Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachen

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Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Nicdersachsen
Verwaltung - Bewirtschaftung - Nachhaltigkeit
VON STEFAN BRAKENSIEK
In jüngster Zeit hat sich die Geschichtswissenschaft in Westeuropa intensiv mit
der Frage befaßt, wie die Landbevölkerung vor dem 19. Jahrhundert mic den
seinerzeit weitverbreiteten gemeinschaftlichen Ressourcen umgegangen ist.1 Die
Anregung dazu ging von den aktuellen Debatten um die sozialen und ökonomischen Probleme in den Ländern der sogenannten „Dritten Welt" und um die ökologischen Folgen des wirtschaftlichen Wachstums in den Industriestaaten aus.' Die
Debatte kreis: vor allem um das Problem, ob Menschen mit kollektivem Besitz
notwendigerweise verantwortungslos umgehen. Unter dem Schlagworr „tragedy
of the commons" wurde und wird vielfach behauptet, daß allgemein genutzte,
kostenlose Ressourcen auf Dauer zerstört werden, weil sich niemand um ihre
Erhaltung kümmere.3 Träfe diese Annahme ausnahmslos 7u, wären katastrophale
Folgen angesichts der ökologischen Probleme mit den globalen „Gemeinheiten"
Klima und Meere unausweichlich/ Diese pessimistische Sicht ist nicht unwidersprochen geblieben. So har EÜnor Ostrom den politisch folgenreichen Versuch unternommen, ein Bündel von Kriterien für eine nachhaltige Nutzung gemeinschaftlichen Eigentums zu entwickeln.5 Ihre Überlegungen gehen den Fragen nach, wie
gemeinschaftliche Ressourcen dimensioniert sein sollten und wie ihr „management" beschaffen sein muß, damit die Nutzer mit ihnen verantwortlich umgehen.
Aus diesem Katalog haben Initiativen der Entwicklungshilfe, NGO's und Globalisierungsgegner, mittlerweile auch zunehmend staatliche und transnationale Institutionen, konkrete Maßnahmen für den Schutz kleiner und großer „commons"
abgeleitet, die unter dem Schlagwort „Nachhaitigkdt" deren langfristige Erhaltung
1 Zum Stand der Forschung vgl. MARTINA DF.MoOR, PAUL S, WARDE, LF.IGH SHAW-TAYLOR (Hgg.),
The management of common land in North West Europe, ca.1500-1850 (= Comparativc Rural
Hisrory of the North Sea Area 8), Turnhout 2002.
2 Im Jahr J989 wurde die International Associaüou for Jit Stujy of Common Propcrty (IASCP)
gegründet, der Politikwissemchafrler, Anthropologen, Ökonomen, Historiker, Ökologen und
andere Naturwissenschaftler angehören. Zu den Ergebnissen der interdisziplinären Diskussion
vgl. DANIEL W. BROMI.EY (Hg.), Making the commoris work, Theory, practice, and policy
(= Publiciition of the International Center for Self-Governance), San Francisco 1992.
3 Diese Ansicht beruht auf einer langen liberalen Tradition, deren Wnrzcln irn 18. Jahrhundert
liegen. Für die aktuelle politische Debatte bildete ein Artikel von Garrett Hardin in 'Science'
aus dem Jahr 1968 den Auftakt. Vgl. GARKETT HARDIN, JOHN BADEN (Hgg.), Managing the
commons, San Francisco 1977.
4 WILLIAM D. NORDHAUS (Hg.), Managing the global commons. The economics of climate change,
Cambridge/Mass. 1994.
'
.
5 ELINOK OSTROMj Governing the cominons. The Evolution of institutions for collective action
(= The political economy of instituüons and dedsions), Cambridge 1990; dt.r Die Verfassung
der Allmende. Jenseits von Staat und Markt (= Die Einheit der GesellschaftsWissenschaften 104),
Tübingen 1999.
291
in: Kloster- Stadt - Region. Festschrift für Heinrich Rüthing, hrsg.
von Johannes Altenbehrend u. Reinhard Vogelsang, Bielefeld 2002.
Seefan Bmkcnsiek
und aktuelle ökonomische Nutzung in Einklang zu bringen versprechen. Von diesen Überlegungen gehe ich aus, um mich der Geschichte der Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachen zuzuwenden, einem Thema, das bislang eine
Domäne der Mediävistik, der genetischen Siedlungsforschung und der modernisierungstheoretisch angeleiteten Sozialgeschichte gewesen ist.6
Will man sich einen Überblick darüber verschaffen, welche Formen des gemeinschaftlichen Grundbesitzes in Westfalen und Niedersachsen vor der großen Privatisierungsweife des 19. Jahrhunderts bestanden und wie dessen Verwaltung und
Bewirtschaftung beschaffen waren, gerät man in beträchtliche Schwierigkeiten.
Zwar liegen beeindruckende Quellensammlungen und Studien über die Entstehung und die „Verfassung" der Marken in ganz Deutschland und speziell auch im
Nordwesten vor. Um jedoch die naheliegenden Fragen nach dem alltäglichen Gebrauch kollektiver Ressourcen, nach deren ökonomischen Bedeutung für die
verschiedenen Nutzungsberechtigten sowie nach den institutionellen und wirtschaftlichen Veränderungen zwischen dem Hochmittelalter und dem späten 18.
Jahrhundert beantworten zu können, bedürfte es aktueller wirtschafts- und sozialgeschichtlicher Fallstudien. Die liegen jedoch bislang nicht vor, so daß an dieser
Stelle auf der Grundlage einiger regionaler oder lokaler Befunde lediglich Tendenzaussagen zu treffen und offene Fragen zu formulieren sind.
Im 19. und frühen 20. Jahrhundert ging von der Idee des Ursprungs historischer
Phänomene eine große Faszination aus, nahm man doch an, daß ihr Keim bereits
alles enthielt, was ihr Wesen ausmachte. Beginnend mit Jacob Grimm, August von
Haxthausen, Friedrich Carl von Savigny und Paul Wigand war die romantische
Rechtsschule eifrig bemüht, „Rechtsaltertümer" zu sammeln, von denen sie annahm, sie spiegellen den „Volksgcist" in der deutschen und sogar in der germanischen Vergangenheit wider. Jacob Grimm regte die umfangreiche Sammlung von
Wcistümern an und organisierte ihre Edition, die bis heute unentbehrlich ist, will
man das Verhältnis zwischen Grundherren und Bauern im Mittelalter und in der
Frühen Neuzeit verstehen.7 Diese Quellcnsammlung liegt den beeindruckenden
rechts- und verfassungsgeschichrlichen Systematisierungsangeboten aus der zweiten Hälfte des 19- Jahrhunderts zugrunde." Und selbst die meisten späteren Stu-
6 Meine Beschäftigung mit den n ord westdeutschen Marken und Gemeinheiten ist maßgeblich von
Heinrich Rülhing angeregt worden. Ich erinnere mich lebhaft an eine von ihm geleitete sledIimgsgescliichtliche Exkursion zu Beginn der achtziger fahre, die durch das Ravensberger und
Paderborner Land führte.
7 JÄCOR GRIMM u.a. (Bearb.), Wcisthümer, 7 Bde., Götcingen 1840-1878. Für das nordwestliche Deutschland Ist heranzuziehen: Bd. 3, Göttingen 1842, -S. 1-217 (Westfalen) und S. 218
-321 (Niedcrsachen); Bd. 4, Göttingen 1863, S. 648 -708 (Niedersachsen); Bd. 6, Göttingen
1869, S. 715-734 (Westfalen) und S, 734-737 (Niedersachsen).
8 GEORG LUDWIG VON MAURER, Geschichte der Markenverfassuug in Deutschland, Erlangen 1856
(NÜ: Aalen 1962); FRIEDRICH VON TuUD1C1 fUM, Die Gau- und Markverfassimg in Deutschland,
Gießen 1860; O')"l'O VON GiERKfc, Das deutsche Genossenschaftsrcchr 1: Rechtsgeschichte der
deutschen Genossenschaft, Berlin 1868 (ND: Darmsradt 1964).
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Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedenachsen
dien basieren auf der Grimm'schen Quellensammlung oder teilen zumindest dessen
romantisch-essentialistisches Vorverständnis.9
Selbst wenn wir diese esseritialistische Sicht auf die „Verfassung" der deutsche
Marken, von der die Forschung bis 1945 so maßgeblich geprägt wurde, nicht länger teilen, profitieren wir weiterhin von den Ergebnissen dieser älteren Arbeiten.
Aktuelle Quellencditionen und empirische Stadien liegen für den Südwesten
Deutschlands10, für Bayern und Thüringen" sowie für Schleswig12 vor. Für das
nordwesdiche Deutschland müssen wir uns mit einer Edition friesischer Quellen"
und einer schmalen Studie über die Oldenburger Bauerbriefe 14 begnügen, die
jeweils Bestände aus lediglich eng umgrenzten Regionen aufführen. Das meiste
informative Material, auf das wir uns stützen können, stammt eigentümlicherweise
noch immer aus dem 18. und frühen 19- Jahrhundert, als Juristen und Beamte
über Marken und Gemeinheiten schrieben, weil sie mit ihrer Verwaltung befaßt
9 OTTO FRGUDENSTEIN, Geschichte des Waldcigenthums in der Grafschaft Schaumburg. Ein Beitrag zur Lehre von den Markgenossenschaften, Hannover 1879; FRIEDRICH PHIL.IPPI (Bearb.),
Landrechre des Münsterlandes (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfeien. Westfälische Landrechte 1), Münster 1907; HEINRICH SCHOTTE, Studien zur Geschichte der westfälischen Mark und Markgenossenschaft mit besonderer Berücksichtigung des
Münsterlandcs (Münsterische Beiträge zur Geschichtsforschung NF 17), Münster 1908; JOSEF LAPPE, Die Bauerschaften und Huden der Stadt Salzkotren, Heidelberg 1912; FRANZ
FLOEK, Das Stift Borghorst und die Ostendorfer Mark - Grundherrschaft und Markgenossenschaft im Münsterland (= Tübinger Staats Wissenschaft! i ehe Abhandlungen N.F. 5), Berlin 1914.
10 KARL KOLLNIG (Bearb.), Die Weistümer der Zent Schriesheim (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg A/16), Stuttgart 1968; DER.S.
(Bearb.), Die Weistümer der Zent Kirchheim (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Bade n-Württemberg A/29), Stuttgart 1979; DERS. (Bearb.), Die
Weistümer der Zentcn Eberbach und Mosbach (= Veröffentlichungen der Kommission für Geschichtliche Landeskunde in Bade n-Württemberg A/38). -Stuttgart 1985; KARL SCHUMM, MARIANNE SCHLIMM (Bearb.), Hohenlohische Dorfordnungen (= Veröffentlichungen der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Badcn-Würuemberg A/37), Stuttgart 1985; CHRISTEL
KRÄMER, KARL-HEIM/. SPIESS (Bearb.), Ländliche Rechtsquellen aus dem kurtricrischen Amt
Cochem (= Geschichtliche Landeskunde 23), Stuttgart 1986; SIGRID SCHMITT, Territorial Staat
und Gemeinde im kurpfälzischen Oberamt Alzey vom 14. bis zum Anfang des 17. Jahrhunderts (- Geschichtliche Landeskunde 38), Stuttgart 1992; DIES. (Bearb.), Ländliche Rechtsquellen aus den kunnainzischen Ämtern Olm und Algcslidm (= Geschichtliche Landeskunde 44),
Stuttgart 1996.
11 WALTER HARTINC;ER (Bearb.), „... wie von alters herkommen ...". Dorf-, Hofmarks-, Ehchaftund andere Ordnungen in Ostbayern (- Passauer Studien zur Volkskunde 14/15), 2 Bde., Passau 1998; BERND SCHILDT, Bauer-Gemeinde-Nachbarschaft. Verfassung undRechi der Landgemeinde Thüringens in der frühen Neuzeit (= Regionalgeschichtliche Forschungen), Weimar
1996.
12 MARTIN RHEINHEIMEK, Die Dorfordnungen im Herzogtum Schleswig. Dorf und Obrigkeit in
der Frühen Neuzeit (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichtc 46), 2 Bde., Stuttgart
1999.
