrieben,3 bei der Ausübung ihres Ausgestaltungsermessens haben diese aber völkerrechtliche Schranken zu beachten.4 Immer muss ein „sinnvoller Anknüpfungspunkt“, ein sog. „genuine link“, zwischen
normiertem Lebenssachverhalt und normierendem Staat existieren.5 Dabei ist völkerrechtlich eine Reihe von Anknüpfungspunkten anerkannt. Diese kann der nationale
Strafgesetzgeber bei der Ausgestaltung seines Strafanwendungsrechts nicht nur kombinieren, sondern auch modifizieren. Aus völkerrechtlicher Sicht ist dies nicht zu beanstanden, solange jedenfalls ein sinnvoller Anknüpfungspunkt besteht. Im Ergebnis bedeutet dies, dass dem nationalen Gesetzgeber ein sehr weiter Entscheidungsspielraum
zusteht, der seine Grenze letztlich nur im Willkürverbot findet.6
2
II. Anerkannte Prinzipien
1. Übersicht über die völkerrechtlich akzeptierten Anknüpfungspunkte
Beispiel: Ein Österreicher begeht in Spanien einen Mord an einem Italiener. In Spanien soll
er wegen dieser Tat verurteilt werden.
1 S. zB Binding, Handbuch des Strafrechts, 1885, S. 372; Mendelssohn-Bartholdy, in: Vergleichende Darstellung
des Deutschen und Ausländischen Strafrechts, Bd. VI, 1908, S. 106, 316 (zit. nach Oehler, Int. Strafrecht, Rn 111).
2 Lotus-Entscheidung des IGH, PCIJ Series A No. 10 (1927), 18 f; Epping/Gloria, in: Ipsen, Völkerrecht, § 23 Rn 85 ff.
3 S. Jescheck/Weigend, § 18 I 2; anders MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 20, der allerdings von einem sehr engen
Kompetenz-Kompetenz-Begriff ausgeht.
4 Vgl BGHSt 44, 57; BayObLG NJW 1998, 393; Oehler, Int. Strafrecht, Rn 111 ff.
5 Nottebohm-Entscheidung des IGH, ICJ-Rep. 1955, 24 ff, sowie Barcelona Traction-Entscheidung, ICJ-Rep. 1970,
1 ff; dazu Epping/Gloria, in: Ipsen, Völkerrecht, § 23 Rn 90 ff; s. auch MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 21 mwN.
6 Kasper, MDR 1994, 545.
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§4
B. Internationales Strafrecht als „Strafanwendungsrecht“*
Völkerrechtlich zulässige typische Anknüpfungspunkte des Strafanwendungsrechts sind:
n der Begehungsort der Tat (Territorialitätsprinzip bzw Flaggenprinzip)
Im obigen Beispiel dürfte Spanien deshalb seine Strafgewalt ausüben, weil der Tatort
in Spanien liegt.
n die Staatsangehörigkeit des Täters (aktives Personalitätsprinzip)
Im obigen Beispiel dürfte nach diesem Grundsatz auch Österreich seine Strafgewalt
auf diesen Lebenssachverhalt erstrecken und sein Strafrecht hierauf anwenden.
n der Schutz inländischer Rechtsgüter (Schutzprinzip), wobei man weiter danach unterscheiden kann, ob es sich
– um Rechtsgüter eines Staatsangehörigen des normierenden Staates (Individualschutzprinzip/passives Personalitätsprinzip) oder
– um Rechtsgüter des Staates selbst, insbesondere dessen Bestand bzw dessen Integrität geht (Staatsschutzprinzip)
Nach dem passiven Personalitätsprinzip dürfte also im obigen Beispiel auch Italien
seine Strafgewalt auf diesen Lebenssachverhalt erstrecken und sein Strafrecht hierauf
anwenden.
n der Schutz von Rechtsgütern, an deren Schutz ein gemeinsames Interesse aller Staaten
besteht (Weltrechtsprinzip)
Würde es sich im obigen Beispiel nicht nur um Mord, sondern auch um einen Völkermord handeln, so wäre nach dem Weltrechtsprinzip jeder Staat berechtigt, den
Sachverhalt nach seinem Strafrecht abzuurteilen, unabhängig davon, wo, von wem
und an wem die Tat begangen wurde.
