Fortbildungszeitschrift und Informationsbulletin der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie Vol. 28 Nr. 2 IV/2017 9 14 Neonatale Erstversorgung Interdisziplinäre Empfehlungen Prävention von Respiratory Syncytial Virus 17-40 Thema: Autismus-Spektrum-Störung 41 Belastungsuntersuchungen mit angeborenem Herzfehler 46 Rechte der Kinder mit Migrationshintergrund Inhaltsverzeichnis Vol. 28 Nr. 2 2017 Editorial Redaktion Prof. R. Tabin, Sierre (Schriftleiter) Prof. M. Bianchetti, Bellinzona Dr. M. Diezi, Lausanne Prof. T. Kühne, Basel Dr C. Eberhardt, Genf Dr. U. Lips, Zürich Dr. M.-A. Panchard, Vevey Dr. P. Scalfaro, Lausanne Dr N. Jundt, Etagnières Dr. R. Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Prof. A. Superti-Furga, Lausanne Dr. R. von Vigier, Biel Redaktionsadresse c/o Prof. R. Tabin Av. du Général Guisan 30 Postfach 942 CH-3960 Sierre Tel. 027 455 05 05 Fax 027 455 59 55 [email protected] Copyright © Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie Verlag – Herausgeber Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) www.swiss-paediatrics.org Sekretariat / Adressänderungen Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie Postfach 1380 1701 Fribourg Tel. 026 350 33 44 Fax 026 350 33 03 [email protected] Layout und Druck s+z:gutzumdruck. Nellenstadel 1 3902 Brig-Glis Tel. 027 924 30 03 Fax 027 924 30 06 [email protected] Inserate Editions Médecine et Hygiène Michaela Kirschner Chemin de la Mousse 46 1225 Chêne-Bourg Tel. 022 702 93 41 [email protected] Paediatrica Erscheint 5 x jährlich für die Mitglieder der SGP. Nicht-Mitglieder können beim Sekretariat die Paediatrica zum Preis von Fr. 120.– jährlich abonnieren. Auflage 1950 Ex. / ISSN 1421-2277 Bestätigt durch WEMF Nächste Ausgabe Redaktionsschluss: 28.7.2017 Erscheinungsdatum: Nr. 4: 15.9.2017 Titelbild «Spielende Fabelwesen im Wald» Acrylfarbe auf Leinwand, 60 x 80 cm Claire Ochsner, www.claire-ochsner.ch Für den Inhalt der Texte übernimmt die Redaktion keine Verantwortung. 3 Die SGP bleibt auf Kurs, an Ihrer Seite Standespolitik 4 Altersbestimmung junger Migranten - Stellungnahme der SGP 6 Die Kinder- und Jugendmedizin von morgen – ein Ausblick B. Wildhaber, H. Beutler, U. Frey, N. Pellaud, M. Hofer 8 Echos aus dem Vorstand N. Pellaud Empfehlungen 9 Neonatale Erstversorgung - Interdisziplinäre Empfehlungen SGGG, SGN, SGP, SGAR, SHV, SAOA 4 Konsensus Statement zur Prävention von Respiratory Syncytial Virus (RSV)1 Infektionen mit dem humanisierten monoklonalen Antikörper Palivizumab (Synagis®) P. Agyeman, C. Barazzone, J. Hammer, U. Heininger, D. Nadal, J.-P. Pfammatter, K.M. Posfay-Barbe, R.E. Pfister Fortbildung Thema : Autismus-Spektrum-Störung 17 Editorial: Autismus-Spektrum-Störung, ein gesundheitspolitisches Problem N. Chabane 19 Diagnose von Autismus-Spektrum-Störungen heute: Eine umfassende Evaluation im Interesse von Kind und Familie S. Manificat 23 Aetiologische Faktoren und Komorbiditäten der Autismus-Spektrum-Störungen M. Jequier Gygax, A. M. Maillard 30 Neurokognitive Besonderheiten des Autismus E. Thommen, L. Baggioni, A. Tessari Veyre 5 Partnerschaftliches Modell bei der Begleitung eines Kindes mit einer Autismus- 3 Spektrum-Störung N. Chabane 39 Früherkennung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen: Erfahrungen im Tessin G. P. Ramelli 41 Belastungsuntersuchungen bei Kindern mit angeborenem Herzfehler S. Simmen; E. Valsangiacomo Buechel, M. Christmann Hinweise 46 Werden die Rechte der Kinder mit Migrationshintergrund respektiert? J. Zermatten 49 Nationale Strategie zu Impfungen – den Schutz der Bevölkerung optimieren V. Masserey 51 Europäische Impfwoche: Die Erwachsenen impfen, um die Säuglinge zu schützen 52 Kinderschutzgruppen der KKJ der CH 11.11.2016 - Wissenschaftliche Jahrestagung C. Stüssi, A. Müller 54 Helpline Seltene Krankheiten S. Strebel, S. R. Karg und partnerM. R. Baumgartner 56 Schwangerschaft und Tabak: Gut zu Wissen 56 Wozu eine Charta für SGP-Mitglieder? Rubrik «Juristische» 57 Neues Kindesunterhaltsrecht B. Laville 58- 60 Aktuelles aus dem pädiatrischen Fachbereich Persönlichkeiten 61 In Memoriam – Andrea Poretti Lesebrief 62 Überlegungen eines Kinderarztes an der Wende zum Ruhestand Y Heller 1 Oraler Rotavirus-Impfstoff r EKIF Von de zlich sät 2 grund hlen! empfo Klein, aber nicht fein Rotarix® bietet Säuglingen und Kleinkindern mit einem bereits im Alter von 10 Wochen abgeschlossenen möglichen Impfzyklus1 Schutz gegen Rotavirus (RV)-Infektionen – damit sie weiter ungestört die Welt entdecken können. CH/ROT/0001/15(2)a/19.01.2017/Ca 1008029 1. Rotarix® Fachinformation, GlaxoSmithKline, www.swissmedicinfo.ch 2. EKIF, Rotavirusimpfung: Empfehlung für Säuglinge – 16.09.2016, www.bag.admin.ch/ekif, Seite 3. Rotarix® liquid, Rotavirus-Impfstoff zur oralen Anwendung. W: lebend abgeschwächtes humanes Rotavirus, Stamm RIX4414 (≥106,0 ZKID50/Dosis). I: Aktive Immunisierung von Kindern ab dem Alter von 6 Wochen zur Vorbeugung einer Rotaviren-bedingten Gastroenteritis. Wirksamkeit belegt gegen Rotaviren der Typen G1P[8], G2P[4], G3P[8], G4P[8], G9P[8]. D/A: Grundimmunisierung umfasst 2 Dosen. Intervall mindestens 4 Wochen. Erste Dosis ab dem Alter von 6 Wochen, zweite Dosis vor dem Alter von 16 (max. 24) Wochen. Nur für den oralen Gebrauch bestimmt. KI: Bekannte Überempfindlichkeit auf eine Komponente im Impfstoff oder Zeichen einer Überempfindlichkeit nach einer vorangegangenen Anwendung von Rotarix; Invagination in der Anamnese oder für Invagination prädisponierende kongenitale Missbildung des Gastrointestinaltraktes; schwerer kombinierter Immundefekt (SCID); akute, schwerwiegende und fieberhafte Erkrankung; Diarrhö oder Erbrechen; nach vollendeter 24. Lebenswoche. WV: UNTER KEINEN UMSTÄNDEN INJIZIEREN! Kinder mit hereditärer Fructose-Intoleranz, Glucose-Galactose-Malabsorption oder Sucrase-Isomaltase-Mangel; Kinder mit gastrointestinalen Krankheiten oder Wachstumsstörungen; Risiko für Intussuszeption: auf die typischen Symptome einer Invagination achten; bekannte oder vermutete Immunschwäche; Exkretion des Impfvirus im Stuhl (Vorsicht bei engem Kontakt zu immundefizienten Personen); potentielles Risiko von Apnoen bei sehr unreifen Frühgeborenen. IA: Gleichzeitige Anwendung mit folgenden monovalenten oder Kombinations-Impfstoffen möglich: DTPw, DTPa, Hib, IPV, HBV, Pneumokokken, Meningokokken C. UW: häufig: Diarrhö, Reizbarkeit; gelegentlich: Blähungen, Bauchschmerzen, Appetitverlust; Dermatitis, Fieber; selten u.a.: Intussuszeption; sehr selten: schwerwiegende ITP. Lag.: Bei +2 °C bis +8 °C lagern. Nicht einfrieren. P: Glasspritze mit oraler Suspension ×1. AK: B. Stand der Information: November 2015. GlaxoSmithKline AG. Ausführliche Angaben finden Sie unter www.swissmedicinfo.ch. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen melden Sie bitte unter [email protected]. GlaxoSmithKline AG, Talstrasse 3–5, CH-3053 Münchenbuchsee, Telefon +41 (0)31 862 21 11, Telefax +41 (0)31 862 22 00, www.glaxosmithkline.ch Editorial Vol. 28 Nr. 2 2017 Die SGP bleibt auf Kurs, an Ihrer Seite Nicole Pellaud, SGP-Präsidentin, Genf und Sitten Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Im Leben einer Gesellschaft gibt es mehr oder weniger kritische Zeiten, insbesondere wenn sich finanzielle Fragen stellen – oder aufdrängen. Die vorgesehene Tarifrevision zwingt uns, ernsthaft darüber nachzudenken, was wir für die Pädiatrie wollen. Selbstverständlich eine korrekte Anerkennung der vom Praxispädiater geleisteten Arbeit, aber wie steht es mit den ambulanten Sprechstunden der Spitalärzte, ein für die Spitalfinanzen echtes Problem? Wir brauchen diesen ambulanten Beitrag, sei es auf Notfallstationen, als Spezialsprechstunden oder um in gewissen Regionen den Mangel an Kinderarztpraxen zu kompensieren. Die Finanzierung ist nicht unser einziges Problem, Ausbildung und Nachwuchs, nicht nur der Praxispädiater, sondern auch der pädiatrischen Spezialisten muss gesichert werden. Herausforderungen für die SGP, nicht nur um eine vielfältige und geeinte Gesellschaft zu bleiben, welche die Interessen aller ihrer Mitglieder vertritt, sondern auch um qualitativ 1) hochstehende kinder- und jugendmedizinische Betreuung in allen Bereichen zu gewährleisten1) . Neue Bedürfnisse entstehen gerade in noch wenig entwickelten Bereichen der Kinder- und Jugendmedizin, wie in Palliativmedizin, integrativer Pädiatrie oder im öffentlichen Gesundheitswesen, denen die Pädiatrie ihre Unterstützung bieten wird. In allen pädiatrischen Disziplinen ist Fortschritt nur durch Forschung möglich. SwissPedNet, ein Projekt an welchem sich die SGP beteiligt, bietet in dieser Hinsicht eine wunderbare Gelegenheit, Forschung sowohl im Spital wie in der Praxis zu fördern, und damit die Pädiatrie von morgen zu formen. Erworbenes bewahren, offen für Neues sein, zukünftige Bedürfnisse voraussehen – ein ganzes Programm, unser Programm. Korrespondenzadresse [email protected] http://www.swiss-paediatrics.org/sites/default/files/ueber_uns/pdf/ziele_der_sgp_2011_d.pdf 3 Standespolitik Vol. 28 Nr. 2 2017 Altersbestimmung junger Migranten Stellungnahme der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie Mangels validierter Untersuchungsmethoden können Ärzte sich nicht daran beteiligen Sarah Depallensa, Fabienne Jägerb, N. Pellaudc Die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) wünscht, die Ärzteschaft sowie die zuständigen eidgenössischen und kantonalen Behörden über die Problematik der Altersbestimmung bei jungen Migranten zu informieren*. Sie publiziert die Stellungnahme, welche durch in Fragen der Gesundheit junger Migranten und Sozialpädiatrie spezialisierten Pädiatern erarbeitet wurde. Diese Stellungnahme wurde durch Experten der betroffenen Fachrichtungen validiert: Entwicklungspädiatrie: Prof. Oskar Jenni, Kinderspital Zürichd Pädiatrische Endokrinologie: Prof. Valérie Schwitzgebel, Universitätskinderklinik Genfe Pädiatrische Radiologie: PD Dr. Georg Eich, Kantonsspital Aarauf SGP-Referenzgrupppe Migranteng und der Vorstand der SGPg Die Stellungnahme soll die Betreuung junger Migranten in der Schweiz fördern, welche die Kinderrechte und die Menschenrechte ganz allgemein respektiert. Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Im Jahre 2016 empfing die Schweiz 27207 Asylbewerber, wovon 7.3% als unbegleitete Minderjährige betrachtet wurden1). Nebst anderen Kriterien berücksichtigt das Asylverfahren das Alter des jungen Asylbewerbers; ab einem Alter von 18 Jahren besteht kein Anrecht mehr auf die den Minderjährigen von Amts wegen zuerkannte Betreuung (Wohn-/ Kinderheim mit Erziehern, Rechtsschutz durch einen Vormund, Zugang zu einer Schule etc.). Dieser Unterschied hat einen wesentlichen Einfluss auf die Zukunft des Jugendlichen. Der Zugang zu einer Ausbildung ist einer der wichtigsten Schutzfaktoren im Jugendalter. Ein Minderjähriger, der bei seiner Ankunft in der Schweiz als volljährig eingeschätzt wird, läuft somit von Anfang an Gefahr ungenügender sozialer Integration und damit einer gestörten Entwicklung. Um das Alter junger Menschen, die keine gültigen Ausweise haben, zu bestimmen, wenden sich die zuständigen Behörden in der Schweiz auch an die Ärzteschaft. Aus medizinethischer, deontologischer Sicht darf eine Untersuchung nur durchgeführt werden, wenn 1. eine klare medizinische Indikation besteht, welche das Ziel einer Gesundheitsverbesserung unterstützt, 2. die Einverständniserklärung der aufgeklärten Person vorliegt und es sich 3. um eine validierte Untersuchungsmethode ohne unnötiges Schädigungspotential handelt2),3) . Handelt es sich bei einer Untersuchung um einen nichttherapeutischen Auftrag (z. B. von der Asylbehörde), so sind umstrittene diagnostische Praktiken unzulässig und die betroffene Person ist klar zu informieren3) . Wie dies jedoch mehrmals nachgewiesen und publiziert wurde4),5) , sind die verwendeten Methoden, handle es sich nun um das Knochenalter6),7),8),11) , körperliche Untersuchung8) oder die Beurteilung der Zahnentwicklung9),10),12) , zu approximativ, weisen weite Streubreiten auf und basieren auf oft nicht adaptierten Referenzwerten, welche weder die ethnische11),12) und sozioökonomische Vorgeschichte des Jugendlichen noch allfällige endokrinologische Pathologien genügend be- rücksichtigen, obwohl diese die Entwicklung des Jugendlichen beeinflussen können8) . Zudem sind die Verfahren mit unnötigen Strahlenbelastungen verbunden. Es gibt heutzutage keine wissenschaftliche Methode, die erlauben würde, das Alter eines 15- bis 20-Jährigen genau zu bestimmen, und sicher zu entscheiden, ob er voll- oder minderjährig ist. So können Befunde, wie sie für Erwachsene typisch sind, durchaus auch bei Minderjährigen gefunden werden, was zu einer Altersüberschätzung führen kann. Eine umfassende Abklärung des Jugendlichen durch Entwicklungsspezialisten bleibt sinnvoll, um dessen Entwicklungsstand und psycho-kognitiven Status zu bestimmen, und ihn, wenn nötig, an eine sozialpädagogische Einrichtung weisen zu können, in der auf seine besondere Verwundbarkeit eingegangen werden kann13) . Angesichts der Tatsache, dass aktuell aus deontologischer Sicht die Grundlagen für besagte Altersbestimmungen nicht gegeben sind, diese jedoch wesentliche legale und soziale Konsequenzen für den Jugendlichen nach sich ziehen können, empfiehlt die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie, wie dies schon mehrere internationale pädiatrische Gesellschaften und Akademien getan haben14),15),16) , ihren Mitgliedern und jedem anderen diesbezüglich angefragten Arzt, sich nicht an der Altersbestimmung junger Asylbewerber zu beteiligen. Wir empfehlen, gegenüber kantonalen Institutionen, die sich mit Migration befassen, in diesem Sinne Stellung zu nehmen. Referenzen 1) https://asile.ch/statistiques/suisse/. 2) Charte du pédiatre, SSP 2017. 3) FMH Standesordnung Art 6, 8, http://www.fmh. ch/files/pdf18/Standesordnung_August_2016_D. pdf. 4) Aynsley-Green A, Cole TJ, Crawley H, Lessof N, Boag LR, Wallace RM. Medical, statistical, ethical and human rights considerations in the assessment of age in children and young people subject to immigration control. British medical bulletin. Jun 2012;102:17-42. 5) Hjern A, Brendler-Lindqvist M, Norredam M. Age assessment of young asylum seekers. Acta paediatrica (Oslo, Norway: 1992). Jan 2012;101(1):47.5. 6) Cole TJ. The evidential value of developmental age imaging for assessing age of majority. Annals of human biology. 2015;42(4):379-388. 7) Thodberg Hans Henrik, van Rijn Rick R, Jenni Oskar G, Martin David. D. Automated determination of bone age from hand Service de pédiatrie CHUV, Lausanne und Referenzgruppe Migranten, bService de pédiatrie, Hôpital du Jura, Delémont und Referenzgruppe Migranten, cService médicale scolaire et psychopédagogique Sion und Präsidentin SGP, dKinderspital Zürich, eHôpital des enfants HUG, Genève, fKantonsspital Aarau, gwww.swiss-paediatrics.org *Zwecks einfacherer Lesbarkeit wurde zusätzlich auf die weibliche Form verzichtet; sie ist aber selbstverständlich jeweils mitgemeint. a 4 Standespolitik Vol. 28 Nr. 2 2017 X-rays at the end of puberty and its applicability for age estimation Int J Legal Med DOI 10.1007/s00414-016-1471-8. 8) Schwitzgebel V. Georg F. L’âge osseux ne permet pas de déterminer l’âge des jeunes requérants d’asile, Paediatrica Vol. 27 No. 3, 29 2016. 9) Knell B. 2012. Zahnärztliche Altersdiagnostik zur Frage nach dem 18. Altersjahr. KriminalistikSchweiz. 2/12, 122-127, 2012. 10)Reutimann, Felix. Zahnärztliche Altersdiagnostik: Untersuchung zur radiologischen Sichtbarkeit des Parodontalspaltes der ersten Molaren im Unterkiefer bei 14- bis 22-Jährigen. 2015, University of Zurich, Faculty of Medicine http://www.zora.uzh. ch/123990/1/Dissertation_Reutimann_12_12_2015.pdf. 11)F K Ontell, M Ivanovic, D S Ablin and T W Barlow, Bone age in children of diverse ethnicity, http:// w w w . a j r o n l i n e . o r g / d o i / a b s /1 0 . 2 2 1 4 / ajr.167.6.8956565. 12)Olze A Schmeling A, Taniguchi M, Maeda H, van Niekerk P, Wernecke KD, Geserick G, Forensic age estimation in living subjects: the ethnic factor in wisdom tooth mineralization, Int J Legal Med. 2004 Jun;118(3):170-3. Epub 2004 Feb 6. 13)Messelken D, Crouse J. When childhood ends: estimating the age of young people BMJ 2015;351:h6699 doi: 10.1136/bmj.h6699. 14)Royal College of Paediatrics and Child Health (2009) Policy: College statement on the role of paediatricians in the age assessment of unaccompanied young people seeking asylum, http://www.rcpch.ac.uk/Policy. 15)On behalf of the Advocacy and Ethics Group of the European Academy of Paediatrics, P. J. J. Sauer, A. Nicholson, D. Neubauer, Age determination in asylum seekers: physicians should not be implicated. Eur J Pediatr. Mar 2016; 175(3), 299–303 (2016). 16)International Society for Social Paediatrics Position Statement on Migrant Child Health 2017. Korrespondenzadresse [email protected] 5 Standespolitik Vol. 28 Nr. 2 2017 Die Kinder- und Jugendmedizin von Morgen – ein Ausblick Barbara Wildhaber1, Hélène Beutler2, Urs Frey3, Nicole Pellaud4, Michaël Hofer5 Die Gesundheit des Kindes und sein Umfeld Jedes Kind hat Anrecht auf das erreichbare Höchstmass an Gesundheit sowie auf Inanspruchnahme von Einrichtungen zur Behandlung von Krankheiten und zur Wiederherstellung der Gesundheit (internationales Übereinkommen über die Rechte des Kindes, Artikel 24). Wenn es mit einer Krankheit konfrontiert ist, «darf das Kind Angst haben, weinen und getröstet werden. Das kranke Kind hat seinem Zustand entsprechend Anrecht auf die bestmögliche Gesundheitsversorgung. Das Kind, seine Eltern oder deren Vertreter, haben Anrecht auf eine korrekte und angepasste Information zur Krankheit des Kindes und den zu verordnenden Behandlungen. Das kranke Kind, welches über die körperlichen und psychologischen Möglichkeiten verfügt, soll weiterhin an schulischen, spielerischen, kulturellen oder sportlichen Aktivitäten teilnehmen, muss flexible Bindungsstrukturen zwischen Familie, Schule und Jugendbewegungen genies­sen können». Diese Sätze entstammen der «Charta für Kinder im Krankenhaus» (EACH: www. each-for-sick-children.org), einer europäischen Verbandsinitiative, welche 1988 in Leiden durch verschiedene europäische Verbände anlässlich der ersten europäischen Konferenz «Kind im Krankenhaus» verfasst und seither von den meisten Einrichtungen, die Kinder betreuen, übernommen wurde. Integraler Bestandteil der pädiatrischen Versorgung bei allen gesundheitlichen Problemen ist die Sorge für eine gute Entwicklung der Kinder, gemeinsam mit allen betroffenen Partnern, Familien und Fachpersonen. Nichtsdestotrotz sehen wir uns vor grossen Herausforderungen, vor allem was die Forschung und deren Finanzierung, wie auch die Gesamtbehandlung des Kindes betrifft. Die Kinder- und Jugendmedizin im Fokus der Forschung Kinder und Jugendliche haben das Recht, von den medizinischen Fortschritten, und damit von einer qualitativ hochstehenden Kinderund Jugendmedizin zu profitieren. In Folge der unzureichend entwickelten Forschung in der Kinder- und Jugendmedizin ist allerdings der Zugang zu Medikamenten für Kinder und Jugendliche viel eingeschränkter als dies bei Erwachsenen der Fall ist. Im Weiteren stellen sich für die Forschung in der Pädiatrie hohe ethische und sicherheitstechnische Bedingungen. Mit der Gründung von SwissPedNet steht den Forschern ein professionelles Leistungsangebot zur Verfügung. Nutzung und Entwicklung dieser Plattform müssen unbedingt gefördert werden. Die Kinder- und Jugendmedizin und ihre Finanzierung Die Entwicklung der letzten Jahre deutet darauf hin, dass die Finanzierung der Gesundheitsversorgung von Kindern und Jugendlichen in Zukunft nicht sichergestellt ist. Die Vielzahl von seltenen und komplexen Krankheiten bedingen grosse Investitionen an Zeit, Energie und Zusammenarbeit. Diesen Aspekten wird durch die Tarifsysteme (TARMED, DRG) zu wenig Rechnung getragen; eine Reform, basierend auf einer ganzheitlichen und detaillierten Analyse ist erforderlich. Wir wollen weiterhin die Versorgungsqualität sicherstellen, ungeachtet der in unseren Institutionen verbreiteten Gesetze der Wirtschaftlichkeit. Politiker und das medizinische Fachpersonal sehen sich vor die ethische Herausforderung gestellt, das Gleichgewicht zwischen hochstehender Versorgungsqualität und der ausgewogener Ressourcenverteilung zu fördern und zu wahren. Wir müssen die pädiatrische Versorgung individuell und gemeinschaftlich gestalten, die adaptierte Einzelbetreuung des Kindes dabei sicherstellen, und das, indem den Standards Rechnung getragen wird. Diese doppelte Einschränkung ist der Kern der Herausforderung, welcher sich die heutige Medizin stellen muss, wie dies auch die Schweizerische Akademie der medizinischen Wissenschaften (SAMW) in den letzten Veröffentlichungen gezeigt hat (http://www.samw.ch/ de/Aktuell/News.html). Die adäquate Versorgung von Kindern und Jugendlichen steht auf dem Spiel: Sie muss trotz ökonomischen Bedenken weiterhin sichergestellt werden. Unumgängliche Folgerungen Die fPmh Wir müssen uns für eine vermehrte und zielgerichtete Analyse der Gesamtsituation der Versorgung und Betreuung der Kinder und Jugendlichen mit gesundheitlichen Problemen einsetzen. Wir müssen uns dabei auf die Prophylaxe und die Früherkennung der Erkrankungen der Kinder und Jugendlichen konzentrieren, insbesondere die normale Entwicklung unterstützen und favorisieren, und somit chronische Krankheiten im Erwachsenenalter zu verhindern. 2006 haben sich die schweizerischen medizinischen Fachgesellschaften für Kinder und Jugendliche: die Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP), die Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und -Psychotherapie (SGKJPP) und die Schweizerische Gesellschaft für Kinderchirurgie (SGKC) zusammengesetzt, um die foederatio Paedo medicorum helveticorum (fPmh), oder Ärztliche Union für Kinder und Jugendliche zu gründen. Dieser Dachverband setzt sich für die medizinische Betreuung der pädiatrischen Bevölkerungsgruppe ein. Das Hauptziel ist die Sicherstellung einer medizinisch angemessenen Versorgung, die auf die Bedürfnisse von Kindern und Jugendlichen zugeschnitten ist. Die fPmh setzt sich ein für: 1.Den klinischen Fortschritt, die Nachwuchsförderung und die Forschung für eine gesamtheitliche Gesundheitsbetreuung der Kinder und Jugendlichen, welche deren Entwicklung und Umfeld einbezieht. 2.Eine langfristige ökonomische und soziologische Analyse der aktuellen Situation der Kinder- und Jugendmedizin (Umfragen innerhalb der Schweizer Bevölkerung, Kartographie der Schweizer Bedürfnisse). 3.Eine Analyse der Umweltveränderungen (psychosozial, ernährungstechnisch, physikalisch-chemisch, multikulturell) und deren Einfluss auf die langfristige Gesundheit der Kinder und Jugendlichen. Schweizerische Gesellschaft für Kinderchirurgie (SGKC), Genf-Lausanne, 2Schweizerische Gesellschaft für Kinder- und Jugendpsychiatrie und –Psychotherapie (SGKJPP), Neuenburg Kollegium der Chefärzte der Kinderklinken A, Basel, 4Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP), Genf, 5Ärztliche Union für Kinder und Jugendliche (fPmh: Foederatio Paedo medicorum helveticorum), Lausanne-Genf 1 3 6 Standespolitik Vol. 28 Nr. 2 2017 4.Eine Analyse der Interaktion zwischen Kinder- und Erwachsenenmedizin («Transition»). 5.Die Förderung der Forschung, mit hohen Qualitätsanforderungen auf wissenschaftlicher und ethischer Ebene (SwissPedNet: www.swisspednet.ch). 6.Die Information der Öffentlichkeit, für den Erhalt der notwendigen Mittel zu Gunsten der Kinder- und Jugendmedizin, damit eine optimale Versorgung der Kinder und Jugendlichen auch in Zukunft sichergestellt werden kann. Aus dieser Analyse wird eine Definition und Ausrichtung der Kinder- und Jugendmedizin im Hinblick auf die Sicherstellung der Versorgungsqualität auch in Zukunft abgeleitet werden können. So wird es auch möglich sein, eine Vision der Kinder- und Jugendmedizin zu entwickeln. Eines Tages werden unsere Kinder Erwachsene und Mitbürger sein: Sie werden dann die Gesellschaftssolidarität verantworten. Die Dauerhaftigkeit der Investitionen in die Gesundheit der Kinder und Jugendlichen liegt auf der Hand und wird zu einer besseren Kostenkontrolle in der Medizin der Zukunft führen. Korrespondenzadresse [email protected] 7 Standespolitik Vol. 28 Nr. 2 2017 Echo aus dem Vorstand Nicole Pellaud, SGP-Präsidentin Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Der Nukleus, bestehend aus C. Aebi, P. Jenny, G.-P. Ramelli und N. Pellaud, trat am 2. März 2017 zusammen, der Vorstand am 30. März 2017. Beschlüsse – Annahme des internen Reglements für die Arbeits-, Interessengruppen und Kommissionen der SGP – Mandat an die Interessengruppe integrative Pädiatrie – Vereinigung in eine einzige Gruppe von Arbeitsgruppe und Zertifikationskommission Adipositas – Vorgehen der SGP betreffend ambulanter Spitaltarif – Um unserem diesbezüglichen Engagement nachzukommen, wird eine Ausbildung «Qualitätskonzept» für einen Kinderarzt vorgeschlagen: Kandidaten sind gebeten, sich beim Sekretariat zu melden – Erneute Bemühungen, off-label-Medikamente in der Pädiatrie nicht als experimentelle Therapien einzustufen, wie in der Stellungnahme der Kantonsapotheker zum Ausdruck gebracht – Annahme der Statuten von SwissPedDose, der sich die SGP angeschlossen hat – Gemeinsames Vorstellen von SGP, MFE, KHM, SGAIM und KIS an verschiedenen Veranstaltungen für Ärzte – Finanzielle Unterstützung von jährlich CHF 20‘000 an Infovac – Annahme der aktualisierten Statuten; von der Generalversammlung 2017 zu bestätigen – Annahme der Mitgliederbeiträge; von der Jahresversammlung 2017 zu bestätigen – Annahme der Jahresabrechnung 2016 und des Budgets 2018; werden der Jahresversammlung 2017 unterbreitet. Ernennungen Immer mehr Kinderärzte werden angefragt, sich für die SGP einzusetzen. Die Mitglieder die auf unsere Aufrufe positiv geantwortet haben, seien hier ganz herzlich verdankt: – Ernährungskommission SGP: Laetitia Marie Petit ersetzt Dominique Belli, dem hier ebenfalls unser Dank ausgesprochen sei. – Koordination der Weiterbildung, Schweizerisches Gesundheitsobservatorium: Christoph Aebi, Oskar Jenni, Christoph Rudin – Koordinationsplattform der Nationalen Strategie Antibiotikaresistenzen (StAR): Christoph Berger – Kommission zur Anerkennung von Intermediate Care der Schweizerischen Gesellschaft für Intensivmedizin, neue Mitglieder an der Seite von Juan Llor: Gregor Kaczala, Patrick Haberstich, Matteo Fontana, Julia Natterer, Jürg Hammer – Public Health Schweiz, Gruppe Kinder und Jugendliche: Susanne Stronski und Fabienne Jäger – Organisationskomitee des Internationalen Kongresses Schmerzen im Kindesalter 2019: Camilla Ceppi, Matthias Nelle – Comité National du Don d’Organes: Marc Pfluger – Integrationsdialog der Tripartiten Agglomerationskonferenz: Sabine Heiniger – Kandidaten zur Nachfolge im SGP-Vorstand, werden der Jahresversammlung 2017 zur Wahl vorgestellt: Roger Lauener, Traudel Sauermann, Catherine Jorgensen, Bettina Henzi – Ernennung von Ehrenmitgliedern der SGP – Nominierung des Guido Fanconi Preisträgers (Preisübergabe anlässlich der Jahresversammlung 2017) Informationen – Die Checklists Vorbeugung werden eingetragenes Warenzeichen; auf der Webseite verfügbar – Trotz zahlreichen Vorstössen wird Ceftibuten nicht ersetzt – Veröffentlichung der SGP-Stellungnahme zur Altersbestimmung junger Migranten – Die Zusammenarbeit mit dem BAG im Nationalen Komitee zur Ausrottung von Masern wird fortgesetzt 8 – Forschungspreis des Kollegiums für Hausarztmedizin: Die Kinderärzte sind aufgerufen, Ihre Projekte zu unterbreiten – Geplante Zusammenarbeit mit Pro Juventute zum Benutzen von Bildschirmen in Gegenwart von Säuglingen Korrespondenzadresse [email protected] Empfehlungen Vol. 28 Nr. 2 2017 Neonatale Erstversorgung – interdisziplinäre Empfehlungen Leiter der Institution schriftlich festzulegen. Die direkt Beteiligten sind einzubeziehen und für die Umsetzung ihres Anteils und für die Kommunikation im eigenen Bereich zuständig. gynécologie suisse (SGGG) Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie (SGN) Schweizerische Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) Schweizerische Gesellschaft für Anästhesiologie und Reanimation (SGAR) Schweizerischer Hebammenverband (SHV) Swiss Association of Obstetric Anaesthesia (SAOA) Mitglieder der multidisziplinären Arbeitsgruppe: Thierry Girarda, Christof Heimb, René Hornungc, Irene Höslid, Sebastian Krayere, Marc-Alain Panchardf, Riccardo Pfisterg, Gabriel Schärh, Sabrina Schipanii Vorbemerkungen: Weibliche und männliche Formen werden bewusst abwechslungsweise verwendet. Geburtshilfe soll immer als Team verstanden werden (Hebamme und Ärztin). Die deutsche Fassung ist die Stammversion. Übersetzung: Dr. Catherine Chevalley, Fachärztin Anästhesiologie. Korrekturlesung: PD Dr. med. Thomas Brack, Facharzt Allgemeine Innere Medizin, Pneumologie und Intensivmedizin Einleitung Werdende Eltern setzen sich meist intensiv mit der bevorstehenden Geburt auseinander, sie besuchen Informationsveranstaltungen und vergleichen verschiedene Geburtsorte miteinander. Ihre Wünsche und Ansprüche sind individuell unterschiedlich. Häufig erwähnt werden bei Befragungen eine kontinuierliche 1:1-Betreuung durch die Hebamme, grösstmögliche Sicherheit für Mutter und Kind, aber auch wenig Interventionen und der Wunsch, die Geburt möglichst unversehrt überstehen zu können. Ebenfalls wünschen sich Frauen, umfassend informiert, respektiert und in Entscheidungsprozesse einbezogen zu werden. Demographische Veränderungen (Schwangere mit somatischen Vorerkrankungen, Schwangere nach Fertilitätsbehandlungen, Mehrlingsschwangerschaften, steigendes Alter der Mütter) haben zur Folge, dass geburtshilfliche Abteilungen mit neuen Herausforderungen konfrontiert werden. Eine gut abgestimmte interdisziplinäre und professionelle Zusammen- arbeit ist Voraussetzung, um die Sicherheit der werdenden Mütter und Neugeborenen zu gewährleisten und die Erwartungen der werdenden Eltern zu erfüllen. Schwangere mit einem hohen Risikoprofil für Mutter u./o. Kind sollen rechtzeitig identifiziert und in ein Zentrum für Perinatalmedizin eingewiesen bzw. verlegt werden. Geburtshilfliche Abteilungen sind im Sinne einer prophylaktischen Strategie gefordert, Strukturen zu klären, Prozesse zu definieren und klare Verantwortlichkeiten zu benennen. Die vorliegenden Empfehlungen richten sich an die geburtshilflichen Institutionen der Schweiz sowie im Einzelnen an Geburtshelfer, Hebammen, Neonatologen, Pädiater, Anästhesisten und Pflegefachpersonen. Von diesen Empfehlungen kann bei fundierter klinischer Begründung situativ abgewichen werden. 1. Organisation 1.1 Verantwortlichkeiten In der Peripartalphase liegt die organisatorische Gesamtverantwortung für Mutter und Kind bei der Leitung der geburtshilflichen Ins­titution. Fachspezifische Strukturen und Prozesse rund um die Geburt werden vom Leiter der Institution an die mitbeteiligten Berufsgruppen, insbesondere an Hebammen, Pädiater/Neonatologen, Anästhesisten und weitere spezialisierte Pflegende und Ärzte delegiert. Diese arbeiten interdisziplinär und interprofessionell zusammen und handeln in ihrem Fachbereich eigenverantwortlich. Die notwendigen interdisziplinären Strukturen, Prozesse und Zuständigkeiten sind vom 1.2 Betreuung von Mutter und Kind Eine sichere Betreuung von Mutter und Kind setzt die gleichzeitige situationsgerechte Betreuungsbereitschaft für Mutter und Kind (oder mehrerer Kinder bei Mehrlingsschwangerschaften) voraus. Beim Neugeborenen sprechen wir von der neonatalen Erstversorgung; dazu gehören die Überwachung und Versorgung des sich normal adaptierenden Neugeborenen sowie des Neugeborenen mit Adaptationsstörungen bis zur neonatalen Reanimation1) . Die primäre Adaptation des Neugeborenen in den ersten Lebensminuten birgt Risiken. So muss für die ersten 15-30 postnatalen Minuten eine in neonataler Erstversorgung qualifizierte Fachperson (bzw. mehrere Fachpersonen bei Mehrlingsschwangerschaften) prioritär für das Neugeborene zur Verfügung stehen. Als qualifizierte und speziell geschulte Fachpersonen für die neonatale Erstversorgung sind primär Hebammen und Geburtshelfer zuständig. In geburtshilflichen Abteilungen ohne integrierte Neonatologie müssen neben den situativ beigezogenen Neonatologen auch die Pädiater und Anästhesisten in der neonatalen Erstversorgung entsprechend qualifiziert sein. Bei präpartal bekannten neonatalen Risiken muss die Entbindung an einer Institution stattfinden, welche für deren Versorgung eingerichtet ist (Tabelle 3, Kapitel 3.2) 1) . Bei bekanntem direktem oder indirekt durch die Geburt bedingtem Risiko des Neugeborenen muss der Neonatologe/Pädiater rechtzeitig informiert und bei Bedarf beigezogen werden (Tabellen 4 und 5, Kapitel 3) 2) . Bei einer operativen Entbindung kann die Anästhesistin, die zeitgleich die Mutter im OP betreut, nicht grundsätzlich für die neonatale Erstversorgung und/oder Reanimation verpflichtet werden. Hingegen steht der Anästhesist bei Bedarf den Hebammen und Geburtshelfern unterstützend zur Verfügung, solange dadurch die Versorgung der Mutter nicht beeinträchtigt wird. Präsident SAOA, Basel, bGeneralsekretär SGAR, Bern/Chur, cPast Präsident Chefärztekonferenz gynécologie suisse, St. Gallen, dgynécologie suisse, Basel, eVorstandsmitglied SGAR, Zürich, f Vorstandsmitglied SGP, Vevey, gSGN, Genève, hPast Präsident gynécologie suisse, Aarau, iZentralvorstandsmitglied SHV, Uster 1 Die Qualifikation in neonataler Erstversorgung und Reanimation sollen die betroffenen Berufsgruppen (Hebamnmnen, Geburtshelfer sowie Neonatologen, Pädiater und Anästhesisten) mit Besuch eines spezifischen Kurses (z. B. «start4Neo-Reanimationskurs» der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie) erreichen und aufrechterhalten. a 9 Empfehlungen 2. Rahmenbedingungen Die beteiligten Disziplinen definieren mit diesen Empfehlungen die Rahmenbedingungen für eine optimale Betreuung. Die Risikobeurteilung einer Geburt erfolgt sowohl fachspezifisch als auch interdisziplinär. Die Fachgesellschaften haben in Tabellenform die Kriterien aufgelistet, die gezielt zu prophylaktischen Massnahmen führen und durch fein abgestimmte interdisziplinäre Zusammenarbeit das Risiko in der Geburtshilfe minimieren. Kenntnis und Befolgung der fachspezifischen Prioritäten ermöglichen reibungslose Prozessabläufe. 