13 WILHELM EKEL (Bearb.), Ostfriesische Bauerrechte (= Quellen zur Geschichte Ostfrieslands 5),
Aurich 1964.
14 EKKEHARD SEEBER, Die Oldenburger Bauerbriefe. Untersuchungen zur häuerlichen Selbstverwaltung in der Grafschaft Oldenburg von 1580 bis 1810 (= Oldenburger Studien 14), Oldenburg 1975293
Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen
oder mir akrucllen Problemen anläßlich ihrer Privatisierung konfrontiert waren.'5
Dieser Prozeß der Auflösung der ehemals gemeinschaftlich genutzten Güter ist in
den letzten Jahren gründlich in seinen sozialen, ökonomischen, politischen und
zuletzt auch ökologischen Hinsichten analysiert worden.16
Die angeführten Gründe sind dafür verantwortlich, daß wir so wenige Studien
haben, die mehr bieten als eine einfache Beschreibung des institutionellen Rahmens der Gemeinheiten und Marken. Vor allem verfügen wir über keine aktuellen Arbeiten zur Dynamik des Wandels beim Gebrauch und bei der Organisation kollektiver Güter. Deshalb kann dieser Artikel auch ntir Eindrücke und keine
endgültigen Ergebnisse vermitteln.
L Agrarregionen in Westfalen und Niedersachsen
Das nordwestliche Deutschland war bekanntlich eine Gegend mit vorwiegend
ungeteilter Vererbung. Die feudalen Bindungen der Bauern an ihre Grund- und
Leibherren hatten bedeutende Konsequenzen. Zwar spielten Fronen nur in einigen Gebieten Niedersachsens eine große Rolle, und die Bauern hatten im Verlauf
der Frühen Neuzeit ein erbliches Besitzrecht an ihren Höfen erworben, gleichwohl
türmten sich die aus der Grund- und Leibherrschaft rührenden Abgaben zu einerdrückenden Last. In der Regel waren die Bauern verpflichtet, Zehnten zu entrichten, Renten zu zahlen und Naturalabgaben zu leisten. Wollten sie heiraten,
einen Teil ihres Grund und Bodens verkaufen oder beleihen, mußten sie ihre
Grund- beziehungsweise Gutsherren um Erlaubnis bitten. Die Beziehung zwischen
15 FRIEDRICH GOTTHILF PIPER, Historisch-juridische Beschreibung des Marken-Rechtes in Westfalen, Halle/Saale 1763; JUSTUS MöSER, Osnabrück: s ehe Geschichte. Allgemeine Einleitung,
Berlin 1768 (ND: Sämtliche Werke. Historisch-kritische Ausgabe 12/1, Oldenburg/Hamburg,
1964, S. 63-69); JUSTUS FRIEDRICH AUGUST LODTMANN, De jure holzgraviali, praesertim in
episcopatu Osnabrugensi libellus, Lcrago 1770; JOHANN AECIDIUS KLÖNTRUP, J. F. A SCHLEDEHAUS, Das Osnabrückische genieine Marken-Recht, Hannover u.a. 1782; JOHANN AcGiDlL'S
KLÜNTRUP, Von den Erbexen und Gutsherrn in Rücksicht auf das Markenrecht, Osnabrück
1783; HERS., Alphabetisches Handbuch der besonderen Rechte und Gewohnheiten des Hochstiftes Osnabrück mir Rücksicht auf die benachbarten westfälischen Provinzen, 3 Bde., Osnabrück 1798-1800; K. F. LUDWIG VON Lüw, Ucbcr die Markgenossenschaften, Heidelberg 1829;
CLEMENS AUGUST BEHNES, Beiträge zur Geschichte und Verfassung des ehemaligen Niederstes
Münster, Emdcn 1830, S. 90-117; JOHANN CARL BERTRAM STÜVE, Geschichte des Hochstifts
Osnabrück von 1508 bis 1623, Bd. 2, Osnabrück 1872 (ND: Osnabrück 1970).
16 STEFAN BRAKENSIEK, Agrarreform und ländliche Gesellschaft. Die Privatisierung der Marken in
Nord westdeutsch l and 1750-1850 (- Forschungen zur Region algcschichte !), Paderborn 1991;
REINER PRASS, Reformprogramm und bäuerliche Interessen. Die Auflösung der traditionellen
Gemcindeökonomie im südlichen Niedersachsen, l 750-1883 (= Veröffentlichungen des MaxPlanck-Instiiuts für Geschichte 132), Göttingen 1997; RITA GUDERMANN, Morastwelt und Paradies. Ökonomie und Ökologie in der Landwirtschaft am Beispiel der Meliorationen in Westfalen und Brandenburg (1830-1880) (- Forschungen zur Regionalgeschichte 35), Paderborn
2000. Zur Einordnung der deutschen Entwicklung in den europäischen Kontext vgl. STEFAN
BRAKENSIEK (Hg.), Gcmeinheitsteilungen in Europa. Die Privatisierung der kollektiven Nutzung des Bodens im 18. und 19. Jahrhundert (= Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte 2000/2).
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Adel und Bauern unterlag in den meisten hannoverschen Territorien dem Meierrecht, das den Bauern ihre persönliche Freiheit ließ.' 7 In Westfalen waren die
meisten Bauern wesentlich strengeren feudalen Bindungen, der sogenannten Eigenbebörigkeit, unterworfen, verbunden mit intensiver Kontrolle durch die Grundherren und hohen Abgaben, insbesondere anläßlich der Verheiratung und im Erbfall.18
In weiten feilen Nordwestdeutschlands, namentlich im niederdeutschen Flachland und im Weserbergland lebten die Bauern in Einzelhöfen oder in vergleichsweise kleinen Dörfern (Drubbefy. Nur im Südosten, in Teilen Calenbergs, Göttingen-Grubenhagens und im Paderborner Land überwog die geschlossene Dorfsiedlung und vor allem dort fanden sich Systeme der Mehrfelderwirtschaft. Von
diesem generellen Muster können zahlreiche Variationen beobachtet werden, und
die historisch-geographische Sicdlungsforschung hat sie im Detail untersucht. 19
17 WERNER WlTTlCH, Die Grundherrschaft in Nord Westdeutschland, Leipzig 1896; WALTER ACHILLES, Ländliche Wirtschafte- und So/talgeschichte von der Mitte des 17. bis zum Beginn des l 9.
Jahrhunderts, in: CHRISTINE VAN DEN HEUVEL, MANFRED VON BOETTICHER (Hgg.), Geschichte
Niedersachsens, Bd. 3/1: Politik, Wirtschaft und Gesellschaft von der Reformation bis zum
Beginn des 19. Jahrhunderts, Hannover 1998, S. 691-727; DiEDRlCH SAALFEI.D, Ländliche
Wirtschafts- und Sozialgeschichte vom Beginn des 16. bis zur Mitte des 17. Jahrhundetts, in:
ebenda, S. 637-688.
18 HEINRICH SCHOTTE, Die rechtliche und wirtschaftliche Entwicklung des westfälischen Bauernstandes bis zum Jahre 1815, in: ENGELBERT FREIHERR VON KERCKERTNCK ZUR BORG (Hg.), Beiträge zur Geschichte des westfälischen Bauernstandes, Berlin 1912, S. 5-106; ALWIN HANSCHMIDT, Das 18. Jahrhundert, in: WILHELM KOHL (Hg.), Westfälische Geschichte, Bd. 1: Von
den Anfängen bis zum Ende des Alten Reiches, Düsseldorf 1983, S. 605-685; JOSEH MOOSER,
Ländliche Klassengesellschaft 1770-1848. Bauern und Unterschichten, Landwirtschaft und Gewerbe im östlichen Westfalen (= Kritische Studien zur Geschichtswissenschaft 64), Göttingcn
1984.
19 Ar,ßF,RT K. HÖMBERG, Siedlungsgcschichtc des oberen Sauerlandes (= Veröffentlichungen der
Historischen Kommission des Provinzialiiisiituts für Westfälische Landes- und Volkskunde
22,3), Münster 1938; FRIEDRICH HERZOG, Das Osnabrücker Land im 18. und 19. Jahrhundert — Eine kulturgeographische Untersuchung (= Veröffentlichungen der Wirtschaftswissenschaftlichen Gesellschaft zum Studium Niedcrsachsens A/40), Oldenburg 1938; HANS RIEFENHAUSEN, Die bäuerliche Siedlung des Ravensherget Landes bis 1770, Münster 1938 (ND:
Münster 1986); WILHELM MÜLLER-WILLE, Der Feldbau in Westfalen im 19. Jahrhundert, in:
Westfälische Forschungen l (1938), S. 302-325; WILHELM HOCKER, Die Entwicklung der ländlichen Siedlung zwischen Hellweg und Ardey (Obeiamt Horde) (= Veröffentlichungen der
Historischen Kommission des Provinzialinstituts für Westfälische Landes- und Volkskunde
22,2), Münster 1939; IRMHILD GARBFN, Die landwirtschaftlichen Faktoren in der Entwicklung
der Schaumburg-Lippischcn Kulturlandschaft, Hannover 1951; MECHTHILD SCHWALB, Die
Entwicklung der bäuerlichen Kulturlandschaft in Ostfriesland und Wesroidenburg (= Bonner
geographische Abhandlungen 12), Bonn 1953; HEINZ PoHLENDT, Die Feldsystemc des Herzogtums Braunschweig im 18. Jahrhundert, in: Ergebnisse und Probleme moderner geographischer Forschung - Hans Mortenscn zu seinem 60. Geburtstag (= Raumforschung und Landesplanung 28), Brcmen-Horn 1954, S. 179-195; HF.LI.MUT LINDEN, Naturräumliche Kleingliederung und Agrarstruktur an der Grenze des westfälischen Hellwcgs gegen das Sandmünsterland (= Forschungen zur deutschen Landeskunde 106), Remagen/Rhein 1958; HELGA KNOKE, Wald und Siedlung im Süntel. Eine siedlungsgeschichtliche Untersuchung (= Schaumburgcr
Studien 22), Rjntcln 1968; HoRST-RuEDiCER MÄRTEN, Die Entwicklung der Kulturlandschaft
295
Stefan Erakennek
Zieht man die naturräumlichen Bedingungen, die Siedlungsstrukturen und die
Bodennutzungsfbrmcn in Betracht, so läßt sich Nordwestdeutschland in acht
Großregionen gliedern: die friesischen Marschen, die niedersächsischc Geest, das
Münsterland, das Wescrbergknd, das Dorfsiediungsgebiet im südwestlichen niedersächsischen Bergland, einige kleinere ßördegebiete und das Sauerland.'"
An der Nordseeküste und an den Ufern der größeren Flüsse finden sich sogenannte Marschen, deren Böden unter der Bedingung ausreichender Drainage recht
fruchtbar sind. Diese dicht bevölkerten Regionen waren schon im Mittelalter
durchgreifend kultiviert worden, so daß sich hier kaum gemeinschaftliche Weiden und Heiden fanden. Auf den überwiegend schweren Marschenböden herrschte
eine individualisierte Produktion von Getreide, Ölfrüchten und Molkereiprodukten für den Markt vor. Die dortigen Bauern überwiegend friesischer Herkunft
waren niemals feudalen Bindungen unterworfen gewesen, anstelle dessen hatte sich
hier frühzeitig eine Klassengesellschaft entwickelt. Um 1800 resultierten die
Hauptabgaben der Bevölkerung in den Marschen aus dem Bau und der Unterhaltung der Deiche, die innerhalb der Kirchspiele in Deichbauverbänden organisiert waren. Ahnliche Verhältnisse wie an der Nordseeküste hatten sich seit dem
11. Jahrhundert in den Fhißmarschen von Elbe, Weser und Ems entwickelt, als
friesische Siedler von Fürsten und Adligen ins Land geholt worden waren.2'
Hiervon unterschieden sich die Verhältnisse in den benachbarten Geest-Regionen aufs Schärfste. Die nordwestliche Ebene Niedersachsens war durch den Wechsel von riesigen Mooren und sandigen Heidegebieten gekennzeichnet. Man geht
davon aus, daß die trockeneren Böden ursprünglich bewaldet waren, im Laufe der
menschlichen Besiedlung aber zu Heiden herabsanken. Es bedurfte ungeheurer
Anstrengungen, um den überwiegend armen Böden Ernten zu entlocken, die
zudem von Jahr zu Jahr höchst unterschiedlich ausfielen. Als Acker dienten verim alten Amt Aerzen des Landkreises Hameln-Pyrmont (- Göttingcr geographische Abhandlungen 53), 2 Bde., Göttingen 1969; DIETRICH FLTEDNER, Die Kulturlandschaft der HammeWümme-Niederung - Gestalt und Entwicklung des Sicdlungsraumes nördlich von Bremen
(= Göttinger geographische Abhandlungen 55), Götlingen 1970; MARTIN BORN, Die Entwicklung der deutschen Agrarlandschaft (= Erträge der Forschung 29), Darmstadt ] 974; MANFRED
BALZER, Grundzüge der Siedlungsgeschichte (800-1800), in: KOHL (wie Anm. l S), S. 231-273.