4
Neben den genannten Prinzipien, die auf den anerkannten Anknüpfungspunkten aufbauen, existieren drei weitere, die zwar zu einer Erweiterung der Strafgewalt eines Staates
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§4
§ 4 Anknüpfungsmodelle
führen, ohne dass ein „sinnvoller Anknüpfungspunkt“ besteht, gleichwohl aber keinen
Verstoß gegen das Völkerrecht bedeuten. Es handelt sich um das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege, um das in zwischenstaatlichen Vereinbarungen zu findende
Kompetenzverteilungsprinzip und das sog. Unionsschutzprinzip als Erweiterung des
Staatsschutzprinzips.
2. Territorialitätsprinzip
Nach dem Territorialitätsprinzip, welches auch als „Gebietsgrundsatz“ bezeichnet
wird,7 kann ein Staat seine Strafgewalt auf alle Lebenssachverhalte erstrecken, die sich
auf seinem Staatsgebiet ereignen. Der Ort, an dem die Tat begangen wurde (Tatort),
muss also im jeweiligen Inland liegen. Demgegenüber spielt die Staatsangehörigkeit des
Täters oder des Opfers keine Rolle. Dahinter steht der Gedanke, dass die innerstaatliche
Strafrechtsordnung für jedermann Geltung haben muss, der sich im Inland aufhält.8 Im
internationalen Vergleich ist dieser Grundsatz am weitesten verbreitet.9 Eine an den
Staatsgebieten orientierte Abgrenzung kann für sich beanspruchen, den völkerrechtlichen Grundsätzen der Gebietshoheit, der Unabhängigkeit und der Gleichheit der souveränen Staaten am besten zu entsprechen.10
5
Als zu eng wird das Territorialitätsprinzip jedoch regelmäßig deshalb empfunden, weil
danach im Ausland begangene Taten, auch wenn Täter oder Opfer Inländer sind, nicht
erfasst werden können. Deshalb wird der Gebietsgrundsatz häufig mit anderen Prinzipien (Schutzprinzip, aktives Personalitätsprinzip) kombiniert.
An seine Grenzen stößt das Territorialitätsprinzip auch dann, wenn die nationalen Grenzen auf Grund des strafrechtlichen Zusammenwirkens mehrerer Staaten an Bedeutung
verlieren (sollen), so wie dies insbesondere in der EU der Fall ist. Konsequenterweise
drängt man hier auf die Einführung eines Europäischen Territorialitätsprinzips.11
Um das Territorialitätsprinzip im Strafanwendungsrecht umzusetzen, muss die nationale
Rechtsordnung zwei Fragen beantworten:
n Wo ist eine Tat begangen? (Tatortbegriff)
n Wie weit erstreckt sich das eigene Staatsgebiet? (Inlandsbegriff)
Eng mit dem Territorialitätsprinzip verwandt ist das Flaggenprinzip, das dann herangezogen werden kann, wenn die Handlung an Bord eines Schiffes oder Luftfahrzeuges begangen wird. Für diesen Fall besteht eine völkerrechtlich hinreichend enge Beziehung zu
dem Staat, dessen Flagge das Schiff berechtigterweise führt, bzw bei dem das Luftfahrzeug registriert ist.12
7 S. zB LK-Werle/Jeßberger, § 3 StGB Rn 3; zur unterschiedlichen Entwicklung und zum verschiedenen Gehalt
dieses Grundsatzes im angloamerikanischen und kontinentalen Recht Oehler, Int. Strafrecht, Rn 55 ff, 64 ff.
8 LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 StGB Rn 222; Satzger, Jura 2010, 110.
9 Jescheck/Weigend, § 18 II 1.
10 Oehler, Int. Strafrecht, Rn 152 ff; Jescheck/Weigend, § 18 II 1.
11 S. dazu unten § 10 Rn 65 sowie insbes. den Entwurf eines „Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum
Schutz der finanziellen Interessen der EU“: Delmas-Marty (Hrsg.), Corpus Juris der strafrechtlichen Regelungen zum Schutz der finanziellen Interessen der EU, 1998, sowie die aktualisierte Version dieses Entwurfs,
http://ec.europa.eu/anti_fraud/green_paper/corpus/de.doc (Stand 3/10).