3. Fachspezifische Empfehlungen 3.1 Geburtshilfe Die Früherkennung einer potentiellen Risikogeburt ist wichtig. Dabei kann es sich um eine Risikosituation für das Neugeborene und/ oder für die Schwangere handeln. Die Erkennung einer Risikosituation sollte Überlegungen zur Geburt und zum Geburtsort auslösen. Der rechtzeitige Zuzug von Neonatologen, Pädiatern, Anästhesisten und ev. anderen Fachspezialisten anhand der fachspezifischen Checklisten soll geplant werden. Ebenso ist eine rechtzeitige, d. h. geordnete Verlegung der Schwangeren mit potentiellen Risiken in ein Zentrum1) wichtig. Die Definition der Dringlichkeit einer Sectio bei Termingeburten mit niedrigem Risiko und deren Abläufe sollen institutionell schriftlich festgelegt sowie regelmässig geübt werden. Die Tabellen 1 und 2 zeigen Indikationen und Anforderungen, die Abbildung 1 einen Muster­ ablauf einer Notfallsectio auf. Die darin enthaltenen Aussagen basieren auf Empfehlungen verschiedener internationaler Fach­gesell­ schaften 2)-4) . Vol. 28 Nr. 2 2017 3.2 Neonatologie Die Vorgaben zur Betreuung und Erstversorgung des Neugeborenen sind in den Empfehlungen der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie unter Mitarbeit der Schweizerischen Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe nachzulesen1), 6), 7) . Geregelt sind dort auch die Indikationen für die präpartale Verlegung der schwangeren Frau in ein Zentrum für Perinatalmedizin, welche in Tabelle 3 zusammengefasst sind. Die perinatologischen Zentrumskliniken (Geburtenabteilungen mit angeschlossener Neonatologie) sind via «Neonet» vernetzt und kennen die freien Intensivplätze der Schweiz6). Sie sind gemeinsam dafür verantwortlich, die perinatale Versorgung der Schweiz so zu organisieren und zu unterstützen, dass prä- und postpartale Versorgung und Verlegung in die Zentrumsklinik sichergestellt sind. Bei mütterlichen, respektive fetalen Risiken oder wenn eine intensivmedizinische Behandlung des Kindes wahrscheinlich erscheint, soll frühzeitig vor der Geburt eine Beurteilung unter Einbezug des Neonatologen/Pädiaters erfolgen (Tabelle 4). 3.3 Anästhesiologie 1. Bei mütterlichen respektive fetalen Risiken, welche anästhesiologische Massnahmen erfordern oder erschweren können, soll die Schwangere frühzeitig vor der Geburt durch den Anästhesisten beurteilt werden (Tabelle 6). 2. Beim Eintritt zur Geburt einer Schwangeren mit entsprechenden Risiken muss der Anästhesist zusätzlich informiert und beigezogen werden. 4. Schlussbemerkungen Diese Empfehlungen sollen helfen, in den geburtshilflichen Institutionen eine entsprechende Organisation sicherzustellen und Verlegungsentscheide zu treffen, wenn bei bestehendem Risiko eine adäquate Betreuung nicht garantiert werden kann. Die Arbeitsgruppe empfiehlt den perinatalen Institutionen mittels interprofessioneller/interdisziplinärer Nachbesprechungen kritische oder nicht erfolgte Verlegungsentscheide zu analysieren, um die konstante Einhaltung der Rahmenbedingungen zu überprüfen und Prozessabläufe zu optimieren. Diese Empfehlungen orientieren sich an internationalen Standards und Empfehlungen. Sie definieren die Anforderungen für eine sichere und qualitativ hochstehende peripartale Betreuung von Mutter und Kind. Delegierte der beteiligten Fachgesellschaften haben dieses Dokument in 11 Sitzungen und 25 Textversionen erarbeitet. Alle Vorstände dieser Fachgesellschaften haben es genehmigt. Ein Update des im März 2016 fertiggestellten Dokuments ist für Januar 2019 vorgesehen. Verantwortlich sind die involvierten Verbände unter Leitung der gynécologie suisse. Referenzen 1) Paediatrica 23; Nr. 1, 2012;13-23; Die Betreuung und Reanimation des Neugeborenen. 2) Guideline Sectio Caesarea der gynécologie suisse; Hösli I, El-Alama- Stucki S, Drack, G et al. 2015 www.sggg.ch/fachthemen/guidelines/. 3) Minimalanforderungen für die Durchführung einer Notfallsectio - Empfehlungen der gynécologie suisse sggg; www.sggg.ch/news/detail/1/minimalanforderungen-fuer-die-durchfuehrung-einernotfallsectio/. Grad Begriff Definition Entscheid - Entbindungszeit 1 Notfall (= Blitzsectio oder Notsectio) Lebensbedrohlicher Notfall, für Mutter/Kind (z. B. schwere Bradykarie, Uterusruptur) So schnell wie möglich 2 Dringend Maternale oder fetale Beeinträchtigung, die nicht direkt lebensbedrohlich ist (z. B. Geburtsstillstand mit maternaler oder fetaler Beeinträchtigung) Innerhalb 60 Minuten 3 Ungeplant, nicht dringlich (Sectio «ohne Eile») Keine Beeinträchtigung von Mutter/Kind, aber Sectioindikation gegeben (z. B. Geburtsstillstand ohne maternale oder fetale Beeinträchtigung) Nach Absprache, bei Geburtsstillstand in der Regel innerhalb 2 Stunden 4 Geplant Geplanter Eingriff Spätestens am Vortag im OP-Programm eingeplant Tabelle 1: Vier Stufen der Dringlichkeit zur Durchführung eines Kaiserschnitts [2] 10 Empfehlungen Vol. 28 Nr. 2 2017 4) American College of Obstetricians and Gynecologists and the Society for Maternal-Fetal Medicine with the assistance of, Menard MK, Kilpatrick S, Saade G, Hollier LM, Joseph GF, Jr., Barfield W, Callaghan W, Jennings J, Conry J. Levels of maternal care. Am J Obstet Gynecol 2015; 212:259-71. 940 5) Zimmermann et al. Handbuch Geburtshilfe 2012. 6) www.neonet.ch. 7) Swiss Society of Neonatology. Standards for Levels of Neonatal Care in Switzerland. 5.12.2012. http:// www.neonet.ch/en/about-us/neonatology-unitsswitzerland/. Entscheid zur Notfallsectio Sammelalarm Anästhesie Operateur Instrumentierpflege Hebamme *Neonatologe/ Pädiater Vorbereitung zur Anästhesie steriles Einkleiden Sectiosieb Tücher zählen Transport in OP ggf. Information Kaderarzt Umlagerung auf OP Tisch Time out: Bestätigung der Notfallsituation, resp. Entwarnung Anästhesie Desinfektion ggf. Blasenkatheter, Rasur Abdecken Vorbereitung Kinder-Rea Schnitt * In geburtshilflichen Institutionen mit angeschlossener Neonatologie wird beim Sammelalarm ein Neonatologe/Pädiater beigezogen. In Institutionen ohne Pädiatrie/Neonatologie Abbildung 1: Musterraster für Strukturen und Abläufe bei Notfallsectio. Modifiziert nach [5]. eine in neonataler Erstversorung qualifizierte Person. * In geburtshilflichen Institutionen mit angeschlossener Neonatologie wird beim Sammelalarm ein Neonatologe/Pädiater Abbildung 1: Musterraster für Strukturen und Abläufe bei Notfallsectio. Modifiziert nach Zimmermann et al. Handbuch Geburtshillfen 20125) beigezogen. In Institutionen ohne Pädiatrie/Neonatologie eine in neonataler Erstversorgung qualifizierte Person. 11 Empfehlungen Vol. 28 Nr. 2 2017 Das Auftreten erster Anzeichen einer akuten fetalen Gefährdung bis zur fetalen Schädigung ist ein kontinuierlicher Prozess, was die Definition eines für Mutter und Kind sicheren Zeitintervalls zwischen Alarmierung und Entbindung verunmöglicht. Bei Schwangerschaften mit niedrigem Risikoprofil dürfen bei Auftreten einer akuten fetalen Gefährdung von der Alarmierung des Arztes für Geburtshilfe mit Facharzttitel bis zur Entbindung des Kindes 30 Minuten nicht überschritten werden. Bei Risikoschwangerschaften oder Geburten mit Warnzeichen müssen substanziell kürzere Alarmierungs-Entbindungszeiten erreicht werden. Schwangerschaften mit hohem Risikoprofil dürfen nur in Kliniken mit entsprechender personeller und infrastruktureller Ausstattung betreut werden. Notfallabläufe sollen in jeder Klinik definiert und regelmäs­ sig eingeübt werden. Tabelle 2: Minimalanforderungen für die Durchführung einer Notfallsectio gemäss Empfehlungen der gynécologie suisse SGGG 3) Kindliche Faktoren Kindliche Faktoren Frühgeburtlichkeit < 34 Wochen und / oder geschätztes fetales Gewicht < 2000 g Höhergradige Mehrlinge Relevante fetale Fehlbildungen und genetische Anomalien Fetale Thrombopenie Fetomaternale Infektionskrankheiten (z. B. HIV, HCV, HBV, Herpes, CMV) Mütterliche Faktoren Schlecht eingestellter, insulinpflichtiger Diabetes Schwere Präeklampsie/HELLP Placenta praevia Kariopulmonale, renale Erkrankungen etc. Psychosoziale Umstände, die eine spezielle Planung der postnatalen Phase des Kindes nötig machen: Suchtmittel- und Medikamentenmissbrauch, Armut, psychiatrisches Leiden und andere Auf Wunsch der Eltern oder des Entbindungsteams Tabelle 4: Indikationen für eine präpartale Beratung durch den Neonatologen/ Pädiater Absolute Indikationen - Drohende Frühgeburt vor 32 0/7 SSW - Voraussehbare schwere Anpassungsstörungen, die intensivmedizinische Massnahmen erfordern - Höhergradige Mehrlinge (Drillinge und mehr) - Pränatal diagnostizierte, versorgungsbedürftige Fehlbildungen Relative Indikationen - Intrauterine Infektion - Hämolytische Erkrankung des Feten - Fetale Rhythmusstörungen - Intrauterine Mangelentwicklung (fetales Gewicht < 5. Perzentile) - Fetus mit letalen Fehlbildungen, wenn intensivmedizinische Massnahmen nicht als sinnvoll erachtet Chronische oder instabile Erkrankung der Mutter (Hypertonie, Präeklampsie, HELLP-Syndrom, Diabetes mellitus, Zustand nach Transplantation, Autoimmunopathien usw.) Mütterlicher Suchtmittelkonsum Mütterliche Faktoren Strukturelle Faktoren Falls keine Neonatologie-Abteilung: < 35 0/7 SSW oder < 2000 g Tabelle 3: Indikationen für eine präpartale Verlegung1) Mütterliche Faktoren Kindliche Faktoren Präpartales Risikomanagement (voraussehbares Risiko) Intra- und postpartales Risikomanagement (nicht voraussehbares Risiko) Hohes Risiko Mittleres Risiko Hohes Risiko Mittleres Risiko Entbindung in Klinik mit hoher Strukturqualität (mind. Level IIAa oder höher) Neonatologe/Pädiater wird informiert und ist abrufbarb Information und ggfs. Zuziehen des Neonatologen/ Pädiaters Ggfs. Information und Zuziehen des Neonatologen/Pädiaters – Frühgeburten (< 34 0/7 SSW) – Unmittelbar versorgungsbedürftige fetale Fehlbildungen – Wachstumsretardierung < 5. Perzentile – Geschätztes Gewicht < 2000 g – Höhergradige Mehrlinge – Rhesus- und ThrombozytenIsoimmunisierung – Feto-maternale Infektionserkrankungen gemäss pädiatrischer Beurteilung – Voraussehbare schwere Adaptationsstörungen, die intensivmedizinische Massnahmen erfordern – Vaginale Geburt aus BEL – Vaginale Geburt Zwillinge – Placenta praevia Kaiserschnitt < 37 0/7 – Fetales Infektionsrisiko (Chorioamnionitis, mütterliches Fieber) – Fetale Nierenbeckendilatation – Fetale Arrhythmien – St. n. plötzlichem Kindstod – St. n. Schulterdystokie – Nabelschnurvorfall – Persistierende Adaptationsstörung (tiefer 5‘-APGAR < 6, pH < 7,10, persistierendes ANS1), Sauerstoffbedarf und/oder Zyanose, inadäquate Herzfrequenz, Hypo-/ Hyperthermie) – Notfallsectio – Vakuum/Forceps – Oligo-/Polyhydramnion – Drohende fetale Asphyxie (mekoniumhaltiges Fruchtwasser, pathologisches CTG) – Unerwartete Fehlbildung – Toxikomanie – Schlecht eingestellter insulinpflichtiger Diabetes mellitus (z. B. fetale Makrosomie, vor 35 0/7 SSW, zusätzliche maternale Vaskulopathie) – Mütterliche medikamentöse Therapie mit potentieller, die Adaptation des Kindes störender Nebenwirkung – auffällige Familienanamnese, die eine präund postnatale Beratung durch Neonatologen/ Pädiater notwendig macht – Gut eingestellter insulinabhängiger Diabetes Typ 1 – Schwere Präeklampsie / HELLP – Schwere prä-/intrapartale Blutung www.neonet.ch; Standards for level of neonatal care in Switzerland 2012 Die Indikation für Information und Zuzug eines Neonatologen/Pädiaters soll vorausschauend gestellt werden und lässt sich aufgrund der obigen Liste abschätzen. a b Tabelle 5: Risikoadaptierter Einsatz des Pädiaters/Neonatologen bei Geburt und Sectio caesarea 12 Empfehlungen Vol. 28 Nr. 2 2017 Anästhesie – Probleme bei früheren Anästhesien – Maligne Hyperthermie – Pseudocholinesterase-Mangel – Poly-Allergien (Medikamente, Latex) Mütterliche Systemerkrankungen (mit relevanten Symptomen und Therapien) – Pulmonale Erkrankung – Kardiovaskuläre Erkrankung – Gefässmissbildungen – Gerinnungsstörung (inkl. Medikation mit niedermolekularem Heparin) – Neuromuskuläre Erkrankung – Psychiatrische Erkrankung – Ablehnung von Blutprodukten (z. B. Zeugin Jehovas) Mütterliche Anatomie – Pathologie der Wirbelsäule und des Beckens – Krankheiten des Zentralnervensystems – Kraniofaziale Abnormalität – Adipositas Grad _>III (ab ca. BMI < 40) Schwangerschaftsrisiken – Plazentationsstörungen (praevia, accreta, increta, percreta) – Fetale Fehlbildungen – Präeklampsie – Mehrlinge Tabelle 6: Checkliste zur präpartalen Anästhesievorstellung Korrespondenzadressen Prof. Dr. med. Gabriel Schär Chefarzt Frauenklinik Kantonsspital 5001 Aarau [email protected] Tel: 062 838 50 72 Fax: 062 838 50 91 gynécologie suisse SGGG Altenbergstrasse 29 Postfach 686 3000 Bern 8 Tel.: 031 313 88 55 Fax: 031 313 88 99 www.sggg.ch [email protected] Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie (SGN) c/o meeting.com Sàrl Rue des Pâquis 1 1033 Cheseaux-sur-Lausanne Tel: 021 312 92 61 Fax: 021 312 92 63 www.neonet.ch [email protected] Société Suisse de Pédiatrie (SSP – SGP) Rue de l’Hôpital 15 Case postale 1380 1701 Fribourg Tél. 026 350 33 44 Fax 026 350 33 03 www.swiss-paediatrics.org [email protected] Schweizerischer Hebammenverband (SHV) Geschäftsstelle Rosenweg 25 C Postfach 3000 Bern Tel: 031 332 6340 Fax: 031 332 7619 www.hebamme.ch [email protected] Schweizerische Gesellschaft für Anästhesiologie und Reanimation (SGAR-SSAR) Rappentalstrasse 83 3013 Bern Tel: 031 332 34 33 Fax: 031 332 98 79 www.sgar-ssar.ch [email protected] Swiss Association of Obstetric Anaesthesia (SAOA) Rappentalstrasse 83 3013 Bern Tel: 031 332 34 33 Fax: 031 332 98 79 www.sgar-ssar.ch/interessengruppen/saoa/ 13 Empfehlungen Vol. 28 Nr. 2 2017 Konsensus Statement zur Prävention von Respiratory Syncytial Virus (RSV)-Infektionen mit dem humanisierten monoklonalen Antikörper Palivizumab (Synagis®) Update 2016 P. Agyemana, C. Barazzoneb, J. Hammerb, U. Heiningera, D. Nadala, J.-P. Pfammatterc, K.M. Posfay-Barbea, R.E. Pfisterd Was ist neu? Gegenüber den 19991) , 20022) und 200421) formulierten Empfehlungen beinhaltet die vorliegende Revision zusätzliche Stellungnahmen zu Säuglingen, welche im Neugeborenenscreening mit Cystischer Fibrose diagnostiziert wurden und für Säuglinge mit spinaler Muskelatrophie. Einleitung Konsensusempfehlungen für die Verabreichung von Palivizumab in der Schweiz wurden erstmals 1999 formuliert1). Eine erste Überarbeitung erfolgte im Jahr 20022). Die von Swissmedic im Jahr 2004 genehmigte Indikationserweiterung für Kinder mit hämodynamisch signifikantem kongenitalem Herzvitium erforderte eine erneute Überarbeitung 200421) . Entscheidungsgrundlagen lieferten damals eine in Nordamerika und Europa durchgeführte randomisierte, placebo-kontrollierte Studie über die Anwendung von Palivizumab bei Kindern mit hämodynamisch signifikanten kongenitalen Herzvitien3) sowie eine Studie zur Inzidenz von RSV-Hospitalisationen bei Kindern mit hämodynamisch signifikanten kongenitalen Herzvitien in der Schweiz4) . Seit dem letzten Konsensusstatement im Jahr 2004 sind einige klinische Studien zu RSV und zur Anwendung von Palivizumab erschienen. Nach sorgfältiger Durchsicht dieser Arbeiten sehen wir keine Notwendigkeit für eine relevante Adaptation unseres bisherigen Konsensus. Hingegen wollen wir auf die 2014 von der American Academy of Pediatrics aktualisierten Richtlinien für Palivizumab-Prophylaxe bei Säuglingen und Kleinkindern mit erhöhtem Risiko für Hospitalisation bei RSV-Infektion hinweisen22) . In diesen revidierten Richtlinien wird auf vier für die Schweiz relevante Patientengruppen Bezug genommen: Kinder mit anatomischen Lungenfehlbildungen oder neu- romuskulären Erkrankungen, Kinder mit Immundefekt, Kinder mit Down-Syndrom und Kinder mit Cystischer Fibrose. Zu keiner dieser Patientengruppen gibt es populationsbasierte Daten zum Risiko einer Hospitalisation wegen RSV-Infektion und auch keine Daten zur prophylaktischen Wirksamkeit von Palivizumab. Eine Konsensuskonferenz in Italien zog die gleichen Schlussfolgerungen23) . RSV-Infektion und Palivizumab Die RSV-Bronchiolitis ist die häufigste untere Atemwegsinfektion des Säuglings und führt bei 1–2% der jährlichen Geburtskohorte zur Hospitalisation infolge respiratorischer Insuffizienz und/oder ungenügender Flüssigkeitsaufnahme. Etablierte Risikofaktoren für eine RSV-bedingte Hospitalisation sind junges chronologisches Alter, Frühgeburtlichkeit, bronchopulmonale Dysplasie (BPD) und kongenitale Herzvitien. RSV verursacht jährliche Winterepidemien. In der Schweiz alternieren früh beginnende, hoch frequente Epidemien und spät beginnende, milde Epidemien5) . Neben allgemeinen Massnahmen zur Expositionsprophylaxe besteht die derzeit einzige Präventionsmöglichkeit für Risikopatienten in der passiven Immunisierung mit Palivizumab (Synagis®), einem neutralisierenden monoklonalen Anti-RSV-Antikörper. Palivizumab wird während der RSV-Saison in monatlichen Abständen in einer Dosis von 15 mg/kg Körpergewicht intramuskulär verabreicht. In einer randomisierten, placebo-kontrollierten Studie (IMPACT-Studie) wurde nachgewiesen, dass Palivizumab bei ehemaligen Frühgeborenen ≤ 35 SSW die Hospitalisationsrate signifikant von 10.6% auf 4.8% senkt (relative Reduktion 55%) 6) . In der Subgruppe mit BPD verringerte Palivizumab die Hospitalisationsrate in nicht signifikanter Weise von 12.8% auf 7.9% (relative Reduktion 39%). Die Letalität wurde nicht beeinflusst. Unkontrollierte Studien mit unterschiedlichen Einschlusskriterien ergaben bei Palivizumabbehandelten Patienten Hospitalisationsraten zwischen 1.6 und 9.0%7)–14) . Palivizumab ist sicher und gut verträglich7). Eine auf Meldungen an die Food and Drug-Administration in den USA beruhende Studie über schwere unerwünschte Ereignisse bei Kindern unter 2 Jahren brachte Palivizumab mit 28% der Meldungen in Zusammenhang15).Eine kausale Verknüpfung konnte aber nicht hergestellt werden16). Von einer interdisziplinären Expertengruppe wurden in den USA Empfehlungen zur Indikation von Palivizumab ausgearbeitet, die bereits mehrmals angepasst und aufgrund aktueller Daten im 2014 zuletzt aktualisiert wurden22). Neu wird Palivizumab für Frühgeborene deutlich restriktiver empfohlen als in den vorhergehenden Versionen. Nationale Empfehlungen anderer Länder variierten schon immer erheblich und bleiben im Allgemeinen restriktiver formuliert. In der Schweiz kam die 1999 konstituierte interdisziplinäre Arbeitsgruppe nach sorgfältiger Analyse der verfügbaren Daten und einer Kosten-Effektivitäts-Analyse zum Schluss, dass die routinemässige Verabreichung von Palivizumab gemäss IMPACT-Kriterien nicht gerechtfertigt ist1) . Für diese Beurteilung massgebend waren die bescheidene Wirksamkeit, die fehlende Beeinflussung der Letalität sowie die hohen direkten Kosten von Fr. 60 000.– bis Fr. 100 000.– zur Verhütung einer einzigen RSV-Hospitalisation. Dennoch verfügte das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV) im Jahr 2000 in Anlehnung an die Einschlusskriterien der IMPACT-Studie6) die limitierte Kassenzulässigkeit von Palivizumab (1) für ehemalige Frühgeborene mit einem Alter von ≤ 6 Monaten zu Beginn der RSVSaison und (2) für Kinder mit vorbestehender und bereits behandelter BPD im Alter von ≤ 12 Monaten zu Beginn der RSV Saison. Im Jahr 2002 hat die interdisziplinäre Arbeitsgruppe Empfehlungen für die Schweiz formuliert2). Diese Empfehlung wurde 2004 revidiert und neu formuliert. Palivizumab ist empfohlen für Frühgeborene ≤ 31 SSW mit schwerer BPD (gemäss Definition) bis ins Alter von 12 Monaten. Die Indikation für Frühgeborene ≤ 31 SSW mit mittelschwerer BPD soll individuell gestellt werden, und für jene Frühgeborenen ≤ 31 SSW mit leichter BPD wurde Palivizumab nicht empfohlen. Interdisziplinäre Arbeitsgruppe aus Mitgliedern ader Pädiatrischen Infektiologie Gruppe der Schweiz (PIGS), bder Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrische Pneumologie (SGPP), c der Schweizerischen Gesellschaft für Kinderkardiologie (SGK) und dder Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie (SGN). 14 Empfehlungen Vol. 28 Nr. 2 2017 Palivizumab für Kinder mit kongenitalem Herzvitium In der eingangs erwähnten randomisierten, placebo-kontrollierten Studie3) bewirkte die Verabreichung von Palivizumab an Kinder < 24 Monaten mit kongenitalem Herzvitium eine Reduktion des RSV-Hospitalisationsrisikos von 9,7% auf 5,3% (relative Reduktion 45%, 95% Vertrauensintervall 23–67%). In der Subgruppenanalyse beschränkte sich eine signifikante Risikoreduktion auf Kinder < 6 Monaten (12,2% vs. 6,0%) und solche mit nicht-zyanotischen Vitien (11,8% vs. 5,0%). Eine Reduktion der Letalität wurde nicht nachgewiesen. Aufgrund dieser Studienresultate wurde in den USA die Indikationsliste für Palivizumab erweitert und anhand neuerer Daten in der aktuellen Empfehlung nochmals angepasst. Kinder mit hämodynamisch signifikantem kongenitalem Herzvitium qualifizieren dort bis ins Alter von 12 Monaten für Palivizumab22) . Eine populationsbasierte Studie4) aus dem Kanton Bern, in der Hospitalisationsdaten von 1997 bis 2003 untersucht wurden, ergab für Kinder mit kongenitalem Herzvitium nach gleicher Definition wie oben3) ein absolutes RSV-Hospitalisationsrisiko, das viermal kleiner war als in den USA18) . Altersabhängige Hospitalisationsraten sind in Tabelle 1 zusammengefasst. Die so etablierten absoluten RSV- Hospitalisationsrisiken lagen im internationalen Vergleich im Inzidenzbereich von Gesamtpopulationen ohne Risikofaktoren. Für die Altersgruppe von Säuglingen < 6 Monaten, für die eine signifikante Risikoreduktion durch Palivizumab nachgewiesen werden konnte3) , lag das relative Hospitalisationsrisiko für Kinder mit kongenitalem Herzvitium lediglich bei 1.4 (95% Vertrauensintervall 0.6–3.1). In dieser Studie wurde für Kinder mit kongenitalem Herzvitium eine signifikant höhere Letalität dokumentiert (1/10 vs. 0/719, p=0.014). Hierbei handelte es sich um einen einzigen Todesfall, der nicht hätte verhindert werden können, weil das Herzvitium erst anlässlich der RSV-Hospitalisation diagnostiziert wurde. Für verschiedene Altersgruppen wurde berechnet, dass zur Verhinderung einer einzigen RSV-Hospitalisation zwischen 80 und 259 Patienten mit kongenitalem Herzvitium behandelt werden müssten4) . Überarbeitete Empfehlungen für die Verabreichung von Palivizumab in der Schweiz Aufgrund der dargelegten Daten zur Epidemiologie von RSV-Hospitalisationen bei Kindern mit Risikofaktoren und zur Wirksamkeit bei Kindern mit kongenitalem Herzvitium formuliert die interdisziplinäre Arbeitsgruppe folgende Empfehlungen: 1.Die routinemässige Verabreichung von Palivizumab gemäss den bei Swissmedic registrierten oder den vom BSV als kassenpflichtig festgelegten Indikationen wird nicht empfohlen. Entscheidend für dieses Statement sind, dass (1) die Wirksamkeit von Palivizumab bescheiden ist, (2) sich der RSV-Hospitalisationsverlauf ehemaliger Frühgeborener ohne zusätzliche Risikofaktoren in der Schweiz nicht substanziell von Nicht-Frühgeborenen unterscheidet und (3) die Verabreichung von Palivizumab nicht wirtschaftlich ist. 2.Ehemalige Frühgeborene mit bronchopulmonaler Dysplasie (BPD): Säuglinge mit BPD weisen ein substanziell erhöhtes Hospitalisationsrisiko auf. Für Kinder im chronologischen Alter < 12 Monaten zu Beginn der RSV-Saison und schwerer BPD gemäss internationaler Konsensusdefinition17) empfiehlt die Arbeitsgruppe deshalb die Verabreichung von Palivizumab (Tabelle 2). Für Kinder mit mittelschwerer BPD kann Palivizumab in Erwägung gezogen werden. Die Indikationsstellung erfolgt durch die zuständigen Neonatologen und pädiatrischen Pneumologen. Für Kinder mit leichter BPD wird Palivizumab nicht empfohlen. Altersgruppe (Monate) Hospitalisationsrate 1 <6 6–12 12-24 >24 Kinder mit Herzvitium1 2.5 (0.8–5.6) 2.0 (0.9–3.8) 0.5 (0.1–1.8) 1.3 (0.6–2.3) Kinder ohne Herzvitium1 1.8 (1.6–2.0) 1.2 (1.1–1.3) 0.2 (0.16–0.23) 0.7 (0.6–0.8) Relatives Risiko 1.4 (0.6–3.1) 1.6 (0.8–3.2) 2.7 (0.7–9.7) 1.8 (1.0–3.3) pro 100 Patientenjahre; 95% Vertrauensintervall in Klammern Tabelle 1: RSV-Hospitalisationsrisiko für Kinder mit oder ohne hämodynamisch signifikantes kongenitales Herzvitium im Kanton Bern, 1997 bis 20034) 15 3.Kinder mit hämodynamisch signifikantem kongenitalem Herzvitium: Aufgrund der bescheidenen Wirksamkeit von Palivizumab3) , des geringen Hospitalisationsrisikos in der Schweiz, das im internationalen Vergleich in den Inzidenzbereich für Kinder ohne Risikofaktoren fällt, und der daraus folgenden exzessiv hohen Kosten zur Verhinderung einer RSV-Hospitalisation4) , wird die routinemässige Verabreichung an Kinder mit kongenitalem Herzvitium nicht empfohlen. Bei Vorliegen individueller Risikofaktoren kann Palivizumab für Kinder im chronologischen Alter von < 12 Monaten zu Beginn der RSV-Saison indiziert sein. Risikofaktoren sind zyanotische Vitien, Vitien mit schwerer pulmonaler Hypertonie und/oder klinisch manifeste Herzinsuffizienz, sofern die chirurgische Korrektur vor Beginn der RSVSaison nicht infrage kommt19) . Die Indikationsstellung erfolgt durch den zuständigen Kinderkardiologen. 4.Andere Risikofaktoren: Theoretisch könnte für Neugeborene, welche im seit 2011 eingeführten NG-Screening mit Cystischer Fibrose diagnostiziert wurden, eine RSVProphylaxe diskutiert werden. Die grosse klinische Variabilität (häufig geringe respiratotorische Probleme im Säuglingsalter) und die absolut fehlenden Daten zum Nutzen der RSV-Prophylaxe bei dieser Population rechtfertigen keine generelle Indikation für die Gabe von Palivizumab. Dasselbe gilt für Säuglinge mit spinalen Muskelatrophien oder ähnlichen Myopathien. Für Säuglinge mit anderen Risikofaktoren wie z. B. Immundefekte, Down-Syndrom, anatomische Lungenfehlbildungen, neuromuskuläre oder andere konsumierende Krankheiten ist Palivizumab ebenfalls weder registriert noch kassenzulässig. In ausgewählten Individualfällen, in denen die Verabreichung sinnvoll erscheint, ist die Finanzierung und die OffLabel Anwendung durch den verschreibenden Arzt vorgängig zu regeln. 5.Palivizumab ist nicht indiziert und nicht wirksam20) für die Therapie der etablierten RSV-Infektion. 6.Generell gibt es keine Indikation für Palivizumab jenseits des 2. Lebensjahres. 7.Allgemeine Empfehlungen: Es ist wichtig, betroffene Eltern sorgfältig darauf aufmerksam zu machen, dass Palivizumab das RSVHospitalisationsrisiko bei Kindern mit BPD oder Herzvitium nur teilweise senkt (40– 50% niedrigeres Hospitalisationsrisiko wegen einer RSV-Infektion, 25% niedrigeres Risiko einer Hospitalisation aufgrund einer Empfehlungen Vol. 28 Nr. 2 2017 Atemwegsinfektion aller Ätiologien) und dass der Verlauf einer hospitalisationsbedürftigen RSV-Infektion trotz PalivizumabProphylaxe nicht günstig beeinflusst wird. Ebenso sollen die Eltern darauf aufmerksam gemacht werden, dass Rauchexposition und Krippenbesuch10) das Hospitalisationsrisiko erhöhen und bei Hochrisikopatienten nach Möglichkeit vermieden werden sollten. Die Beratung kann zudem dazu genutzt werden, die aktiven Impfungen gegen Pneumokokken (ergänzende Impfempfehlung für alle Säuglinge ab Alter 2 Monate, inkl. Frühgeborene < 32 SSW bzw. < 1500 g, pulmonale und kardiale Risikopatienten) und Influenza (pulmonale und kardiale Risikopatienten ab dem Alter von 6 Monaten) zu empfehlen. (www.bag.admin. ch/infekt/impfung/d/index.htm). Bei BPD und kardialen Indikationen ist der Kostenträger von Synagis die IV. Referenzen 1) Aebi C, Nadal D, Kind C, Pfister R, Barazzone C, Ham mer J. Konsensus Statement zur Prävention von Respiratory Syncytial-Virus (RSV)-Infektionen bei Neugeborenen und Säuglingen mit dem humani-sierten monoklonalen Antikörper Palivizumab (Synagis). Schw Ärzteztg 1999; 80: 2927–2934. 2) Aebi C, Barazzone C, Hammer J, Kind C, Nadal D, Pfister RE. Update zum Konsensus-Statement zur Prävention von Respiratory Syncytial-Virus (RSV)Infektionen bei Säuglingen mit dem humanisierten monoklonalen Antikörper Palivizumab (Synagis). Paediatrica 2002; 13: 58–60. 3) Feltes TF, Cabalka AK, Meissner HC et al. Palivizumab prophylaxis reduces hospitalization due to res-piratory syncytial virus in young children with hemodynamically significant congenital heart disease. J Pediatr 2003; 143: 532–540. 4) Duppenthaler A, Ammann RA, Gorgievski-Hrisoho M, Pfammatter JP, Aebi C. Low incidence of Res- Schweregrad piratory Syncytial Virus hospitalisations in children with haemodynamically significant congenital heart disease. Arch Dis Child 2004; 89: 961–965. 5) Duppenthaler A, Gorgievski-Hrisoho M, Frey U, Aebi C. Two-year periodicity of Respiratory Syncytial Virus epidemics in Switzerland. Infection 2003; 31: 75–80. 6) The IMPACT study group. Palivizumab, a humanized respiratory syncytial virus monoclonal antibody, reduces hospitalization from respiratory syncytial virus infection in high-risk infants. Pediatrics 1998; 102: 531–537. 7) Groothuis JR. Safety and tolerance of palivizumab ad- ministration in a large northern hemisphere trial. Pediatr Infect Dis J 2001; 20: 628–630. 8) Oh PI, Lanctot KL, Yooh A et al. Palivizumab prophylaxis for respiratory syncytial virus in Canada: utilization and outcomes. Pediatr Infect Dis J 2002; 21: 512–518. 9) Sorrentino M, Powers T. Effectiveness of palivizumab: evaluation of outcomes from the 1998 to 1999 respiratory syncytial virus season. Pediatr Infect Dis J 2000; 19: 1068–1071. 10)Law BJ, Langley JM, Allen U et al. The Pediatric Investigators Collaborative Network on Infections in Canada Study of Predictors of Hospitalization for Respiratory Syncytial Virus Infection for Infants Born at 33 Through 35 Completed Weeks of Gestation. Pediatr Infect Dis J 2004; 23: 806–814. 11)Lacaze-Masmonteil T, Truffert P, Pinquier D et al. Lower respiratory tract illness and RSV prophylaxis in very premature infants. Arch Dis Child 2004; 89: 562–567. 12)Henckel E, Luthander J, Berggren E et al. Palivizumab prophylaxis and hospitalization for respiratory syncytial virus disease in the Stockholm infant population, 1999 through 2002. Pediatr Infect Dis J 2004; 23: 27–31. 13)Pedraz C, Carbonell-Estrany X, Figueras-Aloy J, Que- ro J. Effect of palivizumab prophylaxis in decreasing respiratory syncytial virus hospitalizations in premature infants. Pediatr Infect Dis J 2003; 22: 823–827. 14)Parnes C, Guillermin J, Habersang R et al. Palivizumab prophylaxis of respiratory syncytial virus dis-ease in 2000–2001: results from The Palivizumab Outcomes Registry. Pediatr Pulmonol 2003; 35: 484–489. 15)Moore TJ, Weiss SR, Kaplan S, Blaisdell CJ. Reported adverse drug events in infants and children un-der 2 years of age. Pediatrics 2002;110: e53– 16)Mohan AK, Braun MM, Ellenberg S, Hedje J, Cote TR. Deaths among children less than two years of age receiving palivizumab: an analysis of comorbidities. Pediatr Infect Dis J 2004; 23: 342–345. 17)Jobe AH, Bancalari E. Bronchopulmonary dysplasia. NICHD-NHLBI-ORD workshop. Am J Respir Crit Care Med 2001; 163: 1723–1729. 18)Boyce TG, Mellen BG, Mitchel EF, Wright PF, Griffin MR. Rates of hospitalization for respiratory syncytial virus infection among children in Medicaid. J Pediatr 2000; 137: 865–870. 19)Tulloh R, Marsh M, Blackburn M et al. Recommendations for the use of palivizumab as prophylaxis against respiratory syncytial virus in infants with congenital cardiac disease. Cardiol Young 2003; 13: 420– 423. 20)Saez-Llorens X, Moreno MT, Ramilo O, Sanchez PJ, Top FH, Jr., Connor EM. Safety and pharmacokinetics of palivizumab therapy in children hospitalized with respiratory syncytial virus infection. Pedi-atr Infect Dis J 2004; 23: 707–712. 21)C. Aebi, C. Barazzone, J. Günthardt, J. Hammer, C. Kind, D. Nadal, J.-P. Pfammatter, R.E. Pfister. Konsensus Statement zur Prävention von Respiratory Syncytial Virus (RSV)-Infektionen mit dem humanisierten monoklonalen Antikörper Palivizumab (Synagis®). Paediatrica Vol. 15 No. 6 2004. 22)American Academy of Pediatrics Policy Statement: Updated guidance for Palivizumab prophylaxis among infants and young children at increased risk of hospitalization for respiratory syncytial virus infection. Pediatrics 2014;134:415-420. 23)Pignotti MS, Leo MC, Pugi A et al.; Consensus conference on the appropriateness of palivizumab prophylaxis in RSV disease. Pediatr Pulmonol. 