20 HERMANN HAMBLOCH, Naturräumliche Gliederung im nordwestlichen Mirteleuropa - Anmerkungen zu einer Katte, in: Westfalen - Nordwestdeutschland- Nordsecsektor. Wilhelm Müller-Wille zum 75. Geburtstag von seinen Schülern (= Westfälische geographische Studien 37),
Münster 1981, S. 69-78; WILHELM MÜLLER-WILLE, Agrarbäuerliche Landschaftsrypen in
NordwestcleiJtschland, in: Tagungsbericht und wissenschaftliche Abhandlungen des Deutschen
Geographen tags vom 25.-30. Mai 1953 in Essen, Wiesbaden 1955, S. 179-186; DERS., Bodenplasnk und Naturräume Westfalens (= Spieker 14), 2 Bde., Münster 1966; DERS., Der
Landbau im altniederdeutschen Tiefland, in: DERS., Probleme und Ergebnisse geographischer
Landesforschung und Länderkunde. Gesammelte Beiträge (1936-79) I (= Westfälische geographische Studien 39), Münster 1983, S. 92-139.
21 HANS-JÜRGEN NlTZ, Die mittelalterliche und früh neuzeitliche Besiedlung von Marsch und Moor
zwischen Weser und Ems, in: Siedlungsforschung 2 (1984), S. 43-76; HEIDE WUNDER, Die
bäuerliche Gemeinde in Deutschland (= Kleine Vandenhoeck-Reihc 1483), Güttingen 19S6,
S. 35ff.
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Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Nieäe rsacbsen
gleichswelse kleine Ett'Melder, die ohne Fruchtwechsel ununterbrochen Roggen
trugen. Dieser „ewige Roggenbau" beruhte auf der Ausbeutung der umliegenden
Heideländereien. Dort trug man die oberste, humushaltige Bodenschicht in Form
von sogenannten Plaggen ab, die zusammen mir Stallmist kompostiert wurden und
anschließend als Dünger auf das Ackerland ausgebracht wurden. Solch eine Getreideproduktion des Plaggen-Esch-Typs erfordert ein Verhältnis von etwa 1:10
zwischen Kulturland und extensiv genutzten Heideländereien. 22 Entsprechend erstreckten sich Heiden, Moore und Blößen über etwa 60 bis 90 % der Geest-Flächen. Moore und Heiden wurden gemeinschaftlich benutzt; diese Marken oder
Gemeinheiten überdauerten im Wesentlichen bis ins späte 18. Jahrhundert. Es
erstaunt nicht sonderlich, daß die Geest- Regionen relativ dünn besiedelt waren.
Die ländlichen Unterschichten wuchsen nur dort rasch an, wo sich die Gewohnheit entwickelt halte, saisonal als Wanderarbeiter in die Niederlande zu pendeln.
Gleichwohl muß festgehalten werden, daß nur in den abgelegensten Landstrichen mit den schlechtesten Böden die Landwirtschaft derart archaisch blieb und
die sozialen Strukturen derartig scabil. Wo immer man kultivierbare Böden fand,
wie in weiten Teilen Niedersachsens, im A-lünsterland und im westfälischen Weserbergland, wurden ehemals gemeinschaftlich genutzie Ländereien durch Aussonderung von sogenannten Zuschlägen privatisiert. Diese stückchenweise erfolgenden Privatisierungen und Einhegungen fanden das gesamte Mittelalter und die
Frühe Neuzeit hindurch statt. Zuschlagsausweisungen konnten größeren, lang
ansässigen Bauern zugute kommen, sie konnten aber auch der Ansiediung von
neuen Kleinbauern dienen. Auf lange Sicht vergrößerten sie den Anteil des Ackerlandes erheblich und führten zur teilweisen Auflösung der Gemeinheiten und Marken in weiten Teilen des Nordwestens. Eine solche neukultivierte Ackerparzelle
nannte man Kamp. Hingestreut wie Inseln in die See der gemeinschaftlichen Wälder, Heiden und Moore fand man allenthalben in Westfalen und Niedersachsen
zahlreiche Kämpe, die individuell bewirtschaftet wurden. Im Verlauf der Frühen
Neuzeit verdichtete sich die Besiedlung und in manchen Gegenden wandelten sich
Einzelhöfe in kleine Weiler. Gleichzeitig verschärften sich die sozialen Unterschiede
innerhalb der ländlichen Gesellschaft, weil nur eine Minderheit von Vollbauern,
die eine 'der von alters her bestehenden Hofstätten besaßen, ausschließlich von der
Landwirtschaft leben konnte. Das vollbäuerliche Segment der Landbevölkerung
wurde unterschichtet von einer wachsenden Zahl von Koltern, die ihren Lebensunterhalt durch eine Mischung von Gartenwirtschaft, Viehhaltung, Leineweberei und Tagelöhnerei bestritten. Das spezifische Mischungsverhältnis zwischen
landwirtschaftlicher und gewerblicher Produktion hing häufig von lokalen Bedingungen ab, auch davon, ob den Köttern erlaubt war, die gemeinschaftlichen Hutungen intensiv zu nutzen, oder nicht.
22 ROLFTHÜLE, Zur Verbreitung und Technik det Flaggend üngung und -Wirtschaft im Sandmünsterland, in: F.KKF.HART KÖHLER, NORBERT WEIN (Hgg.), Natur- und Kulturräume. Festschrift
zum 65. Geburtstag von Prof. Dr. Ludwig Hempel (- Münstersche geographische Arbeiten 27),
Paderborn 1987, S. 335-339.
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Stefan Rrakensiek
Innerhalb des Nordwestens hebt sich deutlich die Region der geschlossenen
Dorfsiedlung als ein markanter Teilbereich heraus. Es umfaßt das gesamte südliche Niedersachsen und das südösrliche Westfalen. Dieses Gebiet ist als eine Verlängerung des großen mitteldeutschen Dorfsiedlungsbereichs zu verstehen. Im 18.
Jahrhundert war mit der Dorfsiedlung typischerweise ein Mehrzeigen-Brachsystem
verbunden, das die Landwirtschaft unter enge genossenschaftliche Regelungen
stellte. Nur hier bestand ein Flurzwang mit geregelten Felderfolgen, strikter Trennung von Brache, Sommerung und Winterung, von Stoppel- und Brachhude.
Auch innerhalb des Bereichs der Dorfsiedlung ergaben sich im Ausmaß der genossenschaftlichen Bindungen weitere Abstufungen: Je weiter man nach Westen
kam, um so freier waren die Bewirtschaftungsweisen.
Im südöstlichen Berg- und Hügelland Westfalens und Niedersachsens blieb die
hergebrachte Ordnung der Felder bis weit ins 19. Jahrhundert erhalten. In manchen Lößgebieten, wie dem Hellweg und der Hildesheimer Börde, schuf man im
Verlauf der Katastcrerfassung des Landes ein engmaschiges Wegenetz, das es dem
einzelnen Parzcllcnbesitzer erleichterte, seinen Besitz individuell zu bewirtschaften.23 Im gesamten Gebiet der Dorfsiedlung umfaßten die Gemeinweiden, Wiesen und Ödländereien nicht mehr als 20 % der Dorffluren. Die Wälder und Forsten muß man davon völlig unabhängig in den Blick nehmen. In den Bördegebieten waren sie fast vollständig gerodet worden. Dagegen bildeten die Forsten in
den Hügel- und Bergländereien Nordwestdeutschlands den bedeutendsten Teil der
gemeinschaftlichen Güter.
II. Typen des gemeinschaftlichen Eigentums im nordwestlichen Deutschland
(Äcker und Wiesen - Huden und Wälder)
Gemeinschaftliches Eigentum am Ackerland fand man in Nordwestdeutschland
in drei verschiedenen Formen: Als Zeigen im Dorfsiedlungsbereich, als Vöhden
in der münsterschen Bucht und als Eschfelder in weiten Teilen des Landes, Die
Zelgennutzung unterschied sich in nichts von dem, was die Agrargeschichte für
weite Teile des westlichen Europas beschrieben hat. Dagegen sind die Vöhden eine
spezifische Besonderheit im Kern des westfälischen Münsterlandes, wo feuchte,
graswüchsige Lehmböden vorherrschen. In dieser Region war das Ackerland üblicherweise in Form von so genannten Kämpen aufgegliedert, größere Parzellen,
mir Hecken und Wälien umgeben, die von ihren jeweiligen Besitzern individuell
bewirtschaftet wurden. Aber einige dieser größeren Feldstücke wurden zeitweise
gemeinschaftlich genutzt von Bauernhöfen und Gütern, die isoliert in der flachen
Landschaft lagen. Solch eine Vöhde wurde jeweils für vier oder sechs Jahre unter
den Pflug genommen und anschließend für eine weitere vier- oder sechsjährige
Phase als gemeinschaftliche Weide genutzt. Der Ackerbau geschah individuell,
denn jeder Besitzer wußte genau, wo seine streifenförmigen Anteile innerhalb der
23 Vgl. POULI-NDT (wie Anm. 19); LINDEN (wie Anm. 19).
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Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen
Vöhde lagen. Nach der letzten Ernte wurde das Feld für die gemeinschaftliche
Weide geöffnet und niemand kümmerte sich weiter um die Kultivierung der Flur.
Normalerweise verfügten die Besitzer von Parzellen innerhalb einer Vöhde über
besonders gut fundierte Weiderechte, aber andere Einwohnern der jeweiligen Bauerschaft oder des Kirchspiels durften ebenfalls einige Kühe, Schafe oder Gänse auf
die Weide treiben. Die Agrarrcformer des späten 18. Jahrhunderrs wurden nicht
müde, diese Wirtschaftsweise anzuklagen, weil die Eigentümer einer Vöhde angeblich dazu neigten, ihre Anteile nur am Beginn des individuell betriebenen
Ackerbaus zu düngen und sie während der Weidezeit völlig zu vernachlässigen.24
Im Gegensatz zu den Vöhden, die es nur in einer klar begrenzten Region gab,
konnte man Felder des &c/>-Typs in weiten Teilen Niedcrsachsens und Westfalens
finden, sowohl in den sandigen Geest-Regionen als auch in Regionen mir lehmhaltigen oder tonigen Böden. Solche Esch-Felder bildeten den Teil des Ackerlandes, der besonders früh kultiviert worden war. Entsprechend gehörten die Streifenfluren innerhalb eines Eschs zu denjenigen Hofstätten, die bereits im Mittelalter gegründet worden waren, wahrend Kötter und andere Nachsiedler daran
normalerweise keinen Anteil besaßen. Auch auf einem Esch wurde der Ackerbau
individuell betrieben und die gemeinschaftliche Nutzung beschränkte sich auf relativ kurze Phasen der Weidewirtschaft, zu der ausschließlich Eigentümer von Parzellen innerhalb des jeweiligen Feldes zugelassen waren. Alle anderen Einwohner
einer Bauerschaft oder eines Kirchspiels hatten sich mit der Weide auf den Heiden und in den Wäldern zu begnügen.