12 Vgl MK-Ambos, § 4 StGB Rn 1, 5.
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§4
B. Internationales Strafrecht als „Strafanwendungsrecht“*
3. Aktives Personalitätsprinzip
7
Nach dem aktiven Personalitätsprinzip beurteilt sich das Verhalten eines Menschen stets
nach dem Strafrecht des Landes, dessen Staatsbürger er ist. Jedermann trägt somit –
bildlich gesprochen – seine Strafrechtsordnung mit sich. Ob er dabei im In- oder Ausland
handelt, spielt keine Rolle. Begründen lässt sich dieser Grundsatz damit, dass ein Staat
die Einhaltung der Ge- und Verbote der eigenen Rechtsordnung unabhängig vom Aufenthaltsort des Bürgers verlangen könne.13 Die so eingeforderte Treuepflicht, die einem
Staatsbürger auferlegt wird, wird aber häufig mit autoritärem Staatsdenken in Zusammenhang gebracht.14 Für Auslandstaten lässt sich dieser Grundsatz allerdings auch mit
dem Gedanken internationaler Solidarität begründen, jedenfalls dann, wenn die Tat auch
nach der Rechtsordnung des Begehungsorts (lex loci) mit Strafe bedroht ist, weil ein Staat
nicht tatenlos zusehen darf, wie sein Staatsbürger im Ausland Straftaten begeht.
Einen besonderen Sinn hat das aktive Personalitätsprinzip insbesondere für solche Staaten, deren Rechtsordnung ein Auslieferungsverbot für eigene Staatsangehörige vorsieht,
wie etwa die deutsche in Art. 16 GG.15 Flüchtet der eigene Staatsbürger nach einer Auslandstat ins Inland, bietet das aktive Personalitätsprinzip eine Möglichkeit, ihn für diese
Tat strafrechtlich zur Verantwortung zu ziehen.
In seiner reinen Ausprägung hat das aktive Personalitätsprinzip zur Folge, dass Inlandstaten von Ausländern nicht erfasst werden können, und zwar nicht einmal dann, wenn
sie gegenüber einem Inländer begangen werden. Diese offensichtlich untragbare Konsequenz kann durch eine entsprechende Kombination mit dem Territorialitätsprinzip und/
oder dem Schutzprinzip vermieden werden.
Um das aktive Personalitätsprinzip umzusetzen, muss eine Rechtsordnung jedenfalls definieren, wer Inländer ist.
8
Anstatt an die Staatsangehörigkeit des Täters anzuknüpfen, ist es theoretisch auch möglich, dessen Wohnsitz im Inland als Anknüpfungspunkt heranzuziehen. Man spricht
dann vom Domizilprinzip.16 Die Umsetzung dieses Prinzips setzt die nähere Definition
des „Wohnsitzes“ voraus.
4. Schutzprinzip
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Nach den Grundsätzen des Schutzprinzips erstreckt sich die Strafgewalt eines Staates auf
alle Handlungen, durch die inländische Rechtsgüter gefährdet oder verletzt werden.17 Es
kommt demnach nicht darauf an, ob die Tat im In- oder Ausland begangen wurde;
ebenso unerheblich ist, ob der Täter In- oder Ausländer ist. Seine Rechtfertigung zieht
dieser Grundsatz aus dem Gedanken, dass jeder Staat dazu berufen ist, seine Rechtsgüter
– und die seiner Bürger – zu schützen.
In seiner Reinform erfasst das Schutzprinzip allerdings Inlandstaten gegenüber Ausländern oder ausländischen Staaten nicht, und zwar selbst dann nicht, wenn der Täter In13 Es handelt sich um den geschichtlich frühesten Anknüpfungspunkt, da nach alter Rechtsauffassung der
Rechtsstatus des Menschen durch seine Stammeszugehörigkeit bestimmt wurde, s. Jescheck/Weigend,
§ 18 II 3.
14 LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 StGB Rn 234; vgl auch Jescheck/Weigend, § 18 II 3; Satzger, Jura 2010, 110; sehr
kritisch auch MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 36 ff.