2016;51:1088-1096. Korrespondenzadresse Prof. Dr. David Nadal Abteilung für Infektiologie Universitäts-Kinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75 8032 Zürich [email protected] Definition Gabe von Palivizumab FiO2 > 0.21 für mindestens 28 Tage plus: schwer 2.5 (0.8–5.6) •< 32 SSW bei Geburt; FiO2 > 0.3 und/oder PPV/CPAP mit 36 Wochen oder bei Entlassung •≥ 32 SSW bei Geburt; FiO2 > 0.3 und/oder PPV/CPAP mit 56 Tagen oder bei Entlassung empfohlen mittelschwer 1.8 (1.6–2.0) •< 32 SSW bei Geburt; FiO2 < 0.3 mit 36 Wochen oder bei Entlassung •≥ 32 SSW bei Geburt; FiO2 < 0.3 mit 56 Tagen oder bei Entlassung individuelle Indikationsstellung •< 32 SSW bei Geburt; FiO2 = 0.21 mit 36 Wochen oder bei Entlassung •≥ 32 SSW bei Geburt; FiO2 = 0.21 mit 56 Tagen oder bei Entlassung nicht empfohlen 1.6 (0.8–3.2) 2.7 (0.7–9.7) leicht Relatives Risiko 1.4 (0.6–3.1) Tabelle 2: Indikation zur Verabreichung von Palivizumab an Kinder < 12 Monate zum Beginn der RSV-Saison gemäss Schweregrad der bronchopulmonalen Dysplasie (BPD)17) . Weil CPAP ebenfalls für nicht-pulmonale Pathologien angewendet wird, wurde im Januar 2017 von der Schweizerischen Gesellschaft für Neonatologie ein Schweizer Konsens zur Spezifizierung festgelegt. Der Sauerstoffbedarf mit 36 Wochen wird mit einen Sauerstoff-Reduktionstest von 30 Minuten bestimmt, während dem die Sättigung mindestens 90% betragen muss. 16 Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Autismus-Spektrum-Störung, ein gesundheitspolitisches Problem Nadia Chabane, Lausanne Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds gemein anerkannten und für die Betreuung von ASS am besten geeigneten Modellen3) . Trotzdem verbleibt die allgemeine Anwendung dieser Änderungen noch delikat. Dazu müssen in den kommenden Jahren folgende wichtigsten Arbeitsachsen verfolgt werden: Liebe Kollegen, wir haben die Einladung, einen Beitrag zu dieser Nummer von Paediatrica unter dem Thema Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) zu leisten, mit grosser Freude und grossem Interesse angenommen. Kinderärzte stehen heute in den Strategien zur Erkennung, Diagnostik und Koordination der Betreuung von Kindern mit ASS an vorderster Stelle. Sie sind ebenfalls bei der Umsetzung der Good Practice in diesem Bereich gefordert. Autismus-Spektrum-Störungen betreffen weltweit ca. 1% der Bevölkerung. Sie sind selten isoliert und eine Komorbidität, genetische Syndrome und neurologische und metabolische Krankheiten betreffend, wird in 20 bis 30% der Fälle gefunden1). Oft sind sie beim Kind und im Verlaufe der Entwicklung mit psychiatrischen Störungen verbunden (Angststörungen und Gemütskrankheiten, ADHS usw.)2). Im Verlaufe der letzten 20 Jahre haben Arbeiten der Neurobiologie zu einem besseren Verständnis der klinischen Erscheinungsformen und der entwicklungsneurologischen Grundlagen geführt. Diese Kenntnisse haben dazu beigetragen, unsere Sicht der Betreuungsstrategien von Menschen mit ASS zu modifizieren und unser Verständnis der ätiologischen Grundlagen in Frage zu stellen. Das Konzept selbst der ASS verweist heute eher auf eine Behinderung denn auf eine psychiatrische Krankheit. Diese Änderung des Krankheitsverständnisses geschah nicht reibungslos, insbesondere in Europa, wo Autismus noch durch eine mehr psychoanalytische Brille betrachtet wurde. Patientenorganisationen und Fachleute haben sich bemüht und bemühen sich weiterhin um eine Anpassung der Praktiken und um die Umsetzung von all- 1)Besseres Verständnis der klinischen und entwicklungsbedingten Merkmale von ASS, was eine entsprechende Ausbildung von Fachleuten und betreuenden Familienmitgliedern erfordert. Alle Berufsrichtungen sind gefordert: Pädiater, Neuropädiater, Kinderpsychiater, Lehrkräfte, Psychologen, Sozialpädagogen, Fachkräfte aus Logopädie, Psychomotorik, Ergotherapie und Früherziehung usw.). In diesem sich dauernd entwickelnden Bereich ist eine solide Fortbildung unumgänglich. Als Beispiel sei Fortbildung über die Besonderheiten des kognitiven Verhaltens von Menschen mit ASS genannt, Besonderheiten welche die Art und Weise bedingen, wie diese Personen Informationen verarbeiten und wie sie demzufolge ihre physische und soziale Umwelt erleben. Diesen Besonderheiten muss Rechnung getragen werden, um das Funktionieren dieser Menschen zu verstehen, um ihre Bedürfnisse und Ressourcen zu identifizieren, die Betreuung anzupassen und ihr Lern- und Anpassungspotential zu fördern. 2)Systematische Suche nach Warnzeichen von ASS im Alter von 12 bis 24 Monaten, im Rahmen einer strukturierten Früherkennungspolitik für Kinderärzte 3)Schneller und erleichterter Übergang von Früherkennung zur spezialisierten Abklärung durch ausgebildete und erfahrene Fachteams 4)Schaffung eines Programmes zur individualisierten, auf die Bedürfnisse der betroffenen Person und ihrer Familie zentrierten Betreuung, gestützt auf internationale Empfehlungen, und laufend den sich ändernden, entwicklungsbedingten Bedürfnissen angepasst Die wissenschaftliche Literatur weist klar nach, dass die Frühdiagnose mit 18–36 Mo- 17 naten den Zugang zu intensiver Entwicklungsförderung und Verhaltenstherapie begünstigt. Es ist deshalb wichtig, dass diese grundlegenden Massnahmen rasch umgesetzt werden. Diese während den letzten 20 Jahren studierten Interventionsmodelle haben in kontrollierten Studien den Beweis ihrer Wirksamkeit erbracht4),5) . Sie können die Entwicklung des Kleinkindes beeinflussen und durch die Verbesserung der kognitiven Funktionen ASSbedingte Behinderungen begrenzen, funktionelle Kommunikation ermöglichen und problematisches Verhalten verringern. Diese Verbesserung korreliert direkt mit einer früh, vor dem Alter von 4 Jahren, eingesetzten adäquaten Betreuung. Für später diagnostizierte Kinder und Jugendliche muss ebenfalls eine adaptierte Betreuung stattfinden. Um einen personalisierten Betreuungsplan erstellen zu können, ist es wichtig, eine umfassende funktionelle Standortbestimmung durchzuführen. Dieser Betreuungsplan soll globale und koordinierte, durch entsprechend ausgebildete Fachleute durchgeführte Interventionen umfassen, um die Entwicklung des Kindes in seiner Gesamtheit zu fördern: Kommunikation und Sprache, soziale Interaktionen, Gefühle und Verhalten, sensorische und motorische Funktionen, Autonomie im täglichen Leben. Wesentlich bei der Betreuung ist auch, die Besonderheiten der Familie zu berücksichtigen. Die ganze Familie muss bei der Ausarbeitung des individuellen Betreuungsplanes miteinbezogen werden, sie muss angehört werden und soll eine spezifische Betreuung und Ausbildung geniessen. Dieses Konzept einer reellen Partnerschaft zwischen Familie und Fachpersonen bedingt einen Wissenstransfer in beide Richtungen und eine Arbeitsteilung. Dies stellt für Fachleute oft eine Herausforderung dar und stürzt die etablierte Rollenverteilung um. Die Problematik des Autismus, der ASS, ist demnach inter- und transdisziplinär. Sie betrifft nicht nur den medizinischen und paramedizinischen Bereich, sondern erfordert eine enge und dynamische Zusammenarbeit aller betroffenen Akteure: Sonderschule, Lehrkräfte, Kleinkindbetreuung und Gesellschaft gesamthaft, um die bestmögliche Aufnahme und Eingliederung dieser Kinder, sowie unser gemeinsames Ziel, Zugang zu Autonomie, Sozialisierung und guter Lebensqualität zu erreichen. Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Referenzen 1) Isaksen J, Bryn V, Diseth TH, Heiberg A, Schjølberg S, Skjeldal OH. Children with autism spectrum disorders - the importance of medical investigations. Eur J Paediatr Neurol 2013 17(1): 68-76 2) King BH. Psychiatric comorbidities in neurodevelopmental disorders. Curr Opin Neurol 2016 29(2): 113-7 3) Rapport HAS, 2012 http://www.has-sante.fr/portail/jcms/c_935617/ fr/autisme-et-autres-troubles-envahissants-dudeveloppement Rapport NICE,2013 https://www.nice.org.uk/guidance/qs51 Rapport KCE, 2014 https://kce.fgov.be/sites/default/.../KCE_233Bs_ Autisme_Synthese.pdf. 4) Dawson G, Rogers S, Munson J, Smith M, Winter J, Greenson et al. Randomized, controlled trial of an intervention for toddlers with autism: the Early Start Denver Model. Pediatrics 2010 125(1), e17e23. 5) Dawson G, Jones EJ, Merkle K, Venema K, Lowy R, Faja S et al. Early behavioral intervention is associated with normalized brain activity in young children with autism. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 2012 51(11), 1150-9. Korrespondenzadresse Prof. Nadia Chabane Directrice du Centre Cantonal Autisme Département de Psychiatrie, CHUV 1011 Lausanne [email protected] Der Autor hat keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. 18 Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Diagnose von Autismus-SpektrumStörungen heute: Eine umfassende Evaluation im Interesse von Kind und Familie Sabine Manificat, Lausanne Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) beinhalten sehr unterschiedliche klinische Bilder, und ihre Häufigkeit (mittlere Prävalenz 1/100)1) rechtfertigt es unbedingt, dass wir uns bemühen, sie besser ausfindig zu machen, zu dokumentieren und zu beschreiben, um so früh als möglich und auf Grund der ermittelten Besonderheiten Hilfe «nach Mass» leisten zu können. Der internationale wissenschaftliche Konsens betrachtet ASS als Ausdruck einer multifaktoriellen Hirnfunktionsstörung, abhängig von polygenen Erbfaktoren und Umweltfaktoren (Infektionen, toxisch, fötale Störung usw.). Dennoch ist das Zusammenspiel der Ursachen dieser Funktionsstörung, d. h. Hirnstrukturen, neurobiologische Mechanismen und neurobiochemische Faktoren, weiterhin unklar. Die internationalen Empfehlungen ASS betreffend 2) - 4) sind sich über die Wichtigkeit einig, dass der diagnostische Prozess mit standardisierten Evaluationsmittel und durch ein pluridisziplinäres, geschultes und geübtes Team durchgeführt wird. Weit entfernt davon, rein deskriptiv vorzugehen, verfechten wir eine «Aktionsdiagnostik», die darin besteht, die Begegnung mit dem Kind oder Erwachsenen zu nutzen, um durch eine interdisziplinäre Abklärung nicht nur die Diagnose, sondern auch das Funktionieren des Kindes zu erfassen, und alle Kräfte ausfindig zu machen, auf die sich die Begleitpersonen des Kindes stützen können, und die natürlicherweise zu personalisierten Vorschlägen für das therapeutische Vorgehen führen. Die Autismus-Spektrum-Störungen: Aktuelle Definition Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) sind schwere kindliche Entwicklungsstörungen. Vor dem Alter von 30 Monaten beginnend, kennzeichnen sie sich durch die Unfähigkeit, normale soziale Kontakte herzustellen, Mangel an Interesse für und Reaktionsfähigkeit gegenüber Mitmenschen, Fehlen oder schwere Störung verbaler und non-verbaler Kommunikation, stereotypes Verhalten und vermin- derte spontane und erfinderische Tätigkeiten. Bis Mai 2013 definierten die internationalen Klassifizierungen (DSM-IV5) , CIM 106)) diese Störungen kategorial, wobei die einzelnen Kategorien auf qualitativem und quantitativem Beschreiben von Symptomen (autistische Trias) beruhten, unter Berücksichtigung des Alters, in welchem sie auftreten. Es sei daran erinnert, dass man unter der Benennung tiefgreifende Entwicklungsstörungen (Pervasive Developmental Disorders) folgende Krankheiten aufführte: Autismus, Asperger-Syndrom, nicht näher umschriebene pervasive Entwicklungsstörungen, desintegrative Störungen des Kindesalters, Rett-Syndrom. Mit dem Erscheinen der Klassifikation DSM-5 (siehe Kasten 1) 5) wurde der kategoriale Ansatz der ASS-Definition durch einen dimensionalen ersetzt. Die interindividuellen Variationen der Symptomatologie dieser Entwicklungsstörungen führen dazu, dass eine Beschreibung der beobachteten Symptome nach Dimensionen bevorzugt wurde; dies ermöglicht insbesondere im Rahmen der Forschung eine genauere Beschreibung der Phänotypen. So findet man z. B. keine Kategorie «Asperger-Syndrom» mehr, sondern «ASS ohne assoziierte Intelligenzminderung, ohne assoziierte Sprachstörung». Das RettSyndrom wird eine Differentialdiagnose. Im Übrigen werden in dieser neuen Klassifikation die Störungen der gegenseitigen sozialen Interaktion und sozialen Kommunikation unter «Andauernde Defizite der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion, die sich über mehrere Lebensbereiche erstrecken» zusammengefasst. Das Alter schliesslich, in welchem die Störungen auftreten, das im DSM-IV unter 3 Jahren sein musste (was u. a. das Asperger-Syndrom vom Autismus unterschied), wird im DSM-5 nuanciert, indem eine Störung in früher Kindheit vorhanden sein muss, sich aber erst später voll manifestieren kann (siehe Domäne C). Ein weiterer Beitrag dieser neuen Definition von ASS ist, dass der Schweregrad der Störung berücksichtigt wird. Im Zusammenhang 19 mit dem Begriff des Spektrums, der eine Abstufung der Symptome beinhaltet, werden der Einfluss der Symptome auf die Funktionsfähigkeit der Person und die dadurch erfolgten Einschränkungen präzisiert; für jedes der beiden Hauptkriterien (soziale Kommunikation und restriktive Interessen und Aktivitäten), wird festgehalten, ob die beobachteten Symptome sehr viel, viel oder einfache Hilfe erfordern, wobei die Abstufung der Hilfebedürftigkeit näher beschrieben wird. Standardisierte Evaluation Die Wahl der Evaluationsmittel ist abhängig von Alter und Profil der untersuchten Person. Im Allgemeinen umfasst die Abklärung im Centre Cantonal Autisme folgende Punkte: Diagnostische Stufen Die Autism Diagnostic Evaluation Schedule (ADOS-2)7) besteht aus 5 Modulen, abhängig von Alter und expressivem Sprachniveau des Kindes. Sie besteht darin, dem Kind spielerische Aktivitäten anzubieten, in deren Verlauf sein Sozial- und Kommunikationsverhalten, sowie seine Interessen und sein Aktivitätspattern beobachtet werden. Die Evaluation wird als signifikant für ASS betrachtet, wenn der Schwellen-Score erreicht wird. Ein Vergleichsscore ermöglicht es, den Schweregrad zu beurteilen (minim/leicht/mässig/schwer). Als indirekte Evaluation dient das ADI-R8) , ein Leitfaden für das Interview einer Bezugsperson, meist Eltern, die das Kind kennt und insbesondere im Alter von 4–5 Jahren kannte (Zielalter des diagnostischen Algorithmus). Grenzen dieses Evaluationsmittels sind gegeben durch den Informationsgrad der Auskunftsperson, der bei älteren Kindern oder grosser Geschwisterzahl u. U. schlechter ist. Mittel zur Entwicklungs-/kognitiven Evaluation Auch hier bestimmen klinisches Bild und Alter die Wahl des Testinstrumentes: Bei sehr jungen Kindern die Mullen Messskalen9) , WPPSI IV10) , WISC IV11) für Kinder und Jugendliche, und WAIS IV12) für Erwachsene sind die am häufigsten verwendeten. In gewissen Fällen (wenn das Kind nicht imstande ist, auf einen Test einzugehen, bei dem die verbale Sprache wesentlich ist) kann auf WNV-Skala13) oder PEP-R14) zurückgegriffen werden, die ein Bild des Entwicklungsstandes des Kindes vermitteln und eine Hilfe bei der Planung passender Massnahmen sein können. Das durch diese Tests ermittelte Profil dient als Argument zugunsten von ASS: Klassischerweise heterogen, wird es Stärken im Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung Autismus-Spektrum-Störung 299.00 (F84.0) A. Andauernde Defizite der sozialen Kommunikation und sozialen Interaktion, die sich über mehrere Lebensbereiche erstrecken und sich durch folgende Merkmale zeigen (aktuell oder in der Entwicklungsgeschichte): 1.Defizite der sozial-emotionalen Reziprozität; diese reichen von sozialer Annäherung auf ungewöhnliche Weise und dem Fehlen von normaler, wechselseitiger Konversation über verringertes Teilen von Interessen, Emotionen und Affekt bis hin zu völligem Fehlen der Initiierung oder Erwiderung sozialer Interaktionen. 2.Defizite des nonverbalen kommunikativen Verhaltens in der sozialen Interaktion; diese reichen von schlecht integrierter verbaler und non-verbaler Kommunikation über Abweichungen in Blickkontakt und Körpersprache oder Einschränkungen beim Verstehen und Einsetzen von Gestik und Mimik bis zum völligen Fehlen von Gesichtsausdruck und non-verbaler Kommunikation. 3.Defizite, soziale Beziehungen in einer Weise zu entwickeln und aufrechtzuerhalten, die dem Entwicklungsstand entsprechen (ausser denen mit Bezugspersonen); diese reichen von Schwierigkeiten, das Verhalten an den sozialen Rahmen anzupassen über Schwierigkeiten, sich in Rollenspiele mit anderen hineinzuversetzen oder Freundschaften zu schliessen bis hin zu einem offensichtlich fehlenden Interesse an Menschen. B.Restriktive, repetitive Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten, die sich durch mindestens zwei der folgenden Merkmale zeigen: 1.Stereotype oder repetitive Sprache, Bewegungen oder Verwendung von Gegenständen (wie einfache motorische Stereotypien, Echolalie, repetitive Verwendung von Gegenständen, oder der Gebrauch idiosynkratischer Phrasen). 2.Übermässiges Einhalten von Routinen, ritualisierte Muster an verbalem und non-verbalem Verhalten, oder übermässiger Widerstand gegen Veränderungen (wie Bewegungsrituale, Behar- Vol. 28 Nr. 2 2017 ren auf dem selben Weg oder dem gleichen Essen; wiederholtes Fragen oder extremer Distress bei kleinen Veränderungen). 3.Fixierung auf sehr eingeschränkte Interessen, die in Intensität oder Thema ungewöhnlich sind (wie eine starke Bindung an oder Beschäftigung mit ungewöhnlichen Gegenständen; Interessen, die übermässig eng umgrenzt sind oder denen sehr intensiv nachgegangen wird). 4.Über- oder Unterempfindlichkeit auf sensorische Reize oder ungewöhnliches Interesse an sensorischen Aspekten der Umgebung (wie die augenscheinliche Gleichgültigkeit gegenüber Schmerz, Hitze oder Kälte, ablehnende Reaktion auf bestimmte Geräusche oder Texturen, übermässiges Riechen oder Berühren von Gegenständen, Faszination mit Licht oder sich drehenden Gegenständen). C.Die Symptome müssen in früher Kindheit vorhanden sein, können sich aber erst dann voll manifestieren, wenn die sozialen Anforderungen die beschränkten Fähigkeiten übersteigen, oder später im Leben durch erlernte Strategien versteckt sein. Zusätzliche Spezifizierungen: •Mit/ohne intellektuelle Behinderung •Mit/ohne Sprachentwicklungsverzögerung. •Assoziationen mit bekannten medizinischen, genetischen Krankheiten oder Umweltrisikofaktoren. •Assoziationen mit entwicklungsneurologischen, psychologischen oder Verhaltensstörungen mit Katatonie In den Bereichen A und B muss ausserdem bei der Diagnostik der Schweregrad spezifiziert werden. Aus: Colin Müller, M.A., DSM-5: Diagnosekriterien Autismus-Spektrum-Störung. Anmerkung des Autors: Weil mir die deutschsprachige Version des DSM-5 nicht zugänglich war, habe ich die Kriterien selbst aus dem Englischen übersetzt. Meine Übersetzung ist natürlich nicht offiziell und kann in Details von der offiziellen Version abweichen. D.Die Symptome führen zu klinisch bedeutsamer Beeinträchtigung in sozialen, beruflichen oder anderen aktuell wichtigen Funktionsbereichen. E.Die Symptome lassen sich nicht durch intellektuelle Behinderung oder globale Entwicklungsstörung besser erklären. Eine intellektuelle Behinderung und Autismus kommen häufig zusammen vor; um komorbide Diagnosen einer Autismus-SpektrumStörung und einer intellektuellen Behinderung zu stellen, sollte die soziale Kommunikation unter dem erwarteten Niveau für die allgemeine Entwicklungsstufe sein. Anmerkung: Individuen mit einer gut etablierten DSM-IV-Diagnose einer autistischen Störung, Asperger-Syndrom oder atypischem Autismus, sollten die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung erhalten. Individuen, die deutliche Defizite in sozialer Kommunikation haben, deren Symptome aber nicht die Kriterien für eine AutismusSpektrum-Störung erfüllen, sollten auf eine soziale Kommunikationsstörung untersucht werden. Kasten 1 Absolute Warnsignale beim Kleinkind: •Fehlen von Geplapper, Zeigen mit dem Finger oder anderen Gesten im Alter von 12 Monaten •Fehlen von Worten mit 18 Monaten •Fehlen spontaner Wortassoziationen (nicht Echolalie) mit 24 Monaten •Verlust von Sprache oder sozialer Kompetenzen in jedem Alter (nach Baird et al. 2003) Kasten 2 20 Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 non-verbalen oder im Gegenteil im verbalen Bereich zeigen. Spezifische Evaluationen: Logopädie, Psychomotorik Evaluation des adaptiven Verhaltens mittels VABS II (Vineland Adaptative Behaviour Scales) Die VABS II15) bestehen in einem semistrukturierten Gespräch mit den Eltern. Sie erlauben Kompetenzen im täglichen Leben (allgemeine Pflege wie Toilette, essen, sich ankleiden), Kommunikation (zuhören, sprechen, schreiben), motorische Kompetenzen, zwischenmenschliche Beziehungen, Spiel- und Freizeitverhalten, sowie Sich beschäftigen können und Autonomie zu beurteilen. Die Befunde werden in Altersäquivalenten ausgedrückt, d. h. das Resultat beschreibt für jeden getesteten Bereich das vom Kind erreichte mittlere Kompetenzniveau. Eventuell zusätzliche Skalen, insbesondere um Komorbiditäten zu evaluieren (ADHS, Zwangsstörungen, depressive Störungen usw.) Eine neuropädiatrische Untersuchung ergänzt systematisch unsere Evaluation, mit je nach klinischem Bild ergänzenden Laborabklärungen. Verschiedenartige klinische Bilder Das diagnostische Vorgehen wird je nach Alter des Kindes und Kontext verschieden sein. Frühdiagnose Mit 12 oder 18 Monaten durch eine atypische Entwicklung16) (siehe Kasten 2) – verspätete Sprachentwicklung, Schwierigkeit mit dem Kind Kontakt herzustellen, stereotype Bewegungen, repetitives Spielen – aufmerksam gemacht, steht oft der Kinderarzt hinter der Frage nach Abklärung; immer häufiger hat er, um seine Beobachtungen den Eltern gegenüber zu untermauern, seinen klinischen Eindruck mittels M-CHAT17) bereits überprüft. Die Begegnung mit verschiedenen Fachleuten und das Teilnehmen an den verschiedenen, über ein bis zwei Wochen verteilten Abklärungen erlaubt den Eltern, sich an den Gedanken einer verschiedenartigen Entwicklung ihres Kindes zu gewöhnen. Es ist für sie auch eine Gelegenheit, unmittelbar Ratschläge zu erhalten, wie ihrem Kind beim Kommunizieren zu helfen, und Strategien, um die alltäglichen Schwierigkeiten zu meistern. In diesen stark emotionsgeladenen Situationen mit Kleinkindern hat das diagnostische Team die Aufgabe, falls dies nicht schon geschehen ist, um das Kind herum ein Netzwerk aufzubauen: Logopädie, Psychomotorik, Früherziehungsdienst und die Suche nach der geeignetsten Fachperson, dieses Netzwerk zu koordinieren. In allen internationalen Empfehlungen als prioritäres Ziel beschrieben, hat die Frühdiagnose Notfallcharakter, denn die Zeit, die verstreicht, bis die notwendigen Massnahmen umgesetzt sind, bereitet den Weg für Komplikationen. Zudem kann auf Grund der Plastizität des kleinkindlichen Gehirns eine signifikante Beeinflussung der Entwicklung erwartet werden. Das Centre Cantonal Autisme entwickelt derzeit, im Rahmen der kantonalen Gesundheitspolitik, kantonale Strukturen zur Frühintervention, die sehr jungen Kindern (18 bis 36 Monate) eine intensive Entwicklungsbegleitung vom Typ Early Start Denver Model18) anbieten können. Diagnostik beim Schulkind ohne Intelligenzdefizit Sofern zuvor nie erwähnt, kann die Diagnose die Situation entspannen, indem verwirrende Verhaltensweisen eines Kindes, das offenbar über alle Fähigkeiten verfügt um zu lernen und zu verstehen, damit eine Erklärung finden. Die schulische Situation ist oft heikel, da das Kind als Störefried, als unerzogen empfunden wird, was in extremen Fällen zum Schulausschluss führen kann. Für die Eltern stellt die Diagnose oft das Ende eines langen und mühsamen Hürdenlaufes dar, während welchem sie alle verfügbaren Ressourcen mobilisieren mussten, um einerseits die Besonderheiten ihres Kindes (insbesondere problematisches Verhalten) zu meistern und andererseits die Kritiken ihrer Umgebung auszuhalten. In diesem Zusammenhang hat das Aussprechen der Diagnose Autismus oft eine rettende Wirkung, allerdings unter der Bedingung, dass die Nebenwirkungen des autistischen Verhaltens rasch durch adäquate Massnahmen eine Lösung finden. Diagnostik des Kindes mit Intelligenzdefizit in Sonderschulung Diese Situation wird noch angetroffen, sollte aber mit der Zeit verschwinden. Ziel der Autismusdiagnostik ist es in diesem Fall, Einblick in die autismusbedingten, die Entwicklung zusätzlich zum Intelligenzdefizit behindernden Faktoren zu verschaffen. Es soll damit ein Anpassen der pädagogischen Massnahmen ermöglicht werden, insbesondere alternative 21 oder unterstützte Kommunikation. Oft können auch, vor dem Hintergrund neuer Kenntnisse, neue ätiologische Spuren erforscht werden. Diagnostik beim Jugendlichen Eine solche kann im Rahmen einer krisenbedingten Spitalaufnahme (psychotisch anmutende oder depressive Episode, Selbstmordversuch) erforderlich werden. Ist die akute Episode beherrscht und lässt das Verhalten des Jugendlichen einen Autismus vermuten, wird er uns zur Abklärung überwiesen. Oder der Jugendliche wird uns auf Grund eines Lebenslaufes, wie weiter oben für Schulkinder ohne Intelligenzdefizit beschrieben, zugewiesen. In diesem Fall verursachen unerkannte und folglich über längere Zeit nicht beachtete ASS sekundäre Komplikationen, in Form von Lern- und Verhaltensstörungen, sozialer Ausgrenzung, Missbrauch durch Gleichaltrige und damit häufig Verlust des Selbstwertgefühles bis zur eigentlichen Depression, mit völlig überforderten Eltern. Da die einzelnen Entwicklungsbereiche unabhängig voneinander fortschreiten, ist das klinische Bild oft sehr dysharmonisch und die Autonomie trotz guter Kompetenzen eingeschränkt. In diesen komplexen Situationen erlauben die zeitgleichen pluridisziplinären Ansätze, Umstände zu klären, die zur Diagnose führen. Oft findet man die entsprechenden Elemente beim Lesen einer gut dokumentierten Krankengeschichte, jedoch verteilt über längere Zeitabschnitte, bei Kontakten mit verschiedenen Fachleuten, was es verunmöglicht, die entscheidenden Informationen herauszufiltern, die schliesslich zur Diagnose führen. Diese Art Diagnose wirft ein neues Licht auf die Problematik dieser Jugendlichen und kann/soll das Wiederaufnehmen der Lernprozesse und des Soziallebens ermöglichen, und deren Lebensqualität wiederherstellen. Der Weg dazu ist jedoch nicht einfach und benötigt die Begleitung durch Fachleute (Lehrkräfte, Therapeuten, Erzieher usw.), welche die autistische Denkweise gut kennen und ihre Interventionen anzupassen wissen, unter gleichzeitiger Behandlung der Komorbiditäten. Differentialdiagnose und Komorbiditäten Neurologische Störungen und assoziierte Pathologien werden durch das neuropädiatrische Team besprochen, wir beschränken uns in diesem Artikel auf die pädopsychiatrischen Abklärungen. Bei Kleinkindern sind die häufigsten Differentialdiagnosen der einfache Sprachentwick- Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung lungsrückstand, spezifische Sprachstörungen und nicht autistische Entwicklungsstörungen. Es fällt manchmal schwer, diese Krankheitsbilder zu unterscheiden, insbesondere da sie assoziiert auftreten können: Hat das Kind mit einem Entwicklungsrückstand Schwierigkeiten zu kommunizieren, weil es ihm an Mitteln dazu fehlt oder weil es zusätzlich an ASS leidet? Von der spezifischen Sprachstörung, einst Ausschlussdiagnose, wird heute angenommen, dass sie mit ASS koexistieren kann. Später können soziale Schwierigkeiten des Kindes auch im Rahmen von ADHS, intellektueller Frühreife, Gilles de la Tourette Syndrom oder Zwangsstörungen auftreten. Beim Jugendlichen mit sozialer Ausgrenzung müssen ASS von Sozialphobie, depressiven Störungen oder psychotischen Episoden im Rahmen einer Schizophrenie unterschieden werden. In diesem Zusammenhang kann die anamnestische Suche nach dem zeitlichen Auftreten der Störungen, nach Zeichen in der frühen Kindheit oder Einnahme toxischer, halluzinogener oder Wahnvorstellungen erzeugender Substanzen die diagnostischen Überlegungen leiten. Die Diagnose – und was weiter? Der Frühdiagnose muss eine unmittelbare Intervention folgen, in Form einer beim Kleinkind empfohlenen Methode (z. B. Early Start Denver Model18)). Idealerweise ist diese global, intensiv, individuell angepasst und wird durch alle Personen angewendet, die sich mit dem Kind befassen. Ziel ist es, alle Entwicklungsbereiche zu stimulieren, unter besonderer Berücksichtigung der Kommunikation. Es soll eine möglichst normale Entwicklung erreicht oder angestrebt werden. Beim älteren Kind wird das weitere Vorgehen durch die diagnostischen Schlussfolgerungen und das Funktionieren des Kindes bestimmt. Es kann darum gehen, Kommunikationshilfen einzuführen (visuelle Hilfen, PECS19) , Unterstützung durch Gestik usw.), durch Psychomotorik einen harmonischen Gebrauch des Körpers oder mittels Ergotherapie gezieltes Handeln zu fördern, durch individuelle Begleitung oder durch Beteiligung an einer Übungsgruppe Sozialisationshilfen zu bieten. Auf jeden Fall sind Anerkennung der ASS und Kenntnis der individuellen Ausdrucksformen eine wertvolle Hilfe, um das betroffene Kind in seiner Entwicklung zu führen, um Komplikationen vorzubeugen und seine Bezugspersonen bei der Erziehung zu unterstützen, und so seine Beteiligung am Familien- und Sozialleben zu erleichtern. Vol. 28 Nr. 2 2017 In allen Phasen dieses Prozesses spielt der Kinderarzt eine entscheidende Rolle: - Erkennen von Warnzeichen schon im frühesten Alter, Berücksichtigen der Befürchtungen der Eltern - Eltern begleiten und dazu bringen, eine Abklärung der Entwicklung ihres Kindes durch ein spezialisiertes Team zu akzeptieren - Einbringen seiner Kenntnisse von Kind und familiärem Umfeld anlässlich der pluridisziplinären Synthese, bei welcher die geeignetste Vorgehensweise geplant wird - Unterstützen der Familie in Anschluss an die Diagnosestellung - Die Umsetzung der empfohlenen Massnahmen und die Entwicklung des Kindes überwachen, Begleitung der Eltern und Hilfe bei Formalitäten (Aufnahme in Kinderkrippe, IV-Anmeldung usw.) - Beratung der Eltern in Schlüsselphasen, bei wichtigen Entscheiden. Referenzen 1) Dawso, G. Dramatic increase in autism prevalence parallels explosion of research into its biology and causes. JAMA psychiatry 2013;70: 9-10. 2) HAS. http://www.anesm.sante.gouv.fr/IMG/pdf/ Argumentaire_Autisme_TED_enfant_adolescent_ interventions.pdf. 3)NICE. http://www2.ulg.ac.be/apepa/document/ nice_guide_clinique_sur_autisme_2015_10.pdf. 4) KCE. (http://kce.fgov.be/fr/publication/report/ prise-en-charge-de-l%E2%80%99autisme-chezles-enfants-et-les-adolescents-un-guide-de-prat#. V5dPPfmLSUk). 5) APA. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders (DSM-5®), Fifth Edition. 6) (OMS), O.M.d.l.S. CIM-10 / ICD-10 Classification internationale des troubles mentaux et des troubles du comportement: critères diagnostiques pour la recherche (2000). 7) Lord C, M.R., DiLavore PC. Risi S. Adaptation française: B. Rogé et collaborateurs. ADOS-2: Échelle d’Observation pour le diagnostic de l’autisme – Seconde édition -, (2015). 8) M. Rutter, A.L.e.C.L.A.f.B.R.e.c. ADI-R: entretien semi-structuré pour le diagnostic de l’autisme, (2011). 9) E.M., M. Mullen Scales of Early Learning, (1995). 10)WWechsler D. WPPSI-IV Echelle d’intelligence de Wechsler pour la période pré-scolaire et primaire-Quatrième édition, (2014). 11)Wechsler W. WISC-V Echelle d’intelligence de Wechsler pour enfants et adolescents - Cinquième édition, (2016). 12)Wechsler W. WAIS-IV Nouvelle version de l’échelle d’intelligence de Wechsler pour adultes - Quarième édition, (2011). 13)NAGLIERI, W.D.e.J. WNV Echelle non verbale d’intelligence de Wechsler, (2009). 14)Margaret D Lansing, L.M.M., Robert J Reichler, Eric Schopler. PEP-3 - Profil psycho-éducatif - Evaluation fonctionnelle pour enfants autistes, (2010). 15)Sara S. Sparrow, P., Domenic V. Cicchetti,D, David A. Balla. Vineland Adaptive Behavior Scales, Second Edition (Vineland™-II), (2005). 16)Bair, ., Cas, H. Slonim, V. Diagnosis of autism. BMJ 2003 ; 327: 488-493. 22 17)Charma, ., Baron-Cohe, ., Baird, G., Cox, A., Wheelwright, S., Swettenham, J., et Drew, A. Commentary: The Modified Check-list for autism in Toddlers. ; discussion 149-151. (Classe III) Journal of autism and developmental disorders2001;31: 145-148. 18)Dawson, G., et al. Randomized, controlled trial of an intervention for toddlers with autism: the Early Start Denver Model. Pediatrics 2010; 125: e17-23 . 