Was für die Ackerländereien festgestellt wurde, galt vergleichbar auch für die
Wiesen: Gemeinschaftliche Nutzung bildete nicht die Normalität. Wenn sie
überhaupt vorkam, dann war sie beschränkt auf eine kleine Zahl berechtigter
Haushalte innerhalb von kurzen saisonalen Perioden. Zeitgenössische Beobachter
haben häufig auf den tief verwurzelten Individualismus der Landbevölkerung in
Westfalen und Niedersachsen hingewiesen. Dafür wurden das Klima, die Einzelhofsiedlung, das zurückgezogene Leben auf den Höfen, die vergleichsweise geringe
Bedeutung der gemeindlichen Politik und auch das geringfügige Ausmaß der gemeinschaftlichen Wirtschaftsweise verantwortlich gemacht. Einige Umstände sind
gleichwohl mit diesem Urteil nicht zu vereinbaren: Vor allem die gemeinschaftliche Nutzung von Weiden, Heiden und Wäldern beruhte närnlich auf enger Zusammenarbeit zwischen den Nutzern.2''
24 JOHANN NF.POMUK VON SCHWERZ, Beschreibung der Landwirtschaft in Westfalen und Rheinpreussen, Smrtgart 1836 (ND: Münster-Hikup o.J.), S. 22-26 u. 249fT.; HILDE KRAFT, Die
bäuerlichen Gemeinhcitsfla'chcn im Kreise Lüdinghausen um 1800, in: Westfälische Forschungen 4 (1941), S. 27-68, insb. S. 55 u. 61f.; ERICH LÜI.FF, Die Marken als Gemeinschafcsbesitz
im Kreise Stcinfurt zur Zeit der Markenteilung. Ein Beitrag zur westfälischen Wirtschaftsgeschichte, Münster 1956, S. 55f. Vöhden können wegen ihres schlechten Zustandes nur als
Gänseweide gcnutzr werden.
25 FRANZ BÜLSKER-.SCHI.ICHT, Bevölkerung und soziale Schichtung im nördlichen Emsland vom
17. bis zum 19. Jahrhundert. Versuch einer Quantifizierung im Vergleich dreier Jahrhunderte, Söge! 1994, S. 10-22.
299
Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen
Den weitaus größten 'leil des gemeinschaftlich genutzten Landes nahmen im
nordwestlichen Tiefland die „gemeinen" Moore und Heidehnden ein. Man nimmt
an, daß diese Ländereien vor Beginn der menschlichen Besiedlung mit lichten
Laubwäldern bedeckt waren, aber seit dem Mittelalter durch Weide und Abholzung zu Ilcidcländerelen degradiert worden waren. Der Umfang dieser Gemeinländereicn hing von den allgemeinen demo-ökonormschen Bedingungen und von
naturräumiichen Faktoren ab, vor allem vom Nährstoffgehalt des Bodens und vom
Grundwasserspiegel. In den meisten Teilen des norddeutschen Tieflandes bedeckten im späten 18. Jahrhundert Heiden und Moore zwischen 40 und 60 % der
Fläche, mit Spitzenwerten von nahezu 90 % in Gegenden wie dem Bourtanger
Moor, an der Grenze zu den Niederlanden, und im Zentrum der Lüneburger Heide. In ihren trockensten Teilen wurden Moote als Weiden benutzt. In Gegenden,
die an das Kulturland grenzten, nutzrc die Bevölkerung die Moore durch gemeinschaftlichen Torfstich. Torf wurde als Brennstoff und Einstreu in den Ställen genutzt. Die besonders feuchten Zcntten der Moore blichen jedoch von dieser Ausbeutung unberührt. 20
Heiden waren für die Landbevölkerung von größerem Wert: Dorthin schickte
die Bevölkerung ihre Rinder und Schafe 7,ur Weide, dorr sammelte man Brennholz von den vereinzelten Büschen und Bäumen, sammelte Beeren und Pilze und
ließ Bienen schwärmen. Und dort versorgte man sich mir Plaggen, die als Finstren
in die Ställe gebracht wurden. 27 Geographen haben eine spezifische bäuerliche
Wirtschaftsweise beschrieben, die von der Existenz riesiger gemeinschaftlicher
Heiden abhing und die im Verlauf des späten 18. und frühen 19. Jahrhunderts
zum Verschwinden verurteilt war, als die Bevölkerung rasch anwuchs und die
Agrarreformen die gemeinschaftliche Wirtschaftsweise abschaffte. Heutzutage sind
die meisten Teile der vormaligen Heiden in Weiden und Äcker verwandelt worden, während die unfruchrbarsten, trockensten Striche mir Nadelbäumen aufgeforstet worden sind.
Als besonders wertvoll galten die gemeinschaftlichen Hutungen im Münsterland
und im angrenzenden westfälischen Hügelland, obwohl sie dem Umfang nach
wesentlich kleiner waren als im niedersächsischcn Tiefland. Ursprünglich mit Eichen, Buchen, Hainbuchen und anderen Laubbäumen bewaldet, waren die Gemeinländereien während des späten Mittelalters und besonders ?,u Beginn der Frühen Neuzeit durch Entwaldung bedroht. Im späten 18. Jahrhundert wuchsen in
weiten Teilen des Hügellandes und in den feuchteren Teilen des Münstcrlandes
auf gemeinschaftlichem Boden nur noch Gräser, Büsche und Heidekraut, beschattet von einzelnen Hude-Bäumen. Dieses Weide- und Buschland bezeichnete man
häufig ebenfalls als Heide, in ihren feuchteren Teilen als Bruch. Der Flächenumfang des gemeinschaftlichen Weidelandes unterschied sich von Oft zu Ort, so daß
Durchschnittswerte nur schwer angegeben werden können. Im Osnabrücker Land,
26 SCHWALB (wie An m. 19).
27 RAINER CORDES, Die Binncnkolonisation auf den Heidegemeinheiten zwischen Hunte und
Mittelweser (Grafschaften Hoya und Diepholz) im 18. und frühen 19. Jahrhundert (= Quellen und Darstellungen zur Geschichte Nicdersachsens 93), Hildcsheim 1981.
300
das den nordwestlichen Ausläufer des Berg- und Hügellandes bildet, wurde ungefähr die Hälfte des Landes am Ende der Frühen Neuzeit mit verschiedenen gemeinschaftlichen Weideformen genutzt, während im benachbarten Ravensberger
Land ein Anteil von etwa 40 bis 50 % gemeinschaftlicher Flächen an der Gesamtfläche berechnet worden sind.28 Im Kreis Lüdinghausen, der zu den lehmigen
Teilen des Münsterschen Beckens zählt, bedeckten die Gemeinheiten nur etwa ein
Viertel der Fläche, mit Wcidegründen, Heiden und Wäldern als wichrigsten Bestandteilen.29 Im Kreis Stcinfurt, im äußersten Westen des Münsterlandcs, umfaßten die Gemeinheiten in den trockenen, sandigen Gebieten etwa 60 % der Dorffluren, während diese Werte nur etwa 30 % erreichten, wo lehmige und fruchtbarere Böden vorherrschten.3"
Während des Friihmlttelahers hatten Wälder große Teile Nordwestdeutschlands
bedeckt. In den folgenden eintausend Jahren bis erwa 1800 war das Flachland
weitgehend entwaldet worden, nur in den Hügelregionen fanden sich Meine Wäldchen und sogar einige größere Forste. Nur die abgelegensten Teile des Hochsauerlands blieben vollständig bewaldet, es sei denn,-daß benachbarte Gewerbe oder
geldbcdürftige Fürsten die Wälder für ihre Zwecke genutzt und gefällt hatten. Im
Saucrland überlebten auch zahlreiche mittelalterliche Markgenossenschaften, denen
die Regulierung der Nutzungen in den gemeinschaftlichen Wäldern oblag. Diese
großen Forsre gehörten zumeist einer Vielzahl von Adligen und bäuerlichen Gemeinden. Die Berechtigten nutzten sie zum Holzfällen, zum Sammeln von Brennholz, zur Herstellung von Holzkohle, zur Rinderweide und zur Schweinemast.
Auch für diese Region kann man eine spezifische Wirtschaftsform rekonstruieren,
die an die Umweltbedingungen angepaßt war, mit einem Getreidebau von relativ geringer Bedeutung, während Weidewirtschaft und Gewerbe einander ergänzten.3'
III, Die rechtlichen Grundlagen
Die deutsche Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts hat große Anstrengungen unternommen zu ergründen, wer die ursprünglichen Besitzer der Gemeinheiten waren. In Übereinstimmung mit der Vorstellung von einer nationalen Vergan28
29
30
31
HERZOG (wie Anm. 19); RIEPENHAUSEN (wie Anm. 19).
KRAFT (wie Anm. 24), S. 33 u. 55.
LÜLFF (wie Anm. 24), S. 226.
AUGUST BERNHARDT, Geschichte des Waldeigentums, der Waldwirtschaft und Forstwissenschaft
in Deutschland, 3 Bde., Berlin 1872-75 (ND: Aalen 1966); CLEMENS LlEDHEGENER, Das Kirchspiel Hellefeld. Hin Beitrag zur Kenntnis der historischen, wirtschaftlichen und so/ialen Verhältnisse des sauerländischen Bauernstandes (= Münsterische Beiträge zur Geschichtsforschung
3/1), Münster 1933; WÜHF.I.M MÜLLER-WILLE, Waldnutzung, Besiedlung und Industrialisierung des Sauerlandes, in: riERS., Beiträge zur Forstgeographie in Westfalen (= Spieker 27),
Münster 1980, S. 39-60; BERNWARD SELTER, Waldnutzung und ländliche Gesellschaft. Landwirtschaftlicher „Nährwald" und neue Holzökönoirue im Saucrland des 18. und 19. Jahrhundert (= Forschungen zur Region algeschichte 13), Padcrborn 1995.
301
Stefan Brakensiek
genheit, die wesensmäßig gekennzeichnet war durch die „germanische Freiheit",
gelangten die meisten Historiker zu der Ansicht, daß während der „dunklen Jahrhunderte" des Frühmittelalters, für die schriftliche Quellen praktisch vollständig
fehlen, sich der gesamte Boden im gemeinschaftlichen Besitz freier Leute befunden habe. Die Siedler des 5. Jahrhunderts, von denen man annahm, daß sie die
Vorfahren des gesamten deutschen Volkes seien, hätten alle Entscheidungen über
die von ihnen gemeinschaftlich besessenen Marken in basisdemokratischer Form
getroffen. Entsprechend erschienen die Anrechte von Adel und Bauern an den
Marken und Gemeinheiten späterer Jahrhunderten als ein matter Abglanz der ursprünglichen Gleichheit und archaischen Freiheit.3- Diese Ansicht wurde allerdings
von vornherein herausgefordert durch eine gegensätzliche Interpretation, nach der
nur die Angehörigen des Adels von den Freien der Vorzeit abstammten und von
Beginn an auch nur ihnen alles Land gehörte.33
Mittlerweile besteht Konsens darüber, daß das Konzept des ungeteilten, absoluten Eigentums unangemessen ist, um die komplexen Bcsitzvcrhähnisse sowohl
am individuell als auch am gemeinschaftlich genutzten Boden im Mittelalter zu
deuten. Zunächst entstanden die verschiedenen Abhängigkeitsverhältnisse zwischen Grundherren und Bauern, gefolgt von den ländlichen Gemeinden und
schließlich von der Herausbildung der Landesherrschaft. Bauern, adlige und
fürstliche Herren waren in Kämpfe um die lokale Macht verstrickt. Wer über die
anderen obsiegen würde oder welche Form des Kompromisses zwischen den widerstreitenden Interessen man fand, hing unter anderem davon ab, wie stark bestimmte Institutionen in den entscheidenden Situationen jeweils waren.
So lange es Weideflächen und Holz in unabsehbarer Menge gab, bestand
überhaupt kein Bedürfnis nach der Formulierung von Eigentumsrechten. Jeder
nahm sich, was immer er benötigte. Erst während des Hochmittelalters, als die
Bevölkerung beständig wuchs, wurden die Ressourcen zunehmend knapp, so daß
institutionelle Regelungen unabweisbar wurden. Die Schaffung der Markgenossenschaften war die übliche Lösung dieses Problems.3'' Die ersten Quellennachweise für diese Institution können in Überlieferungen des 12. Jahrhunderts gefunden werden, aber erst seit dem 14. Jahrhundert werden die Informationen allmählich detaillierter. Das meiste Quelle n materiai, seien es normative Regeln (Weistümer, Bauerbriefe, Beliebungen}, Gerichts-Protokolle (Marken-Register, Höltingsprotokolle) oder Strafkataloge (Brüchten-Register), stammt aus der Zeit seit dem 16.
Jahrhundert, mithin einer Epoche, als die Genossenschaften bereits geschwächt
oder sogar im Verschwinden begriffen waren.