15 Vgl auch MK-Ambos, § 7 StGB Rn 1.
16 Vgl Kielwein, in: Hohenleitner u.a. (Hrsg.), Festschrift für Theodor Rittler, 1957, S. 97 ff.
17 Jescheck/Weigend, § 18 II 4.
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§ 4 Anknüpfungsmodelle
länder ist. Dementsprechend dient dieser Grundsatz in erster Linie der Ergänzung anderer Prinzipien. Das Schutzprinzip kommt dabei insbesondere bei Auslandstaten von
Ausländern gegenüber inländischen Rechtsgütern zum Einsatz.18
Je nach der Art des zu schützenden inländischen Rechtsguts lassen sich zwei Ausprägungen des Schutzprinzips unterscheiden:19
a) Staatsschutzprinzip
Steht der Selbstschutz des Staates und seiner Institutionen in Rede, wie zB im Falle von
Hoch- oder Landesverrat, so spricht man vom Staatsschutzprinzip. Dessen Rechtfertigung ist evident: Der Täter stellt selbst durch die Angriffsrichtung die hinreichend enge
Beziehung zum betroffenen Staat her.20 Durch ausländisches Strafrecht wird dieser zudem regelmäßig nicht geschützt, so dass nur die eigene Strafrechtsordnung Angriffe auf
die eigenen Interessen des Staates strafrechtlich sanktionieren kann. Von daher kann die
Berufung auf das Staatsschutzprinzip auch nicht davon abhängig gemacht werden, dass
die Tat auch nach dem Recht des Begehungsortes (lex loci) strafbar ist.21
10
b) Individualschutzprinzip (passives Personalitätsprinzip)
Auch wenn es um die Verletzung von Individualrechtsgütern der Angehörigen eines
Staates geht, wie zB deren Eigentum oder Vermögen, so ist das Schutzinteresse des Heimatstaates als „legitimierender Anknüpfungspunkt“ anerkannt.22 Allerdings ist die
Rechtfertigung dieses Prinzips weit weniger eindeutig als beim Staatsschutzprinzip.23
Denn hier geht es zumeist um Auslandstaten, die von einem Ausländer, regelmäßig sogar
von einem Angehörigen des Tatortstaates, gegenüber einem Inländer begangen werden.
Dass hier nicht ohne Weiteres die Geltung des inländischen Strafrechts gefordert werden
kann, wird dann deutlich, wenn man sich die Konstellation vor Augen führt, dass die
Tat am Tatort nicht unter Strafe steht. Der (ausländische) Täter ist dann nicht Normadressat des inländischen Strafrechtssatzes.24 Würde gleichwohl inländisches Strafrecht
auf diesen Lebenssachverhalt angewendet, so müsste dieses als „Fremdkörper“ erscheinen, die Verbindung zur inländischen Rechtsordnung wäre nicht hinreichend stark. Im
Gegensatz zum Staatsschutzprinzip ergibt sich ein hinreichender Anknüpfungspunkt
nicht aus der Tat selbst, da diese sich nicht per se gegen inländische Rechtsgüter richtet.
Dementsprechend wird als völkerrechtlich gebotenes Korrektiv für die Anwendung des
Individualschutzprinzips zu Recht gefordert, dass die Tat auch nach dem Recht des Begehungsortes (lex loci) unter Strafe stehen muss.25 Ein uneingeschränktes, absolutes passives Personalitätsprinzip ist demzufolge völkerrechtlich nicht zulässig.26
18 MK-Ambos, Vor § 3 StGB Rn 39.
19 Kritisch zur hier verwendeten Terminologie Henrich, Das passive Personalitätsprinzip im deutschen Strafrecht, 1995, S. 30 f.
20 Jescheck/Weigend, § 18 II 4; Satzger, Jura 2010, 110.
21 MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 40; NK-Böse, Vor § 3 StGB Rn 19.
22 Tw. wird der Aspekt des Individualschutzprinzips nicht dem Schutzprinzip untergeordnet, sondern als eigenständiger Punkt „passives Personalitätsprinzip“ dem „aktiven Personalitätsprinzip“ gegenübergestellt, s. zB
SK-Hoyer, Vor § 3 StGB Rn 11.
23 Zurückhaltend auch MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 42.
24 Jescheck/Weigend, § 18 II 4.
25 Oehler, Int. Strafrecht, Rn 127 f; LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 StGB Rn 230; Jescheck, in: F.-C. Schroeder u.a.
(Hrsg.), Festschrift für Reinhart Maurach, 1972, S. 581.