19)Carr, D. & Felce, J. «Brief report: increase in production of spoken words in some children with autism after PECS teaching to Phase III». Journal of autism and developmental disorders 2007; 37: 780-787. Korrespondenzadresse Dre Sabine Manificat Médecin adjointe Allières Av. de Beaumont 23 CH-1011 Lausanne [email protected] Der Autor hat keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Aetiologische Faktoren und Komorbiditäten der Autismus-Spektrum-Störungen Marine Jequier Gygax1, Anne M. Maillard, PhD1, Lausanne Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Autismus-Spektrum-Störungen (ASS) betreffen eine grundlegende Funktion unserer Gesellschaft, d. h. die Fähigkeit zu kommunizieren und sozial zu interagieren. Im DMS-51) beruhen die diagnostischen Kriterien dieser Entwicklungsstörung auf einem Zusammenspiel von Verhaltensstörungen, wie ein Defizit an sozialer Interaktion und Kommunikation oder das Vorhandensein beschränkter, stereotyper und repetitiver Verhaltensmuster (siehe auch Artikel von S. Manificat). Der Begriff Spektrum verweist auf die extreme Heterogenität des im Begriff ASS zusammengefassten klinischen Phänotypus. Die Störung variiert sowohl in Schweregrad als auch in der Art der beobachteten Symptome und Verhalten. So beinhaltet das Spektrum nonverbale Kinder mit schwerem Entwicklungsrückstand ebenso wie Kinder mit einem guten kognitiven Potential oder gar ausserordentlichen Kompetenzen in spezifischen kognitiven Bereichen (insbesondere Gedächtnis). ASS sind oft mit anderen Entwicklungsstörungen assoziiert, wie intellektuelle Defizite, spezifische Sprachstörungen oder Aufmerksamkeitsdefizit mit/ohne Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Zu dieser grossen Komplexität kommt noch die Entwicklungsdynamik hinzu, mit Symptomen die in dauerndem Wandel begriffen und entwicklungsabhängig sind. Die Erblichkeit von ASS ist beträchtlich und variiert je nach Studie von 38% bis 90% 2). Eine neuere Studie aus Schweden schätzt die Erblichkeit der ASS auf 50% der Bevölkerung, und legt nahe, dass genetische Faktoren das Risiko eine ASS zu entwickeln, zur Hälfte erklären. Die Autoren zeigen ebenfalls, dass in einer Familie, in welcher diese Diagnose bei einem Familienmitglied gestellt wurde, das Risiko für «genetisch Nahestehende», eine ASS zu entwickeln, erhöht ist3) . Zur grossen klinischen Heterogenität kommt eine nur bruchstückhafte Kenntnis der ätiologischen Faktoren und neurobiologischen Mechanismen, die der ASS zugrunde liegen, hinzu. Alle Studien stimmen darin überein, 1 dass genetische, epigenetische, metabolische und Umweltfaktoren zur Entwicklung von ASS beitragen4), 5) . Wir wollen hier aktuelle Kenntnisse zu den ätiologischen Faktoren, und anschliessend gewisse häufig beobachtete Komorbiditäten von ASS darstellen. Genetik der Autismus-SpektrumStörungen Entsprechend der klinischen Heterogenität ist auch die genetische Architektur der ASS sehr variabel. Sie umfasst monogene und polygene Faktoren, und sowohl seltene Genomvarianten mit starker Penetranz für ASS wie gängige Genomvarianten mit schwächerer Penetranz, deren Häufung aber Ursache einer ASS sein kann6) . Die bekanntesten monogenen, mit ASS assoziierten Formen wurden schon vor einigen Jahren beschrieben (Tab. 1). Ihr Studium ermöglichte die Identifizierung gewisser «pathogener Mechanismen»6), 7) , ohne jedoch ein Korrelat zu einem spezifischen klinischen ASS-Phänotyp herstellen zu können. Dank Fortschritten im Bereich der Genetik konnten in neuerer Zeit seltene und gängige Varianten polygener Formen mit ASS assoziiert werden8),9). Diese schliessen Kopienzahlvaria­ tionen (CNV) ein, die in einer Modifizierung der Chromosomenarchitektur bestehen, mit Verlust (Deletion) oder Übermass (Duplikation) an genetischem Material in einer mehr oder weniger grossen Chromosomenregion, und eine variable Anzahl Gene betreffen10) (Abb. 1). Im Verlaufe der letzten Jahre wurden zahlreiche CNV sowie deren Assoziation mit Entwicklungsstörungen wie z. B. ASS entdeckt. Es ist interessant festzustellen, dass ein CNV einerseits mit ASS, Schizophrenie oder intellektuellem Defizit assoziiert sein kann, und andererseits ein und dieselbe Störung durch mehrere CNV bedingt sein kann. Die CNV (Deletion und Duplikation) auf dem Chromosom 16 in der Region 16p11.2 wurden in klinischer und molekularer Hinsicht in den letzten Jahren gut untersucht, und weitere CNV werden erforscht (Tab. 2). Für gewisse Centre Cantonal Autisme, Centre Hospitalier Universitaire Vaudois (CHUV), Lausanne 23 CNV beträgt das Risiko, ASS zu entwickeln bis 40% (z. B. Duplikation 1q21.1) 11) . Als Beispiel sei erwähnt, dass die Prävalenz der CNV 16p11.2 für Deletion und Duplikation 1/1000 beträgt12),13) . Das Risiko ASS zu entwickeln ist ca. 20% für die Deletion und ebenso gross für die Duplikation. Nur die Duplikation wurde mit der Schizophrenie assoziiert. Diese CNV erklären ca. 1% aller ASS-Fälle9),14) . Die klinischen Manifestationen sind zahlreich (energetische Störung, Entwicklungsverzögerung, spezifische Sprachstörung, Makro- oder Mikrozephalie) und können sich schon früh in der Entwicklung zeigen. Perinatale Faktoren, mütterliche Krankheiten und Umweltfaktoren Perinatale Asphyxie, Frühgeburtlichkeit und intrauterine Wachstumsstörung sind bekannte Risikofaktoren für eine suboptimale Hirnentwicklung, mit Auswirkungen auf höhere kognitive Funktionen wie die soziale Kognition15) . Prä- und perinatale Risikofaktoren, die möglicherweise mit ASS einhergehen können, unterteilen sich in zwei Gruppen: Umweltbedingt toxische Elemente (Valproinsäure, Alkohol, Kokain) und mütterliche Krankheiten (Diabetes, Autoimmunkrankheiten, Allergien und Infekte wie Röteln, CMV, Influenza während der Schwangerschaft). Schliesslich könnten gewisse Umweltfaktoren wie Pestizide, Luftverschmutzung (Feinpartikel) oder gewisse hormonaktive Stoffe (Endocrine Disrupters) durch Beeinflussung der frühen Entwicklung gewisser Hirnstrukturen, eine Rolle beim Auftreten von ASS spielen. Studien am Tier gehen wohl in diese Richtung, es gibt derzeit jedoch keine formelle wissenschaftliche Beweise, die erlauben, eine Beziehung zwischen diesen Umweltfaktoren und einer pathogenen Wirkung auf den Menschen herzustellen16) . Stoffwechselkrankheiten Obwohl bei weniger als 10% der ASS-Patienten vorhanden17) , werden verschiedene Stoffwechselkrankheiten, wie Phenylketonurie, Kreatinmangel-Syndrome, Purinstoffwechselstörungen oder Adenylsuccinatlyasemangel, mit dem Auftreten von ASS in Zusammenhang gebracht. ASS können Erstmanifestationen einer Oligosaccharidose sein. Metabolische Abklärungen sind bei einem Kind mit ASS indiziert, dessen klinische Anamnese Elemente wie Lethargie, zyklisches Erbrechen, früh aufgetretene Epilepsie, autistische Regres­ Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung sion, unerklärter Immundefekt und/oder Dysmorphiezeichen, kognitiver Entwicklungsrückstand, Automutilation, Muskelschwäche sowie neurologische Zeichen wie Tonusanomalien oder Ataxie aufweist (vollständige Übersicht siehe18)). Mit ASS assozierte Komorbiditäten Motorische Entwicklungsstörung Die Besonderheiten der motorischen Entwicklung bei ASS haben schon früh Aufmerksamkeit erregt19) und umfassen eine verzögerte Entwicklung motorischer Kompetenzen, repetitive motorische Verhaltensweisen (Stereotypien), und ein auffälliges Gehmuster (Zehenspitzengang, Ataxie, instabile Haltung). Insbesondere wurden gewisse Finger- und Handstereotypien sowie Gehmodelle, im Vergleich zu stereotypen Bewegungsmuster bei Patienten mit Entwicklungsrückstand oder bei Vergleichspopulationen, als typisch für ASS erkannt20) . Das Vorhandensein dieser Stereotypien ist im Allgemeinen mit einer schwere- Vol. 28 Nr. 2 2017 ren kognitiven Störung und einer ungünstigeren Entwicklung verbunden. Beinahe 90% der Patienten mit ASS weisen kognitive Defizite und eine Störung der motorischen Entwicklung auf21) . Spezifische Sprachstörung Obwohl die verzögerte Sprachentwicklung im DMS-5 nicht mehr zu den diagnostischen Kriterien der ASS gehört, handelt es sich um eine häufige Komorbidität. Die Differentialdiagnose zwischen spezifischer Sprachstörung (z. B. Dysphasie) und ASS ist beim jungen Kind oft schwierig und erfordert eine spezialisierte Abklärung. Bei ASS können in der Tat mit Ausnahme einer isolierten expressiven Störung alle Arten Sprachstörung beobachtet werden22). Allgemein leiden Kinder mit ASS an einem gestörten Sprachverständnis und einer pragmatischen verbalen (und nonverbalen) Sprachstörung. Eine pragmatische Sprachstörung besteht in der Unfähigkeit, Sprache und nonverbale Zeichen (Gesten, Kontext) in der Syndrom Gen Klinische Charakteristika Fragiles-X-Syndrom FMR1 Schwere der ASS korreliert mit geistiger Retardierung, Angstgefühlen, Schlafstörungen 43), 44) Interaktion korrekt einzusetzen. Kinder mit ASS haben ein sehr beschränktes Bewusstsein des Sprachgebrauches und wenden Kommunikation unpassend oder ungenügend an. Es fällt ihnen oft schwer, eine Unterhaltung aufrecht zu erhalten und Redewendungen zu folgen. Die Störung der Pragmatik bleibt selbst beim erwachsenen ASS-Patienten mit einem guten kognitiven Niveau und ohne Störungen des Wortverständnisses bestehen23), 24) . Zu den charakteristischen, bei Kleinkindern mit ASS und Sprachverzögerung beobachteten Zeichen gehört fehlendes Zeigen mit dem Finger, fehlende Reaktion beim Nennen seines Vornamens, unmittelbare oder verzögerte Echolalie, eigentümliche Prosodie, Gebrauch der Drittperson um von sich selbst zu sprechen. Ältere Kinder kennzeichnen sich durch phrasenhafte, «auswendig gelernte» Ausdrucksweisen sowie wörtliche Interpretation und für bare Münze nehmen (Schwierigkeit Humor, Ironie, Doppelsinn zu verstehen). Eine ASS-Patienten mit Syndrom Syndrom-Patienten die ASS aufweisen 2–3% 20–40% 3–4% 40–80% unbekannt* 25% Dysmorphie (längliches Gesicht, Prognathismus, grosse Ohren, manchmal Makrozephalie) Tuberöse Sklerose Bourneville45) TSC1, TSC2 Entwicklungsrückstand und Auftreten von ASS, assoziiert mit früh manifesten infantilen Spasmen Hypopigmentierte Flecken, Angiofibrome, shagreen Patches, intrakardiale Rhabdomyome, kortikale Tubera Neurofibromatose Typ 1 46) NF1 Café-au-lait-Flecken, kutane und zerebrale Neurofibrome, N.opticus-Gliome, Makrozephalie, manchmal geistige Retardierung ASS assoziiert mit Aufmerksamkeitsstörungen (mit/ohne Hyperaktivität) Dystrophinopathie Typ Duchenne 47) Xp21 Muskelschwäche, Zehenspitzengang, neuropsychiatrische Störungen die mit einer Deletion des distalen Exons auf dem Dystrophin-Gen korrelieren unbekannt* 17% Angelman Syndrom – Duplikation 15q48)49) UBE3A Hypotonie, geistige Retardierung, schwer gestörte Sprachentwicklung, Epilepsie 1–2% >40% PTEN HamartomTumor-Syndrom50) PTEN Makrozephalie, geistige Retardierung, fokale und generalisierte epileptische Anfälle unbekannt* unbekannt* *«Unbekannt» bedeutet, dass die Assoziation von ASS mit dem monogenen Syndrom bekannt und beschrieben ist, die Zahlen zur Prävalenz jedoch unbekannt oder in der Literatur inkonstant sind. Tabelle 1: Beispiele monogener mit ASS assoziierter Syndrome 24 Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 verzögerte Sprachentwicklung ist deshalb beim Kleinkind ein Warnzeichen. Im Gegensatz zum Kind mit ASS zeigt ein Kind mit einer spezifischen Sprachstörung Freude am gemeinsamen Spielen und der Austausch ist qualitativ und quantitativ gefälliger. In beiden Fällen soll das Kind auf eine mögliche Hörstörung abgeklärt werden, mittels Audiogramm und/oder evozierten Potentialen. Epilepsie Die Epilepsieprävalenz bei Patienten mit ASS wird allgemein auf 30% geschätzt, mit zwei Spitzen für das Auftreten einer Epilepsie: Die erste im Kleinkindesalter, die zweite in der Adoleszenz25). Bei gewissen klinischen Bildern kann eine autistische Regression epileptischen Ursprungs vermutet werden, wie im Falle erworbener Aphasie bei einer während dem Schlaf sehr aktiven Epilepsie (vom Typ kontinuierliche Spike-Wave-Aktivität), oder bei spät auftretenden infantilen Spasmen26) . Bei einem Kind mit ASS, das eine verzögerte Sprachentwicklung, geringes oder fehlendes Interesse für die Klangumwelt zeigt und an Schlafstörungen leidet, sollte ein EEG durchgeführt werden. Bei pädiatrischen Patienten mit tuberöser Sklerose Bourneville (TSB) besteht das Risiko, gleichzeitig mit spät auftretenden infantilen Spasmen eine kognitive Regression zu erfahren27) . Selbst ohne Regression ist die kognitive Entwicklung im Allgemeinen ungünstig und das ASS-Risiko bei gleichzeitigem Bestehen von infantilen Spasmen höher28) . Frühzeitiges Beherrschen der infantilen Spasmen durch Vigabatrin soll die Schwere der Symptomatik von ASS begrenzen29) . ASS können auch bei kindlichen epileptischen Syndromen wie West-, Lennox-Gastaut-, Doose- oder DravetSyndrom (schwere myoklonische Epilepsie des Säuglings) auftreten30) . Der Typ mit ASS assoziierter epileptischer Krisen (und epileptiforme Pattern) ist variabel; es gibt keine für Autismus spezifische Epilepsieform und antiepileptische Behandlung31) . In der Praxis, und angesichts der häufigen Assoziation von Epilepsie und ASS, muss beim geringsten Verdachtsmoment und insbesondere bei kommunikativer und sprachlicher Verhaltensregression sowie bei TSB an Epilepsie gedacht werden. Schlafstörungen Schlafstörungen (Einschlafstörungen, unbefriedigende Schlafdauer und –qualität) kommen bei 40-90% der Patienten mit ASS vor32) . Diese Störungen werden bei der Anamneseaufnahme von allen Angehörigen angegeben. Zahlreiche Studien dokumentieren bei Patienten mit ASS kürzere Schlafdauer, verminderten Anteil REM-Schlaf und häufiges Aufwachen nachts33) . Ein bekannter Mechanismus besteht in einem gestörten zirkadischen Rhythmus, bedingt durch eine Anomalie der Gene, welche die Melatoninproduktion regulieren (Clock Genes) 34) . Je schlechter ein Kind mit ASS schläft, desto grösser ist das Risiko, hyperaktives Verhalten und schwere Stereotypien zu entwickeln32) . Bei einem Kind mit Schlafstörungen sollten, als Vorbedingung für das versuchsweise Einführen einer medikamentösen Therapie vom Typ Melatonin, verhaltenstherapeutische Massnahmen (Einschlafrituale, Schlafhygiene) ergriffen werden. Retrospektive (auf Rückmeldungen der Eltern beruhend) und prospektiv randomisierte Studien35) haben die Wirksamkeit von Melatonin nicht nur auf Schlafqualität und –dauer, sondern auch auf Symptome wie Angstgefühle und soziale Schwierigkeiten nachgewiesen. Eine weitere prospektive Studie hat gezeigt, dass die Mehrzahl der Kinder mit ASS auf eine Melatonindosis von 1 oder 3 mg, 30 Minuten vor dem Schlafengehen verabreicht, ansprechen, mit einer Verbesserung des Einschlafens während 17 Wochen, ohne Nebenwirkungen und ohne Leber-, Nieren- oder endokrine Funktionsstörungen36) . Gastrointestinale Störungen Die Assoziation gastrointestinale Störungen und ASS hat eine hohe Prävalenz, je nach Studie bis zu 90% 37) . In einer neueren Studie weisen 37% der Kinder mit ASS gastrointestinale Störungen auf, v. a. in Form von Obstipation, verglichen mit pädiatrischen Vergleichspopulationen signifikant häufiger als andere Störungen wie Durchfall, Erbrechen, schmerzhafte Darmperistaltik, Magenschmerzen38) . Pathophysiologisch weisen Kinder mit ASS und gastrointestinalen Störungen eine mit entzündlichen Magendarmkrankheiten, wie Mo. Crohn oder ulzerös-hämorrhagische Kolitis, vergleichbare Schleimhautentzündung auf39). Gewisse Autoren erörtern die mögliche Rolle des Mikrobioms beim Entstehen der besonderen Verhaltensformen von Kindern mit ASS, und die Wirkung von Therapien wie Diäten (Ausschluss von Gluten/Kasein, ketogene Diät), Behandlung durch Probiotica oder Stuhltransplantation40), 41), 42) . Keine dieser Massnahmen ist derzeit anerkannt und die ersten Resultate benötigen eine Bestätigung bevor diese Therapien empfohlen werden können. Schlussfolgerung Abbildung 1: Kopienzahlvariationen (CNV) auf einem Chromosomenpaar. Links befindet sich ein («normales») diploides Chromosomenpaar mit 2 Kopien der Region. Die Deletion charakterisiert sich durch das Vorhandensein einer einzigen Kopie der Region auf dem Chromosomenpaar, während die Duplikation das genetische Material auf einem der Chromosomen verdoppelt, was zu 3 Kopien der Region führt. 25 ASS sind multiple Störungen mit zahlreichen Facetten, oft mit weiteren Störungen verbunden. Spezifisch ist ASS jedoch die gestörte soziale Interaktion und eine mangelhafte oder unangepasste Anwendung der Kommunikation. Initial wird man sich vergewissern, dass Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung das Kind nicht an einem neurosensorischen Defizit, wie Hör-, Seh- oder neuro-ophthalmologischer Störungen leidet, welches die Entwicklung von Kommunikationskompetenzen behindern könnte. Am Entstehen von ASS sind zahlreiche und noch schlecht verstandene Ätiologien und pathogenetische Faktoren beteilig, und die vorliegende Übersicht erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit. Man kann festhalten, dass die derzeit untersuchten biologischen Mechanismen ganz allgemein an der Hirnentwicklung beteiligt sind, ohne dass ein spezifischer Zusammenhang mit ASS nachgewiesen werden könnte. Wohl haben genetische Untersuchungen bei der Suche nach der Ätiologie in der klinischen oder Grundlagenforschung eine vorrangige Rolle eingenommen, der Blick des Klinikers verbleibt jedoch zentral beim Erkennen des klinische Bildes und seiner Variabilität. Nur ein gemeinsamer Einsatz klinischer Kompetenzen und wissenschaftlicher Forschung werden zu einem besseren Verständnis der ASS und der Rolle der verschiedenen Risikofaktoren führen. Kinder bei denen eine Autismus-Spek­trumStörungen vermutet wird, müssen pluridisziplinär abgeklärt werden. Dabei steht der Kinderarzt in vorderster Linie und ist auf mehreren Ebenen tätig: Von Frühdiagnostik bis zur Langzeitbetreuung gewisser Komorbiditäten und Unterstützung der Familie. Referenzen 1 APA. Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders: Dsm-5. (Amer Psychiatric Pub Incorporated, 2013). 2 Malhotra D, Sebat J. CNVs: harbingers of a rare variant revolution in psychiatric genetics. Cell 148, 1223-1241, doi:10.1016/j.cell.2012.02.039 (2012). Vol. 28 Nr. 2 2017 3 Sandin S et al. The familial risk of autism. JAMA 311, 1770-7, doi:10.1001/jama.2014.4144 (2014). 4 Grafodatskaya D, Chung B, Szatmari P, Weksberg R. Autism spectrum disorders and epigenetics. J Am Acad Child Adolesc Psychiatry 2010; 49: 794809, doi:10.1016/j.jaac.2010.05.005. 5 Schiff M et al. Should metabolic diseases be systematically screened in nonsyndromic autism spectrum disorders? PLoS One 2011; 6: e21932, doi:10.1371/journal.pone.0021932. 6 Bourgeron T. From the genetic architecture to synaptic plasticity in autism spectrum disorder. Nat Rev Neurosci 2015;16: 551-63, doi:10.1038/ nrn3992. 7 de la Torre-Ubieta L, Won H, Stein J L, Geschwind DH. Advancing the understanding of autism disease mechanisms through genetics. Nat Med 2016; 22: 345-61, doi:10.1038/nm.4071. 8 Gaugler T et al. Most genetic risk for autism resides with common variation. Nat Genet 2014; 46: 881-5, doi:10.1038/ng.3039. 9 Sanders SJ et al. Insights into Autism Spectrum Disorder Genomic Architecture and Biology from 71 Risk Loci. Neuron 2015; 87: 1215-33, doi:10.1016/j.neuron.2015.09.016. 10 Watson CT, Marques-Bonet T, Sharp AJ, Mefford HC. The genetics of microdeletion and microduplication syndromes: an update. Annu Rev Genomics Hum Genet 2014; 15: 215-44, doi:10.1146/annurevgenom-091212-153408. 11 Bernier R et al. Clinical phenotype of the recurrent 1q21.1 copy-number variant. Genet Med 2015 doi:10.1038/gim.2015.78. 12 D’Angelo D et al. Defining the Effect of the 16p11.2 Duplication on Cognition, Behavior, and Medical Comorbidities. JAMA Psychiatry 2016; 73: 20-30, doi:10.1001/jamapsychiatry.2015.2123. 13 Zufferey F et al. A 600 kb deletion syndrome at 16p11.2 leads to energy imbalance and neuropsychiatric disorders. J Med Genet 2012; 49: 660-668, doi:10.1136/jmedgenet-2012-101203. 14 Fernandez BA et al. Phenotypic spectrum associated with de novo and inherited deletions and duplications at 16p11.2 in individuals ascertained for diagnosis of autism spectrum disorder. J Med Genet 2010; 47: 195-203, doi:10.1136/ jmg.2009.069369. 15 Gardener H, Spiegelman D, Buka SL. Perinatal and neonatal risk factors for autism: a comprehensive meta-analysis. Pediatrics 2011; 128: 344-355, doi:10.1542/peds.2010-1036. CNV Lokalisation ER/ID* ASS Schizophrenie 1q21.1 Deletion/Duplikation Duplikation Deletion/Duplikation 7q11.23 Deletion/Duplikation Duplikation 7q36.3 Duplikation Duplikation 15q11.2-13.1 Duplikation Duplikation 15q13.3 Deletion Deletion Deletion 16p13.3 Duplikation Duplikation Duplikation 16p11.2 Deletion/Duplikation Deletion/Duplikation Duplication 22q11.2 Deletion/Duplikation Duplikation Deletion Deletion Duplikation 22q13.3 *Entwicklungsrückstand/intellektuelle Defizite Tabelle 2: Wichtigste mit ASS und weiteren Entwicklungsstörungen assoziierte CNV. Angepasst nach Malhorta und Sebat2) 26 16Ornoy A, Weinstein-Fudim L, Ergaz, Z. Genetic Syndromes, Maternal Diseases and Antenatal Factors Associated with Autism Spectrum Disorders (ASD). Front Neurosci 2016; 10: 316, doi:10.3389/fnins.2016.00316. 17 Manzi B, Loizzo AL, Giana G, Curatolo P. Autism and metabolic diseases. J Child Neurol 2008; 23: 30714, doi:10.1177/0883073807308698. 18 Campistol J et al. Inborn error metabolic screening in individuals with nonsyndromic autism spectrum disorders. Dev Med Child Neurol 2016; 58: 842-87, doi:10.1111/dmcn.13114. 19 Damasio AR, Maurer RG. A neurological model for childhood autism. Arch Neurol 1978; 35: 777-86. 20Goldman S et al. Motor stereotypies in children with autism and other developmental disorders. Dev Med Child Neurol 2009; 51: 30-8, doi:10.1111/ j.1469-8749.2008.03178.x. 21 Rinehart N, McGinley J. Is motor dysfunction core to autism spectrum disorder? Dev Med Child Neurol 2010; 52: 697, doi:10.1111/j.1469-8749.2010.03631.x. 22Chevrie-Muller C, Narbona, J. Le langage de l’enfant: aspects normaux et pathologiques. (Elsevier Masson, 2007). 23 Rapin, I. & Dunn, M. Update on the language disorders of individuals on the autistic spectrum. Brain Dev 2003; 25: 166-72. 24Rapin I et al. Subtypes of language disorders in school-age children with autism. Dev Neuropsychol 2009; 34: 66-84, doi:10.1080/87565640802564648. 25Tuchman R, Rapin I. Epilepsy in autism. Lancet Neurol 2002; 1: 352-8. 26Deonna T, Roulet-Perez E. Early-onset acquired epileptic aphasia (Landau-Kleffner syndrome, LKS) and regressive autistic disorders with epileptic EEG abnormalities: the continuing debate. Brain Dev 2010; 32: 746-52, doi:10.1016/j.braindev.2010.06.011. 27 Saemundsen E, Ludvigsson P, Rafnsson V. Autism spectrum disorders in children with a history of infantile spasms: a population-based study. J Child Neurol 2007; 22: 1102-1107, doi:10.1177/0883073807306251. 28 Zaroff CM, Devinsky O, Miles D, Barr WB. Cognitive and behavioral correlates of tuberous sclerosis complex. J Child Neurol 2004; 19: 847-852, doi:10 .1177/08830738040190110101. 29 Bombardieri R, Pinci M, Moavero R, Cerminara C, Curatolo P. Early control of seizures improves longterm outcome in children with tuberous sclerosis complex. Eur J Paediatr Neurol 2010; 14: 146-9, doi:10.1016/j.ejpn.2009.03.003. 30 Cuisset J-M et al. [Neuropediatric approach to autism]. Arch Pediatr 2005; 12: 1734-41, doi:10.1016/j.arcped.2005.09.016. 31 Depositario-Cabacar DF, Zelleke TG. Treatment of epilepsy in children with developmental disabilities. Dev Disabil Res Rev 2010; 16, 239-47: doi:10.1002/ ddrr.116. 32 Goldman SE et al. Defining the sleep phenotype in children with autism. Dev Neuropsychol 2009; 34: 560-73, doi:10.1080/87565640903133509. 33Malow BA et al. A sleep habits questionnaire for children with autism spectrum disorders. J Child Neurol 2009; 24: 19-24, doi:10.1177/0883073808321044. 34 Bourgeron T. The possible interplay of synaptic and clock genes in autism spectrum disorders. Cold Spring Harb Symp Quant Biol 2007; 72: 645-54, doi:10.1101/sqb.2007.72.020. 35 Wright B et al. Melatonin versus placebo in children with autism spectrum conditions and severe sleep problems not amenable to behaviour management strategies: a randomised controlled crossover trial. Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 J Autism Dev Disord 2011; 41: 175-84, doi:10.1007/ s10803-010-1036-5. 36 Malow B et al. Melatonin for sleep in children with autism: a controlled trial examining dose, tolerability, and outcomes. J Autism Dev Disord 2012; 42: 1729-37; author reply 1738, doi:10.1007/s10803011-1418-3. 37 Buie T et al. Evaluation, diagnosis, and treatment of gastrointestinal disorders in individuals with ASDs: a consensus report. Pediatrics 2010; 125 Suppl 1: S1-18, doi:10.1542/peds.2009-1878C. 38 Fulceri F et al. Gastrointestinal symptoms and behavioral problems in preschoolers with Autism Spectrum Disorder. Dig Liver Dis 2016; 48: 248-54, doi:10.1016/j.dld.2015.11.026. 39 Walker SJ, Fortunato J, Gonzalez LG, Krigsman A. Identification of unique gene expression profile in children with regressive autism spectrum disorder (ASD) and ileocolitis. PLoS One 2013; 8: e58058, doi:10.1371/journal.pone.0058058. 40Vuong HE, Hsiao EY. Emerging Roles for the Gut Microbiome in Autism Spectrum Disorder. Biol Psychiatry 2017; 81: 411-23, doi:10.1016/j.biopsych.2016.08.024. 41 Ghalichi F, Ghaemmaghami J, Malek A, Ostadrahimi A. Effect of gluten free diet on gastrointestinal and behavioral indices for children with autism spectrum disorders: a randomized clinical trial. World J Pediatr 2016; 12: 436-42, doi:10.1007/s12519-0160040-z. 42 Li Q, Zhou J-M. The microbiota-gut-brain axis and its potential therapeutic role in autism spectrum disorder. Neuroscience 2016; 324: 131-9, doi:10.1016/j.neuroscience.2016.03.013. 43 Bassell GJ, Warren ST. Fragile X syndrome: loss of local mRNA regulation alters synaptic development and function. Neuron 2008: 60: 201-14, doi:10.1016/j.neuron.2008.10.004. 44Clifford S et al. Autism spectrum phenotype in males and females with fragile X full mutation and premutation. J Autism Dev Disord 2007; 37: 738-47, doi:10.1007/s10803-006-0205-z. 45 Lipton, JO, Sahin M. The neurology of mTOR. Neuron 2014; 84: 275-91, doi:10.1016/j.neuron.2014.09.034. 46Morris SM et al. Disease Burden and Symptom Structure of Autism in Neurofibromatosis Type 1: A Study of the International NF1-ASD Consortium Team (INFACT). JAMA Psychiatry 2016; 73: 127684, doi:10.1001/jamapsychiatry.2016.2600. 47 Ricotti V et al. Neurodevelopmental, emotional, and behavioural problems in Duchenne muscular dystrophy in relation to underlying dystrophin gene mutations. Dev Med Child Neurol 2016; 58: 77-84, doi:10.1111/dmcn.12922. 48 Lee SY et al. Ube3a, the E3 ubiquitin ligase causing Angelman syndrome and linked to autism, regulates protein homeostasis through the proteasomal shuttle Rpn10. Cell Mol Life Sci 2014; 71: 2747-58, doi:10.1007/s00018-013-1526-7. 49 Hogart A, Wu D, LaSalle JM, Schanen NC. The comorbidity of autism with the genomic disorders of chromosome 15q11.2-q13. Neurobiol Dis 2010; 38: 181-91, doi:10.1016/j.nbd.2008.08.011. 50 Buxbaum JD et al. Mutation screening of the PTEN gene in patients with autism spectrum disorders and macrocephaly. Am J Med Genet B Neuropsychiatr Genet 2007; 144B: 484-91, doi:10.1002/ ajmg.b.30493. Korrespondenzadresse Marine Jequier Gygax, neuropédiatre FMH Centre Cantonal Autisme Les Allières Av. Beaumont 23 1010 Lausanne Tél: +41213148029 [email protected] Die Autoren haben keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. 27 Publireportage Keuchhusten-Impfung der Schwangeren zum Schutz von Mutter und Kind Wie aus den Sentinelladaten der letzten Jahre klar ersichtlich ist, bleibt der Keuchhusten (Pertussis) auch in der Schweiz eine häufige Erkrankung.1 Diese Entwicklung war für EKIF und BAG der Anlass, die Pertussis-Impfempfehlungen seit 2011 mehrmals anzupassen.2 Für Kinder ab 4 Jahren, Jugendliche und Erwachsene stehen für Boosterimpfungen gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis Boostrix® (dTpa) und mit zusätzlichem Schutz gegen Kinderlähmung Boostrix® Polio (dTpa-IPV) zur Verfügung.3 Ende November 2016 wurde für diese Impfstoffe die Zulassung durch Swissmedic erweitert, sodass nun gegen Pertussis auch eine Impfung im 3. Trimenon der Schwangerschaft in Betracht gezogen werden kann.3 Schon seit 2013 hat die EKIF/BAG-Empfehlung eine Keuchhustenimpfung im 2. oder 3. Trimenon der Schwangerschaft vorgesehen.4 Säuglinge sind besonders gefährdet – Mütter die häufigste Infektionsquelle Der Keuchhusten ist besonders gefährlich für Säuglinge, treten doch die schwersten Erkrankungen in den ersten Lebensmonaten auf. In den ersten Lebenswochen ist die Todesrate am höchsten. Diese in vielen Ländern gemachten Beobachtungen gelten auch für die Schweiz, wie aus dem letzten SPSU Jahresbericht 2015 hervorgeht: 20 von insgesamt 25 hospitalisierten Kindern betrafen Säuglinge <6 Monaten, darunter ein Todesfall.5 Auch wenn vielerorts Pertussis-Impfprogramme etabliert sind, bleibt der Erreger Bordetella pertussis weiter endemisch. Dies ist auch erklärbar durch die neuere Erkenntnis, dass B. pertussis durch asymptomatische Träger weiter verbreitet werden kann.6 Geschwister und Eltern, speziell aber die Mütter, gelten als die häufigste Übertragungsquelle für Pertussis-Infektionen.5,7 Impfung der Schwangeren für Nestschutz des Neugeborenen Die Impfung von Schwangeren verfolgt zwei Ziele (Abbildung 1): Eines ist der Schutz von Mutter und Ungeborenem im Verlauf der Schwangerschaft. Zudem gewähren die mütterlichen Antikörper, die über die Plazenta an das ungeborene Kind weitergegeben werden, auch einen Schutz des Neugeborenen in den ersten Wochen nach der Geburt (Leihimmunität), bis der Säugling mit der Grundimmunisierung selbst einen Impfschutz aufbauen können.8 Erfahrungen mit Impfen während der Schwangerschaft in anderen Ländern Um Neugeborene mittels Leihimmunität ab dem Zeitpunkt der Geburt vor einem Keuchhusten zu schützen, gilt die Pertussis-Impfung während der Schwangerschaft als die beste Strategie. Die USA empfiehlt seit 2012, zum Schutz vor Keuchhusten bei jeder Schwangerschaft eine dTpa-Impfung zu applizieren.9 Auch die WHO (2015) empfiehlt zum Schutz von Schwangeren und Neugeborenen eine Impfung während der Schwangerschaft.10 Nachdem in England im Jahr 2012 insgesamt 14 Kinder unter drei Monaten an Pertussis verstorben waren, wurde dort ein Impfprogramm für werdende Mütter eingeführt.11 Diese erhalten zwischen der 28. und 38. Schwangerschaftswoche einen KombinationsImpfstoff dTpa-IPV, um zur Geburt möglichst hohe Titer mütterlicher Antikörper zu erzielen.12 In einer Analyse zum 3-Jahres-Follow-up konnte eine Schutzwirkung gegenüber laborbestätigten Infektionen von jungen Säuglingen von über 90% Ziele beim Impfen in der Schwangerschaft Schutz von Mutter und Ungeborenem im Verlauf der Schwangerschaft Schutz des Neugeborenen in den ersten Wochen nach der Geburt Abbildung 1: Die zwei Ziele beim Impfen in der Schwangerschaft: Schutz der Mutter und des Neugeborenen8 festgestellt werden. Mit einer Impfabdeckung von knapp 65% konnte die Inzidenz an Keuchhustenerkrankungen und Pertussis bedingter Todesfälle bei <3 Monate alten Säuglingen gesenkt werden.11 Daten deuten darauf hin, dass die Leihimmunität die Immunantwort des Säuglings auf einige Impfantigene vermindern kann. Die klinische Relevanz dieser Beobachtung ist nicht bekannt.3,11,13 Schwangerschaftswoche geimpft. Die Impfungen wurden gut vertragen, die Ergebnisse zeigten keine schwerwiegenden unerwünschten Wirkungen, welche mit dem Impfstoff in Verbindung gebracht werden konnten.14 Es gibt zurzeit keine Hinweise für ein erhöhtes Risiko für eine Erkrankung nach der Grundimmunisierung bei Kindern, deren Mütter während der Schwangerschaft gegen Pertussis geimpft wurden.11 Die Empfehlung 2017 von EKIF/BAG lautet: «Neu wird schwangeren Frauen in jeder Schwangerschaft eine Pertussisimpfung (dTpa) empfohlen, unabhängig vom Zeitpunkt der letzten Pertussisimpfung oder Pertussiserkrankung. Die Impfung soll vorzugsweise im 2. Trimester (13.–26. SSW) durchgeführt werden (Nachholimpfung möglichst im 3. Trimester so früh wie möglich). Diese Impfstrategie ist zu priorisieren und zu fördern».15 Boostrix® ist für diese Indikation im 3. Trimester gemäss aktualisierter Fachinformation nun zugelassen, wie weiterhin natürlich auch für den nun alle 10 Jahre zu wiederholenden Booster für Personen mit regelmässigem Kontakt zu Säuglingen <6 Monaten. Der Anwendung von Boostrix® (Polio) sollte stets eine Nutzen-Risiko-Abwägung voraus gehen. Die Sicherheit der PertussisImpfstoffe für Mutter und Kind Die Sicherheit wurde beim Einsatz des obgenannten Impfprogramms an mehr als 17 000 Schwangeren beobachtet: Im Vergleich zu Daten einer historischen, nicht geimpften Vergleichsgruppe wurden bei den geimpften Schwangeren keine auffälligen Sicherheitssignale in Bezug auf mütterliche, geburtshilfliche oder neonatale Risiken beobachtet.12 Eine neuseeländische Studie belegt zudem die Sicherheit von Boostrix® bei der Anwendung im dritten Trimenon der Schwangerschaft: 793 Frauen wurden zwischen der 28. und der 38. Neuerung im Impfplan 2017 zur Pertussisimpfung in der Schwangerschaft Text: Prof. Dr. Hanspeter Gnehm. GSK Schweiz Für weitere Informationen beachten Sie bitte die Kurzfachinformationen auf der rechten Seite. Referenzen: 1. Keuchhusten/Pertussis. BAG Bulletin 2016; 08:137-139. 2. Optimierung der Auffrischimpfungen gegen Diphterie, Tetanus und Pertussis (dT/ dTpa) bei Erwachsenen. BAG Bulletin 2011; 51:1161-1171. 3. Fachinformationen Boostrix® und Boostrix® Polio, GSK, www.swissmedicinfo.ch 4. Anpassung der Impfempfehlung gegen Pertussis: für Jugendliche, Säuglinge in Betreuungseinrichtungen und schwangere Frauen. BAG Bulletin 2013; 09:118-123. 5. SPSU-Jahresbericht 2015. BAG Bulletin 2016; 48:10-26. 6. Althouse BM, Scarpino SV. Asymptomatic transmission and the resurgence of Bordetella pertussis. BMC Med 2015; 13:146. 7. Kara EO et al. Survey of Household Contacts of Infants With Laboratory-confirmed Pertussis Infection During a National Pertussis Outbreak in England and Wales. Pediatr Infect Dis J. 2017; 36:140-145. 8. Jones C, Heath P. Antenatal immunization. Concepts and challenges. Hum Vaccin Immunother 2014; 10(7):2118-2122. 9. CDC, Updated Recommendations for Use of Tetanus Toxoid, Reduced Diphtheria Toxoid, and Acellular Pertussis Vaccine (Tdap) in Pregnant Women - Advisory Commitee on Immunization Practices (ACIP) 2012, MMWR Morb Mortal Wkly Rep. 2013;62(7):131-135. 10. WHO Wkly Epidemiol Rec. Pertussis Vaccines: WHO position paper - August 2015; 90:433-460. 11. Amirthalingam G et al. Sustained Effectiveness of the Maternal Pertussis Immunization Program in England 3 Years Following Introduction. Clin Infect Dis 2016; 63(suppl 4):S236-S243. 12. Donegan K et al. Safety of pertussis vaccination in pregnant women in UK: observational study. BMJ 2014; 349:g4219. 13. Maertens K et al. Pertussis vaccination during pregnancy in Belgium: Results of a prospective controlled cohort study. Vaccine 2016; 34:142-150. 14. Petousis-Harris H et al. Safety of Tdap vaccine in pregnant women: an observational study. BMJ Open 2016; 6:e010911. 15. Bundesamt für Gesundheit (BAG), Eidgenössische Kommission für Impffragen (EKIF). Schweizerischer Impfplan 2017. Schützen Sie Säuglinge vor Pertussis Anzeige Impfen der Schwangeren sowie des Umfelds des Säuglings mit einer Pertussis Boosterimpfung1, 2,3,* 2. 1. Geschwister Medizinische Fachpersonen Erzieher Kinderbetreuer Säugling < 6 Monate Schwangere Impfen in der Schwangerschaft – Nestschutz:1 Eltern zukünftige Eltern Grosseltern Boostrix® im 3. Trimenon der Schwangerschaft verabreichen.