In Quellen des Spätmittelalters war die Frage des Eigentums an den Marken und
Gemeinheiten von keiner Bedeutung. Alle Bestimmungen kreisten darum, welche
32 MöSER (wie Anm. 15), S. 63-66; GRIMM (wie Anm. 7); THUDICHUM (wie Anm. 8), S. IX; GlEßKE (wie Anm. 8).
33 PTPF.R (wie Anm. 15); MAITRF.R (wie Anm. 8), S. 63-70; ALFONS DOPSCH, Die freien Marken
in Deutschland. Ein Beitrag zur Agrar- Lind Sozialgeschi chtc des Mittelalters, Baden 1933 (ND:
Aalen 1968), S. 9 u. 37.
34 SCHOTTE (wie Anm. 9).
302
Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen
Gebiete eine Gemeinheit umfaßte, wem gestattet war, die Ressourcen zu nutzen,
wie weit individuelle Nutzungsrechte reichten, wie die Rechtsprechung in den
Marken verfaßt war, aufweiche Weise abweichendes Verhalten sanktioniert wurde, und wem eine Veränderung der Regelungen zustand. Innerhalb der Markgenossenschaften arbeiteten Adlige und Bauern zusammen und übten Eigentumsrechte an den gemeinschaftlich besessenen Gütern in einer Weise aus, die Juristen
mit dem Begriff Universität in die Terminologie des Römischen Rechts übersetzten. Die Grenzen einer Mark kamen nicht notwendigerweise mit politischen Grenzen zur Deckung. Zwar kam es durchaus vor, daß eine Mark exakt ein Kirchspiel
oder einen weltlichen Gerichtsbezirk umfaßte, aber häufiger stimmten die Markengrcnzen lediglich mit landschaftlichen Gegebenheiten oder landwirtschaftlichen
Erfordernissen überein. Ursprünglich stellte man sich Marken als Waldmarken vor,
als große Forsten, so daß die genossenschaftlichen Regelungen vor allern um das
Fällen der Bäume, das Roden von Waldland und um die Schweinemast kreisten.
In dem Maße, wie die großen Wälder verschwanden, begann auch die allmähliche Aufteilung der Marken, an deren Ende leichter zu überschauende Gemeinheiten standen, die von Dorfgenossenschaften, Bauerschaften oder anderen Nachbarschaftsverbänden verwaltet wurden. Dieser Prozeß begann im Mittelalter und setzte
sich während der gesamten Frühen Neuzeit fort.
Während des Mittelalters war die Markgenossenschaft in weiten Teilen Westfalens und Niedersachsens die übliche Organisationsform der gemeinschaftlich genutzten Güter, und ihnen kam auch das Gesamthandseigcntum zu. Aber nur in den
geistlichen Fürstentümern überlebte eine größere Zahl solcher Marken bis zum
Untergang des Alten Reichs, während sie in den weltlichen Fürstentümern zumeist
lange zuvor verschwunden waren. An ihre Stelle waren dort die bäuerlichen Gemeinden, der adlige Privatbesitz oder die fürstlichen Domänen getreten. Seit dem
16. Jahrhundert versuchten die Fürsten das Eigentumsrecht über alle Heiden,
Ödländereien und Wälder zu erringen. Sie beanspruchten eine generelle Oberholzgrafschaft, setzten eigene Forstbehörden ein und erließen Forst- und Dorfordnungen, in denen sie die Ansprüche der Dorfgenossen auf bloße Nutzungsrechte, ohne
Eigentumsanspruch, herunterstuften. Diese fürstlichen Anstrengungen konzentrierten sich vor allem auf die besonders wertvollen Wälder und auf die riesigen
Moorgebiete. Weniger erfolgreich waren diese Vorstöße im Falle der Heiden und
gemeinen Hutungen; die gemeinschaftliche Nutzung des Ackerlandes blieb vollständig ausgespart.31'
35 PIPER (wie Anm. 15); MAURER (wie Anm. 8), S. 63-70; BERNHARDT {wie Anm. 31), Bd. l,
S. 88-96, 162-169 u. 208-214; STÜVE (wie Anm. 15), S. 628-649 u. 781-829; FREUDENSTEIN (wie Anm. 9); SCHOTTE (wie Anm. 9), S. 1-15; HEINRICH RIHN, Die Besitzverhältnisse
an den Mooren der Grafschaft Hoya mir besonderer Berücksichtigung des vormaligen Amtes
Diepenau und Uchte, Münster 1920; LÜLFF (wie Anm. 24), S. 35-42; ALBIU-CHT TIMM, Die
Waldnutzung in Nordwestdeutschland im Spiegel der Weistiimer. Einleitende Untersuchungen über die Umgestaltung des Stadt-Land-Verhältnisses im Spätmittclalter, Köln 1960, S. 7
-38; KNOKE (wie Anm. 19), S. 38-90; ALFRED WOBST, Der Markwald. Geschichte, Rechtsverhältnisse, wirtschaftliche und so/Jale Bedeutung der deutsthrcchtlichen Gemeinscliaftswal303
Stefan Brakcwiek
IV. Markgenossenschaften und Gemeinheiten
Ödländereien, Weiden und WäJder, die Genossenschaften gehörten, nannte man
Marken. Solche Markgenossenschaften waren komplexe Organe der Selbstverwaltung, die in weiten Teilen Nord Westdeutschlands im Spät mittelalter vorherrschten und die vor allem in den geistlichen Fürstentümern noch während des 17- und
18. Jahrhunderts zu finden waren. Wie die Marken verfaßt waren, hing weitgehend von lokalen Gewohnheiten ab und unterschied sich von einem Ort zum
ändern, selbst innerhalb kleiner Gebiete. Entsprechend können die folgenden
Abschnitte nur einen Eindruck von den wichtigsten Regelungen vermitteln. Bäuerliche Besitzer von Hofstätten mit vollen Nutzungsrechten nannte man Erben.
Solch ein volles Nutzungsrecht hieß Echtwort ödet Ware und berechtigte zum
Bezug von Bauholz, zum Sammeln von Brennholz, zur Rinder- und Schafweide
auf den Hütungen und zur Schweinemast in den Wäldern. Jedes Jahr mußte aufs
Neue entschieden werden, wie üppig die Eicheln- und Bucheckcrnernte ausgefallen
war und hiernach wurde die Zahl der zur Mast zugelassenen Schweine bestimmt.
All diese Rechte bezogen sich auf eine Hofstätte, nicht auf den individuellen Eigentümer. Entsprechend konnten solche Nutzungsrechte auch nur ererbt werden
als integraler Bestandteil einer Hofstätte. Normal erweise war der Verkauf oder die
Aufteilung der Markenrechte nicht erlaubt. Diese Organisation der Nutzungsrechte verweist auf eine ländliche Wirtschaft, die an Bedarfsdeckung, nicht am Markt
orientiert war. Ursprünglich war es in den meisten Marken verboten, Holz zu verkaufen, Rinder oder Schafe von Fremden in die Dorfherden einzugliedern oder
Schweine zu mästen, die Ausmärkern gehörten. Mit dem Aufstieg der Marktökonomie seit dem Hochmittclaltcr versuchten jedoch vor allem einflußreiche Markengenossen oder einzelne machtvolle Außenseiter, diese Regelungen zu umgehen.36
Regelmäßig wurden örtliche Gerichtssitzungen abgehalten, die man Höhinge
oder Markengerichte nannte und die von allen Berechtigten besucht wurden, seien
sie adligen oder bäuerlichen Standes. Die Laienrichter (Holzgrafen, Markenrichdungcn in der Bundesrepublik Deutschland (= Quellen und Forschungen zur Agrargeschichtc 25), Stuttgart 1971 < S. 17—38; KAHL HASEL, Zur Geschichte des Waldbesitzes in Deutschland, in: INCOMAK BOG, GÜNTER FRANZ, KARI-HEINZ KAUFHOLD, HERMANN KELLENBENZ, WOLFGANG ZORN (Hgg.J, Wirtschaftliche und soziale Strukturen im saeknlaren Wandel. Festschrift
für Wilhelm Abel zum 70. Geburtstag, Bd. l, Hannover 1974, S. 77-95; JOSEF MOOSER,
Gleichheit und Ungleichheit in der ländlichen Gemeinde. Soziaistrukcur und Kommunalverfassung im östlichen Westfalen vom späten 18. bis in die Mine des 19. Jahrhunderts, in: Archiv für Sozialgeschichte 19 (1979), S. 231-262; KARL HASEL, Forstgeschichte. Ein Grundriß
für Studium und Praxis, Hamburg 1985, S. 89-97; RALF GÜNTHER, Der Arnsberger Wald im
Mittelalter. Forstgeschichte als Verfassungsgeschichre (= Geschichtliche Arbeiten zur westfälischen Landesforschung 20), Münster 1994; SELTER (wie Anm. 31), S. 82-105; STEFAN VON
BEI.OW, Das Eigentum am Wald — Ein Forschungsüberblick, in: DERS., STEFAN BREIT (Hgg.),
Wald — Von der Gortesgabe zum Privateigentum. Gerichtliche Konflikte zwischen Landesherren und Untertanen um den Wald in der frühen Neuzeit (= Quellen und Forschungen zur
Agrargeschichte 43), Stuttgart 1998, S. 1-5536 TIMM (wie Anm. 35).
304
Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen
ter) und solche Personen, die besonders ausgedehnte Besitz- und Nutzungsrechte
geltend machen konnten (Erbexen), kamen normalerweise aus den Rängen des
Adels, in manchen Genossenschaften konnte jedoch auch ein wohlhabender Bauer
(Schulze) das Richteramt innehaben. Üblicherweise war dieses Amt erblich, aber
in einigen Marken wurde der Laienrichter auch von allen Genossen gewählt. Die
Versammlung der Erbexen und der Erben traf alle wichtigen Entscheidungen, die
bindend waren für Adlige und Bauern, welche die Marken nutzten und auch für
alle übrigen Personen, die sie nur betraten. Die Hö'lunge untersuchten Verstöße
gegen die Markenordnung und kontrollierten die fein abgestuften Nutzungsrechte.
In einigen Marken umfaßte das Gericht alle vollberechtigten Genossen, deren
Versammlung die Urteile formulierte, während der Richter sie nur zu verkünden
hatte. In anderen Marken war die Mitgliedschaft im Gericht beschränkt auf die
Erbexen, die aus den Reihen des Adels beziehungsweise der privilegierten Schulzen stammten.