26 MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 44; vgl auch Satzger, Jura 2010, 110.
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B. Internationales Strafrecht als „Strafanwendungsrecht“*
5. Weltrechtsprinzip
12
Der Weltrechtsgrundsatz, auch Universalitätsprinzip genannt, bedeutet, dass jeder Staat
der Welt berechtigt ist, seine Strafgewalt auf eine Tat zu erstrecken, unabhängig davon,
wer die Tat begangen hat, wo sie begangen wurde und welche Nationalität das Tatopfer
hatte. Offensichtlich würde die umfassende Anwendung dieses Grundsatzes bedeuten,
dass man von der Forderung nach einem völkerrechtlich legitimierenden Anknüpfungspunkt Abstand nehmen müsste. Denn nichts würde es rechtfertigen, dass ein nigerianisches Strafgericht einen Chinesen, der in Polen ein Kfz gestohlen hat, das einem Mexikaner gehört, nach seinem Strafrecht aburteilt. Eine hinreichend enge Beziehung, die
jedwedem Staat der Welt Strafgewalt verleiht, wird deshalb hier nicht über die faktischen
Umstände des Lebenssachverhalts (Begehungsort, Staatsangehörigkeit des Täters bzw
Opfers) hergestellt, sondern entweder über die Bedrohung der gemeinsamen Sicherheitsinteressen aller Staaten (wie zB im Fall der Piraterie oder des Terrorismus)27 oder über
die Natur des gefährdeten oder verletzten Rechtsguts. Immer dann, wenn sich eine Tat
gegen übernationale Kulturgüter richtet, an deren Schutz ein internationales Interesse
aller Staaten besteht, stellt der Täter selbst durch die Angriffsrichtung eine hinreichend
enge Beziehung zu den Rechtsordnungen aller Staaten der Welt her.28 Es handelt sich
somit um eine ähnliche Konstellation wie beim Staatsschutzprinzip.
13
Die Umsetzung des Weltrechtsprinzips setzt die schwierige Aufgabe voraus, weltweit
anerkannte Wertmaßstäbe zu etablieren, die eine Zuordnung von Rechtsgütern zu den
universell geschützten erlaubt. Eindeutig ist die rechtliche Situation im Hinblick auf die
Völkerrechtsverbrechen, wie sie im Statut von Rom29 niedergelegt wurden. Das neue
VStGB verfährt insoweit generell nach dem Weltrechtsprinzip (§ 1 VStGB).30
14
In Anbetracht der völkerrechtlichen Anerkennung des Weltrechtsprinzips für völkerrechtliche Verbrechen ist es in Fall 1 zulässig, wenn belgische Gerichte belgisches Strafrecht auf entsprechende Sachverhalte anwenden können, auch wenn ansonsten keine
weiteren „sinnvollen Anknüpfungspunkte“ zum belgischen Staat oder dessen Staatsangehörigen bestehen. Das belgische Gesetz führte jedoch zu diplomatischen Verwicklungen, so dass es – insbesondere nach politisch motivierter israelischer und US-amerikanischer Kritik – im Jahr 2003 stark abgemildert wurde.
6. Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege
15
Das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege (Stellvertretungsprinzip) dient im Gegensatz zu den bislang behandelten Prinzipien lediglich der Lückenfüllung. Es beruht auf
dem Gedanken der Solidarität der Staaten bei der Verbrechensbekämpfung und ergänzt
die Strafgewalt anderer Staaten. Dieses Prinzip erfüllt daher eine subsidiäre Funktion.31 Das inländische Strafrecht soll für eine ausländische Strafrechtsordnung nur dann
eintreten, wenn der ausländische Staat, der an sich nach dem Territorialitätsprinzip zur
Verfolgung berufen wäre, nicht tätig werden kann, weil der Täter im Inland ergriffen
worden ist und aus rechtlichen oder tatsächlichen Gründen nicht ausgeliefert werden
kann.32 Die Strafrechtsanwendung erfolgt hier aber – wie der Name besagt – nur stell27
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32
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Dazu MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 47.
Jescheck/Weigend, § 18 II 5; Satzger, Jura 2010, 110.
Amtliche deutsche Übersetzung in BGBl. 2000 II, S. 1394 (Sartorius II, Nr. 35).
S. dazu unten § 17 Rn 38 sowie Satzger, NStZ 2002, 131 f; ders., ICLR 2002, 279 f.
S/S-Eser, Vor §§ 3-7 StGB Rn 9.
Jescheck/Weigend, § 18 II 6; Satzger, Jura 2010, 110.
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§ 4 Anknüpfungsmodelle
vertretend, dh die Ausübung der eigenen Strafgewalt erfolgt an Stelle des ausländischen
Staates. Zentrale Voraussetzung des Stellvertretungsprinzips ist daher die Strafbarkeit
des Verhaltens nach dem Recht des Begehungsortes (lex loci). Ebenso würde es dem
Stellvertretungsgedanken widersprechen, wenn eine bereits im Tatortstaat (durch Aburteilung, Straferlass, Begnadigung) erledigte Tat aufgegriffen würde.33
Hat ein politischer Flüchtling in seinem Herkunftsland zB einen Mord begangen, der
auch dort strafbar ist, so soll der Täter nicht deswegen straflos bleiben, weil der Sachverhalt keinen Anknüpfungspunkt zum Aufenthaltsstaat hat und der Täter nicht an das
Herkunftsland ausgeliefert werden kann.