* Für das 2. Trimenon liegen keine Zulassungsstudien vor.2,3 Empfehlung BAG/EKIF:1 - Neu wird in jeder Schwangerschaft eine Pertussisimpfung (dTpa) empfohlen. - Vorzugsweise im 2. Trimenon, bis möglichst anfangs des 3. Trimenons. In Anlehnung an BAG: Schweizerischer Impfplan 2017 Boostrix® 1 Impfdosis = 3-facher Schutz2 Boostrix® Polio 1 Impfdosis = 4-facher Schutz3 Referenzen: 1. Bundesamt fur Gesundheit (BAG). Schweizerischer Impfplan 2017. Richtlinien und Empfehlungen. 2. Fachinformation Boostrix®, www.swissmedicinfo.ch 3. Fachinformation Boostrix® Polio, www.swissmedicinfo.ch Boostrix®, kombinierter Diphtherie-Tetanus-azellulärer Pertussis-Impfstoff (dTpa). W: Diphtherie-Toxoid, Tetanus-Toxoid, Pertussis-Toxoid, filamentöses Hämagglutinin von B. pertussis, Pertactin von B. pertussis. I: Boosterimpfung gegen Diphtherie, Tetanus und Pertussis von Personen ab 4. Geburtstag. Nicht zur Grundimmunisierung verwenden! D/A: Eine Impfdosis zu 0,5 ml. Die Injektion erfolgt tief intramuskulär. Nicht intravasal anwenden. Nicht mit anderen Impfstoffen mischen. KI: Bekannte Überempfindlichkeit gegen einen der Bestandteile; akute, schwerwiegende fieberhafte Erkrankung; Enzephalopathie unbekannter Ätiologie innert 7 Tagen nach einer vorgängigen Impfung mit einem Pertussis-enthaltenden Impfstoff; vorübergehende Thrombozytopenie oder neurologische Komplikationen nach einer vorgängigen Impfung gegen Diphtherie und/oder Tetanus. WV: Wenn nach einer vorherigen Impfung mit einem Pertussis-enthaltenden Impfstoff folgende Ereignisse aufgetreten sind, sollte die Entscheidung zur Gabe des Impfstoffes sorgfältig abgewogen werden: Temperatur ≥ 40.0 °C innerhalb von 48 Stunden nach der Impfung ohne sonst erkennbare Ursache, Kollaps oder schockähnlicher Zustand (hypotonisch-hyporesponsive Episode) innerhalb von 48 Stunden nach der Impfung, oder anhaltendes, untröstliches Schreien über mehr als 3 Stunden innerhalb von 48 Stunden nach der Impfung, oder Krampfanfälle mit oder ohne Fieber innerhalb der ersten 3 Tage nach der Impfung; Thrombozytopenie oder Blutgerinnungsstörung (Blutungsrisiko bei i.m.-Injektionen); psychogen bedingte Synkope (Injektion). IA: Boostrix kann gleichzeitig mit anderen Impfstoffen oder Immunglobulinen – jeweils an einer anderen Injektionsstelle – angewendet werden. Immunantwort kann durch immunsuppressive Therapie oder Immundefizienz beeinträchtigt sein. SS: Impfung kann im 3. Schwangerschaftstrimenon in Betracht gezogen werden. Zur Anwendung im 1. und 2. Trimenon liegen keine Daten aus prospektiven klinischen Studien am Menschen vor. Man geht davon aus, dass der Fötus bei einer Impfung mit Boostrix unabhängig vom Zeitpunkt der Schwangerschaft keinen Schaden nimmt. Sollte in der Schwangerschaft nur in Fällen angewendet werden, in denen der zu erwartende Nutzen die möglichen Risiken für das Ungeborene überwiegt. Die Sicherheit der Anwendung während der Stillzeit wurde nicht untersucht. Sollte während der Stillzeit nur angewendet werden, wenn die möglichen Vorteile die möglichen Risiken überwiegen. UW: sehr häufig: Reizbarkeit, Schläfrigkeit, Reaktionen an der Injektionsstelle (Schmerz, Rötung, Schwellung), Müdigkeit, Unwohlsein, Kopfschmerzen; häufig: Anorexie, Diarrhöe, Erbrechen, gastrointestinale Störungen, Übelkeit, Fieber, Schwindel, Reaktionen an der Injektionsstelle wie Verhärtung und sterile Abszessbildung; selten oder sehr selten: Angioödem, allergische Reaktionen einschliesslich anaphylaktische Reaktionen, UW des Nervensystems (z.B. Konvulsionen). Lag.: Bei +2 °C bis +8 °C lagern. Nicht einfrieren. P: Fertigspritze mit separat beigelegter Nadel, ×1 und ×10. AK: B. Stand der Information: September 2016. GlaxoSmithKline AG. Ausführliche Angaben finden Sie unter www.swissmedicinfo.ch. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen melden Sie bitte unter [email protected]. Boostrix® Polio, kombinierter Diphtherie-Tetanus-azellulärer Pertussis-inaktivierter Poliomyelitis-Impfstoff (dTpa-IPV). W: Diphtherie-Toxoid, Tetanus-Toxoid, Pertussis-Toxoid, filamentöses Hämagglutinin von B. pertussis, Pertactin von B. pertussis, inaktiviertes Poliovirus Typ 1, inaktiviertes Poliovirus Typ 2, inaktiviertes Poliovirus Typ 3. I: Booster-Impfung gegen Diphtherie, Tetanus, Pertussis und Poliomyelitis von Personen ab dem 4. Geburtstag. Nicht zur Grundimmunisierung verwenden! D/A: Eine Impfdosis zu 0,5 ml. Die Injektion erfolgt tief intramuskulär. Nicht intravasal anwenden. Nicht mit anderen Impfstoffen mischen. KI: Bekannte Überempfindlichkeit gegen einen der Bestandteile; akute, schwerwiegende fieberhafte Erkrankung; Enzephalopathie unbekannter Genese innert 7 Tagen nach einer früheren Impfung mit einem Pertussis enthaltenden Impfstoff; vorübergehende Thrombozytopenie oder neurologische Komplikationen nach einer vorgängigen Impfung gegen Diphtherie und/oder Tetanus. WV: Wenn nach einer vorherigen Impfung mit einem Pertussis-enthaltenden Impfstoff folgende Ereignisse aufgetreten sind, sollte die Entscheidung zur Gabe des Impfstoffes sorgfältig abgewogen werden: Temperatur ≥ 40,0°C innerhalb von 48 Stunden nach der Impfung ohne sonst erkennbare Ursache, Kollaps oder schockähnlicher Zustand (hypotonisch-hyporesponsive Episode) innerhalb von 48 Stunden nach der Impfung, oder anhaltendes, untröstliches Schreien über mehr als 3 Stunden innerhalb von 48 Stunden nach der Impfung, oder Krampfanfälle mit oder ohne Fieber innerhalb der ersten 3 Tage nach der Impfung. Thrombozytopenie oder Blutgerinnungsstörung (Blutungsrisiko bei i.m.-Injektionen), psychogen bedingte Synkope (Injektion). IA: Boostrix Polio kann gleichzeitig mit anderen Impfstoffen oder Immunoglobulinen an unterschiedlichen Stellen verabreicht werden. Immunantwort kann durch immunsuppressive Therapie oder Immundefizienz beeinträchtigt sein. SS: Impfung kann im 3. Schwangerschaftstrimenon in Betracht gezogen werden. Zur Anwendung im 1. und 2. Trimenon liegen keine Daten aus prospektiven klinischen Studien am Menschen vor. Man geht davon aus, dass der Fötus bei einer Impfung mit Boostrix Polio unabhängig vom Zeitpunkt der Schwangerschaft keinen Schaden nimmt. Sollte in der Schwangerschaft nur in Fällen angewendet werden, in denen der zu erwartende Nutzen die möglichen Risiken für das Ungeborene überwiegt. Die Sicherheit der Anwendung während der Stillzeit wurde nicht untersucht. Sollte während der Stillzeit nur angewendet werden, wenn die möglichen Vorteile die möglichen Risiken überwiegen. UW: sehr häufig: Reaktionen an der Injektionsstelle (Schmerz, Rötung, Schwellung), Schläfrigkeit, Kopfschmerzen, Müdigkeit; häufig: Appetitlosigkeit, Reizbarkeit, Fieber ≥ 37,5°C, ausgedehnte Schwellung der Extremität, an der die Impfung vorgenommen wurde, Reaktionen an der Injektionsstelle (wie Blutung, Hämatom, Pruritus, Verhärtung, Wärme, Taubheit), gastrointestinale Beschwerden (wie Erbrechen, Bauchschmerzen, Übelkeit); selten oder sehr selten: Angioödem, allergische Reaktionen einschliesslich anaphylaktische Reaktionen, UW des Nervensystems (z.B. Konvulsionen). Lag.: Bei +2°C bis +8°C lagern. Nicht einfrieren. P: Fertigspritze mit separat beigelegter Nadel x1. AK: B. Stand der Information: September 2016. GlaxoSmithKline AG. Ausführliche Angaben finden Sie unter www.swissmedicinfo.ch. Unerwünschte Arzneimittelwirkungen melden Sie bitte unter [email protected]. GlaxoSmithKline AG, Talstrasse 3–5, CH-3053 Münchenbuchsee, Tel. +41 (0)31 862 21 11, Fax +41 (0)31 862 22 00, www.glaxosmithkline.ch Webshop: www.gskvaccinesdirect.ch 1008054 CH/BOO/0004/16/24.02.2017/03.2017/Ca * der Anwendung sollte stets eine Nutzen-Risiko-Abwägung voraus gehen. Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Neurokognitive Besonderheiten des Autismus Evelyne Thommen, Laetitia Baggioni, Aline Tessari Veyre1 Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Kinder mit einer Autismus-Spektrum-Störung (ASS) haben zahlreiche neurokognitive Eigenarten. Einige davon, z. B. sensorische, findet man in den DSM-5-Kriterien. Andere betreffen eher den kognitiven Bereich und können zu besonderen Kompetenzen (z. B. visuelles Gedächtnis) oder dann zu Schwierigkeiten (soziale Kognition, exekutive Funktionen, eingeschränkte Interessen) führen. Solche Besonderheiten können im Übrigen Facetten der Persönlichkeit von Menschen mit ASS sein, die diese für sich beanspruchen. Man spricht heute von Neurodiversität, um diese Unterschiede, die nicht unbedingt Defizite sind, zu charakterisieren. Die heutige Sicht berücksichtigt diese Besonderheiten, die für die betreffende Person von Vorteil sein können oder im Gegenteil eine behindernde Situation schaffen können, je nachdem wie die Gesellschaft oder das persönliche Umfeld mit dem besonderen kognitiven Stil umgeht. Wir gehen in diesem Artikel auf die neurokognitiven Besonderheiten von Menschen mit ASS ein, in Bezug auf Informationsverarbeitung, soziale Kognition und exekutive Funktionen. Abbildung 1: Darstellung unangenehmer auditiver Empfindungen durch eine praktisch averbale Person mit ASS (aus3) S. 11) 1 Informationsverarbeitung Sensorische Besonderheiten Menschen mit ASS beschrieben als erste ihre besonderen sensorischen Schwierigkeiten1) (Abb. 1). Diese sind nun im DSM-5 unter Kriterium B aufgeführt, und werden somit bei der Diagnosestellung berücksichtigt2) . Die Überempfindlichkeit äussert sich oft durch ein Vermeidungs- oder Fluchtverhalten, durch Isolierung, während bei Hyposensibilität sensorische Bedürfnisse durch aktive Suche nach Sinnesempfindungen befriedigt werden. Das Beobachten des Verhaltens ist folglich wesentlich, um die sensorischen Aspekte zu beurteilen. Oft hängen Hyper- oder Hyposensibilität von der betreffenden sensorischen Empfindung ab (auditiv, visuell, taktil, Geschmack, Geruch, vestibulär und propriozeptiv). Ein und dieselbe Person kann z. B. eine tiefe Sensibilitätsschwelle im auditiven Bereich haben, und daneben ein sehr hohes taktiles Empfindungsvermögen. Die Sensibilitätsschwelle kann auch in Bezug auf dieselbe Sinnesempfindung variieren. Man kann dann eine Überempfindlichkeit für gewisse Klangwellenlängen und verminderte Empfindlichkeit für andere beobachten. Alle diese Feinheiten unterstreichen, wie wichtig bei der Betreuung dieser Personen eine eingehende sensorische Abklärung ist. Es erlaubt uns z. B. zu verstehen, warum gewisse Kleinkinder bestimmte Nahrungsmittel nicht mögen oder Kleidungsstücke nicht ertragen. Dennoch werden diese Elemente heute noch von zu wenigen Fachpersonen berücksichtigt. Zahlreiche neuere Studien gehen der Beschreibung und der Frage der Prävalenz dieser Sinnesstörungen bei Autismus nach. Ausderau et al.4) schlagen ein Mittel zur Evaluation von 4 Arten sensorischer Reaktion vor: •HYPO: Hyposensible sensorische Reaktion Die Person reagiert nicht auf gewisse Stimuli und antwortet z. B. nicht, wenn man sie anspricht. HES-SO, Haute école spécialisée de Suisse occidentale, EESP, Lausanne 30 •HYPER: Hypersensible sensorische Reaktion Die Person reagiert übertrieben auf gewisse Reize, die sie zu stören oder ihr Schmerzen zu verursachen scheinen, wie z. B. berührt werden, gewissen Lauten ausgesetzt sein oder Nahrungsmittel essen müssen. •SIRS: Repetitives Suchen nach sensorischen Erfahrungen und Stimuli (Sensory Interests, Repetitions, and Seeking behaviours) Es kann sich um eine Person handeln, die z. B. visuelle Sensationen sucht, indem sie beobachtet, wie Staub in einem Lichtstrahl tanzt, oder die sich wiegt, um ihren Gleichgewichtssinn zu stimulieren. •EP: erhöhte und verfeinerte Wahrnehmung (Enhanced Perception) Es ist die Fähigkeit, Dinge bis in ihre kleinsten Details zu erfassen. Die betreffende Person wird damit geringste Veränderungen ihrer Umgebung feststellen. Die Autoren schlagen auf der Basis dieser vier Kategorien sensorischer Reaktionen verschiedene sensorische Personenprofile vor. Es werden 4 Untergruppen berücksichtigt (siehe 4), S. 939) 4) . Die Untergruppe «leicht» («Mild Subtype») umfasst Kinder, die für alle Arten sensorischer Reaktionen relativ tiefe Ergebnisse zeigen. Im Gegensatz dazu werden in der Gruppe «extrem gemischt» («ExtremeMixed Subtype») Kinder zusammengefasst, bei denen die Ergebnisse in allen 4 Kategorien sensorischer Antworten hoch sind. Kinder der übrigen zwei Untergruppen zeigen heterogenere sensorielle Reaktionen. So entspricht die Untergruppe «sensorischer Not» («SensitiveDistressed Subtype») Kindern, die in den Kategorien HYPER und EP hohe Ergebnisse erzielen, während sie in den beiden anderen Kategorien eher unterdurchschnittlich abschneiden. Die Untergruppe «vermindert und besorgt» («Attenuated-Preoccupied Subtype») weist die gegenteilige Konstellation auf, mit hohen Ergebnissen für HYPO und SIRS und tieferen in den beiden anderen Kategorien. Es muss betont werden, dass die sensorischen Besonderheiten von den übrigen Aspekten der ASS unabhängig zu sein scheinen, dass sie jedoch herangezogen werden können, um Schwierigkeiten von Menschen mit ASS zu verstehen, insbesondere Stereotypien und eingeengte Interessen. Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 fen umschrieben. Vermeulen und Degrieck9) sprechen von kontextueller Blindheit oder von Detaildenken, um zu beschreiben, dass Menschen mit ASS unfähig sind, wahrgenommene Elemente in ihrem Zusammenhang zu integrieren. Das Detaildenken ist ein kognitiver Stil der mit Autismus behafteten Person, das ihm ausserordentliche Kompetenzen bringen kann, aber auch Schwierigkeiten, wenn ein Detail störend wirkt und die betreffende Person daran hindert, zu verstehen, wie sie sich in einem bestimmten Kotext verhalten muss. Soziale Kognition Menschen mit ASS haben grosse Schwierigkeiten, Gefühlsregungen und Befindlichkeit ihres Gegenübers zu verstehen, und sich insbesondere vorzustellen, was nicht direkt beobachtbar ist, wie Gefühle, Gedanken, Erwartungen, Absichten10) . Man spricht von der Schwierigkeit, sich in die Gedanken anderer hineinzuversetzen (Theory of Mind, ToM). In Studien dazu werden Kinder aufgefordert, das Verhalten ihres Gegenübers auf Grund dessen vorauszusagen, was diese Person weiss oder glaubt. Bevor sie ToM beherrschen, denken 3-jährige Kinder, dass jedermann weiss, was sie selbst wissen und nicht weiss, was auch sie nicht wissen. Sie können sich Gedanken oder Annahmen, die sich von den ihrigen unterscheiden, nicht vorstellen. Mit 4-5 Jahren können sie die Perspektive Anderer einnehmen. Sie können dann eine Handlung voraussagen in Funktion dessen, was der Betreffende glaubt, selbst im Wissen, dass letzterer sich irrt. In seiner Synthese der Arbeiten zur ToM-Entwicklung von Kindern mit ASS argumentiert Kimhi11) zugunsten eines Entwicklungsrückstandes und nicht einer Beeinträch- tigung. Sie erörtert ebenfalls einen für die Praxis wichtigen Gesichtspunkt. Kinder mit ASS können Aufgaben, die das Verstehen von Bewusstseinsvorgängen Anderer voraussetzen, im Schulrahmen lösen, haben aber Schwierigkeiten, dies im täglichen Leben zu verallgemeinern. Die Schwierigkeit zu verstehen, wie Gedanken und Absichten das Verhalten bedingen, ist, aus dieser Perspektive betrachtet, eng mit den Störungen des Sozialverhaltens verbunden. So verstehen Menschen mit ASS soziale Situationen nicht in gewohnter Weise und handeln deshalb oft inadäquat. Unsere Untersuchungen12) zeigen ebenfalls, dass die soziale Kognition bei Menschen mit ASS wohl beeinträchtigt ist, sich im Verlaufe der Zeit aber entwickeln kann. Wir haben longitudinale Beobachtungen bei 65 4-10-jährigen Kindern gesammelt, 36 Kinder mit ASS (52- bis 128-monatig) und 29 Kontrollen (56bis 126-monatig). Als Evaluationsmethode wurde TEC13) , das Verständnis von Gefühlsregungen, und das ToMStorybook14) , das verschiedene ToM-Aspekte beurteilt, verwendet. Der Vergleich zwischen Kindern mit ASS und Kontrollkindern (Abb. 2 und 3) zeigt globale Vorteile zugunsten letzterer. Die statistische Varianzanalyse (ANOVA) zeigt, dass Kontrollkinder im ToMStorybook bessere Resultate erzielen als Kinder mit ASS (F1;63=88, p<.001); dasselbe gilt für TEC (F1;63=26, p<.001). Beide Gruppen verbessern ihre Fähigkeiten mit der Zeit, wie es die Varianzanalyse für ToMStorybook (ANOVA mit wiederholten Messungen: F1;63=38, p<.001, kein Interaktionseffekt) sowie für TEC (ANOVA mit wiederholten Messungen: F1;63=28, p<.001, kein Interaktionseffekt) nachweist. TEC erste Sitzung TEC zweite Sitzung Mittelwert ToM erste Sitzung ToM zweite Sitzung Mittelwert Beeinträchtigte zentrale Kohärenz Happé und Frith5) analysieren eine Besonderheit des Autismus, der in einer beeinträchtigten zentralen Kohärenz («central coherence») besteht. Dieser Begriff bezieht sich auf die Fähigkeit, Wahrnehmungen und Kenntnisse zusammenhängend und global zu verwerten, um daraus eine Synthese zu machen. Die Fähigkeit zur Metarepräsentation ist an diese zentrale Kohärenz gebunden, eine Funktion die auf einem höheren Niveau Elemente eines tieferen Niveaus zu organisieren versteht. Die zentrale Kohärenz entspricht der normalen Verarbeitung von Informationen, die es ermöglicht, aus einzelnen Wahrnehmungselementen auf einem höheren Niveau einen Gesamtzusammenhang zu schaffen. Die Hypothese einer beeinträchtigten zentralen Kohärenz beruht auf Forschungsergebnissen über die perzeptuellen Fähigkeiten von Menschen mit ASS. Vergleicht man Stärken und Schwächen von Menschen mit ASS, stellt man einerseits ausserordentliche Fähigkeiten bei Aufgaben fest, welche die Berücksichtigung von Details verlangen, obwohl die Integration der Einzelelemente in ein Ganzes ihre Leistung beeinträchtigt. Sie sind bei integrativen Aufgaben benachteiligt. Diese aussergewöhnlichen Fähigkeiten werden beispielsweise bei Personen festgestellt, die viel schneller Aufgaben mit verflochtenen Figuren zu lösen imstande sind6) . In ihren Arbeiten bestreiten Mottron et al.7) die Idee einer zentralen Kohärenzbeeinträchtigung beim Autismus. Aus ihrer Sicht sind Personen mit ASS durchaus fähig, einen globalen Gesichtspunkt einzunehmen, sofern ihre Aufmerksamkeit auf die globalen Aspekte der Aufgabe gerichtet ist. Im Allgemeinen bevorzugen sie es jedoch, ihr Augenmerk auf Einzelelemente zu richten. Die Arbeiten von Bowler et al.8) zum Gedächtnis zeigen, dass Menschen mit oder ohne ASS sich eine Liste von Musikinstrumenten besser einprägen können, wenn die Beziehung zwischen den zu memorisierenden Begriffen verbal erklärt wurde. Die Leistungen der Probanden mit ASS blieben jedoch unterhalb jener der Vergleichsgruppe. Dieses Ergebnis ist wichtig, denn es lässt darauf schliessen, dass die Kompetenzen von Menschen mit ASS durch das Hervorheben von Aspekten modifiziert werden können, auf die sich ihre Aufmerksamkeit nicht spontan richten würde. Im klinischen Sprachgebrauch werden die Besonderheiten bei der Verarbeitung von Wahrnehmungselementen mit anderen Begrif- Kinder mit ASS Kontrollkinder Abbildung 2: Entwicklung von Theory of Mind (ToM) während einem Zeitintervall von 6 Monaten bei Kindern mit ASS und Kontrollkindern 31 Kinder mit ASS Kontrollkinder Abbildung 3: Entwicklung des Verständnisses von Gefühlsregungen (TEC) während einem Zeitintervall von 6 Monaten bei Kindern mit ASS und Kontrollkindern Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung Diese Ergebnisse zeigen die Entwicklungsmöglichkeit von ToM, eine Entwicklung die durch das Einsetzen spezifischer Lehrmethoden zum besseren Verständnis von Gefühlsregungen und Gedanken Anderer gefördert werden kann, wie dies in der Arbeit von Howling, Baron-Cohen et Haldwin15) vorgeschlagen wird. Exekutive Funktionen Exekutive Funktionen umfassen 4 Hauptfunktionen: Handlungsplanung, Arbeitsgedächtnis, Impulskontrolle, Flexibilität16),17) . Sie ermöglichen die Verhaltens- und Handlungs­steuerung durch Aufmerksamkeitskontrolle. Planung ist eine kognitive Funktion, die es erlaubt, durch das Ausarbeiten von Aktionsstrategien Probleme zu lösen. Es geht darum, Verhaltensmuster zu organisieren und schrittweise zu kontrollieren, um sich ihrer Wirksamkeit zu vergewissern. Flexibilität entspricht der Fähigkeit, sein Verhalten anzupassen, wenn das angestrebte Ziel nicht erreicht wird. Es geht dann darum, den Schwerpunkt der Aufmerksamkeit auf einen stichhaltigeren Stimulus zu richten. Das Arbeitsgedächtnis besteht aus zwei Komponenten. Visuospatiale Informationen werden im Gedächtnis durch einen «visuellräumliches Notizbuch» genannten Prozess gespeichert, während die «phonologische Schleife» das Aufbewahren verbaler Informationen erlaubt. Diese exekutive Funktion ermöglicht es, eine Information während einem kurzen Zeitraum in Erinnerung zu behalten Vol. 28 Nr. 2 2017 und gleichzeitig eine andere Information zu behandeln. Der Betreffende ist damit imstande, zwei Aufgaben gleichzeitig auszuführen. Die gespeicherte Information wird dauernd aktualisiert. Die Impulskontrolle schliesslich ist ein Prozess, dank welchem ein Verhalten oder eine dominierende Aktion verhindert werden können. Sie bezieht sich somit auf die Kontrolle des Verhaltens. Zahlreiche Studien weisen eine Beeinträchtigung der exekutiven Funktionen bei Menschen mit ASS nach. Planung und Flexibilität scheinen die am meisten betroffenen exekutiven Funktionen zu sein, während Impulskontrolle und Arbeitsgedächtnis relativ erhalten sind, obwohl manchmal auch dort Schwierigkeiten zu beobachten sind18) . Im Rahmen unserer Forschungsarbeiten19) haben wir longitudinal, in eineinhalb Jahren Abstand, Flexibilität und Arbeitsplanung bei 24 6-15-jährigen Kindern mit ASS untersucht. Wir benutzten zwei Sub-Tests des BADS-C20) . Der erste Sub-Test besteht im Regelnändern beim Kartenspiel und erlaubt es, die Fähigkeit des Prüflings zu testen, die Änderung trotz dem Widerspruch zwischen erster und zweiter Regel vorzunehmen (Flexibilität). Der zweite Test, der Zooplan-Test, evaluiert die Fähigkeit, einen Parcours zu planen, um die Örtlichkeiten auf dem Plan unter Einhaltung gewisser Regeln zu besuchen. Der Test der Regeländerung beim Kartenspiel deckt oft die grosse Schwierigkeit für Kinder mit ASS auf, geänderten Anweisungen zu folgen. Die meisten unter ihnen wenden nach dem Wechsel die gleiche Regel an wie zuvor, und sind unfähig, ihre Antworten anzupassen. Die Fortschritte nach eineinhalb Jahren sind minim. Kinder die versuchen, die Regeln zu ändern, sind selten. Abbildung 4 zeigt die Antworten in Abhängigkeit der vom Kind angewendeten Strategie. Die Aufgabe mit der Parcoursplanung erwies sich als extrem schwierig, gewisse Kinder besuchen alle Orte, andere starten jedesmal wieder beim Eingang, um einen neuen Ort zu besuchen (Abb. 5). Das Resultat des Tests wurde durch Subtrahieren der Fehler von den erfolgreichen Ergebnissen (unter Berücksichtigung der Vorgabe erreichte Orte) berechnet. Kinder mit ASS begingen mehr Fehler als sie Erfolge erzielten, und machten zwischen den beiden Testsitzungen keine Fortschritte. Die Planungsschwierigkeiten werden durch zahlreiche Studien belegt16),21). Sie sind ausgeprägter, wenn das Kind zusätzlich ein Intelligenzdefizit aufweist. Zu beachten ist, dass diese neuropsychologischen Tests nur wenig mit Situationen des täglichen Lebens zu tun haben. Immerhin ist zu sagen, dass diese Schwierigkeiten, eine erste Handlung auszuführen und gleichzeitig die folgenden zu planen, in verschiedenen Bereichen des täglichen Lebens ein Hindernis sein kann. Pugliese et al.21) konnten zeigen, dass die Schwierigkeiten Handlungen einzuleiten, ein Prädiktor adaptativer Funktionen ist. Die Schwierigkeit seine Aufmerksamkeit von einem Ziel abzuwenden und auf ein anderes Erste Sitzung Zweite Sitzung Korrekter Wechsel Benutzt eine der Regeln, mit andere Regel, wie einem oder abwechselnd ja mehreren Fehlern und nein sagen Wendet dieselbe Regel wie beim ersten Spiel an Keine Regel feststellbar Abbildung 5: Beispiel der Planung eines Kindes, das für den Besuch jedes Ortes immer wieder beim Eingang startet Abbildung 4: Anzahl Kinder, aufgeteilt nach Art der Reaktion auf die Änderung der Regeln beim Kartenspiel; Zeitintervall zwischen den beiden Sitzungen eineinhalb Jahre 32 Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 zu richten, könnte ein Ansatzpunkt sein, um die Eigenartigkeit der bei Autisten beobachteten Verhaltensweisen zu verstehen, insbesondere repetitive und stereotype Verhalten und gestörte soziale Kommunikation21),22) . Diese Fähigkeit ist in zahlreichen Situationen des täglichen Lebens notwendig (z. B. Problemlösung, Änderungen tolerieren und sich ihnen anpassen, von einem Gesprächsthema oder einer Aktivität zur anderen wechseln, gemeinsames Spielen usw.). Es muss unterstrichen werden, dass die Störung der Flexibilität bei Autismus ohne Intelligenzminderung geringer ist21) . Die Impulskontrolle ist eine der exekutiven Funktionen die, im Gegensatz zu Planung und Flexibilität, wenig gestört scheint. Die diesbezüglichen Studien sind jedoch umstritten. Einige Studien zeigen, dass die Impulshemmung bei Menschen mit ASS erhalten ist, während andere Störungen ab dem frühesten Kindesalter nachweisen16) . Wie die Impulskontrolle wurde das Arbeitsgedächtnis lange Zeit als eine bei Autismus erhaltene Funktion betrachtet. Verschiedene Studien unterstreichen jedoch ein nicht optimales Funktionieren. Das Arbeitsgedächtnis soll prädiktiv in Bezug auf Kommunikationsfähigkeit und Geschicklichkeit im täglichen Leben sein21) . Exekutive Funktionen spielen in der tagtäglichen Funktionsweise sowohl im Kindes- als im Erwachsenenalter eine vorherrschende Rolle. Obschon der IQ das Lösen von Aufgaben, die exekutive Funktionen evaluieren, positiv beeinflusst, und als Indikator für soziale und kommunikative Kompetenz herangezogen werden kann, stellen die exekutiven Funktionen den besten Prädiktor für die Entwicklung dieser Fähigkeiten dar21),16) . Was bringt es dem Pädiater? Die hier beschriebenen neurokognitiven Besonderheiten erlauben es, diagnostische Verhaltensweisen von Kindern mit ASS früh zu erkennen. Ebenso können damit ihr Verlauf beurteilt und entsprechende Betreuungsmassnahmen in die Wege geleitet werden. Es ist für Eltern oft schwer, mit sensorischen Schwierigkeiten umzugehen. Das Verstehen, dass es sich weder um eine Laune noch ein Erziehungsproblem handelt, kann dem Pädiater helfen, mit den Eltern nach Lösungen zu suchen, diese Schwierigkeiten zu umgehen. Beim Kleinkind können z. B. Schutzvorrichtungen gegen schmerzhafte sensorische Reize sinnvoll sein. Dies erfordert eine sensorische Abklärung, die durch Ergotherapeuten durch- geführt werden kann. So können für das Kind erträgliche Begleitumstände gewählt werden, wie weniger reizende Kleider oder weniger störende Pflegehandlungen, oder es kann eine Desensibilisierung vorgenommen werden. Auch sollte die sensorische Funktion vermehrter Reizsuche untersucht werden. Sie können für das Kind gefährlich sein und erfordern Vorkehrungen, um das Kind dazu zu bringen, weniger gefährliche Reize mit derselben Funktion zu suchen. Es ist z. B. besser, eine Schaukel einzurichten, als dass sich das Kind auf nicht dafür vorgesehenen Gegenständen schaukelt. Die im Zusammenhang mit Informationsverarbeitung und globalem Umweltverständnis auftretenden Schwierigkeiten müssen zweifellos berücksichtigt werden und verlangen das Einführen entsprechender Anpassungen. Grundlegende Anpassungen sind visuelle Anhaltspunkte, Klarstellung der wesentlichen Umweltelemente, Einführen eines Programmes, um das Erlernte progressiv zu generalisieren. Ein vermindertes Interesse für gewisse Aspekte in seinem Umfeld muss respektiert werden, kann aber kanalisiert werden, indem es z. B. nur für begrenzte Zeitabschnitte zugelassen wird. Die Unfähigkeit sozialer Interaktionen, wie das Verstehen von Gefühlsregungen und ToM, aber auch eine verzögerte Entwicklung der Kommunikation führen bei diesen Kindern zu grossen Schwierigkeiten. Es ist wichtig, ihnen rasch alternative Kommunikationsmittel zur Verfügung zu stellen; dies ermöglicht anschliessend Massnahmen, die ihnen ihr soziales Umfeld besser verständlich machen, indem man sie lehrt, Gefühle und dann das Verhalten ihres Gegenüber zu interpretieren. Schwierigkeiten im Zusammenhang mit den exekutiven Funktionen Planung und Flexibilität können deutlich durch visuelle Strukturierung des Tagesablaufes und der Aktivitäten des Kindes vermindert werden. Diese wenigen, nicht umfassenden Empfehlungen zeigen, wie wichtig es ist, die neurokognitiven Besonderheiten des Autismus zu verstehen, um Eltern und Fachleuten Massnahmen und Anpassungen vorschlagen zu können, die eine günstigere Entwicklung möglich machen. 33 Referenzen 1) American Psychiatric Association. Manuel diagnostique et statistique des troubles mentaux (DSM-5). Paris: Elsevier-Masson, 2015. 2) Grandin T. Ma vie d’autiste. Paris: Odile Jacob, 1986. 3) Blanco P. Accompagnement d’une personne autiste en traitement oncologique. Autisme 2008; 13: 11. 4) Ausderau KK, Furlong M, Sideris J, Bulluck J, Little LM, Watson LR, … Baranek GT. Sensory subtypes in children with autism spectrum disorder: latent profile transition analysis using a national survey of sensory features. Journal of Child Psychology and Psychiatry 2014; 55(8): 935-44. 5) Happé F, Frith U. The weak coherence account: Detail-focused cognitive style in autism spectrum disorders. Journal of Autism and Developmental Disorders 2006; 36: 5-25. 6) Plaisted K, O’Riordan M, Baron-Cohen S. Enhanced Visual Search for a Conjunctive Target in Autism: A Research Note. Journal of Child Psychology and and Psychiatry 1998; 39: 777-83. 7) Mottron L, Dawson M, Soulières I, Hubert B, Burack J. Enhanced Perceptual Functioning in Autism: An Update, and Eight Principles of Autistic Perception. Journal of Autism and Developmental Disorders 2006; 36(1): 27-43. 8) Bowler DM, Gaigg, Gardiner JM. Free Recall Learning of Hierarchically Organised Lists by Adults with Asperger’s Syndrome: Additional Evidence for Diminished Relational Processing. Journal of Autism and Developmental Disorders 2009; 39: 589–95. 9) Vermeulen P, Degrieck S. Mon enfant est autiste. Un guide pour parents, enseignants et soignants. Louvain-la-Neuve: De Boeck, 2013. 10)Baron-Cohen S. La cécité mentale. Grenoble: Presses Universitaires de Grenoble, 1998. 11)Kimhi Y. Theory of mind abilities and deficits in autism spectrum disorders. Topics in Language Disorders 2014; 34(4): 329-43. 12)Thommen E, Bulgarelli D, Cattelan C, Di Fulvio A, Foudon N, Molina P, Rossini E, Rudelli N, Salomone E. L’évolution de la cognition sociale chez les enfants avec un trouble de l’autisme: approche développementale mixte. A.N.A.E., 2016; 28(144): 52737. 13)Pons F, Harris P. Test of Emotion Comprehension – TEC. Oxford: University of Oxford, 2000. 14)Blijd-Hoogewys EMA, Huyghen A-MN, van Geert PLC, Serra M, Loth F, Minderaa RB. Het ToM Takenboek: constructie en normering van een instrument voor het meten van ‘theory of mind’ bij jonge kinderen. Nederlands Tijdschrift voor de Psychologie en haar Grensgebieden 2003; 58 (2): 19-33. 15)Howling P, Baron-Cohen S Haldwin, J. Apprendre aux enfants autistes à comprendre la pensée des autres: guide pratique. Bruxelles: De Boeck, 2010. 16)Hill EL. Executive dysfunction in autism. Trends in cognitive sciences 2004; 8(1): 26-32. 17)Kenworthy L, Yerys BE, Anthony LG, Wallace GL. Understanding executive control in autism spectrum disorders in the lab and in the real world. Neuropsychology review 2008; 18(4): 320-38. 18)Christ SE, Holt DD, White DA, Green L. Inhibitory control in children with autism spectrum disorder. Journal of autism and developmental disorders 2007; 37(6): 1155-65. Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 19)Thommen E, Cartier-Nelles A, Guidoux A, Wiesendanger S. Les particularités cognitives dans le trouble du spectre de l’autisme: la théorie de l’esprit et les fonctions exécutives. Swiss Archives of Neurology and Psychiatry 2014; 165(8): 290-7. 20)Emslie H, Wilson FC, Burden V, Nimmo-Smith I, Wilson BA. Behavioural assessment of the dysexecutive syndrome in children (BADS-C). London, U.K.: Harcourt Assessment, 2003. 21)Pugliese CE, Anthony L, Strang JF, Dudley K, Wallace GL, Kenworthy L. Increasing adaptive behavior skill deficits from childhood to adolescence in autism spectrum disorder: Role of executive function. Journal of autism and developmental disorders 2015; 45(6): 1579-87. 22)Faja S, Dawson G, Sullivan K, Meltzoff AN, Estes A, Bernier R. Executive function predicts the development of play skills for verbal preschoolers with autism spectrum disorders. Autism Research 2016; 9(12): 1274-84. Korrespondenzadresse Prof. Evelyne Thommen Haute école de travail social et de la santé, EESP, Lausanne et Université de Fribourg HES-SO, Haute école spécialisée de Suisse occidentale, University of Applied Sciences and Arts, Western Switzerland Ch. des Abeilles 14, CH – 1010 Lausanne [email protected] Die Autoren haben keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. 