Anläßlich der ein- oder zweimal jährlich stattfindenden Markengerichte oder
Höltinge wurde die von alters her geltende Ordnung verlesen, von allen Anwesenden als richtig anerkannt und mit Eid beschworen. Zuwiderhandlungen gegen
die Markenordnung wurden durch Strafen geahndet, die entweder in Geld oder
Naturalien bestanden. Meistens empfing der Richter ein Drittel dieser sogenannten
Brüchten („tertia marcalis"), während der Rest des Geldes dafür benutzt wurde,
die Gemeinheiten zu verbessern oder aber unrer die Mitglieder der Genossenschaft
zu verteilen, nachdem die Amtsträger für ihre Mühewaltung bezahlt worden waren. Am Ende einer solchen Gerichtssitzung fand man sich in einem rituellen Mahl
zusammen; große Mengen Lebensmittel und Bier wurden konsumiert, um demonstrativ zu zeigen, daß Einmütigkeit und Frieden wieder hergestellt seien. Die
Genossenschaften beschäftigten eine kleine Zahl von niederen Amtsträgern, zum
Beispiel Schäfer und Hirren. Jährlich aufs Neue wurden Aufsichtsbeamte bestellt
(Schüttleute, Malleute), die aus der Mitte der gewöhnlichen Genossen gewählt
wurden. Ihre Aufgabe bestand darin, jeden anzuzeigen, der gegen die Markenordnung verstieß und Vieh zu konfiszieren, das man an verbotenen Orten oder in
nicht zugelassenen Zeiten des Jahres weidend aufgefunden hatte. Meistens wurden diese Aufsichtspersonen für ihre Anstrengungen mit erweiterten Nutzungsrechten an der Mark belohnt, zum Beispiel durch das Mastrecht für einige zusätzliche Schweine oder mit dem Bezug des Windbruchs.''7
37 Vgl. WOLFGANC MAGER, PETRA MOLLER (Bearb.), Das Urbar der Grafschaft Ravensbcrg von
1556. Teil 3: Ergänzende Quellen zur Landes- und Grundherrschall in Ravensberg (1535
-1559) (-- Veröffentlichungen der Historischen Kommission Westfalens 29,1 }, Miinsrer 1997,
S. 130. Die „Verfassung" verschiedener Marken ist dokumentiert in: LODTMANN (wie Anm. 15);
KLÖNTRUP, SCHLEDEHAUS (wie Anm. 15); KIONTRUP (wie Anm. 15); Löw (wie Anm. 15),
S. 70-143 u. 191-276; BEHNES (wie Anm. 15), S. 90-117; GRIMM (wie Anm. 7), Bd. 3,
S. 1-321 u. Bd. 4, S. 648-737; STÜVE (wie Anm. 15), S. 628-649 u. 781-829; FREUDENSTEIN
(wie Anm. 9), S. 42-77; SCHOTTE (wie Anm. 9), S. 32-145; FLOER (wie Anm. 9); Runoih
MlDDENDQRIF, Der Verfall und die Aufteilung der gemeinen Marken im Fürstentum Osnabrück
bis zur napoleonischen Zeit, in: Mitteilungen des Vereins für Geschichte und Landeskunde von
Osnabrück 49 (l 927), S. 1-157, hier S. 12-28; LIEDHEGF.NF.R (wie Anm. 31), S. 77-110; I.ÜI.FF
305
Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen
Offenbar haben Genossenschaften vom Markcntyp niemals gan/, Nordwestdeutschland bedeckt, nicht einmal während des Höhepunktes ihrer Verbreitung
im Spätmittelalter. Sie herrschten in weiten Teilen Westfalens und im südlichen
Niedersachsen vor und man fand sie vor allem in den größeren Waldgebieten. In
der norddeutschen Tierebene fanden sich indessen überwiegend weniger komplexe
Verwaltungsstrukturen und frühzeitig auch das Eigentumsrecht der Landesherren
an den riesigen Mooren und den kaum zu überschauenden Heiden. Auf der anderen Seite fand sich im südlichen Berglaiid schon frühzeitig ungeteiltes Eigentum an den Wäldern (Sundern, Bitnnforsten), eingelagert in die oftmals riesigen
Markengcbiete.38
Die in den meisten weltlichen Fürstentümern während des 16. Jahrhunderts
entstehenden zentralen Bürokratien waren äußerst erfolgreich darin, die mittelalterlichen Genossenschaften zu verdrängen, Solch eine Entwicklung kann man in
Hannover, Braunschweig, Oldenburg und den weltlichen Fürstentümern Westfalens beobachten. Extremfälle stellten die Grafschaften Lippe und SchaumburgLippe dar, wo die herrschenden Häuser zugleich die wichtigsten Grundherren
waren.39 Man kann feststellen, daß Herzöge und Grafen die Holzgrafschaft zu
erringen trachteten, um auf diesem Wege Eigentumsrechte an den Marken insgesamt zu erlangen und dadurch ihre Landeshoheit zu etablieren und zu festigen.'10
In einigen Gegenden gelang es den adligen Erbexen und den Bauern, dieser .Strategie energischen Widerstand entgegenzusetzen, aber in den meisten Gebieten
waren sie nicht stark genug. Dort wurde ihr Widerstand gezähmt durch eine
Mischung aus militärischer Drohung und Überredung: Es gehe gar nicht darum,
die vormaligen Markengenossen ihrer Nutzungsrechte zu entkleiden, sondern sie
unter väterlich-landesherrlichem Regiment innerhalb von sogenannten Gemeinheiten ungestört zu wahren.
Aufgrund dieser Entwicklung befanden sich seit dem frühen 17. Jahrhundert die
meisten gemeinschaftlich genutzten Flächen in den weltlichen Fürstentümern
(wie Anrn. 24), S. 42-52; FRIEDRICH KÜLLING, Die Süntelwaldgenossenschaft. Ein Beitrag -/.ur
Rechts- und Wirtschaftsgeschichte einer Schaumburger Markgenossenschaft, Rinteln 1962;
KNOKE (wie Anm. 19), S. 38-90; HASEL (wie Anm. 35), S. 89-97; SAAIJ--E-:LD (wie Anm. 17),
S. 664-670; GERHARD LACHENICHT, Die „Gemeine Mark" und ihre Teilung in Lette bei Coesfeld. Ein Beitrag zur sozialen Problematik der Markgenossenschaft und Marken teil u ng im
Münsterland, Coesfeld o.J., S. 24-68.
38 TIMM (wie Anm. 35), S. 27-38 u. 134; HERBERT HESMER, FRED-GÜNTER SCHROEDER, waldzusammenserzung und Waldbehandlung im niedersächsischen Tiefland westlich der Weser und
in der Münsterschen Bucht bis zum Ende des 18. Jahrhunderts (= Dechcniana-Beihefte 11),
Bonn 1963, S. 114-118; GÜNTHER (wie Anm. 35).
39 FREUDENSTEIN (wie Anm. 9).
40 TIMM (wie Anm. 35), S. 27-38; KNOKE (wie Anm. 19), S. 53-56. Zu regionalen Details, wie
die örtliche Markenverwaliung durch die landesherrliche Administration durchsei/l wurde, vgl.
FRANZ HERBERHOI.D (Bearb.), Das Urbar der Grafschaft Ravensberg von 1556 (= Veröffentlichungen der Hi.sl(irischen Kommission Westfalens 29,1), Münster I960; WERNER BuRGHARDT
(Bearb.), Das Vestische Lagerbuch von ] 660 (= Veröffentlichungen der Historischen Kommission für Westfalen 29,3), Münster 1995; MAGER/MÖLLER (wie Anm. 37).
306
Niedersachsens zwar im formalen Eigentum der fürstlichen Herren, gleichwohl
übten die Mitglieder der ländlichen Gemeinden die volle Nutzung aus. Die Landgemeinden setzten sich aus den beiden sozial-ständischen Gruppen der Meier und
Kötter zusammen. In der Regel verfügten die Meier über vollbäuerlichc Betriebe,
während Kötter mildere und kleine Stätten innehatten und oftmals ein Handwerk
oder Gewerbe im Nebenverdienst betrieben. Die Gemeindemitglieder wurden in
Niedersachsen Reiheleute genannt, weil sie die öffentlichen Ämter der Reihe nach
wahrnahmen: Jeder Inhaber einer Reihestätte war regelmäßig dazu verpflichtet, das
Amt des DorfVorstehers (Bauermeister) auszuüben, offizielle Briefe zu befördern,
aber auch Gräben zu säubern und Straßen und Wege zu unterhalten. Die alltägliche Verwaltung der gemeinschaftlichen Güter lag in den Händen der Dorfversammlungen, während Verstöße gegen einschlägige Verordnungen von den örtlichen Vettretern des Territorialstaates abgestraft wurden. Somit war in großen Teilen
Nicdersachsens die Amtsgetichtsbarkeit an die SteJIe der alten Markengerichte
getreten.'11 Da Detailstudien zu dieser Ftage fehlen, ist über die tägliche Verwaltung det Gemeinweiden und die Flurorganisaticn nicht viel Sicheres zu sagen, aber
es scheint, als ob die Bauern ihre ureigensten Angelegenheiten relativ autonom
handhaben konnten. Gleichwohl verfügte die gemeindliche Selbstverwaltung in
Niedersachsen nicht annähernd über so weitreichende Kompetenzen wie in
Württemberg. 4 *
Unter direkter staatlicher Kontrolle standen nur die größeren Wälder. Im Gegensatz zu den wenig produktiven Mooren und Heiden der Ebene warfen die
Forsten im Hügel- und Bergland beachtliche Profite ab. So erstaunt es nicht, daß
die Forst Verwaltungen versuchten, die Wälder zu beaufsichtigen, Einkünfte
möglichst in die landesherrlichen Kassen zu leiten und bäuerliche Nutzungsrechte
weitgehend zurückzudrängen.
Im Gegensatz zu Niedersachsen war die Nutzung des gemeinschaftlich genutzten Bodens in den weltlichen Fürstentümern Westfalens nicht an die Gemeindemitgliedschaft gebunden. Anstelle dessen war das Nutzungstecht hier ein unlöslicher Bestandteil det altansässigen Hof statten.4i Nachsiedlet, das heißt Eigentümer von historisch jüngeren Stätten, hatten sich mit geringeren Anrechten zufrieden zu geben oder waren zunächst völlig von der Nutzung der Gemeinheiten ausgeschlossen. Aber in den meisten Gegenden stellte sich nach einigen Jahrzehnten,
wenn die Alteingesessenen einen neuen Siedler als Nachbarn akzeptiert hatten, der
Brauch ein, daß dieser zumindest eine Kuh weiden, etwas Feuerholz sammeln und
hier und da einige Soden hacken durfte, um zu dem nötigen Einstreu für seinen
Stall 'zu kommen. Übllchetwelse hatten die Nachsiedlet für die Nutzung der Ge41 ACHILLES (wie Anm. 17), S. 667-670.
42 WTTTICH (WIE Anm. 17), S. 117-146; CARL-HANS HAUPTMEYER, Dorf und Territorialstaal im
zentralen Niedersachsen, in: ULRICH LANGE (Hg.), Landgemeinde und frühmoderner Staat.
Beiträge zum Problem der gemeindlichen Selbstverwaltung in Dänemark, Schleswig-Holstein
und Niedersachsen in der frühen Neuzeit (= Kieler historische Studien 32), Sigmaringen 1988.
S. 217-235, hier S. 224-23543 Löw(wieAnm. 15). S. 83-116.
307
Stefan Brakensiek
meinhcitcn zwar Gebühren zu entrichten, die allerdings unter dem Marktwert der
betreffenden Nutzungen lagen.44 Jn den Städten war das Recht, auf der Bürgerweide Vieh zu hüten und im Stadtwald Feuerholz zu sammeln, üblicherweise an
das Bürgerrecht gebunden. 45
Wenn der Prozeß der allmählichen Aufteilung der Marken und die Herabstufung von komplexen Selbstverwaltungsinstitutionen zu einfachen Dorfgemeinheiten die „normale" Entwicklung innerhalb der Frühen Neuzeit bildete, stellt sich
die Frage, wie das Überleben einiger althergebrachter Markgenossenschaften in den
geistlichen Fürstentümern erklärt werden kann. Man fand sie vor allem in Westfalen, namentlich in den Fürstbistümern Münster, Paderborn und Osnabrück, der
Fürstabtei Corvey, dem Vest Recklinghausen und dem Herzogtum Westfalen. In
diesen Territorien konnten die Stände ihre starke politische Position wahren und
auf dieser Grundlage die geistlichen Wahlfürsten daran hindern, Vorrechte des
Adels zu schwächen oder gar abzuschaffen. Deshalb gelang es den adligen Holzrichtern und Erbexen, die ehrwürdige Markenverfassung zu konservieren, bot sie
ihnen doch eine willkommene Grundlage lokaler Macht.4'" Überhaupt steht zu
vermuten, daß die voll entwickelte Markgenossenschaft, wie sie in den geistlichen
Fürstentümern des 18. Jahrhunderts noch zu finden war, einen integralen Bestandteil der Grundherrschaft bildete und in erster Linie dafür sorgte, die Abgaben der
Bauern an ihre Herren sicherzustellen. Jedenfalls kamen die wesentlichen Vorteile der Genossenschaften der korporativ verfaßten Aristokratie zugute: Prestige,
unabhängige Macht und Einkünfte.