Das Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege erzeugt – ebenso wie auch das Individualschutz- und das aktive Personalitätsprinzip – gewisse praktische Probleme bei der
Strafrechtsanwendung, wenn von den inländischen Richtern verlangt wird, festzustellen,
ob ein Verhalten nach ausländischem Recht strafbar ist.34 Es liegt zudem in der Konsequenz dieses Grundsatzes, dass Wertentscheidungen anderer Rechtsordnungen Berücksichtigung finden müssen, selbst dann, wenn sie den eigenen entgegenstehen.35
16
7. Kompetenzverteilungsprinzip
Als neueres, zukunftsweisendes Prinzip hat sich im Bereich internationaler Übereinkommen das Kompetenzverteilungsprinzip entwickelt. Ihm liegt der Gedanke zu Grunde,
dass eine Überschneidung der Geltungsbereiche der Strafrechtsordnungen möglichst
durch entsprechende Vereinbarung zwischen den Staaten vermieden und Doppelbestrafungen so ausgeschlossen werden sollen.36 In den diesen Grundsatz festlegenden und
ausformenden Übereinkommen wird die Kompetenz zumeist dem Staat, in dessen Staatsgebiet der Täter seinen Wohnsitz hat oder in dem die Verurteilung am zweckmäßigsten
erscheint, zugewiesen.37 Allerdings geht es hierbei – anders als bei den anderen Prinzipien
– nicht um die einseitige Ausdehnung nationaler Strafgewalt, sondern um eine völkerrechtliche Kompetenzregelung zur Vermeidung von Jurisdiktionskonflikten.38
17
8. Unionsschutzprinzip (ehemaliges Gemeinschaftsschutzprinzip)
Als strafanwendungsrechtlicher Anknüpfungspunkt im Entstehen begriffen ist das sog.
Unionsschutzprinzip, welches infolge der Auflösung der Säulenstruktur der EU39 dem
Gemeinschaftsschutzprinzip40 nachfolgt. Hierbei handelt es sich um eine Erweiterung
des Staatsschutzprinzips, welche besagt, dass die Mitgliedstaaten Taten, die sich gegen
die Interessen der EU richten, auch dann bestrafen dürfen, wenn diese im Ausland begangen werden. Das Prinzip ist somit notwendiges strafanwendungsrechtliches Korrelat
einer unionsrechtskonformen Auslegung deutscher Straftatbestände.41 Es ist deshalb erforderlich, weil ein Vorgehen der Mitgliedstaaten bei Auslandstaten gegen Rechtsgüter
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Sog. Erledigungsprinzip, s. Jescheck/Weigend, § 18 II 6.
Zur Möglichkeit des Sachverständigenbeweises für diese Rechtsfragen s. nur L/R-Krause, Vor § 72 StPO Rn 12.
Näher dazu insbes. unten § 5 Rn 93 ff, 99, 101.
LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 StGB Rn 255; dies., JuS 2001, 37.
LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 StGB Rn 256.
Näher dazu MK-Ambos, Vor §§ 3-7 StGB Rn 61; LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 StGB Rn 255 f.
Dazu unten § 7 Rn 7.
Näher hierzu LK-Werle/Jeßberger, Vor § 3 StGB Rn 251 f; vgl auch Oehler, Int. Strafrecht, Rn 913.
S. dazu unten § 9 Rn 86 ff.
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der Union auf Grund der herkömmlichen Strafanwendungsprinzipien vielfach ausgeschlossen ist.42
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Wiederholungs- und Vertiefungsfragen
> Inwiefern besteht eine „Kompetenz-Kompetenz“ der Staaten hinsichtlich der Gestaltung
ihres Strafanwendungsrechts und worin findet diese ihre Grenzen? (§ 4 Rn 2)
> Welche legitimierenden Anknüpfungspunkte sind im Völkerrecht grundsätzlich anerkannt? (§ 4 Rn 3 f)
> Welche beiden Grundfragen muss die nationale Rechtsordnung bei der Umsetzung des
Territorialitätsprinzips klären? (§ 4 Rn 5)
> Welche Rolle kommt dem sog. „Prinzip der stellvertretenden Strafrechtspflege“ zu?
(§ 4 Rn 15 f)
> Welcher Gedanke liegt dem Kompetenzverteilungsprinzip zu Grunde? (§ 4 Rn 17)
42 S. auch Oehler, Int. Strafrecht, Rn 916.
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Zugehörige Unterlagen
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