34 Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Partnerschaftliches Modell bei der Begleitung eines Kindes mit einer Autismus-Spektrum-Störung Nadia Chabane, Lausanne Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Einführung Jedes hundertste Kind ist von einer AutismusSpektrum-Störung (ASS) betroffen. Berücksichtigt man diese international anerkannte Prävalenz1) , dann wären in der Schweiz ca. 80 000 Personen betroffen. Bezieht man Eltern, Geschwister und nahe Verwandte ein, dann berührt diese Problematik weit über 250 000 Menschen in ihrem täglichen Leben. Ohne angebrachte Betreuung ab der frühesten Kindheit erfordert die schwere und chronische Behinderung durch ASS (Autonomieverlust und gestörte Sozialisierung) eine oft sehr belastende Begleitung bis ins Erwachsenenalter. Diese Störungen stellen heute ein echtes gesundheitspolitisches Problem dar, unterstrichen durch die Tatsache, dass die Betroffenen (Familien und Vereinigungen) sich aktiv für die Umsetzung validierter, in Europa und international empfohlener Betreuungsstrategien einsetzen2) . Das Fehlen eines allgemeinen Zugangs zu solchen Strategien, in der Schweiz wie in anderen europäischen Ländern, stellt angesichts der aktuellen diagnostischen Kenntnisse und verfügbaren Betreuungsmodellen ein Paradox dar. Die sich aus unangemessenen Massnahmen ergebenden menschlichen und wirtschaftlichen Kosten sind beträchtlich. Ungeeignete Massnahmen haben oft eine Verschlimmerung der Behinderung zur Folge, mit schweren Verhaltensstörungen und, damit verbunden, erheblichen Schwierigkeiten der Gesundheits-, Erziehungs- und Bildungssektoren, darauf einzugehen (Schulausschluss, Versagen der Aufnahmestrukturen, langdauernde, dieser Art Behinderung nicht angepasste Aufnahmen in psychiatrischen Abteilungen). Diese Situation verlangt, dass die Betreuung dieser Störungen von allen betroffenen Partnern (Kleinkindererziehung, Schule, Gesundheitssektor usw.) heute überdacht werden muss. Dies bedingt vorerst eine Sensibilisierung bezüglich Besonderheiten der ASS aller, die an der Betreuung der betroffenen Kinder beteiligt sind (z. B. Erkennen der Zeichen, Kenntnis bewährter Verfahren usw.), um diese Störungen mit einer gemeinsamen Sprache anzugehen. Allen beteiligten Fachleuten sollte auch eine vertiefte, spezifische Ausbildung zu Betreuungsmodellen und Anpassung ihrer Praxis im täglichen Umfeld der Betroffenen angeboten werden, in Funktion ihrer Kompetenzbereiche (z. B. Verhaltensmodelle für spezialisierte Erziehungsstrukturen, spezifische logopädische Rehabilitationstechniken für Kommunikation usw.). Globales Betreuungsmodell von ASS Internationale Konsensuskonferenzen und Forschungsarbeiten (insbesondere aus Grossbritannien, Frankreich und Belgien) 2) , welche die Prinzipien evidenzbasierter Praxis respektieren, empfehlen heute bei der Betreuung von Personen mit ASS unmissverständlich Vorgehensweisen, die bei der Betreuung von Personen mit ASS, die folgende Punkte integrieren: - Erkennung mit 18 Monaten und Frühdiagnose vor dem Alter von 36 Monaten; die Diagnose soll auf einer funktionellen und pluridisziplinären medizinischen Abklärung beruhen - Frühintervention mit Programmen, deren Wirksamkeit wissenschaftlich validiert wurde - Regelmässig evaluierte individuelle Erziehungsprogramme - Einschulung in angepassten pädagogischen Strukturen - Unterstützung bei der Sozialisierung in allen Lebenssituationen, entsprechend dem Funktionsniveau der Person mit ASS. Logopädische Betreuung zur spezifischen Rehabilitation der verbalen und nonverbalen Kommunikation sowie durch Psychomotorik, um Fein- und Grobmotorik und Sensorik zu fördern, gehören meist zu den Betreuungsstrategien von Kindern mit ASS. 35 Eine wesentliche Rolle spielt das Alter, in welchem diese Massnahmen ergriffen werden. Intensive Intervention beim sehr jungen Kleinkind mit ASS (im Alter von 12–18 Monaten), wie dies heutzutage in verschiedenen europäischen Ländern, den USA, in Kanada und Australien im Rahmen wissenschaftlich evaluierter Programme (ABA, ESDM) der Fall ist, wird als bestes Mittel betrachtet, um Entwicklung und Kompetenzen des Kindes zu optimieren und damit eine bestmögliche soziale Integration zu erreichen. Mehrere randomisierte Studien3)-6) bestätigen eine klinisch signifikant positive Entwicklung in Bezug auf kognitive Funktionen, Kommunikation und soziale Anpassungsfähigkeit nach 2–3 Jahren intensiver Intervention. Die frühzeitige strukturierte Intervention setzt erhebliches Fachwissen und Kontrolle der Vorgehensweisen voraus. Sie muss deshalb von kompetenten, entsprechend ausgebildeten und supervisierten Fachpersonen umgesetzt werden. Bildung und Beteiligung der Eltern sind wesentliche Faktoren für eine positive Entwicklung. Das Programm seinerseits muss laufend evaluiert und angepasst werden, um den individuellen Bedürfnissen des Kindes gerecht zu werden. Gesamthaft ist festzuhalten, dass dieses Vorgehen ein dauerndes Anpassen der Methode voraussetzt, entsprechend den aktuellen Empfehlungen, die alleine die Qualität der Betreuung und die Überwachung deren Wirksamkeit gewährleisten. Unabhängig vom Alter des Kindes muss die Wahl von Methodik und Hilfsmitteln (die sich in dauernder Entwicklung befinden), auf Grund rigoroser Kriterien betreffend Wirksamkeit und Fehlen von Nebenwirkungen, sowie allgemeinem Konsens stattfinden. In einem so sensiblen Bereich müssen die Good Practice-Empfehlungen regelmässig und in Übereinstimmung mit den wissenschaftlichen Erkenntnissen angepasst werden. Von der Diagnose bis zur globalen Betreuung betreffen die eingesetzten Massnahmen eine grosse Anzahl Fachleute, deren Fachwissen sich ergänzen und gegenseitig bereichern muss, um eine gemeinsame Sichtweise der Betreuung von Kind und Familie zu entwickeln. Von der Abklärung zum personalisierten Betreuungsplan des Kindes: Eine Partnerschaft von Spezialisten der Diagnostik und Spezialisten der Betreuung Die diagnostische Evaluation von Entwicklungsstand und Gesundheit des Kindes ermöglicht es, Interventionsstrategien und Be- Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung handlungsziele zu definieren. Es handelt sich um eine entscheidende Phase, in welcher die Zusammenarbeit der verschiedenen Partner wesentlich ist. Die diagnostischen und funktionellen Befunde müssen mit den betreuenden Personen aus den medizinischen, paramedizinischen, pädagogischen und erzieherischen Fachbereichen ausgetauscht werden. Im gegenteiligen Fall sind diese Abklärungen, und seien sie noch so ausgearbeitet, von geringem Nutzen. Nur der gegenseitige Informationsund Gedankenaustausch ermöglicht dem betreuenden Team, einen personalisierten Betreuungsplan zu erstellen. Abklärungen und therapeutische Massnahmen müssen vernetzt sein. Pädagogisches Schulteam, Kinderarzt, Logopädin, Kinderpsychiater oder Psychologin müssen über dieselben Infor­ mationen das Kind, den Betreuungsplan und die gesteckten Ziele betreffend verfügen. Evaluationen werden gemeinsam durchgeführt und ebenso notwendige Anpassungen zur besseren Förderung des Kindes gemeinsam beschlossen. Dieses synergistische Modell schliesst ein sektorielles Vorgehen aus und bevorzugt eine partnerschaftliche transdisziplinäre Vision, und bedingt eine enge Koordination und eine Kultur des Austausches, die verallgemeinert werden muss. Der Behandlungsplan muss demnach idealerweise durch Familie, Diagnose- und Betreuungsteam gemeinsam umrissen werden. Er ist dynamisch und die vorerst auf der initialen Abklärung beruhenden und auf das Kind abgestimmten Massnahmen müssen, auf Grund regelmässiger Evaluationen (im Allgemeinen jährlich) und insbesondere bei wichtigen Meilensteinen (Schuleintritt oder -wechsel, Adoleszenz und Übergang ins Erwachsenenalter usw.) laufend angepasst werden. ASS sind nicht statisch und der Behandlungsplan muss der Entwicklung und dem Potential des Kindes folgen (Abb. 1 und 2). Der individuelle Behandlungsplan soll Kohärenz und Kontinuität von Entwicklung und Lebenslauf des betroffenen Kindes gewährleisten. Es müssen der Beitrag aller daran Teilhabenden sowie die Modalitäten der Koordination festgehalten werden, und ebenso welche Fachperson (Kinderarzt, Kinderpsychiater usw.) die Rolle des Koordinators übernehmen wird. Personalisierte Massnahmen: Partnerschaft zwischen betreuenden Fachleuten Globales Vorgehen kann nicht in einem Aneinanderreihen erzieherischer, pädagogischer, Vol. 28 Nr. 2 2017 Abbildung 1: Betreuumg von Kind und Familie sonderpädagogischer oder psychologischer, heterogener und eklektischer Massnahmen bestehen. Es setzt die Koordination aller an der Betreuung des Kindes beteiligten Akteure voraus. Der «integrative» Charakter des Behandlungsplanes berücksichtigt die Bedürfnisse und das Potential von Kind und Familie sowie die eingangs durchgeführten Evaluationen. So gibt es denn kein «globales Modell» für die Betreuung von ASS, sondern vielmehr individuell angepasste, «massgeschneiderte» Modelle, die den Eigentümlichkeiten jedes Kindes entsprechen. Die Betreuung wird durch ein Team erfahrener Fachpersonen, mit regelmässiger Fortbildung und Supervision, durchgeführt, die dem Kind gegenüber eine gemeinsame Sprache und Interaktion benutzen. In Übereinstimmung mit aktuellen internationalen Empfehlungen gründen die Interventionen dem Kind gegenüber auf erzieherischen, Verhaltens- und Entwicklungsansätzen. Sie sind ausgerichtet auf Kommunikation, Sprache, Imitation, Spiel, soziale Interaktion, motorische Organisation, Planung von Handlungen, Anpassungsfähigkeit im täglichen Leben, und beinhalten Strategien, um Verhaltensstörungen vorzubeugen oder deren Folgen zu mindern. Es wird ebenfalls auf emotionale und sensorielle Aspekte Rücksicht genommen. Die Intervention setzt voraus, dass kurz- und mittelfristig zu erreichende funktionelle Ziele 36 festgelegt werden. Diese Ziele müssen regelmässig in Zusammenarbeit mit der Familie sowie den für die Supervision Verantwortlichen evaluiert und angepasst werden. Diese Ziele sind im Allgemeinen dann erreicht, wenn das Kind fähig ist, das Gelernte auf neue Situationen, in neuer Umgebung und gegenüber verschiedenen Personen zu verallgemeinern (z. B. einer anderen Person als Eltern oder Erziehern eine Frage stellen). Derzeit durch Konsenskonferenzen empfohlene Interventionen sind Verhaltens- und Entwicklungsmodelle sowie strukturierte Erziehung (Abb. 3): •VERHALTEN: Angewandte Verhaltensanalyse (Applied Behavior Analysis ABA) 7) •ENTWICKLUNG: Early Start Denver Model (ESDM) für Kinder unter 4 Jahren3) •STRUKTURIERTE ERZIEHUNG: Behandlung und Bildung für autistische und ähnlich kommunikations-beeinträchtigte Kinder (TEACCH) 8) Die Verwendung unterstützender und alternativer Kommunikationsmittel zur Förderung des Sprachverständnisses, als Alternative zur gestörten verbalen Funktion des Kindes, muss mit Begleitstrategien kombiniert werden, z. B. PECS (Picture Exchange Communication System, lori Frost und Andrew Bondy), ein Mittel zur Kommunikation durch Austausch von Ab- Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Abbildung 2: Personalisierter Betreuungsplan bildungen. Das non-verbale Kind soll mit Hilfe dieses Kommunikationsmittels lernen können, durch den Bilderaustausch mit seinem Gegenüber etwas anzufordern (einen Gegenstand oder eine Aktivität wünschen). In einem zweiten Schritt wird das Kind lernen, mit Hilfe von PECS Sätze zusammenzustellen, Attribute zu verwenden und weitere Sprachmittel, wie Fragen und Antworten, Kommentare machen usw. einzusetzen. Das Hilfsmittel fördert die Entwicklung der verbalen Sprache9). Diese verschiedenen Ansätze schliessen sich nicht aus, und die Betreuungsteams können je nach den Bedürfnissen und Eigentümlichkeiten des Kindes, z. B. Verhaltensstrategien wie ABA mit einer von TEACCH inspirierten Strukturierung seines Umfeldes kombinieren. Die Qualität des affektiven, emotionellen Erlebens der Person mit ASS ist ein zentrales Anliegen der betreuenden Fachleute. Auch muss die Beziehung zu Familie und weiterem Umfeld erfasst werden. Eine vermehrte Erforschung dieser systemischen Aspekte (im weitesten Sinne des Wortes) wäre besonders wünschenswert, um ihre Anwendung bei der Betreuung von Menschen mit ASS zu verfeinern. der Eltern getragen, welche die Kohärenz der Interaktionen mit ihrem Kind gewährleisten und ihm das Generalisieren des Gelernten ermöglichen11) . Es ist wünschenswert, den Familien die Möglichkeit einer Begleitung anzubieten, ohne sie aufzudrängen, in Form eines Erziehungsprogrammes und indem sie an den Sprechstunden ihres Kindes teilnehmen. Es können den Eltern je nach Bedarf verschie- Partnerschaft Familie – betreuende Fachleute Die Betreuung von Personen mit ASS muss global betrachtet und unter Einschluss der Familie koordiniert werden. Die Familie nimmt in jeder Phase, von der Diagnostik bis zur Erstellung und Durchführung des Behandlungsplanes eine zentrale Stellung ein. Richtigkeit und Wirksamkeit der beschlossenen Massnahmen werden durch die unmittelbare Präsenz Abbildung 3: Empfohlene Ansätze 37 dene Begleitungsmodelle angeboten werden (Abb. 4). Geschwister sollten nicht vergessen werden. Sie sind oft die ersten oder einzigen «Gleichaltrigen», die ihr Geschwister mit ASS durch gemeinsames Spielen stimulieren, und so Lernprozesse, Sozialisierung und die Freude an gemeinsamen Aktivitäten fördern. Es kann für sie schwierig sein, mit einem Geschwister zu leben, dessen Verhalten sie nicht immer verstehen und mit dem sie vermehrt zu kommunizieren wünschten. Sie können auch ein Gefühl des Verlassenseins erleben, durch Eltern die sich intensiv für das Geschwister mit ASS einsetzen. Es können ihnen begleitende Massnahmen vorgeschlagen werden, je nach Kontext, Bedürfnis und Erwartungen (Abb. 5). Der Einbezug der Familie ist demnach wesentlich, um Entwicklung und Wohlbefinden des Kindes mit ASS und das Gleichgewicht der Familie zu gewährleisten. Eltern sind Entwicklungs- und Verhaltensexperten ihres Kindes. Sie sind wesentliche Partner bei allen Betreuungsangeboten und gewährleisten zu einem wesentlichen Teil die Kontinuität der Betreuung. Enge Zusammenarbeit (Anhören, Austausch, gemeinsames Planen usw.) ist anfangs bei der Diagnostik und anschliessend bei Planung und regelmässiger Evaluation der individuell angepassten Betreuung unumgänglich. Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Referenzen Abbildung 4: Betreuung der Familie Schlussfolgerung Jeder Mensch mit ASS kann, unabhängig von seinem Alter, eine positive Entwicklung erfahren, in unterschiedlichem Masse und unter Berücksichtigung seiner Besonderheiten, und unter der Bedingung, dass die angebotenen Interventionen seinen Bedürfnissen, Schwierigkeiten und Möglichkeiten angepasst werden. Die Betreuung muss als individualisiertes Programm betrachtet und, ausgehend von den anfangs festgelegten Zielen, laufend aktualisiert werden. Das Programm beruht auf einem ersten funktionellen Befund der Kompetenzen. Der Erfolg beruht weitgehend auf der Koordi- nation der Fachleute unter sich und mit der Familie. Alle Beteiligten (Eltern, Erzieher, Lehrkräfte, Therapeuten) teilen so eine gemeinsame, langfristig abgestimmte und kohärente Strategie. Ein die verschiedenen Fachbereiche übergreifender Ansatz, der Kompartimentierung vermeidet, in welchem die Kompetenzen eines jeden dazu dienen, die Ausarbeitung eines individuell abgestimmten Betreuungsprogrammes zu schaffen, und der die Zusammenarbeit mit Kind und Familie zum Ziel hat, ein solcher Ansatz gewährleistet eine adäquate, sorgfältige und dem Verlauf angepasste Betreuung. 1) Centers for Disease Control and Prevention. Prevalence of Autism Spectrum Disorders Autism and Developmental Disabilities Monitoring Network, 14 Sites, United States, 2008, Morbidity and Mortality Weekly Report (MMWR) Surveillance Summaries, March 30, 2012 61 (SS03); 1-1. 2)HAS 2012: http://www.has-sante.fr/portail/ jcms/c_953959/fr/autisme-et-autres-troubles-envahissants-du-developpement-interventions-educatives-et-therapeutiques-coordonnees-chez-l-enfantet-l-adolescent ANESM, HAS. Autisme et autres troubles envahissants du développement: interventions éducatives et thérapeutiques coordonnées chez l’enfant et l’adolescent. Saint-Denis: ANESM, HAS, 2012. www.anesm.sante. gouv.fr/IMG/pdf/RBPP_Autisme_Anesm_HAS_2015. pdf NICE, 2011: https://www.nice.org.uk/guidance/qs51 NICE quality standards describe high-priority areas for quality improvement in a defined care or service area. Each standard consists of a prioritised set of specific, concise and measurable statements. They draw on existing guidance, which provides an underpinning, comprehensive set of recommendations, and are designed to support the measurement of improvement.This quality standard covers autism in children, young people and adults, including both health and social care services. KCE, 2014: https://kce.fgov.be/.../prise-en-chargede-l’autisme-chez-les-enfants-et-les-adolescents-unguide-de-pratiques 3) Rogers SJ, Dawson G. (2010). Early start Denver model for young children with autism: Promoting language, learning, and engagement. Guilford Press. 4) Dawson G, Rogers S, Munson J, Smith M, Winter J, Greenson et al. Randomized, controlled trial of an intervention for toddlers with autism: the Early Start Denver Model. Pediatrics 2010; 125(1): 17-23. 5) Dawson G, Jones EJ, Merkle K, Venema K, Lowy R, Faja et al. Early behavioral intervention is associated with normalized brain activity in young children with autism. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 2012; 51(11): 1150-9. 6) Rogers SJ, Estes A, Lord C, Vismara L, Winter J, Fitzpatrick A et al. Effects of a brief Early Start Denver Model (ESDM)–based parent intervention on toddlers at risk for autism spectrum disorders: a randomized controlled trial. Journal of the American Academy of Child & Adolescent Psychiatry 2012; 51(11): 1052-1065. 7) Ron Leaf et John McEachin (trad. de l’anglais par Agnès Fonbonne et Catherine Milcent), Autisme et A.B.A: une pédagogie du progrès Broché, Pearson, coll. «Psychiatrie», 13 avril 2006, 421 p. 8) Schopler E, Reichler RJ, Lansign M. Stratégies éducatives de l’autisme, Paris, Médecine et psychothérapie, Masson, 1988. 9) Frost LA, Bondy AS. Picture exchange communication system, PECS [Système de communication par échange d’images], Pyramid educational consultants, Inc. 10)Estes A, Vismara L, Mercado C, Fitzpatrick A, Elder L, Greenson J, Lord C, Munson J, Winter J, Young G, Dawson G, Rogers S. The impact of parent-delivered intervention on parents of very young children with autism. J Autism Dev Disord 2014; 44(2): 353-65. Korrespondenzadresse Prof. Nadia Chabane Centre Cantonal Autisme Les Allières Av. de Beaumont 23, CH-1011 Lausanne [email protected] Abbildung 5: Betreuung der Geschwister 38 Der Autor hat keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. Fortbildung Autismus - Spektrum - Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Früherkennung von Kindern mit Autismus-Spektrum-Störungen: Erfahrungen im Tessin Gian Paolo Ramelli, Bellinzona Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Autismus ist eine Störung der Hirnentwicklung, die sich klinisch durch die Kombination von qualitativen Anomalien im Bereiche der sozialen Kommunikation, der Sprache und ein rigides und stereotypes Verhalten auszeichnet. Wir wissen heute, dass eine frühzeitige Rehabilitationstherapie, ab dem Alter von 2 Jahren, Prognose und Lebensqualität dieser Patienten wesentlich verbessern kann. Der Grund dafür liegt in der bedeutenden Hirnplastizität, die es ermöglicht, zahlreiche Entwicklungsprozesse in diesem jungen Alter zu beeinflussen1) . Die Frühdiagnose des Autismus ist aus diesem Grund für die Zukunft des Kindes von grösster Bedeutung. Leider wird die Diagnose einer AutismusSpektrum-Störung heutzutage in den meisten Fällen insbesondere bei Kindern mit einem hohen funktionellen Potential2) immer noch spät, oftmals erst im Schulalter, gestellt. Hingegen stellen die Eltern Besonderheiten in der Entwicklung oft schon lange fest, bevor die Diagnose bestätigt wird. Die Diagnose Autismus-Spektrum-Störung (ASS) wurde im Tessin vor 2009 oft erst nach dem Alter von 4 Jahren gestellt. Dies verzögerte die möglichen therapeutischen Massnahmen und alle betroffenen Kinder wurden im Verlauf de facto in eine Kleinklasse eingeschult. Beim Kleinkind besteht die Schwierigkeit der Diagnosestellung darin, dass die Variabilität der Symptome und der Entwicklung von einem Individuum zum anderen sehr gross ist. Spezifische, regelmässig festgestellte Frühzeichen des Autismus sind Aufmerksamkeitsstörung, die Tendenz, sein Gegenüber nicht anzusehen, eingeschränkte Reaktion auf den eigenen Namen, wenig Imitationsverhalten, fehlendes funktionelles und erfinderisches Spielen und das Auftreten repetitiver Aktivitäten und spezieller Interessen. Die Entwicklung von Screening-Tests zur frühen Diagnosestellung ist deshalb wichtig, auch angesichts der Tatsache, dass keine biologischen Marker bekannt sind. Deshalb wurde der M-CHAT-Test (Modified Autism Checklist for Toddlers) bei der 2-Jahres-Kontrolle eingeführt. Beim M-CHAT müssen die Eltern 23 Fragen zur frühen Entwicklung, speziell zur Entwicklung der sozialen Interaktion beantworten3) . Ab 2009 wurden die Kinderärzte im Tessin darauf hin sensibilisiert, den M-CHAT im praktischen Alltag anzuwenden. Kinder mit einem sprachlichen Entwicklungsrückstand und pathologischen Werten im M-CHAT werden an unsere neuropädiatrische Abteilung zur weiteren, standardisierten Abklärung überwiesen. Der Tessin verfügt somit seit 2009 über systematische Daten zur Erfassung der Diagnose einer ASS im frühen Kindesalter. Aufgrund der aktuell verfügbaren internationalen Daten beträgt die Prävalenz des primären Autismus 6 Fälle auf 1000 Einwohner4) . Ausgehend von einer Einwohnerzahl von 350‘000 und 2700 Geburten jährlich, wird die jährliche Inzidenz von Kindern mit einer ASS im Tessin auf ca. 16 geschätzt. Von 2009 bis 2012 stellten wir bei 41 Kindern (33 Knaben und 8 Mädchen) die Diagnose einer ASS. Das mittlere Alter bei Diagnosestellung betrug während diesem Zeitabschnitt 3.2 Jahre. Von 2013 bis 2016 wurde Dank der Früherkennung 47 neue Fälle (38 Knaben und 9 Mädchen) in einem mittleren Alter von 2.4 Jahren diagnostiziert (Abb. 1). Die Einführung eines systematischen ASSScreenings hat somit eine frühzeitigere Betreuung dieser Patienten ermöglicht und damit die Voraussetzung einer signifikanten Verbesserung ihrer kognitiven, emotionalen und sozialen Kompetenzen. Wir haben zudem eine Beschleunigung ihrer Entwicklung und eine Verbesserung ihres Intelligenzquotienten sowie der ASS-bedingten Verhaltensweisen und Symptome beobachten können. Diese Ergebnisse sind bereits 1-2 Jahre nach Therapiebeginn feststellbar. Zudem erreicht die Grosszahl der Kinder bei Therapieabschluss ein funktionelles Sprachniveau. Abbildung 1: Die Grafik zeigt das mittlere Alter der Kinder bei Diagnosestellung. Während den ersten 4 Jahren (2009-2012) wurde der M-CHAT noch sporadisch durchgeführt und das mittlere Alter betrug 3.2 Jahre. Während der zweiten Periode (2013-2016) wurde der M-CHAT systematisch angewendet und das mittlere Alter bei Diagnosestellung sank auf 2.4 Jahre. 39 Fortbildung Autismus-Spektrum-Störung Vol. 28 Nr. 2 2017 Die frühe Intervention basiert auf einer Verhaltenstherapie nach der ABA-Methode (Applied Behavior Analysis). Es handelt sich um eine interdisziplinäre Zusammenarbeit, wobei auch logopädische und ergotherapeutische Aspekte einbezogen wurden. Die Patienten können heute in eine Regelklasse mit Unterstützung durch eine sonderpädagogisch geschulte Lehrkraft eingeschult werden. Die aktuelle Forschung zeigt, dass die Früh­ intervention eine positive Entwicklung des Kindes mit ASS ermöglicht. Dank Frühdiagnostik und –intervention besuchen im Tessin derzeit 60% der Kinder mit ASS die Regelschule. Zusammenfassend stellen wir fest, dass mit dem Einführen des M-CHAT bei der 2-JahresUntersuchung die Anzahl zugewiesenen Kinder mit Verdacht auf ASS an unserer Abteilung für Neuropädiatrie deutlich zugenommen hat. Die Anzahl erreicht praktisch die Gesamtheit der Autismuspatienten in der Tessiner Bevölkerung. Es muss zudem unterstrichen werden, dass das Screening zur Diagnose vor dem Alter von 3 Jahren und damit zur frühzeitigen Betreuung führt. Wir betrachten es deshalb als wesentlich, dass die Praxispädiater in der Lage sind, Kinder mit ASS frühzeitig zu erkennen, damit ihre Betreuung vor dem Schulalter beginnen kann. Früherkennung und –intervention sind entscheidend für die Entwicklung und damit schulische Integration des Kindes. Referenzen 1) Moulton E, Barton M, Robins DL, Abrams DN, Fein D. Early Characteristics of Children with ASD Who Demonstrate Optimal Progress Between Age Two and Four. J Autism Dev Disord 2016; 46: 2160-73. 2) Fountain C, Jing MD, Bearman PS. Age of diagnosis for autism: individual and community factors across 10 birth cohorts. J Epidemiol Community Health 2011; 65: 503-10. 3) Robins DL, Fein D, Barton ML, Green JA. The Modified Checklist for Autism in Toddlers: an initial study investigating the early detection of autism and pervasive developmental disorders. J Autism Dev Disord 2001; 31: 131-44. 4) Fombonne E. Epidemiology of pervasive developmental disorders. Pediatric Research 2009; 65: 591-8. Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Gian Paolo Ramelli Dipartimento di Pediatria EOC Servizio di Neuropediatria Ospedale San Giovanni 6500 Bellinzona. [email protected] Der Autor hat keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. 40 Fortbildung Vol. 28 Nr. 2 2017 Belastungsuntersuchungen bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler Sarah Simmen1, Emanuela Valsangiacomo Buechel1, Martin Christmann1, Zürich Einleitung Belastungsuntersuchungen stellen ein wichtiges Instrument zur Abschätzung der körperlichen Leistungsfähigkeit nicht nur von Sportlern, sondern auch von Patienten, insbesondere mit Lungen- und Herzerkrankungen, sowohl im Kindes- als auch im Erwachsenenalter dar. In der pädiatrischen Kardiologie dienen Belastungsuntersuchungen zum einen zur Beurteilung der körperlichen Leistungsfähigkeit im Verlauf nach der Behandlung eines angeborenen Herzfehlers, zum anderen auch zur Abklärung möglicher myokardialer Ischämien oder Rhythmusstörungen in der Nachsorge1) . Ziel der Belastungsuntersuchung ist eine maximale Leistungserbringung. Hierbei werden kontinuierlich und gleichzeitig verschiedene Parameter gemessen und berechnet. Belastungsuntersuchungen können als Ergometrie oder als Spiroergometrie durchgeführt werden. Bei der Ergometrie werden während zunehmender Last (meist gemessen in Watt) die Vitalparameter (Blutdruck, Herzfrequenz, periphere Sauerstoffsättigung) zusammen mit einer EKG-Ableitung (in der Regel 12-KanalEKG) dokumentiert. Bei der Spiroergometrie werden zusätzlich durch ein Mundstück oder eine Maske die Sauerstoffaufnahme (VO2 ) und CO2 -Abgabe (VCO2 ) gemessen; somit wird das pulmonale System unter Belastung mitbeurteilt2) . Bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler beeinflussen einerseits die Physiologie des Herzfehlers, andererseits die resultierende Hämodynamik nach der operativen Korrektur die Leistungsfähigkeit. Für die rechtzeitige Erkennung einer Verschlechterung der Leistungsfähigkeit sollten bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler spiroergometrische Belastungsuntersuchungen in der kardiologischen Nachsorge seriell durchgeführt werden. Grundlagen der Spiroergometrie Hauptfunktion des kardiovaskulären Systems ist die ausreichende Sauerstoffbereitstellung für den Körper. Hierfür bedarf es eines engen Zusammenspiels von verschiedenen, am Sauerstofftransport und -metabolismus beteiligten Organsystemen (Abb.1). Der Gasaustausch von Sauerstoff (O2 ) und Kohlendioxid (CO2 ) wird über eine adäquate Lungenfunktion aufrechterhalten. Der Transport des mit Sauerstoff beladenen Blutes (gebunden an Hämoglobin in den Erythrozyten) benötigt ein funktionierendes zirkulatorisches System, bestehend aus der Blutpumpe Herz sowie dem Gefässsystem. In den sauerstoffabhängigen Endorganen wird Sauerstoff während des aeroben Stoffwechsels zu ATP, dem Energieträger unserer Körperzellen, metabolisiert. Letztendlich wird die gewonnene Energie in Leistung/Bewegung durch Muskelarbeit umgesetzt. Um unter Anstrengung vermehrte Arbeit leisten zu können, ist ein in allen Teilbereichen dieser Kaskade funktionierendes System notwendig. Einschränkungen auf einer oder mehrerer Ebenen können zu einer eingeschränkten körperlichen Leistungsfähigkeit führen. Die Spiroergometrie misst neben den sich verändernden Vitalparametern (z. B. Herzfrequenz, Blutdruck, Atemfrequenz, Sauerstoffsättigung) auch die Veränderung von Sauerstoff- und CO2 -Gehalt in Inspiration und Exspiration und korreliert diese zu der erbrachten Leistung. Weitere, unten beschriebene Parameter werden durch moderne Spiroergometrie-Geräte zusätzlich berechnet. Indikationen, absolute Kontraindikationen und Abbruchkriterien Tabelle 1 gibt einen Überblick über Indikationen und Kontraindikationen und zeigt Abbruchkriterien einer Belastungsuntersuchung. Detaillierte Listen von Kontraindikationen sowie Abbruchkriterien bei Belastungstests wurden unter anderem von der American Thoracic Society (ATS) publiziert1),3) ,4). Durchführung Spiroergometrien bei Kindern müssen von einem erfahrenen Team durchgeführt und überwacht werden. Speziell bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler wird die Anwesenheit eines Kinderkardiologen empfohlen5),6) . Das Team soll mit Notfall- und Reanimationssituationen vertraut sein, auch wenn die Spiroergometrie eine sichere Untersuchung mit nur geringen Risiken für die Probanden darstellt4),5) . Um eine erfolgreiche Durchführung sicherzustellen, müssen Kinder vor der Untersuchung mit den Abläufen vertraut gemacht werden. Ferner ist bei Kindern zu beachten, dass sie emotional unreif sind und sie daher Ermutigung und positive Unterstützung vom Betreuungsteam brauchen, um die erwünschte Leistung zu erbringen5) . Belastungsuntersuchung können auf einem Laufband oder Fahrradergometer durchge- Indikationen Absolute Kontraindikationen Abbruchkriterien - - - - - - Akuter, fieberhafter Infekt - Akuter Myokardinfarkt oder Instabile Angina pectoris - Akuter Asthmaanfall - Akute Myokarditis - Unkontrollierte schwere Hypertonie - Akute Entgleisung einer Stoffwechselstörung - Subjektive Erschöpfung - Auffällige Blässe -Dyspnoe -Schwindel -Kopfschmerzen - Angina pectoris - Unphysiologische Blutdruck- oder Herzfrequenzantworten - Signifikante Herzrhythmusstörungen - Erregungsleitungs- oder Erregungsrückbildungsstörungen Beurteilung der Belastungstoleranz und - intoleranz Präoperatives Hilfsmittel für die Indikation eines Eingriffes Erfassung von Herzrhythmusstörungen und Myokardischämien bei Belastung Abklärung belastungsabhängiger Symptome Überprüfung der Effektivität einer eingelei- teten Therapie Tabelle 1. Indikationen, Kontraindikationen und Abbruchkriterien von Belastungsuntersuchungen1),3),4) Abteilung Kardiologie, Kinder-Herzzentrum, Universitäts-Kinderklinik, Zürich 1 41 Fortbildung führt werden. Der Untersuchungszeitraum beträgt idealerweise 6–12 Minuten. Eine längere Untersuchung kann aufgrund nachlassender Motivation oder Aufmerksamkeit zu einem Abbruch des Tests vor Erreichen der maximalen Leistung führen7) . Die gesamte Untersuchung erfolgt unter kontinuierlicher Überwachung von Herzrhythmus und Vitalparametern. Bei der Spiroergometrie atmet der Proband durch ein Mundstück oder eine Gesichtsmaske, mit einem darin eingebauten Filter, der stetig die O2 - und CO2 -Werte der Ein- und Ausatmungsluft misst. Anhand der erhobenen Messwerte können weitere Parameter direkt durch das Gerät berechnet werden. Laufband vs. Fahrradergometer Sowohl für Laufband als auch Fahrradergometer gibt es Vor- und Nachteile hinsichtlich der Anwendung in der pädiatrischen Kardiologie. Auf dem Laufband können bereits sehr kleine Kinder untersucht werden. Diesen wird zusätzlich ein Gurt angelegt, welcher an einem Seil befestigt ist und sie vor einem Sturz schützt. In der Literatur sind Spiroergometrien ab dem 3. Lebensjahr beschrieben7) . Eine gewisse motorische Reife wird in diesem Fall vorausgesetzt. Die Erfahrung zeigt jedoch, dass diese individuell sehr unterschiedlich ist und selten bereits bei 3-jährigen Kindern ausreicht. Ein weiterer Vorteil des Laufbandes liegt in der den Kindern vertrauten Bewegung, welche im Vergleich zum Fahrradergometer die Arbeit einer grösseren Muskelmasse verlangt und bei der mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit das kardiovaskuläre System den limitierenden Faktor der Leistungserbringung darstellt7). Die Vol. 28 Nr. 2 2017 5–10% höheren VO2max-Werte, die erreicht werden, stellen gegenüber dem Fahrradergometer ebenfalls einen Vorteil dar7) . Anders als beim Laufband ist die Arbeitslast auf dem Fahrradergometer gewichtsunabhängig, was bei adipösen Patienten als wichtiger Vorteil angesehen wird5). Zudem wird auf dem Fahrradergometer aufgrund der kleineren Oberkörperbewegungen der Blutdruck zuverlässiger gemessen und das EKG weist weniger Artefakte auf. Protokoll Es existieren verschiedene Belastungsprotokolle. Man unterscheidet zwischen Stufenund Rampenprotokollen. Bei Stufenprotokollen (wie z. B. dem Bruce-Protokoll) wird die Belastung stufenweise erhöht, wobei die Stufendauer meist 3 Minuten beträgt. Rampenprotokolle zeichnen sich durch eine sehr kurze Stufendauer aus, was für die Bestimmung der anaeroben Schwelle von Vorteil ist7). Abbildung 2 zeigt schematisch den Unterschied von Rampen- und Stufenprotokollen. Parameter Entsprechend Abbildung 1 erfordert die Leistungserbringung auch bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler ein enges Zusammenspiel zwischen den Systemen Atmung, Herzkreislauf und dem End-Organ Muskel. Die im Rahmen der Leistungsdiagnostik mittels Spiroergometrie gewonnen Parameter versuchen möglichst genau dieses Zusammenspiel zu charakterisieren. Graphisch werden von den modernen Spiroergometriegeräten die Messwerte in der 9-Felder-Tafel nach Wassermann dargestellt8) . In der Folge werden die in der Beurteilung von Kindern mit einem angeborenen Herzfehler relevantesten Parameter zusammengestellt und Limitationen und Einflussfaktoren auf die Untersuchung benannt. Herzfrequenz Die Herzfrequenz steigt bei gesunden Probanden während Belastung beinahe linear mit steigendem Sauerstoffverbrauch an. Gut trainierte Probanden zeigen einen verzögerten Anstieg