Aber selbst in den geistlichen Fürstentümern erforderte die gesellschaftliche
Dynamik einen allmählichen Wandel der Bewirtschaftungsweisen der Gemeinheiten. Mit dem Anwachsen ihrer Nutzer seit ungefähr 1450 entfielen alle unbegrenzten Nutzungsrechte und wurden ersetzt durch genau definierte Berechtigungen. Um solche Einschränkungen durchsetzen zu können, bediente man sich
verfeinerter Kontrollmechanismen: Die Pflichten der Genossenschaftsmitglieder
vervielfachten sich, Sanktionen gegen abweichendes Verhalten wurden intensiviert. Beispielsweise wurden in der Letter Mark, einer der besonders großen und
gut fundierten Genossenschaften im Münsterschen Becken, der unbegrenzte
Holzhieb einiger privilegierter Nutzer Im Jahre 1505 eingeschränkt. 1609 wurde es wegen „Überweidung" der Letter Mark erforderlich, sämtliche Nutzungsrechte durch die Einführung fixer Anteile zu „rektifizieren", wodurch die Zahl
der weidenden Rinder und Schafe drastisch eingeschränkt wurde. Im Jahre 1688
ging man dann dazu über, das Holzfällen für den Hausbrand auf bestimmte
Reviere einzugrenzen, die von den Markbeamten, den Malleuten, ausgewiesen
wurden. Im Jahre 1723 sah sich der Letter Hölting veranlaßt, das Holzfällen ganz
zu verbieten, bis genügend Bäume von ausreichender Größe nachgewachsen
44 Ebenda, S. 116-123.
45 KARL HAI-I-, Markgenossenschaft und Stadtgemeinde in Westfalen, in: Vierteljahrschrift für
Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 8 (1910), S. 17-55; LAPPE (wie Anm. 9).
46 HESMEK/SCHROEDER, (wie Anm. 35), ,S. 115 (Karte der Marken in der Münsterschen Bucht).
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Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen
waren.1*7 Rinder, Schafe und Schweine wurden mit Brandzeichen gekennzeichnet,
um sie von fremdem Vieh unterscheiden zu können, das illegal in die Mark eingetrieben wurde.48
Offenbar sind diese lokalen Befunde typisch für die Entwicklung der Markgenossenschaften im Nordwesten insgesamt. Seit dem späten 15. Jahrhundert läßt sich
einTrend zu immer kleineren gemeinschaftlich bewirtschafteten Flächen feststellen,
die den Vorteil hatten, daß man sie besser beaufsichtigen konnte. Die neuen
Kontrollinstanzen entstanden innerhalb eines konflikthaftcn Prozesses zwischen
Gemeinheitsnutzern und tetritorialstaatlichen Behörden. Im Zuge dieses Prozesses
wuchs die Zahl der Personen, die mit der Aufsicht über die gemeinschaftlichen
Ressourcen und die Bestrafung von Übeltätern beauftragt waren. Seit dem 16.
Jahrhundert gab es in einigen Marken Unterholzrichter oder Holzförsrer, die von
ihren adligen oder fürstlichen Herren beauftragt und besoldet wurden, und die im
wesentlichen die gleichen Aufgaben zu erfüllen hatten wie ihre Gegenspieler, die
traditionellen Schar- oder Malleute. Weil erstere von Herren eingesetzt, letztere von
den Markversammlungen gewählt wurden, standen sie in unterschiedlichen Loyal itätsverhältnissen, so daß notwendigerweise Konflikte zwischen ihnen entstanden.
Manchmal waren diese Auseinandersetzungen produktiv, in dem Sinne, daß sie das
Bewußtsein für die Begrenztheit der gemeinschaftlichen Güter schärften, so daß
die auf F.rhaltung der Mark zielenden Regeln sorgfältig befolgt wurden. Aber oft
genug stand am Ende dieser Konflikte ein Wettrennen um die Ausbeutung der
verbliebenen Ressourcen. Unglücklicherweise reichen die vorliegenden empirischen
Studien nicht aus, um entscheiden zu können, welche Faktoren für die Erhaltung
oder die Zerstörung einer Mark verantwortlich waren.49
V. Zugang zu den gemeinschaftlichen Ressourcen
Festzuhalten bleibt, daß gemeinschaftliche Ressourcen für die gesamte ländliche
Bevölkerung von ausschlaggebender Bedeutung waren. Wer keinen Zugang zu den
Marken oder Gemeinheiten besaß, hatte für lebensnotwendige Güter hohe Preise zu entrichten. Üblicherweise gewann man Brennstoff, Weide und Düngemittel auf gemeinschaftlich genutztem Boden. Die bloße Ansässigkeit in einer Gemeinde eröffnete allerdings noch keinerlei Anrechte. Ob nun im Rahmen einer
Markgenossenschaft oder einer Gemeinheit, der legale Zugriff auf kollektive Ressourcen hing vom Besitz einer Hofstätte ab, deren integraler Bestandteil das Nutzungsrecht bildete. Anrechte auf Gcmeinheitsnutzung waren in der Regel nicht los47 SCHOTTE (wie Anm. 9), S. 89-116; UCHP.NICHT (wie Anm. 37), S. 56-64.
48 LÜLFF (wie Anm. 24), S. Soff.
49 MAURER (wie Anm. 8), S. 255-269; AUGUST SF.IDENSTICKF.R, Rechts- und Wirtschaftsgeschichte
norddeutscher Forsten, besonders im Land Hannover, 2 Bde., Götringcn 1896, ßd. l, S. 65f.;
STÜVF. (wie Anm. 15), S. 623, 644 u. 758-776; SCHOTTE (wie Anm. 9), S. 106-109; TIMM
(wie Anm. 35), S. 36f.; GÜNTHER (wie Anm. 35), S. 58f. {Fn. 11 7 mit dem Wortlaut des Eides für einen „Selhauer").
309
Stefan Brakensiek
gelöst von diesen Wirtschaftseinheiten zu erwerben. Man errang sie auf unterschiedlichen Wegen, üblicherweise durch Erbe, in seltenen Fällen durch den Kauf
einer berechtigten Hofsrätte. Eine solche Stätte konnte aber auch durch Rodung
eines Zuschlags in der Mark entstehen. Voraussetzung dafür war, daß die Eigentümer und Nutzer der Mark zustimmten. Führt man sich diese Bedingungen vor
Augen, so dienten die Verfassungen der Marken und Gemeinheiten vor allem der
Wahrung wirtschaftlicher und sozialer Stabilität. Verschiedene Faktoren führten
jedoch dazu, daß diese den Status quo stützenden Regelungen unterlaufen wurden.
Grundsätzlich war der Zugang zu den gemeinschaftlichen Gütern ungleich. Eine
Faustregel besagt: Je älter eine Hofstätte war, um so größer war auch ihr Kulturland und um so substantieller ihre Anrechte innerhalb der Gemeinheiten. Ob nun
unter der Ägide territorialstaatlicher Behörden, eines adlig dominierten Markengenchrs oder innerhalb bäuerlicher Selbstverwaltung, es waren die Vollbauern, die
über die fundiertesten Nutzungsrechte verfügten. Aufs Ganze gesehen scheinen die
gemeinschaftlichen Wälder eher von den Herren genutzt worden zu sein, während
sie in die Gemeinweiden häufig nur ihre Schafherden eintrieben. Dagegen waren
die Rinderhude, das Recht zum Plaggen- und Torfhieb, das Sammeln von Blättern und Zweigen als Einstreu für die Ställe und das Sammeln von Brennholz vor
allem bäuerliche Rechte.
Ais nach dem Schwarzen Tod die Bevölkerung allmählich wieder anwuchs, als
dann vor allem im 16. Jahrhundert die Zahl der Menschen sprünghaft anstieg und
als erneut im 18. Jahrhundert — nach der Wiederaufbauphase im Gefolge des
30jährigen Krieges - die ßevölkerungsvermehrung ein bis dahin ungekanntes
Ausmaß erreichte, gewann ein wachsender Anteil der Landbevölkerung seinen Lebensunterhalt, ohne über einen bäuerlichen Berrieb zu verfügen. Entsprechend
schwierig war es für sie, Zugang zu den Marken und Gemeinheiten zu erlangen.
Obwohl die „kleinen Leute" niemals ein unbestrittenes Recht an der Nutzung gemeinschaftlicher Weiden und Wälder erlangten, war es in der alltäglichen Praxis
letztlich unmöglich, sie von diesem Privileg völlig auszuschließen. Möglicherweise
gelang es den Besitzern der althergebrachten Hofstätten in einigen Gegenden mit
besonders starken genossenschaftlichen Traditionen, z.B. in den großen Marken
des Münsterlandes, neue Ansiedlungen weitgehend zu verhindern. Die Fürsten
verfolgten jedoch allenthalben eine gegensätzliche Politik, die auf die Neuansiedhmg in den gemeinen Gründen baute, um dadurch die Zahl der Steuerzahler und
potentiellen Soldaten zu erhöhen.
War der Landesherr - wie in weiten Teilen Nord Westdeutschlands - zugleich
Markenherr, so hatten die Bauern zu gewärtigen, daß ihre Gemeinheiten den politischen Interessen des Souveräns zu dienen hatten. Die landesherrlichen Verwaltungen gingen im späten 18. Jahrhundert oftmals dazu über, Gemeinheiten mit
Nadelbäumen aufzuforsten, wodurch sie für andere Nutzungsformen verloren
waren. Gemeinheiten, die einem Fürsten gehörten, waren in ihrer ökonomischen
Substanz jedoch nicht nur durch die veränderte Forstpolitik bedroht, ihre Existenz
konnte sogar vollständig zur Disposition stehen, denn in vielen Fällen wurden
310
Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersacksen
große Teile der Gemeinheiten von Fürsten 7,ur Gründung von Siedlerstellen, ja
ganzer Dorfkolonien genutzt. 50
So entstanden in den meisten Teilen Westfalens und Niedersachsens mehr und
mehr kleine Kotten, deren Bewohner seit dem 16. Jahrhundert die Mehrheit der
ländlichen Bevölkerung ausmachten. Die Kötter nahmen sich zunächst die alt eingesessenen Betriebe der Erben zum Vorbild für ihre Landwirtschaft: Viele von
ihnen versuchten, den Status eines vollen Bauern zu erreichen, indem sie ihr Vieh
vermehrten und ihre Wirtschaftsflächen auf Kosten des gemeinschaftlich genutzten Landes allmählich vergrößerten. Die Zahl ihrer Besitzungen vermehrte sich
bis zur Mitre des 18. Jahrhunderts. Weil nun aber das Siedlungsland begrenzt war,
konnte die Gründungswelle neuer Köttereien nicht ewig weiter rollen, auch wenn
die Bevölkerung weiter anwuchs.
Entscheidende Bedeutung sollte in diesem Zusammenhang die Expansion ländlicher Gewerbe erlangen. Dadurch boten sich vor allem seit dem Ende des 17.
Jahrhunderts neue ökonomische Möglichkeiten für die Landarmen. Junge Paare
konnten heiraten und ihr Überleben sichern, auch wenn sie keine Hofstätte ererbt oder anderweitig erworben harten, indem sie Wohnraum von den Bauern anpachteten und eine gewerbliche Tätigkeit aufnahmen. In Nordwestdeutschland beruhte die Existenz dieser landlosen Gewerbetreibenden hauptsächlich auf der Produktion von Leingarn und Leintuch. 51
Die Staatsbehörden suchten die bäuerlichen Gemeinden zu veranlassen, die
Landlosen aufzunehmen, weil sie auch in ihnen potentielle Steuerzahler und künftige Soldaten sahen. Aber viele Besitzer von Hofstätten verpachteten kleine Gebäude und Garrenländereien an diese sogenannten Heuerlinge von sich aus nur
allzu bereitwillig, weil die Pächter sich im Gegenzug zu verbilligten Diensten auf
dem Hof des Verpächters verpflichteten und damit vor allem die saisonale Arbeitskräftespitzen deckten. Zudem brachten sie Geld in die bäuerlichen Kassen: Für
nahezu alle Lebensbedürfnisse hatten sie bares Geld an ihre Vermieter zu entrichten, für Wohnung, Garten- und Ackerland, Spannhilfe, Futterpflanzen für ihr
Vieh, Getreide, Brennholz und Gemeinweide. Die meisten Heuerlinge besaßen
eine Kuh, die sie nur halten konnten, wenn sie Zugang zu den gemeinen Hütungen bekamen. Schon aus diesem Grund waren die ärmsten Landbewohner die
standfestesten Verteidiger der Gemeinheiten und Marken, [n ihrem Augen war
deren Gebrauch unentbehrlich und sie fürchteten um ihr Überleben, wenn man
die kollektiven Güter reduzierte oder gar abschaffte. Als die Gemeinheiten zwi-
50 CORDIIS (wie Anm. 27), S. 58-73; HI;SMI;R/$CHROEDER fwieAnm. 35); KNOKU (wie Anm. 19);
KURT MANTEL, Wald und Forst in der Geschichte. Ein Lehr- und Handbuch, Alfeld u.a. 1990,
S. 65-79, 164-181, 202ff., 232-238 u. 323-376; SEIDENSTICKER (wie Anm. 49).
51 Der Stand der Forschung und die einschlägige Literatur finden sich in: DIETRICH EBELINC,
WOLFGANG MAGER, Einleitung, in: DIES. (Hgg.), Protoindustrie in der Region. Europäische
Gewerbelandschaften vom 16. bis zum 19. Jahrhundert (= Studien zur Regionalgeschi ehre 9),
Bielefeld 1997, S. 9-55.