der Herzfrequenz. Im Gegensatz dazu haben untrainierte Probanden oder Patienten mit Herzinsuffizienz oft einen schnelleren Herzfrequenzanstieg4) . Das Verhalten der Herzfrequenz bei Kindern wurde in verschiedenen Studien untersucht. Die Antwort der Herzfrequenz bei Kindern ist unabhängig vom Alter und Geschlecht und variiert mit der Methode der Belastung7),10) . Werden Herzfrequenzwerte bei Fahrradbelastungen von 195/min und bei Laufbandbelastungen von 200/min erreicht, so wird dies als Ausbelastung betrachtet11) . Nach Beendigung einer Belastung sinkt die Herzfrequenz exponentiell ab, man spricht von der «Heart rate-Recovery» (HRR)12) . Die Herzfrequenz erholt sich schneller bei jüngeren Kindern, Knaben und nicht übergewichtigen Kindern13) . Herz Patienten hingegen zeigen häufig eine verzögerte HRR12) . Singh et al. zeigten, dass ein 12-wöchiges Rehabilitationsprogramm bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler zu einer deutlichen Besserung der HRR führte, ohne dass immer eine Steigerung der Leistung (gemessen an VO2max, s. unten) beobachtet wurde12) . Somit könnte eine adäquate HRR ein erstes Zeichen für eine verbesserte kardiovaskuläre Antwort darstellen. Blutdruck Physiologisch steigt der Blutdruck unter Belastung an und fällt nach Belastung wieder ab9) . Bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler kann der Blutdruckanstieg unzureichend sein. Ursachen können eine Aortenklappenstenose oder auch eine eingeschränkte linksventrikuläre Funktion sein. Bei Aortenklappeninsuffizienzen kann es durch den erhöhten O2 -Bedarf des Myokards bei Belastung und dem durch die Insuffizienz bedingten relativen Minderangebot (in der Diastole) unter Belastung zu Ischämiezeichen (klinisch und im EKG) kommen. Abb. 1: Zusammenspiel der Organsysteme im Rahmen der O2 -Aufnahme und CO2 -Abgabe 42 Maximale Sauerstoffaufnahme/peak VO2 Die maximale Sauerstoffaufnahme während der Belastung ist der wichtigster Messwert für Fortbildung Vol. 28 Nr. 2 2017 Zunahme entsteht durch vermehrt anfallendes Laktat oberhalb der anaeroben Schwelle, welches durch Bikarbonat gepuffert und als CO 2 abgeatmet wird. Die «ventilatorx equivalents»-Methode berechnet VAT mittels des Verhältnisses der Atemminutenvolumen und der VO2 -Kurve1) . Wird die anaerobe Schwelle bei einer Belastung erreicht, so kann davon ausgegangen werden, dass ein kardialer Faktor für die Limitierung des Tests verantwortlich war1) . Abb. 2: Schematische Darstellung von (A) Stufen- und (B) Rampenprotokoll; W=Watt die kardiopulmonale Leistungsfähigkeit (peak VO2 oder VO2max) 4) . VO2max entspricht der maximalen Menge O2, welche das kardiovaskuläre System den arbeitenden Muskeln liefern kann. Neben der kardialen Funktion muss hierbei auch die pulmonale Funktion mitbeurteilt werden, da die erreichte VO2max auch durch pulmonale Erkrankungen beeinflusst wird. Eine gesunde Lunge und Atemphysiologie vorausgesetzt, hängt die Höhe von VO2max von der Fähigkeit des kardiovaskulären Systems ab, das Herzzeitvolumen während körperlicher Belastung zu steigern14) . Als alters-, geschlechts- und gewichtsabhängiger Wert wird er in ml O2/(kg*Min.) angegeben und gilt als bester Index für die aerobe Kapazität und somit der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit4) . In verschiedenen Studien wurden VO2max-Normwerte für Kinder präsentiert14),15) . O2 -Puls (O2P) Stellt sich bei Patienten mit Herzerkrankungen die Frage, ob das Schlagvolumen unter Belastung angemessen gesteigert werden kann, so nimmt der Sauerstoffpuls eine zentrale Bedeutung ein. Die Sauerstoffaufnahme pro Herzschlag wird definiert als Sauerstoffpuls (O2 -Puls) und entspricht dem Produkt aus Schlagvolumen und arteriovenöser Sauerstoffextraktion7) . Der O2 -Puls verhält sich proportional zum Schlagvolumen und ist bei Patienten mit einem reduzierten linksventrikulären Auswurfvolumen (wie bei Patienten mit «single-ventricle» Physiologie, schweren obstruktiven Läsionen, schweren Klappeninsuffizienzen) und pulmonalen oder systemischen vaskulären Krankheiten vermindert14) . Anämien oder Polycythämien sowie die Herzfrequenz beeinflussende Medikamente (z. B. eine beta-Blocker-Therapie) können den O2 - Puls beeinflussen und müssen deshalb in die Beurteilung mit einbezogen werden14) . Liegt bei einem Patienten in Ruhe eine verminderte Funktion des linken Ventrikels vor, so kann anhand des O2 -Pulses die Fähigkeit zur Steigerung des Schlagvolumens im dynamischen Zustand abgeschätzt werden. Respiratory exchange Ratio (RER) Das Verhältnis der CO2 -Ausatmung und der O2 -Aufnahme (VCO2/VO2 ) wird RER genannt1). Für eine korrekte Interpretation des kardiopulmonalen Status eines Probanden, muss dieser eine maximale Leistung erbringen. Die Respiratory Exchange Ratio (RER) kann helfen einzuschätzen, ob der Proband während des Belastungstests eine maximale Leistung erbracht hat14) . In Ruhe entspricht RER dem respiratorischen Quotienten (RQ) und ist <1. Wird die anaerobe Schwelle überschritten, steigt RER >1. Bei Kindern werden RER-Werte von 1.05 oder 1.08 mit einer angemessenen Leistung bzw. Ausbelastung in Verbindung gebracht2),14) . Ventilatory anaerobic threshold (VAT) Die anaerobe Schwelle (VAT) stellt den Punkt dar, bei dem während zunehmender Belastung der aerobe Metabolismus die Muskeln nicht mehr ausreichend mit Energie versorgen kann. Dieser Vorgang wird limitiert durch die Menge an Sauerstoff die über das kardiovaskuläre System den Muskeln geliefert und in Energie umgewandelt wird14) . VAT sinkt mit dem Alter und ist bei Kindern mit einem angeborenen Herzfehler vermindert7) . Die anaerobe Schwelle kann mit 2 unterschiedlichen Methoden bestimmt werden. Die «V-slopeMethode» definiert als VAT den Zeitpunkt, an dem VCO2 ohne Hyperventilation überproportional zum VO2 -Anstieg ansteigt. Die VCO2 - 43 VE/VCO2 Slope Das Atemminutenvolumen (VE, in l/Min.) steigt während zunehmender Belastung bis zu einem Punkt oberhalb von VAT linear an, proportional zu VCO214) . Das Verhältnis VE/VCO2 sinkt zu Beginn der Belastung ein wenig ab, da das Ventilations-Perfusions-Verhältnis optimiert wird. Anschliessend bleibt die Steigung VE/VCO2 ziemlich konstant und steigt erst gegen Ende der Belastung stärker an2) . Der lineare Abschnitt der Kurve wird VE/VCO2 Slope genannt und gilt als Index für die GasAustausch-Effizienz während Belastung14) . Die Bedeutung des VE/VCO2 Slopes für Kinder ist bei der aktuellen Studienlage noch unklar, wobei aber gezeigt werden konnte, dass Kinder mit komplexen angeborenen Herzfehlern erhöhte VE/VCO2 -Slope-Werte aufweisen16) . Abb. 3: Belastungsuntersuchung auf dem Laufband Fortbildung Rhythmus Belastungsuntersuchungen helfen, belastungsabhängige Arrhythmien zu demaskieren. Nebst Begleitarrhythmien bei verschiedenen Herzfehlern, spielt die Ergometrie eine entscheidende Rolle in der Diagnostik von insbesondere drei spezifischen Rhythmusstörungen: (A) supraventrikuläre Tachykardien, (B) Long-QT-Syndrom und (C) katecholaminerg polymorph ventrikuläre Tachykardie (CPVT). A)Bei Patienten mit Präexzitationen (deltaWelle im EKG) dienen Belastungsuntersuchungen dazu, Eigenschaften der akzessorischen Leitungsbahn zu testen. Verschwindet während der Belastung die Präexzitation im EKG, so spricht dies für eine schlechte Leitungseigenschaft der akzessorischen Leitungsbahn. Das Risiko für die Entwicklung von schnellen ventrikulären Antworten auf Vorhofarrhythmien, insbesondere Vorhofflimmern, ist in diesem Fall geringer als wenn Präexzitationen bei Belastung persistieren7) . B)Das Long-QT-Syndrom, eine angeborene Ionenkanalerkrankung, zeichnet sich durch ein verlängertes QT-Intervall im EKG aus. Ergänzend zu den bekannten diagnostischen Schwartz-Kriterien kann die Bestimmung der frequenzkorrigierten QT-Zeit (QTc) in der Nachbelastung (3–4 Minuten nach Belastung) als ergänzender Messwert zur Risiko-Stratifizierung herangezogen werden7),17),18) . Hierbei werden QTc-Werte ≥ 480 ms zu diesem Zeitpunkt als erhöhtes Risiko gewertet. C)Die CPVT stellt eine ebenfalls genetisch bedingte Rhythmusstörung dar, bei der häufig nur unter Belastung polymorphe ventrikuläre Extrasystolen oder ventrikuläre Tachykardien auftreten. Neben der Diagnosestellung wird die Belastungsuntersuchung auch zur Bewertung einer prophylaktischen medikamentösen Therapie eingesetzt7) . Einsatz und Nutzen der Spiroergometrie bei Kindern mit angeborenen Herzfehlern Die Spiroergometrie wird zur Beurteilung der Leistungsfähigkeit von Kindern mit angeborenem Herzfehler als objektive Messmethode eingesetzt. Mit den Ergebnissen der Untersuchung sollen Indikationen und Erfolg von operativen oder interventionellen Eingriffen bewertet werden. Auch sollen anhand der Ergebnisse Empfehlungen hinsichtlich körperlicher Aktivität im Alltag abgegeben werden Vol. 28 Nr. 2 2017 können. Zudem hilft sie subjektive Beschwerden der Patienten zu objektivieren und ein eventuelles kardiologisch-organisches Korrelat zu testen. Die meisten angeborenen Herzfehler, die einen operativen Eingriff notwendig machen, führen im Langzeitverlauf häufig zu einer unterschiedlich stark eingeschränkten Leistungsfähigkeit16). Hierfür können eine chronotrope Inkompetenz (z. B. Sinusknotendysfunktion), aber auch eine reduzierte Ejektionsfraktion des linken Ventrikels sowie Klappeninsuffizienzen oder -stenosen mögliche Ursachen sein. Eine besondere Stellung nehmen in diesem Kontext Kinder mit einem univentrikulären Herzen und einer Glennoder Fontanphysiologie (bidirektionale – oder totale cavo-pulmonale Anastomose) ein. In dieser Patientengruppe erfolgt die Lungenperfusion nach operativer Palliation passiv. Diese Patienten zeigen im Vergleich zu anderen kardialen Vitien und der Normalpopulation in der Regel deutlich eingeschränkte Werte für VO2 max19) . In der Folge möchten wir exemplarisch einige Vitien und die typischen Fragestellungen an die Spiroergometrie zusammenfassen: Transposition der grossen Arterien (TGA): Nach Koronarchirurgie im Rahmen der arteriellen Switch-Operation (ASO) im Neonatalalter kommt in dieser Patientengruppe der Frage nach Hinweisen für Myokardischämien unter Belastung als frühes Zeichen der koronaren Insuffizienz eine besondere Rolle zu. Aortenstenose: Beurteilung des Blutdruckverhaltens unter Belastung sowie Erfassung von subendokardialen Ischämien. Fallot`sche Tetralogie: Beurteilung der Leistungsfähigkeit vor dem Hintergrund von im Langzeitverlauf auftretenden Re-Stenosen oder Insuffizienzen im Bereich des rechtsventrikulären Ausflusstrakts mit evtl. Dilatation der rechten Kammer. Die Leistungsfähigkeit in der Belastungsuntersuchung ist ein Baustein in der Indikationsstellung für einen Pulmonalklappenersatz. Patienten mit Fontanphysiologie (totale cavo-pulmonale Anastomose) Beurteilung der Leistungsfähigkeit. Eine Zunahme der Zyanose unter Belastung kann 44 Ausdruck einer Fenestrierung zwischen Fontanconduit und rechtem Vorhof, oder vorhandener venovenöser Kollateralen sein. Die chronotrope Kompetenz unter Belastung oder andere Arrhythmien werden erfasst. Fazit Die Spiroergometrie stellt ein etabliertes Verfahren für die differenzierte Leistungsund Funktionsdiagnostik bei Erwachsenen und Kindern dar. Sinnvolle Belastungsuntersuchungen bei Kindern mit angeborenen Herzfehlern können ab dem 8. Lebensjahr sowohl auf dem Laufband als auch auf dem Fahrradergometer durchgeführt werden. Hierbei wird eine höhere Ausbelastung auf dem Laufband und eine durch weniger Bewegungsartefakte bessere Rhythmusanalyse auf dem Fahrrad erreicht. Die maximale Sauerstoffaufnahme (VO2max) stellt einen der wichtigsten Messwerte der Leistungsdiagnostik dar. Als alters-, geschlechts- und gewichtsabhängiger Wert wird er in ml O2/(kg*Min.) angegeben und gilt als bester Index für die aerobe Kapazität und somit der kardiovaskulären Leistungsfähigkeit. Bei Rhythmusstörungen kann die Spiroergometrie als Hilfsmittel in der Diagnostik und Therapiesteuerung dienen. Dabei muss betont werden, dass eine Belastungsuntersuchung nicht isoliert betrachtet werden soll, sondern immer im Kontext mit den üblichen kardiologischen diagnostischen Modalitäten interpretiert werden muss. Referenzen 1) Albouaini K, Egred M, Alahmar A, Wright DJ. Cardiopulmonary exercise testing and its application. Postgrad Med J. 2007 Nov;83(985):675–82. 2) Miliaresis C, Beker S, Gewitz M. Cardiopulmonary stress testing in children and adults with congenital heart disease. Cardiol Rev. 2014 Dec;22(6):275–8. 3) Leitlinie Spiroergometrie der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Kardiologie (DGPK), ausgearbeitet von W. Baden, Tübingen und K.O. Dubowy, Bad Oeynhausen. 4) ATS/ACCP statement on cardiopulmonary exercise testing. Am J Respir Crit Care Med. 2003 May 15;167(10):211-277. 5) Takken T, Blank AC, Hulzebos EH, van Brussel M, Groen WG, Helders PJ. Cardiopulmonary exercise testing in congenital heart disease: equipment and test protocols. Neth Heart J Mon J Neth Soc Cardiol Neth Heart Found. 2009 Sep;17(9):339–44. 6) James FW, Blomqvist CG, Freed MD, Miller WW, Moller JH, Nugent EW, et al. Standards for exercise testing in the pediatric age group. American Heart Association Council on Cardiovascular Disease in the Young. Ad hoc committee on exercise testing. Circulation. 1982 Dec;66(6):1377A–1397A. 7) Massin MM. The role of exercise testing in pediatric cardiology. Arch Cardiovasc Dis. 2014 May;107(5):319–27. Fortbildung Vol. 28 Nr. 2 2017 8) Wasserman K. Diagnosing cardiovascular and lung pathophysiology from exercise gas exchange. Chest. 1997 Oct;112(4):1091–101. 9) Connuck DM. The role of exercise stress testing in pediatric patients with heart disease. Prog Pediatr Cardiol. 2005 May;20(1):45–52. 10)Ten Harkel ADJ, Takken T, Van Osch-Gevers M, Helbing WA. Normal values for cardiopulmonary exercise testing in children. Eur J Cardiovasc Prev Rehabil Off J Eur Soc Cardiol Work Groups Epidemiol Prev Card Rehabil Exerc Physiol. 2011 Feb;18(1):48–54. 11)Takken T, Blank AC, Hulzebos EH, van Brussel M, Groen WG, Helders PJ. Cardiopulmonary exercise testing in congenital heart disease: (contra)indications and interpretation. Neth Heart J Mon J Neth Soc Cardiol Neth Heart Found. 2009 Oct;17(10):385–92. 12)Singh TP, Curran TJ, Rhodes J. Cardiac rehabilitation improves heart rate recovery following peak exercise in children with repaired congenital heart disease. Pediatr Cardiol. 2007 Aug;28(4):276–9. 13)Singh TP, Rhodes J, Gauvreau K. Determinants of heart rate recovery following exercise in children. Med Sci Sports Exerc. 2008 Apr;40(4):601–5. 14)Rhodes J, Ubeda Tikkanen A, Jenkins KJ. Exercise testing and training in children with congenital heart disease. Circulation. 2010 Nov 9;122(19):1957–67. 15)Cooper DM, Weiler-Ravell D. Gas exchange response to exercise in children. Am Rev Respir Dis. 1984 Feb;129(2 Pt 2):S47-48. 16)Kempny A, Dimopoulos K, Uebing A, Moceri P, Swan L, Gatzoulis MA, et al. Reference values for exercise limitations among adults with congenital heart disease. Relation to activities of daily life--single centre experience and review of published data. Eur Heart J. 2012 Jun;33(11):1386–96. 17)Schwartz PJ, Ackerman MJ. The long QT syndrome: a transatlantic clinical approach to diagnosis and therapy. Eur Heart J. 2013 Oct;34(40):3109–16. 18)Schwartz PJ, Moss AJ, Vincent GM, Crampton RS. Diagnostic criteria for the long QT syndrome. An update. Circulation. 1993;88(2):782–784. 19)Hebert A, Jensen AS, Mikkelsen UR, Idorn L, Sørensen KE, Thilen U, et al. Hemodynamic causes of exercise intolerance in Fontan patients. Int J Cardiol. 2014 Aug;175(3):478–83. Korrespondenzadresse Dr. med. Martin Christmann Facharzt Kinder- und Jugendmedizin Schwerpunkt Kinderkardiologie Universitätskinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75 CH-8032 Zürich [email protected] Die Autoren haben keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. 45 Hinweise Vol. 28 Nr. 2 2017 Werden die Rechte der Kinder mit Migrationshintergrund respektiert? Jean Zermatten1, Sion Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Allgemeine Bemerkungen Allgemein gesehen besteht in unserem Land derzeit die Tendenz, Migration zu «kriminalisieren» und gegenüber Migranten, seien es nun Männer, Frauen oder Kinder, ein Gefühl des Misstrauens zu wecken. Migranten werden damit «verdächtig» und man wird eher eine Lösung im Sinne von Wegweisung oder Rückführung suchen als eine wohlwollende und gastliche Haltung einnehmen. Dabei verlangt Art. 22 der UNO-Konvention über die Rechte des Kindes (in der Folge Konvention) von den 195 Staaten, darunter die Schweiz, welche dieses Dokument ratifiziert haben, «... geeignete Massnahmen (zu treffen), um sicherzustellen, dass ein Kind, (...) angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen (...) festgelegt sind». Zudem erinnert diese Konvention daran, dass keine Kategorie Kinder aufs Abstellgleis geschoben werden darf: Sowie ein Kind sich auf dem Territorium eines Staates befindet, geniesst es alle Rechte, die Minderjährigen (< 18 Jahre) zustehen. Dieses Prinzip gilt auch für Migrantenkinder, seien sie nun in Begleitung ihrer Eltern oder nicht. Kinder mit Migrationshintergrund stellen in den Augen der Konvention eine besonders verletzliche Population dar. Es beunruhigt uns deshalb, festzustellen, wie stark Abkapselungsreflexe gegenüber Migration spielen und wie schnell Staaten elementarste Verpflichtungen vergessen. Verpflichtungen der UNO-Konventions-Vertragsstaaten Unter Vertragsstaat versteht man einen Staat, der die Konvention ratifiziert hat und damit Teil dieses internationalen völkerrechtlichen Vertrages ist; die Konvention wurde durch die Schweiz ratifiziert und ist am 26. März 1997 rechtskräftig geworden. Eine Konvention ist ein verpflichtendes völkerrechtliches Abkommen, d. h. dass die ratifizierenden Staaten sich verpflichten, deren Verfügungen auszuführen; im Gegensatz zu einer Erklärung, Empfehlung oder Richtlinie usw. hat die Konvention obligatorischen Charakter: Die Vertragsstaaten «... achten die in diesem Übereinkommen festgelegten Rechte und gewährleisten sie jedem ihrer Hoheitsgewalt unterstehendem Kind ...» (Art 2. Abs. 1 der Konvention). Die erste Pflicht der Vertragsstaaten besteht darin, die notwendigen Massnahmen zur Beachtung der Rechte aller Kinder innerhalb ihres Hoheitsgebietes zu ergreifen: Dieses Prinzip wendet sich demnach auch auf Kinder mit Migrationshintergrund an. Zweite Auflage: Die Vertragsstaaten verpflichten sich, alle gesetzlichen, administrativen und weiteren (z. B. finanziellen) Massnahmen zu ergreifen, um die Konvention umzusetzen. Drittens verpflichten sich die Vertragsstaaten, dafür zu sorgen, dass die allgemeinen Prinzipien der Konvention angewendet werden. Es gibt deren 4: - Nicht-Diskriminierung (Art. 2): Mit anderen Worten: Alle Kinder, Mädchen, Behinderte, Flüchtlinge, ausländische Herkunft, Minderheiten sollten die gleichen Rechte haben wie alle übrigen; - Das Wohl («the best interest») des Kindes (Art. 3): Kernstück der Konvention: Wird ein Entscheid einem Kind oder einer Kindergruppe gegenüber getroffen, ist das höhere Interesse des Kindes ein Gesichtspunkt, der vorrangig zu berücksichtigen ist; - Das Recht auf Leben, Überleben und Entwicklung (Art. 6): Dieses Recht muss im weitesten Sinne verstanden werden; es sind nicht nur Leben und Gesundheit gemeint, sondern die kindliche Entwicklung als Ganzes, geistig, emotional, sozial und kulturell; - Die Meinung des Kindes (Art. 12): Kinder haben das Recht, angehört zu werden, und ihre Meinung muss ernst genommen werden. Vierte Pflicht der Vertragsstaaten: Dem Kind die Ausübung der subjektiven, in der Konven- tion aufgeführten Rechte garantieren. Für Kinder mit Migrationshintergrund sind dies: •Art. 10: Von einem Kind oder seinen Eltern gestellte Anträge, um zwecks Familienzusammenführung in einen Vertragsstaat einreisen oder diesen verlassen zu können, sollen «wohlwollend, human und beschleunigt bearbeitet» werden. •Art. 22: «Die Vertragsstaaten treffen geeignete Massnahmen, um sicherzustellen, dass ein Kind, das die Rechtsstellung eines Flüchtlings begehrt oder (…) als Flüchtling angesehen wird, angemessenen Schutz und humanitäre Hilfe bei der Wahrnehmung der Rechte erhält, die in diesem Übereinkommen (…) festgelegt sind, und zwar unabhängig davon, ob es sich in Begleitung seiner Eltern oder einer anderen Person befindet oder nicht.» •Art. 9: Sieht das Recht des Kindes vor, nicht von seinen Eltern getrennt zu werden. •Art. 7 und 8: Erwähnen die Verpflichtung, das Recht des Kindes auf seine Identität, einschliesslich seine Staatsangehörigkeit, seinen Namen und seine gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen zu achten. Der Vertragsstaat muss über die Einhaltung der Rechte der Kinder durch regelmässige Berichte an den UNO-Ausschuss über die Rechte des Kindes Rechenschaft ablegen. Der erste regelmässige Bericht der Schweiz wurde 2002 vorgelegt. Der UNO-Ausschuss richtete unter anderen folgende Subjects of Concern an die Schweiz: Punkt 50. «(…) the Committee remains concerned that the procedure used for unaccompanied minors is not always in their best interests nor fully in line with relevant provisions of the Convention. In addition, in relation to the reservation made to article 10 of the Convention, the Committee is concerned that the right to family reunification is too restricted.» In Punkt 51 werden eine Reihe Empfehlungen bezüglich Vereinfachung und Beschleunigung der Verfahren, Bezeichnung eines Rechtsvertreters, Zugang zu medizinischer Betreuung und Bildung sowie Erleichterung der Familienzusammenführung gemacht1) . In den Schlussbemerkungen zum zweiten, dritten und vierten Staatenbericht der Schweiz von 20152) kritisiert der UNO-Ausschuss für die Rechte des Kindes die Schweiz erneut: Jugendrichter des Kantons Wallis (1980-2005), Mitglied des UNO-Ausschusses über die Rechte des Kindes (2005-2013), Präsident dieses Ausschusses (2011-2013), Kinderrechtsexperte. www.childsrights.org 1 46 Hinweise Vol. 28 Nr. 2 2017 68. Der Ausschuss (…) bleibt jedoch besorgt darüber, dass bei Asylverfahren von unbegleiteten minderjährigen Asylsuchenden (UMA) «the best interest» des Kindes nicht immer vorrangig beachtet wird, und dass im Zusammenhang mit dem Vorbehalt zu Art. 10 der Konvention das Recht auf Familienzusammenführung für vorläufig aufgenommene Personen zu stark eingeschränkt ist. Ausserdem ist der Ausschuss besorgt darüber: a)dass bedeutende kantonale Unterschiede in Bezug auf die Aufnahmebedingungen, die Integrationsunterstützung und die Sozialleistungen für asylsuchende Kinder und Flüchtlingskinder bestehen; so gibt es beispielsweise Kinder, die in Militärbunkern oder Zivilschutzanlagen untergebracht werden; b)dass «Vertrauenspersonen» für unbegleitete asylsuchende Kinder keine Erfahrung in der Kinderbetreuung oder auf dem Gebiet der Kinderrechte aufweisen müssen; c)dass der Zugang asylsuchender Kinder zu weiterführenden Bildungsabschlüssen erschwert ist und keine harmonisierte Praxis für die Zulassung zu Berufsausbildungen besteht; d) dass das beschleunigte Asylverfahren, das auch am Flughafen möglich ist, bei Kindern ebenfalls angewendet werden kann; e)dass im Vertragsstaat eine beträchtliche Anzahl Sans-Papier-Kinder (Kinder ohne legalen Aufenthaltsstatus) lebt und dass diese Kinder mehrfacher Benachteiligung ausgesetzt sind, beispielsweise beim Zugang zur Gesundheitsversorgung, zur Bildung (insbesondere auf Sekundarstufe) und zu Berufsausbildungen, und dass es keine Strategien zur Behebung dieser Benachteiligungen gibt. Der Ausschuss formulierte deshalb zahlreiche Empfehlungen an die Schweiz2) , die bei weitem nicht Klassenerster ist ... Einige problematische Situationen «The best interest» des Kindes Die Schweiz wurde kürzlich in Strassburg gerügt (Entscheid vom 8.11.2016) 3) ; der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) schätzt, die Schweiz habe das Wohl des Kindes in Sachen Familienzusammenführung nicht genügend berücksichtigt. Der diesbezügliche Antrag eines Vaters mit doppelter, schweizerisch-ägyptischer Nationalität, seinen 15-jährigen Sohn aus Ägypten in die Schweiz kommen zu lassen, wurde 2006 abgelehnt. Der Entscheid des EGMR stellt eine Verletzung des Rechtes auf Achtung seiner gesetzlich anerkannten Familienbeziehungen (Art. 8) fest. Freiheitsentzug Kinder mit Migrationshintergrund (begleitet, getrennt oder unbegleitet) sollten nicht in Haft gesetzt werden. Migration darf nicht als Vergehen betrachtet werden und nicht rechtfertigen, ein Kind deswegen zu inhaftieren. Dies ist keine Windmacherei, sondern wiederspiegelt die Doktrin des UNO-Ausschusses über die Rechte des Kindes, wie dies in den Allgemeinen Bemerkungen Nr. 64) und den Empfehlungen in Anschluss an den Day of general discussion on the rights of all children in the context of international migration, 2012 (Pt. 78) formuliert wird: «(...) In this light, States should expeditiously and completely cease the detention of children on the basis of their immigration status 5).» Eine 2016 durch Terre des Hommes durchgeführte Untersuchung liefert endlich objektive Zahlen über Freiheitsentziehung von Kindern mit Migrationshintergrund: 2015 wurden in der Schweiz 142 Kinder zwischen 15 und 18 Jahren im Zusammenhang mit ihrem Migrantenstatus inhaftiert. Spiegelbildlich zeigt dies, dass wir in dieser Beziehung unsere Verpflichtungen nicht einhalten, denn wir haben in unseren Gesetzestexten die Inhaftierung von 15- bis 18-Jährigen nicht ausgeschlossen, wie es der UNO-Ausschuss über die Rechte des Kindes fordert; und wir wissen seit langem, dass sich Freiheitsentzug kurz-, mittel- und langfristig negativ auf die kindliche Entwicklung auswirkt. Und wir wissen auch sehr genau, dass es Alternativen zum Freiheitsentzug gibt, selbst wenn Kinder ein Vergehen begangen haben. Es handelt sich um Kinder, die «Migrationsopfer» und keinesfalls «Täter eines Migrationsdeliktes» sind. Es besteht somit kein Grund, sie einzusperren. Unterkunft Die Wahl der Unterkunft für Migrantenkinder hängt davon ab, ob sie in Begleitung ihrer Eltern sind oder nicht. Die Praxis unterscheidet sich stark von einem Kanton zum anderen. Unbegleitete minderjährige Asylsuchende (UMA) sollten in einer Pflegefamilie oder einem (sozialpädagogischen) Heim für Kinder/ Jugendliche untergebracht werden. Der Aus- 47 schuss stellt fest, dass sie sich manchmal in Zivilschutzräumen befinden und «24 Heures» berichtete kürzlich (November 2016) «Sieben ohne ihre Eltern in die Schweiz gelangte Kinder, davon drei am selben Abend, versuchten im Verlauf der vergangenen Wochen in einem Heim für minderjährige Asylbewerber, ihrem Leben ein Ende zu setzen. (...) Glücklicherweise benötigte keines Intensivpflege. (...) Die Gründe ihrer Verzweiflung sind vielfältig. Diese Vorgänge decken aber auch Mängel im Aufnahmesystem auf: Es gibt im EVAM [Etablissement Vaudois d’Accueil des Migrants] nicht genügend Erzieher; ihre Anzahl liegt weit unter den Normen, die in Heimen für in der Schweiz wohnhafte Jugendliche gelten. (...)» Strikte Anwendung der DublinVerordnung Im Herbst 2016 wurde die Schweiz in der sogenannten «Como-Affäre», einer Migrationssperre in Europa und an den Toren der Schweiz, angeprangert. Der ungenügende Zugang zu Information, die Rückweisung an der Grenze und das Fehlen einer der Konvention entsprechenden Betreuung für UMA ist weiterhin aktuell. Gemäss Dublin III müssen unbegleitete Minderjährige im Hinblick auf Familienzusammenführung unterstützt werden; es wurden diesbezüglich Mängel festgestellt. Die Schweiz ist eines der Länder, welche die Dublin-Prozedur am strengsten anwenden. Dieser exzessive Formalismus führt zu Verletzungen der Kinderrechte. Im Namen der Dublin-Verordnung werden Familien getrennt, Kinder werden am Stellen eines Antrages gehindert, Kinder mitten im Schuljahr aus ihrer Schulklasse gerissen ... In solchen Fällen kann und sollte die Schweiz von der Ermessensklausel in Art. 17 der Dublin-Verordnung Gebrauch machen, die vorsieht: «Die Mitgliedstaaten sollten insbesondere aus humanitären Gründen oder in Härtefällen von den Zuständigkeitskriterien abweichen können (...) und einen gestellten Antrag auf internationalen Schutz prüfen, auch wenn sie für eine solche Prüfung nach den in dieser Verordnung festgelegten verbindlichen Zuständigkeitskriterien nicht zuständig sind6) .» Warum macht die Schweiz von dieser Möglichkeit keinen Gebrauch, und weist Kinder an der Grenze zurück, ohne ihnen Gelegenheit zu geben, einen Antrag auf Asyl zu stellen? Kinder unterwegs sollten in erster Linie als Kin- Hinweise Vol. 28 Nr. 2 2017 der angesehen und nicht auf Grund ihres Migrationsstatus diskriminiert werden; die von Politikern und administrativen Instanzen beschlossenen Massnahmen dürfen die Grundrechte dieser Kinder nicht verletzen. Schlussfolgerung Die Schweiz sieht sich einem Zustrom von Migranten gegenüber; darunter befindet sich eine grosse Anzahl Kinder. Ende 2016 wurden 5000 UMA verzeichnet: Dies ist kein Grund zur Panik und anzunehmen, unser Land laufe Gefahr, von gefährlichen Minderjährigen heimgesucht zu werden. Es sollte vielmehr eine Gelegenheit sein, unserer humanitären Tradition treu zu sein, sich solidarisch zu zeigen und die gesetzlichen Möglichkeiten (insbesondere die Klausel des Art. 17 der DublinVerordnung) zugunsten einer Politik der Öffnung und nicht der Abkapselung zu nutzen. Die Geschichte wird uns diese Haltung zugute schreiben; sie erfordert jedoch eine ernsthafte Mentalitätsänderung und ein Bewusstwerden unserer Verpflichtungen. Wir müssen zu unseren internationalen Verpflichtungen zurückfinden, die von uns erwarten, dass wir Kinder, alle Kinder, respektieren. Referenzen 1) Concluding observations of the Committee on the rights of the child: Switzerland, 13.06.2002. CRC/C/15/Add. 182. 2) Schlussbemerkungen zum zweiten, dritten und vierten Staatenbericht der Schweiz, CRC/C/CHE/ CO/2-4 (Übersetzt aus dem Englischen vom Bundesamt für Sozialversicherungen). 3) Case of El Ghatet v. Switzerland, (Application no. 56971/10). 4) Ausschuss für die Rechte des Kindes, Allgemeine Bemerkungen No 6 (2005), CRC/GC/2005/6. 5) Committee on the rights of the child (CRC), Report of the 2012 Day of general discussion «The rights of all children in the context of international migration». 6) Verordnung (EU) Nr. 604/2013 des Europäischen Parlaments und des Rates. Korrespondenzadresse [email protected] Der Autor hat keine finanzielle Unterstützung und keine anderen Interessenkonflikte im Zusammenhang mit diesem Beitrag deklariert. 48 Hinweise Vol. 28 Nr. 2 2017 Nationale Strategie zu Impfungen – den Schutz der Bevölkerung optimieren Virginie Masserey Spicher, Bern Auch wenn die Wirksamkeit der Impfungen als Präventionsmassnahme wissenschaftlich belegt ist und die Durchimpfungsraten bei Kindern in der Schweiz in den ersten Lebensjahren hoch sind, gibt es bei einzelnen Impfungen und bei bestimmten Zielgruppen noch Lücken und Verbesserungspotenziale. Dabei beruhen Impflücken bei einzelnen Personen nicht nur auf der Ablehnung der Impfung oder auf mangelnder Sensibilität für das Thema, sondern auch auf fehlenden Kenntnissen, Mangel an verlässlichen und leicht zugänglichen Informationen oder Schwierigkeiten im Zugang. Um den Impfschutz der Schweizer Bevölkerung zu optimieren, hat der Bundesrat an seiner Sitzung vom 11. Januar 2017 eine nationale Strategie zu Impfungen (NSI) verabschiedet. Das Bundesamt für Gesundheit (BAG) hatte die Grundlagen zur Strategie in enger Zusammenarbeit mit Fachpersonen und involvierten Akteuren erarbeitet. An drei Workshops haben 2014 über 30 Fachleute sowie Vertreterinnen und Vertreter der Hauptakteure Bedarf, Ziele, vorrangige Massnahmen sowie Rollen und Verantwortlichkeiten der Akteure erörtert und festgelegt. Die nun vorliegende Nationale Strategie zu Impfungen ist eine Rahmenstrategie. Ihre Rolle besteht darin, eine optimale Zusammenarbeit zwischen allen involvierten Akteuren in der Schweiz sicherzustellen. Sie orientiert sich an folgenden drei Hauptzielsetzungen: 1.Die Akteure erachten Impfungen als sehr wichtig für die Gesundheit der Bevölkerung. Sie informieren einheitlich über Impfungen und führen sie durch. Zudem unterstützen sie innovative Massnahmen im Impfbereich. 2.Die Bevölkerung hat Vertrauen in die offiziellen Impfempfehlungen und in die Sicherheit der empfohlenen Impfungen. Sie erkennt die Bedeutung der Impfung zum eigenen Schutz und zum Schutz anderer. Impfentscheide können gut informiert getroffen werden. 3.Der Zugang zu sachdienlichen, klaren und transparenten Informationen und zu den Impfungen ist für alle einfach. Zur Erreichung dieser drei Ziele braucht es ein breites Spektrum an Massnahmen. Die NSI definiert dazu fünf Interventionsachsen mit insgesamt 15 Handlungsfeldern. 