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Stefan Bmkensiek
Marken und Gemeinheiten in Westfalen und Niedersachsen
sehen 11/0 und 1850 privatisiert wurden, gingen die Heuerlinge leer aus und
mußten in der Folge in der Tat vielfach ihr Rindvieh abschaffen.52
seinem riesigen Bedarf nach Holzkohle und Ständer-, bzw. Schalholz für den
Unterhalt der Stollen war dafür verantwortlich, daß im 15. und 16. Jahrhundert
im Harz die Wälder praktisch vollständig verschwanden und anschließend unter
der Oberaufsicht von territorialen Forstbehörden wieder aufgeforstet werden mußten. 57
Das berühmte Beispiel der Hauberge im Siegerland führt vor Augen, daß gerade gemeinschaftliche Nuczungsweisen für die Nachhaltigkeit der Waidökonomie
sorgen konnten. Die Haubergswirtschaft harmonisierte nämlich die Ansprüche der
örtlichen Eisenindustrie und der Landwirtschaft. Man teilte die Bcrgflächen in 16,
18 oder 20 Schläge auf und nutzte sie in einer langjährigen Rotation. Zunächst
wurden Eichenheister geserzr, die nach erwa 15 Jahren gefallt wurden, um Holzkohle und aus der Rinde Gerberlohe zu gewinnen. Im nächsten Sommer wurden
die liegen gebliebenen Aste und die übrige Vegetation verbrannt, um den armen
Boden zu düngen, in den man im Herbst Roggen einsäte. Nach der Ernte schlugen die im Boden verbliebenen Wurzelstöcke aus, so daß eine Wetdcpcriode folgen konnte: Im zweiren Jahr erfolgte die Schweineweide, von der man sagte, daß
sie den Boden säuberte, die Schafweide begann nach vier Jahren und das Rindvieh wurde nach fünf Jahren auf die Haubergsschlägc getrieben. Diese Wirtschaftsform entstand im Spätminelaher und verschwand erst im späten 19. Jahrhundert,
als sich die ökonomischen Bedingungen rasch veränderten. Hauberge gab es
zunächst nur im unmittelbaren Umfeld der Stadt Siegen, von wo aus sie während
des 17., 18. und noch im 19. Jahrhundert in die Nachbargegenden ausstrahlten.
Obwohl die aufgeklärte Öffentlichkeit diese Wirtschaftsform im späten 18. Jahrhundert lebhaft propagierte, gelang es nicht, sie in anderen Teilen Deutschlands
heimisch werden zu lassen.53
Wenn nicht die gemeinschaftliche Nutzung von Ressourcen für den ökologischen Niedergang zahlreicher Marken und Gemeinheiten in der Frühen Neuzeit
verantwortlich war, welche Einflüsse führten dann zu den offensichtlichen Krisensympromen? Alle Zeitgenossen waren sich einig, daß Kriege zerstörerische Effekte auf die Wälder hatten: Armeen neigten dazu, Holz rücksichtslos zu fällen, um
ihren Bedarf zu decken, so daß vor allem während des Dreißigjährigen und des
Siebenjährigen Krieges private Forste und gemeinschaftliche Wälder schwer litten.
Diese unkontrollierbaren Aktionen von marodierenden Soldaten wurden begleitet von systematischen Holzvcrkäufen der Besitzer von Marken und Gemeinheiten, die unter dem enormen Abgabcdruck im Krieg dazu neigten, ihre Wälder in
Geld zu verwandeln. 5y In Friedcnszeiten sorgten in den meisten Marken und Gemeinheiten strenge Regeln dafür, daß gefällte Bäume durch Setzlinge (Teigen, Pot-
VT. Nachhaltigkeit
Auf die Frage, ob die Markgenossenschaften und Gemeindeverbände im Verlauf
des Mittelalters und der frühen Neuzeit in der Lage waren, ihre kollektiv genutzten Ländereien in nachhaltiger Form zu nutzen, gibt es zwei einander ausschließende Antworten. Folgt man der einen Sichtweise, dann gibt es gute Gründe, von
einer Tragödie der Gemeinheiten („tragedy of the commons"} in Nordwestdeutschland zu sprechen. Am Ende des 18. Jahrhunderts lamentierten die Zeitgenossen,
daß die gemeinschaftlichen Wälder größtenteils veröder seien, daß die Heiden sich
immer weiter ausdehnten und daß einige Gemeinheiten ihre Vegetation aufgrund
von Ubcrausbeutung völlig verloren hätten. Bei näherem Hinsehen kommen jedoch Zweifel auf, ob diese Klagen berechtigt waren und ob der gemeinschaftliche
Gebrauch der Ländereien verantwortlich war für die Übel, die man ihm zuschrieb.
Man kann schließlich ein ökologisches und wirtschaftliches System, das nahezu
eintausend Jahre überstanden hat, kaum für seine mangelnde Nachhaltigkeit verurteilen.53 Schließlich ist es ein erklärungsbcdürftiges Phänomen, warum weite
Teile der Landbevölkerung im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert lebhaften
Widerstand gegen die Privatisierung der Marken und Gemeinheiten leisteten. Das
läßt vermuten, daß die Gemeinheiren in Nord Westdeutschland ihren Wert nicht
vollständig verloren hatten.511
Im Falle der Wälder hängt alles davon ab, welche Vorstellung man von einem
Forst hat. Wenn man in Übereinstimmung mit der deutschen Forstwissenschaft
des späten 18. Jahrhunderts unterstellt, daß ein Wald in erster Linie Bauholz hervorbringen soll, dann ist der schlagweise Anbau von Nadelhölzern zu bevorzugen.
In dieser Perspektive erscheinen gemeinschaftlich genutzte Wälder, die üblicherweise sehr unterschiedlichen Nutzungen unterliegen, schnell als „verwüstet"." Nun
sollen die realen Problerne der frühneuzeitlichen Forstwirtschaft nicht rundweg
geleugnet werden, aber war der gemeinschaftliche Gebrauch der Wälder durch die
Landbevölkerung wirklich dafür verantwortlich, wenn Wälder völlig verwüstet
waren? Alle empirischen Befunde deuten eher daraufhin, daß bestimmte Gewerbe
besonders destruktiv wirkten. Es ist zum Beispiel eine bekannte Tatsache, daß die
Saline von Lüneburg bereits im Mittelaltcr für das Verschwinden fast alier Wälder in weitem Umkreis um die Stadt sorgte.56 Der fürstliche Silberbergbau mit
52 BRAKENSIEK (wie Anm. 16), S. 108-126 u. 424-434.
53 JOACHIM RADKAU, Holzverknappung und Knsenbewußsein im 18. Jahrhundert, in; Geschichte und Gesellschaft 9 (1983), S. 513-543; DERS., Natur und Macht. Eine Weltgeschichte der
Umwelt, München 2000, S. 90-98; MANTEL (wie Anm. 50), S. 89-111.
54 PHASS (wie A n m . 15).
55 SELTER (wie Anm. 31), S. 118-200.
56 TlMM (wie Anm. 35), S. 43f.
312
57 PETER-MiCHAEL STEINSIEK, Nachhai tigkei r auf Zeit. Waldschlitz im "Westharz vor 1800 (= Cottbuser Studien zur Geschichte von Technik, Arbeit und Umwelt l 1), Münster 1999.
58 JOACHIM RAUKAU, INGRID SCHÄFER, Holz. Ein Natutstoff in der Technikgeschichte, Reinbek
1987, S. 107-110; SELTER (wie Anm. 31), S. 93f.
59 STÜVE (wie Anm. 15), S. 628; HESMER/SCHROEDHR (wie Anm. 35), S. 133-139; LACHENJCHT
(wie Anm. 37), S. 64 u. 75.
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Stefan Bmkemiek
ten, Heister) ersetzt wurden, die zumeist auch durch Wälle oder Zäune vor dem
weidenden Vieh geschützt wurden. Angesichts der riesigen ausgeplünderten Waldregionen nach den großen Kriegen erschien dieses herkömmliche Mittel der
Wiedcraufforstung nur als ein hilfloser Versuch; zudem sorgte die andauernde
Weide von Schafen und Rindvieh dafür, daß vormalige Wälder zu bloßen Heiden verkamen.60
Der andere Faktor, der auf lange Sicht für eine Uherausbeutung der gemeinschaftlichen Hutungen sorgte, war das Wachstum der ländlichen Bevölkerung. 01
Es scheint, als ob übermäßiger Bevölkerungsdruck nahezu überall auf der Welt finden ökologischen Niedergang von gemeinschaftlichen Ressourcen verantwortlich
ist. Belege für diese These kann man in Westfalen und Niedersachsen finden, wenn
man verschieden strukturierte Regionen miteinander vergleicht, beispielsweise
demographisch expandierende Gewerbercgionen mit solchen Gebieten, in denen
die Bevölkerung stabil und die Landwirtschaft der wichtigste ökonomische Sektor blieben. Nun ist deutlich, daß vom 16. Jahrhundert an die alarmierendsten
Nachrichten aus solchen Landstrichen kamen, wo ein florierendes Textilgewerbe
die Bedingungen für ein rasches Wachstum der ländlichen Unterschicht bot. Dies
war beispielsweise im Hügelland des südlichen Niedersachsens der Fall und auch
in den Grafschaften Ravensberg und Lippe, im Osnabrücker Land und im westlichen Westfalen, an der Grenze zu den Niederlanden. In all diesen Regionen
scheint die Bewirtschaftung der Gemeinheiten mehr und mehr versagt zu haben,
weil die Zahl der Nutzer alle ökonomischen und ökologischen Grenzen überstieg.62
Für diese Entwicklung sind mehrere Gründe verantwortlich, ohne daß man über
ihr jeweiliges Gewicht wirkliche Sicherheit erlangen könnte. Es scheint, als ob es
für die meisten Landesherren, für den Adel und auch für die altansässigen Vollbauern allzu verführerisch war, neue Ansiedlungen zuzulassen. Auf diese Weise
nämlich kamen die Fürsten zu neuen Steuerzahlern, die adligen Herren mochten
sich Profite aus dem Verkauf ein/einer Zuschläge versprechen, und die Besitzer von
Hofstätten gewannen billige Arbeitskräfte, die zudem regelmäßig Pachten entrichteten. Für alle einflußreichen Akteure schienen die aktuellen Gewinne die langfristigen Nachteile zu überwiegen. Aber die großen Unterschiede zwischen verschiedenen Regionen, in denen die großflächige Auflösung von gemeinschaftlichen
Gütern während der Frühen Neuzeit geschah, und benachbarten Gebieten, wo dieser Prozeß viel langsamer vonstatten ging oder völlig ausblieb, sollte uns zur Vorsicht mahnen. Nur die genaue Untersuchung von Markengerichtsprotokollen und
Amtsakten könnte uns ein deutlicheres Bild vom Entscheidungsfindungsprozeß
auf lokaler oder regionaler Ebene bieten. Fallstudien dieser Art bilden ein dringendes Forschungsd es Iderat.
60 STÜVE (wie Anm. 15), S. 646; FREUOENSTEIN (wie Anm. 9), S. 29; FLOER (wie Anm. 9), S, 102£;
KRAFT (wie Anm. 24), S. 58; TIMM (wie Anm. 35), S. 70£; HESMER/SCHROEDER (wie Anm. 35),
S. 157-160 u. 274.
61 RADKAU (wie Anm. 35).
62 MIDDRNDORFF (wie Anm. 37), S. 35-84; STEFAN BRAKENSIEK, Agrarian Indiviclualism in NorrhWesrcrn Germany, 1770-1870, in: German Hisrory 12/2 (1994), S. 137-179.
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