49 Die erste Interventionsachse «Stärkung des Verantwortungsbewusstseins und Unterstützung der Akteure» richtet sich an die involvierten Fachpersonen und Institutionen. Beispielsweise ist der Schweizerische Impfplan vom BAG dahingehend zu optimieren, dass er für die Akteure besser nachvollziehbar und einfacher anwendbar wird. Zudem soll die Impfberatung durch Ärztinnen und Ärzte unterstützt und gefördert werden. Damit Ärztinnen und Ärzte im Impfgespräch den persönlichen Fragen und Anliegen ihrer Patientinnen und Patienten gut begegnen können, müssen sie über geeignete Instrumente für die Beratung der Patientinnen und Patienten verfügen und für ihre Leistungen adäquat entschädigt werden. Die routinemässige Nutzung eines an ein Expertensystem gebundenen elektronischen Impfausweises kann sie bei der Überprüfung des Impfstatus oder mit automatischen Erinnerungen für die Nachhol- und Auffrischimpfungen massgeblich unterstützen. Nicht zuletzt ist die Sicherstellung der Verfügbarkeit der im Impfplan vorgesehenen Impfstoffe Teil dieser Interventionsachse. Die zweite Interventionsachse «Kommunikation und Angebote für die Bevölkerung» umfasst fünf Handlungsbereiche. Sie tragen dazu bei, die Akzeptanz des Schweizerischen Impfplans in der Bevölkerung durch unterschiedliche Herangehensweisen zu verbessern. So soll die Bevölkerung leicht Zugang zu impfrelevanten Informationen haben. Dabei unterstützt das BAG die Gesundheitsfachleute mit Kommunikationsinstrumenten, mit welchen sie ihre Patienten aktiv informieren können. Der Zugang zu Impfinformationen und Impfungen ist auch in Schulen und Kindertagesstätten ein wichtiges Anliegen und der Impfstatus jedes Kindes ist beim Schuleintritt und am Ende der obligatorischen Schulzeit zu überprüfen. Zudem gilt es auch für Erwachsene den Zugang zu Impfungen zu erleichtern. Impfungen, die von der obligatorischen Krankenpflegeversicherung (OKP) übernommen werden, sollen in diesem Zusammenhang von der Franchise ausgenommen werden. Auch die breite Verwendung des elektronischen Impfausweises und nicht zuletzt eine einfache, effiziente und faire Behandlung von Gesuchen um Entschädigung/Genugtuung bei Schäden aus Impffolgen gehören zu den angeführten Massnahmen. Bei der dritten Interventionsachse «Ausbildung und Koordination» liegt der Schwerpunkt zum einen auf der Aus- und Weiterbildung der Hinweise Gesundheitsfachleute. Ziel ist das Thema Impfungen in die Aus- und Weiterbildung aller Gesundheitsfachpersonen zu integrieren. Auch der Erfahrungsaustausch zwischen den Kantonen soll gefördert werden. Mit der vierten und fünften Interventionsachse werden die Anliegen «Überwachung, Forschung und Evaluation» und «Spezifische Strategien», welche sich auf spezifische übertragbare Krankheiten ausrichten, aufgenommen. Die Nationale Strategie zu Impfungen weist Schnittstellen mit anderen nationalen Strategien auf, die einen Bezug zu übertragbaren Krankheiten haben. Die NSI leistet einen Beitrag zur Zielerreichung dieser Strategien, wie zum Beispiel zur Nationalen Strategie zur Prävention der saisonalen Grippe (GRIPS), zur Strategie Antibiotikaresistenzen (StAR) oder zur Nationalen Strategie NOSO gegen Spitalund Pflegeheiminfektionen. Zusammenarbeit der involvierten Akteure In der Schweiz sind zahlreiche Akteure in unterschiedlichen Bereichen in die Impfung involviert: Bund, Kantone, Gesundheits- und Bildungsfachleute, Bildungseinrichtungen, Gesundheitsinstitutionen, Kindertagesstätten, Versicherer, die Zivilgesellschaft und der Privatsektor. Eine der Hauptherausforderungen besteht darin, eine optimale Zusammenarbeit zwischen den Akteuren aufzubauen – von der Zulassung der Impfstoffe durch die Medikamentenkontrollbehörde über die Erarbeitung der Empfehlungen bis hin zur Umsetzung des Impfplans durch den Bund, die Kantone und die Gesundheitsfachleute der verschiedenen Disziplinen. Vol. 28 Nr. 2 2017 folgen. Sie wird konkrete Massnahmen sowie einen Zeitplan für ihre Realisierung beinhalten. Auch die Kompetenzen und Zuständigkeiten sowie die Finanzierung der Massnahmen sind zu regeln. Workshops werden mit den bereits in der Erarbeitung der Strategie involvierten Partnern und Akteuren durchgeführt. Ziel dieser Workshops ist es, die Massnahmen zu priorisieren, welche dann Eingang in den Aktionsplan finden werden. Eine weitere wichtige Etappe wird die Genehmigung des Aktionsplans Ende 2017 sein. Die eigentliche Umsetzung der Nationalen Strategie zu Impfungen soll im Januar 2018 starten. Eine erste Evaluation der ergriffenen Massnahmen ist für 2022 geplant. http://www.bag.admin.ch/nsi Korrespondenzadresse Dr Virginie Masserey Spicher Abteilung Übertragbare Krankheiten Sektion Infektionskontrolle und Impfprogramm Bundesamt für Gesundheit Schwarzenburgstrasse 157 3003 Bern [email protected] Die gute Zusammenarbeit und das Engagement all dieser Akteure ist für das Erreichen der strategischen Ziele von grundlegender Bedeutung. Insbesondere den Gesundheitsfachleuten kommt als primäre Ansprechpartner für die Bevölkerung bei der Umsetzung der NSI eine wichtige Rolle zu. Von den Ärztinnen und Ärzten wird erwartet, dass sie das Thema Impfungen mit ihren Patientinnen und Patienten systematisch angehen und sich dafür einsetzen, dass ihr Impfstatus immer auf dem neuesten Stand ist. Was sind die nächsten Schritte? Das BAG ist beauftragt, nun die Umsetzung der Nationalen Strategie zu Impfungen zu planen. Die Umsetzungsplanung soll wiederum in Zusammenarbeit mit den Akteuren er- 50 Hinweise Vol. 28 Nr. 2 2017 Europäische Impfwoche: Die Erwachsenen impfen, um die Säuglinge zu schützen Impfungen dank elektronischem Impfausweis aktuell halten Andrea Valero, Abteilung Übertragbare Krankheiten, Sektion Prävention und Promotion, Bundesamt für Gesundheit, Bern Anlässlich der Europäischen Impfwoche vom 24. bis 30. April 2017 unter dem Motto «Meine Impfung. Dein Schutz.» empfiehlt das Bundesamt für Gesundheit (BAG) allen Personen, ihren Impfstatus zu überprüfen und fehlende Impfungen wenn nötig nachzuholen. Die Kinderärztinnen und Kinderärzte können diese Aktion unterstützen, indem sie die Eltern entsprechend informieren. schaft hierzu sehr. Diese Fortschritte reichen aber noch nicht, um Ausbrüche zu verhindern, wie sie seit Anfang des Jahres auftreten. Damit die Masern ganz eliminiert werden können, ist eine Beibehaltung der Anstrengungen aller Beteiligter erforderlich: Auch in Zukunft ist es wichtig, den Impfstatus der Eltern systematisch zu überprüfen, damit bei Bedarf Nachholimpfungen verabreicht werden können. Säuglinge haben bei einer Masern- oder Keuchhustenerkrankung ein erhebliches Risiko für Komplikationen. Manchmal sind es die Eltern selbst, die ihr Kind mit diesen Krankheiten anstecken. Um eine solche Infektion zu vermeiden, ist es daher entscheidend, dass die Eltern und die Familie geimpft sind, ebenso die Personen im näheren Umfeld der Kinder. Impfempfehlungen für Keuchhusten und für Masern Fortschritte bei der Maserndurchimpfung Die Nationale Strategie zur Masernelimination 2011–2015 hat zu Fortschritten bei den Durchimpfungsraten geführt. Das BAG schätzt den wertvollen Beitrag der Ärzte- Seit Anfang 2017 gibt es eine neue Empfehlung für die Keuchhustenimpfung in der Schwangerschaft: Unabhängig vom Zeitpunkt der letzten Impfung sollen sich schwangere Frauen in jeder Schwangerschaft gegen Keuchhusten impfen - idealerweise im 2. Trimester. Ausserdem ist eine Impfung für 25- bis 29-Jährige sowie für alle Personen mit engem Kontakt zu Säuglingen unter sechs Monaten notwendig. Für Masern sollten alle nach 1963 geborenen Personen, die die Krankheit noch nicht hatten, die fehlenden Impfungen bis zu den insgesamt zwei Dosen nachholen. Meine Impfung Dein Schutz Eltern und Bezugspersonen von Säuglingen impfen sich – und schützen damit die Kleinsten vor gefährlichen Krankheiten. www.sichimpfen.ch Impf-Infoline : 0844 448 448 gegen Masern und Keuchhusten BAG_Impfwoche_20Minuten_210x138mm_d.indd 1 29.03.16 17:29 51 Der elektronische Impfausweis ist ein einfaches, modernes und effizientes Instrument, um auf dem neusten Stand zu bleiben. Das System verschickt E-Mail- oder SMS-Benachrichtigungen, wenn eine Impfung fehlt oder eine Auffrischung angezeigt ist. Während der Impfwoche kann der elektronische Ausweis gratis erstellt und validiert werden. Erhältlich ist dieser über die Webseite www.meineimpf­- ungen.ch. Für die Information junger Eltern steht ein vom BAG herausgegebener Flyer zur Verfügung, der über die Risiken von Masern und Keuchhusten für Säuglinge informiert. Die Seite www.sichimpfen.ch bietet ebenfalls zahlreiche nützliche Angaben zur Impfung und zum bestmöglichen Schutz. Zudem ist ein entsprechendes Poster für den Einsatz in der Arztpraxis erhältlich. Sämtliches Informationsmaterial kann kostenlos online bestellt werden auf www.bundespublikationen.admin.ch, Suchwort «Keuchhusten». Korrespondenzadresse [email protected] Hinweise Vol. 28 Nr. 2 2017 Kinderschutzgruppen der KKJ der CH 11.11.2016 - Wissenschaftliche Jahrestagung Christoph Stüssi und Anita Müller, Münsterlingen Ort Inselspital Bern, Auditorium Ettore Rossi Organisation Klinik für Kinder und Jugendliche Münsterlingen Der Morgen der Jahrestagung war der Thematik «Kinderschutz bei Kindern psychisch kranker Eltern» gewidmet. In der ersten Präsentation beleuchteten Michèle Berndt und Silvia Reisch aus Münsterlingen anhand von Fallbeispielen die interdisziplinäre Zusammenarbeit bei Kindern psychisch kranker Eltern in der Liaison von Pädiatrie und Kinder- und Jugendpsychiatrie. Anita Müller fasste die Problematik zusammen und zeigte zudem, wie sich in solchen Fällen ambulante und stationäre Vorgehensweisen ergänzen. Danach illustrierte Ruedi Winet von der Kesb, Bezirk Pfäffikon, ZH, die Interdisziplinarität im Kinderschutz und zeichnete die Wege auf, wie die Kesb in einen Fall einbezogen werden kann/soll. Er fokussierte auf das Erfassen der Gefährdung bei Kindern mit psychisch kranken Eltern, den Abklärungsgang und die Kompetenzen der Beteiligten inkl. der Aufenthaltsbestimmung. Wie wirkt sich die psychische Krankheit eines oder beider Elternteile auf ihre Kinder aus? Daniel Schechter, der in Genf und New York arbeitet, stellte detailliert dar, dass Vertrauen und Selbstregulation auf einer gesunden Beziehung zu gesunden Eltern beruht und sonst die Dysregulation droht. Er unterstrich dies insbesondere mit einer breiten Palette von präzisen Studien aus der eigenen und von fremden Forschungsgruppen aus verschiedenen Ländern, und demonstrierte die Auswirkungen auf die Zusammenarbeit zwischen neuronalen Zentren im ZNS und deren molekularer Basis. Der Nachmittag gehörte dem brisanten und für die Kliniken leidigen Thema des in fast jedem Fall erbitterten Streits, um die Finanzie- rung der Kinderschutzarbeit und die Abgeltung der Fälle mit Kinderschutz-Charakter. Was ist zu finanzieren? Schutz und Unterkunft, Medizinische Behandlung, Rechtsvertretung, Sozialpädagogische Familienbegleitung (SPF). Anita Müller präsentierte die Resultate einer Umfrage bei den Schweizer Kinderkliniken und Kinderspitälern und zeigte danach auf, dass die Finanzierung von Patienten mit somatischen und psychischen Pathologien und Kinderschutzfragen in die finanzielle Zuständigkeit der Krankenkassen fallen. Wenn Kinder nach einer solchen ersten Phase mehr Zeit im Spital bleiben müssen, weil sie beispielsweise aus organisatorischen Gründen noch nicht entlassen werden können und weiterhin professionelle Betreuung benötigen, geht die Unterbringung zu Lasten der Gemeinden, der Kanton ergänzt durch einen Elternbeitrag, während die Behandlung weiterhin zu Lasten der Krankenkassen abgerechnet wird und «ambulanten» Charakter hat. Das gleiche gilt für die «Schlupfhaus-Patienten», Unterbringung zu Lasten Gemeinden/Kanton, Behandlung zu Lasten KK. Sie unterstrich dabei, welchen enormen Aufwand es bei jedem einzelnen Fall bedeutet, die Abwehrhaltungen der verschiedenen Kostenträger zu durchbrechen und die an sich klaren gesetzlichen Lösungen auch durchzusetzen. Die Organisatoren wollten deshalb alle Player und insbesondere die Kostenträger zu Wort kommen lassen, um so eine gemeinsame Diskussion anzustossen und einen Weg zu bahnen, um wegzukommen von der jahrelangen, kleinlichen Abwehrpolitik, insbesondere der Krankenkassen, um deren Sachbearbeitern und Vertrauensärzten letztlich ein klares, gegenseitig anerkanntes, zeit- und ressourcensparendes Vorgehen vorschlagen zu können. Bereits im September hatte der Krankenkassenverband santésuisse für ein Referat und die Diskussion zugesagt, zog diese Zusage dann jedoch eine knappe Woche vor dem 11.11. wieder zurück mit der unhaltbaren Ausrede, dass es von Seiten Kassen nichts zu präsentieren gäbe, Kinderschutzfälle seien 52 gemeinwirtschaftliche Kosten und die Kassen seien nicht zuständig, Abgrenzungsprobleme gäbe es deshalb keine. Diese, von den Organisatoren der Fachtagung als unanständigen Affront gewertete Haltung ist ignorant und zynisch. Keine Frage, dass die Kassen hier klar falsch liegen: Jeder Kinderschutzfall betrifft ein Kind mit zumindest grosser psychischer Not und damit nicht nur einer Schutzbedürftigkeit, sondern auch der Notwendigkeit zu professioneller Abklärung und Therapie. Genau dies setzte Magdalena Meyer-Wiesmann mit ihrer jahrelangen Erfahrung als Gemeindepräsidentin in ihrem Referat als Vertreterin des Schweizerischen Gemeindeverbandes in Beziehung zu den rechtlichen Grundlagen und den dadurch begründeten Verfahrensschritten und zeigte dann deren Finanzierung auf. Besonders zu unterscheiden sind dabei freiwillige von angeordneten Massnahmen. Astrid Strohmeier als Beraterin von Gemeinde- und Kantonsbehörden mit dem beruflichen Hintergrund als Gemeinde-Sozialarbeiterin ergänzte die Abklärung der Finanzierung und der Zuständigkeiten dafür bei Kindesschutzfällen und illustrierte die komplexen Wege über die örtliche und die sachliche Zuständigkeit, welche Basis sind für (subsidiäre) Kostengutsprachen und letztlich eine kontinuierliche Kinderschutzarbeit auch in schwierigen Fällen sichern. Die Kosten, insbesondere für Fremdplatzierungen sind enorm und können kleinere Gemeinden finanziell überfordern. Sie stellt deshalb die Frage, ob die Prozesse nicht mit einem z. B. kantonalen Kostenpool beschleunigt werden könnten. Sie betont, dass trotz dieser Sachfragen immer das Kindswohl im Mittelpunkt steht, eine lange Verfahrensdauer an sich aber auch eine gewisse Kindswohlgefährdung darstellt. Danach zeigte Elisabeth Rietmann die Beratungs- und Finanzierungsmöglichkeiten der Opferhilfe gemäss OHG. Dieses verlangt, dass unterstützte Personen/Kinder effektiv Opfer sind. Dies ist aber bei praktisch allen Fällen von Kinderschutz und insbesondere bei häuslicher Gewalt gegeben, denn die Kinder sind mittendrin. Sie zeigte im Besonderen auf, dass die Diskussion über die (finanziellen) Zuständigkeiten nicht nur die dringend nötigen Handlungen verzögert, sondern insbesondere den Unterstützungsprozess verlangsamt und damit das Familiensystem noch weiter verunsichert anstatt ihm Halt zu geben – und zudem dem Vertrauen in Behörden und Organe schadet. Hinweise Vol. 28 Nr. 2 2017 Christoph Stüssi präsentierte zum Abschluss Fakten und Anleitung dafür, wie Kinderschutzfälle unter DRG, insbesondere mittels der «Komplexbehandlung Kinderschutz» dokumentiert und damit deren Finanzierung durch die Krankenkassen gesichert werden kann und muss. Dass sich Kinderschutzfälle mit entsprechender CHOP-Codierung abrechnungstechnisch von den übrigen Fällen mit gleicher DRG differenzieren und damit korrekt abgegolten werden können, ist abhängig davon, dass diese DRG und die CHOP-Codierung auch konsequent bei Kinderschutzfällen genutzt und alle entstandenen Kosten auch auf den Fall und nicht «gemeinwirtschaftlich» abgerechnet werden. Zusammenfassung und Links zu den Referaten werden auf der Homepage der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie (SGP) aufgeschaltet. Korrespondenzadresse Dr. med. Christoph Stüssi Chefarzt Pädiatrie Spital Thurgau AG Klinik für Kinder und Jugendliche Kantonsspital 8596 Münsterlingen TG [email protected] 53 Hinweise Vol. 28 Nr. 2 2017 Helpline Seltene Krankheiten Sabrina Strebel, Saskia R. Karg und Matthias R. Baumgartner*, Zürich Merkmale von seltenen Krankheiten Eine Krankheit gilt in Europa als selten, wenn sie weniger als eine von 2000 Personen betrifft. Die Mehrzahl der seltenen Krankheiten weist jedoch eine wesentlich geringere Prävalenz, d. h. 1 zu 50 000 oder oft sogar < 1 zu 100 000 auf. Heute sind mehr als 7000 verschiedene, seltene Krankheiten identifiziert. Obwohl jede einzelne nur eine geringe Anzahl Menschen betrifft, ergibt dies für alle zusammen 6-8% der Bevölkerung. Somit sind in der Schweiz rund 500 000 Menschen und in Europa rund 30 Millionen Menschen von einer seltenen Krankheit betroffen1) . Die ersten Symptome treten meist im Kindesalter auf und zwei Drittel der diagnostizierten Fälle sind Kinder oder Jugendliche. Die Ursache für rund 80% der seltenen Krankheiten ist genetisch bedingt 2) . Gemeinsame Herausforderung trotz unterschiedlicher Krankheitsbilder Die Symptome und das Erscheinungsbild jeder einzelnen Krankheit sind äusserst heterogen. Trotzdem weisen seltene Krankheiten einige Gemeinsamkeiten auf. Sie verlaufen überwiegend chronisch und sind oft invalidisierend und/oder lebensbedrohlich. 80% der Krankheiten verkürzen die Lebenserwartung der Betroffenen und man geht davon aus, dass 35% der Todesfälle im ersten Lebensjahr auf eine seltene Krankheit zurückzuführen sind 3) . Durch die statistische Seltenheit, die damit verbundene geographische Streuung und den begrenzten medizinischen Kenntnisstand, stossen Betroffene meist auf vergleichbare Erlebnisse und Schwierigkeiten. Oft durchleben sie eine jahrelange Odyssee der Ungewissheit bis die richtige Diagnose gestellt werden kann. Das Wissen von Ärzten und Spezialisten ist begrenzt und oft fehlen diagnostische Tests. Betroffene und ihre Familien sind zudem nicht selten damit konfrontiert, dass weder Krankenkassen noch die Invalidenversicherung die Kosten für (gen-)diagnostische Abklärungen übernehmen. Ist die korrekte Diagnose gestellt, steht den Betrof- fenen häufig keine wirksame Therapie zur Verfügung. Ein grosses Hindernis zur Entwicklung von Behandlungs- und Forschungsprogrammen stellt die niedrige Prävalenz jeder einzelnen Krankheit dar. Zudem ist der Markt aus Sicht der pharmazeutischen Industrie beschränkt, was die Investition in die Entwicklung von komplexen, spezifischen Therapien nicht lohnenswert macht. Für nur gerade 5% der seltenen Krankheiten existiert eine Behandlung, die meisten sind unheilbar 3) . Zu dieser grossen Belastung für die Betroffenen und ihre Familien kommen eine erschwerte soziale, berufliche und politische Integration und häufig der psychische Leidensdruck infolge Isolation hinzu. Noch längst nicht alle Betroffenen können auf eine Patientenorganisation zurückgreifen. Meist hängt es vom Engagement der Betroffenen und ihrem Umfeld sowie den behandelnden Ärzten und Experten ab, ob ein Krankheitsbild ins Bewusstsein der Öffentlichkeit tritt und auf politischer Ebene, bei der Pharmaindustrie, bei Geldgebern und in der Forschung für ihre Krankheit etwas bewirkt werden kann. Das Angebot der Helpline Seltene Krankheiten In der französischsprachigen Schweiz gibt es bereits seit 2014 eine Initiative der beiden Universitätskliniken Centre Hospitalier Universitaire Vaudois und Hôpitaux Universitaires de Genève (www.info-maladies-rares.ch) 4) . Das Portal gibt Einsicht in das klinische Angebot, gibt Informationen über Krankheitsbilder und verfügbare Spezialisten in der welschen Schweiz. Zudem sind zwei Beraterinnen am CHUV und HUG über die Mailbox des Portals oder die telefonische Helpline erreichbar. Nach dem Vorbild der Helpline in der welschen Schweiz hat die Helpline Seltene Krankheiten (www.kispi.uzh.ch/helpline-selten) Mitte Mai 2016 am Kinderspital Zürich ihre Arbeit aufgenommen. Sie ist eine unabhängige Dienstleistung für Kinder und Erwachsene in Zusammenarbeit mit dem Universitätsspital Zürich. Die Helpline dient als Anlaufstelle für Informationen rund um seltene Krankheiten für Betroffene, Angehörige, Gesundheitsfachpersonen * Abteilung für Stoffwechselkrankheiten, Kinderspital Zürich, Steinwiesstrasse 75, 8032 Zürich 54 sowie involvierte und interessierte Personen. Patienten und ihr Umfeld fühlen sich oft alleingelassen, da es schwierig ist, verlässliche Informationen zu erhalten oder Unterstützung, die hilft, ihre alltäglichen Probleme zu lösen. Aktuell betreffen 60% der Anfragen Erwachsene und 40% Kinder. Die Helpline informiert über bestehende Patientenorganisationen, krankheits- und personenbezogene Ressourcen, Experten und Fragen zu Forschungsprojekten. Zudem erhalten Anfragende Auskunft über Ansprechpersonen betreffend fachspezifischen medizinischen Fragen, rechtlichen Fragen, Fragen im Sozialversicherungsbereich, finanzielle Unterstützung, Kostenübernahmen, Bezug von Hilfsmitteln und allgemein Unterstützung im Alltag. Anfragen können telefonisch während bestimmten Zeiten oder per E-Mail gemacht werden (+41 44 266 35 35, [email protected]). Durch die Ansiedlung am Kinderspital, die Vernetzung mit Fachärzten und Spezialisten, aber auch durch die Zusammenarbeit und den Erfahrungsaustausch mit der Helpline in der welschen Schweiz können für Betroffene und ihr Umfeld Informationen bereitgestellt werden, die sie beim Umgang mit den Herausforderungen einer seltenen Krankheit unterstützen. Referenzen 1) Bocoud M, Paccaud F. Estimating the prevalence and the burden of rare diseses in Switzerland: a short report. Institute of Social and Preventive Medicine 2014. 2) Institute of Medicine (US) Committee on Accelerating Rare Diseases Research and Orphan Product Development; Field MJ, Boat TF, editors. Rare Diseases and Orphan Products: Accelerating Research and Development. Washington (DC): National Academies Press (US); 2010. 3) Global Genes, Rare Disease: Facts and Statistics. 4) Strom A, Murphy A, Lazor R, D’Amato L, Bonafé L, Barbey F. Portail romand des maladies rares: refonte du site web et bilan d’activité de la Helpline. Paediatrica 2015 ; 26(3): 27 Korrespondenzadresse Dr. Saskia R. Karg Abteilung für Stoffwechselkrankheiten Kinderspital Zürich Steinwiesstrasse 75 8031 Zürich [email protected] Pharma-News Elternbasierte Prävention zur Stärkung von Kindern und Jugendlichen altersgemässe Informationen erhalten und sich auf einem von Fachpersonen moderierten Forum austauschen können. Die gesunde Entwicklung der Kinder zu fördern heisst auch, die suchtkranken Eltern in ihrer Elternrolle zu unterstützen. Die Website www.elternundsucht.ch wurde mit betroffenen Eltern entwickelt und bietet Hilfe dazu, wie sie der Elternrolle trotz noch nicht überwundener Sucht gerecht werden können. Die Eltern stehen im Zentrum der Suchtprävention Eines der Ziele der Suchtprävention ist es, den Konsumeinstieg zu verzögern und risikoreichen Konsum vorzubeugen. Mütter und Väter spielen dafür eine wichtige Rolle. Deshalb ist die Unterstützung der Eltern im Hinblick auf Suchtprävention bei ihren Kindern eine zentrale Aufgabe von Sucht Schweiz. Dies beginnt bereits bei der Schwangerschaft, indem Sucht Schweiz schwangere Frauen und ihre Partner für die Risiken des Alkohol- und Tabakkonsums während der Schwangerschaft und der Stillzeit sensibilisiert. (siehe auch Anzeige auf Seite 56) Angebote für Eltern von Jugendlichen Für Eltern von Teenagern bietet Sucht Schweiz spezifische Leitfäden für das fa- milieninterne Gespräch über den Umgang mit Alkohol, Tabak, Cannabis und Internet an. Neun Elternbriefe behandeln Themen wie den Ausgang, den Gruppendruck, das Setzen von Grenzen sowie das Gespräch während der Jugendzeit und sind im Webshop (shop.addictionsuisse.ch) von Sucht Schweiz bestell- und herunterladbar. Diese Dokumente eignen sich ideal fürs Auf legen im Wartesaal. Eltern haben ausserdem die Möglichkeit, sich für einen elektronischen Newsletter einzuschreiben, der zwei bis vier Mal pro Jahr erscheint und aktuelle jugendspezifische Themen behandelt. Unter der Telefonnummer 0800 104 104 beraten die Fachpersonen von Sucht Schweiz kostenlos bei Fragen zu Suchtmittelkonsum, Internetnutzung oder Glücksspiel. Suchtbetroffene Eltern Für Familien mit suchtkranken Eltern sind besondere Angebote geschaffen worden. Denn Schätzungen gehen davon aus, dass rund 100 000 Kinder mit mindestens einem suchtkranken Elternteil aufwachsen. Sie haben bessere Chancen, sich ohne gravierende Störungen zu entwickeln, wenn sie darüber reden können und frühzeitig Unterstützung erhalten. Für betroffene Kinder und Jugendliche hat Sucht Schweiz die Website www.papatrinkt.ch respektive www.mamatrinkt.ch geschaffen, wo sie Vielen Dank für Ihre Unterstützung Sucht Schweiz stellt eine breite Palette von kostenlosen Informationen für Eltern und suchtbetroffene Familien zur Verfügung (http://www.suchtschweiz. ch/eltern/). Im Verlauf der ersten Jahreshälfte 2017 wird Sucht Schweiz die bestehenden Angebote mit einer Facebookseite ergänzen. Durch verschiedene Kommunikationsmassnahmen sollen die Angebote breiter bekannt gemacht werden. Vielen Dank fürs Weitersagen! Im Übrigen wird die Hälfte der Aktivitäten von Sucht Schweiz durch Spenden von Privatpersonen getragen. Sind Sie auch dabei? Dann machen Sie vom Postkonto 10-261-7 gebrauch. Danke. 1008082 Sucht Schweiz ist eine unabhängige, gemeinnützige Stiftung mit dem Zweck, Probleme zu verhindern oder zu vermindern, die durch Suchtmittelkonsum oder anderes Suchtverhalten entstehen. Dadurch leistet Sucht Schweiz einen wichtigen Beitrag zur Förderung der Gesundheit, insbesondere von gefährdeten Bevölkerungsgruppen. Als nationales Kompetenzzentrum ist Sucht Schweiz in der Prävention, Wissensvermittlung und Forschung tätig und unterstützt betroffene Personen sowie Angehörige mit einem Beratungsdienst und der Direkthilfe. Sensibilisierung und Unterstützung von Fachleuten Gleichzeitig misst Sucht Schweiz der Sensibilisierung von Fachleuten im Bereich Kinderbetreuung und Sucht grosse Wichtigkeit zu. Es werden verschiedene Weiterbildungen zum Thema «Sucht und Familie» angeboten. Zudem können Fachleute, die mit Kindern zwischen vier und acht Jahren arbeiten, unter http://boby.suchtschweiz.ch auf Material zurückgreifen, das eine aktive Unterstützung von Kindern aus suchtbetroffenen Familien ermöglicht: Neben dem bestellbaren Bilderbuch bietet die Website Hörgeschichten mit einem Hund, dessen Herrchen ein Problem mit Alkohol hat. Ein pädagogisches Heft rund um die Geschichten ist ebenfalls erhältlich. Hinweise Vol. 28 Nr. 2 2017 Schwangerschaft und Alkohol/Tabak: Gut zu wissen GIFTIGE PRODUKTE h und kann Auch Passivrauch ist gefährlic n. insbesondere Kinder schädige verursachen Diese giftigen Substanzen Krebs iten, fkrankhe Kreislau Herz- und kungen. gserkran Atemwe und Informat ionen fü Mütter, r werden Fr de Väter so auen mit Kinder wie Nahe wu stehende nsch, 20.0482 nde Informationen für werde Mütter, Frauen mit Kinderwunsch, Väter sowie de tehen Nahes en, Shisha, Tabakprodukte wie Zigarett usw. enthalten sehr elektronische Zigaretten Substanzen. viele gesundheitsschädigende 20.0482 SCHWANGERSCHAFT UND TABAK: GUT ZU WISSEN SCHWA N SCHAF GERT UND ALKOH O ZU WIS L : GUT SEN Die Stiftung Sucht Schweiz hat Ende 2016 eine Informationsbroschüre über das Thema Alkohol und Tabak während der Schwangerschaft veröffentlicht, die für Schwangere und ihr Umfeld bestimmt ist. Sie wurde in Zusammenarbeit mit Experten in Sucht, Geburtshilfe und Pädiatrie ausgearbeitet und ist Teil eines Projektes, das vom Nationalen Programm Alkohol finanziell unterstützt wird. Im Laufe des Jahres 2017 ist die Erarbeitung eines Online-Ratgebers für Ärzte über das Thema Schwangerschaft und Alkohol/Tabak geplant. IT WÄHREND DER STILLZE TEHENDE PARTNER UND NAHES WAS TUN ? SICH WENDEN ? AN WEN KÖNNEN SIE hende spielen Sie oder Rat suchen, Als Partner oder Naheste Wenn Sie Fragen haben Gesundheit der n Eigenschaften tin/Ihrem NGERSCHAFT eine wichtige Rolle für die Aufgrund seiner positive nehmen Sie mit Ihrer Hausärz WÄHREND DER SCHWA das Kind ist das des Kindes. Sie können EIN KIND ogin/ Ihrem werdenden Mutter und und Schutzfunktion für Hausarzt, Ihrer Gynäkol SIE WÜNSCHEN SICH e, Ihrer enthaltenen Gifte sie aktiv unterstützen : Die in Tabakprodukten Stillen zu empfehlen. Gynäkologen, Ihrer Hebamm ALKOHO ert Kind. vermind Ihrem zu Plazenta odukten er, einer die ie die Plazenta über Tabakpr und die von ONSUM die Menge auf eine rauchfre gelangen über die Der KonsumLK Apothekerin/ Ihrem Apothek Die Gifte und die Gase, Frauen. Zum Beispiel indem Sie Das Rauchen beeinflusst Kind ein. BEI FR Ihr n und den gsstelle für auch h Männer Beratun atmet wichtig, von , n, gefährlic einer rkeit daher sind , rauchen AUEN Es ist Sie AlsFruchtba Was Sie einatme die Stillberaterin oder zum Kind gelangen Frau rea Umgebung achten. Wenn Qualität der Muttermilch. uch. gieren Sie Sauerstoffzufuhr. zu rauchen. zu gründen, gilt ebenfalls für Passivra ihrer Gegenwart als Dies Kontakt auf. Fötus und vermindern die empfi SIE WÜ Wunsch nner. eine Familie verzichten Sie darauf, in DerMä auch nach der Geburt nicht ndlicher während NSCHEN ab einer Zigarette pro Tag odukten nicht die Gelegenheit auf Alk Dadurch erhöht das Rauchen zusätzlich motivieren, positive Stillzeit führt dazu, Be SICH EIN zu rauchen. Und warum Das Rauchen schon kann Mit dem Konsum von Tabakpr kt der i gleSie ichem Ge für Ihre Gesundheit zu ohol Das Rauchen während der n Ablauf der das Risiko für eine normale Rauchen erschaft in den KI dem Zeitpun zen für mit Sie, Schwang ND jedem für Vo Substan der zu selber wicht un Risiken giftige m Wu Alk ergreifen, birgt Entsche aufzuhören ist ohol istidungen gerungen, ein nsch ein d gleich e Kind. dass Nikotin und andere Ihr für Mutter und Kind. Mo Frühgeburt, Wachstumsverzö Famfür das werdend erschafte und n. alstreffen. ment, in aufzuhören ? Schwang WÄ Schwangerschaft positiv bei einem e Blutalkoholkon er Menge HRENGeburts oder den plötzlichen die Muttermilch gelange dem die ilie zu gründden zenzeugen, zu D DER gewicht Mann feststellt geringes tration hö währen der Vorwürfen zu e, zögern Sie nicht, Fra bis zum len, SCHWAN u die Gesun die Chancen. , ein Kind zu h ist es, gleich kannempfoh Es ist wichtig, nicht mit Daher ,wird Umde her Bereitet Ihnen dies Problem Schwangzu ver. ein auf das GERSCH Am wenigsten gefährlic Fra,ue Rauchen AlkKindstod werdenden Mutter und Männern daher erschaft sich Unterstützung in gere Ze UmSchwan ohol ver n solFrauen wird : So kann der gerschaeftlän ein bis AF zu verhin reagieren, wenn es der erhöhen lten desha darüber zu sprechen und it vergerauch teiRauchst maximal nach dem Stillen zu rauchen lt sich nac opp können Sie sich T gehen. t . . Sagen Sie dern, sonen zu holen. undMit welchen rauchen in rauchen lb Fachper zu zu einem Sch bei nic Stillen Räume, nicht nicht n gle zw oder das MÖ und len, ällt, pro Tag wa ht nächste h Umfeld ei ich schwerf zichten empfoh s Ihr dem Koder SchwangerIhrem me GLICHpiegel bis zum ngerscha Standard mässig zu jeder trinken Nikotins nsum ras E AUSW Plazen Kindim Blut Zeit ft grö.sse Kind zu Begin gläser Alk hr als da sind, wenn sie über Ihrem ausges sie . für und meiden Sie zu AU ta dass ch ihr, wird, un IRK üb n etz F ren Meng d gel ohol der hört DIE GE er dieGutes sinken. Pro Woche nie zu spät, t ist, em istang wieder tun. Es möchte und Kinde Nabelsc SUNDHE UNGEN ennicht etwas pfe Frauen schaft Alkohoder s. ihren Konsum nachdenken hnur ins t von der TrinkEin uch. n wirraucht ol freie Tag sollten mindest IT DESPassivra Grossteil derhle en Sie tzung bei Ihnen :erschaft Blut des damit KINDES e eingeh aufzuhören. Schützen Sie Ihr Kind vor keinen ens zwei Die ges en Sie sie, sich Unterstü Gemäum Schwang WÄ motivier der un seiner in d od während d alt un ss HR alk nieman an, oder die er ihr dh en heutigen vor dass EN DE zu suchen. Bieten Sie oholnur wenig s nicht eitlich darauf, werden. Eine Fra Achten Sie hängen erhöht das Risiko für ein en Risike Erkenntn schwer. wis uchen jeden Tag R STILL FachperDsonen u, fällt dies sensch Alkohol Auch vom auf, aber einigen n für das issPassivra Vermeid ZEIT zum Arzt/ zur . aft.lichen Stadium en wird mehr Alk die ausnahmswe raucht. Nähe von de gewicht empfogeringes eine Fachstelle oder Aufgrsie Kind en Sie au vorsic der Sch oh ise einma r Da unauf hlen, wä Geburts Situation befinden, d seine KonsumFalls Sie chindedieser Standard ol trinkt, sollte sich l etwas n, wenn sie dies möchte. ber ng leiden hrend de htshal n geleg der Trinkm uer des Alkoholk wangerschaft, r positive auf den und Sch zu begleite grösserer Ärztin gläser be sic Umgebu PARTNE ienwa entlic tzung r Sch Alkoh rauchfre utz n Eigen Unterstü einer dieen Meng Dank he von schränken h auf vier olkon R UND ngerscha kungen, Falls Siekönnen Sie auf Entwick enge ab. Der Alk onsums sowie schaften Stillen zu funktion für sum Alkohol. n NAHEST . Atemwe Die Me Kinder seltener lungsstör Alkoholsonen zählen. Etwa die ft anzu das Kin ohol kan empfehle verzicgserkran hrh gleiche get d ist da EHENDE zu kör un Fachper n hte anfällig eit gen des runken wissen, zu perliche weniger n. der FraAllergien und sindn. Während Alkoholme s währendInfektion Seien Sie Gehirns, nge ist ent der Schwa unruhige dass Sie schwa haben, ohne Fällen zu n Schädigung der Sch en, uen verzichte zurückha zu oft mehr halten in en und aber ein für Asthma. wangers nger sin Alkohol. n Sie sic t einer Feh ltend im : auf ihre ngerschaft ach in besti d, beigen fäl chaft au h nicht. Fragen lge Um bu ten Frauen mm Gesun ber ga In lt rt ein Sie könne f Alkoh ng mit eit, gew der Sch dies sch ten führen. A Falls Sie Der Alk ol, weiz we isse Gewo dheit und sin wer. Gesundh em Arzt/einer n oh Als sich in die Kindern rde d eher ol, Ärztin od Ihre eitsfachp hn Pa n bei ein den sie heiten zu rtner od vermeide trinken, Au ser Situat er einer währe erson ste em von er Nahe ändern. eine wic gelangt n Alkoholk swirkungen de hundert llen. W stehe auch in nd der Stillzeit hti Mengen Sie es in jedem ion befinden, und ver s onsums 1 Gläschen die Mutte mindert werdend ge Rolle für die nde spielen Sie Alkohol festgeste mütterlichen Fall, grö Schnaps ne Mi die be rm zu sse en Mutte Ge t einem llt. i einer Ge ilch trinken Milchpro re 1 Glas Wein Trinken r und de sundheit der duktion legenhe Ha Sie können Sie keine Ihrem Kin Trinkstopp kön Fachpers . Zögern Sie nic s 1 Stange Kin . it des. Sie nach ne n Bier d währe ht, mit ein on zu spr Gy gutem Be sie unterstütze zu jeder einem Sta Alkohol oder wa nd der Sch n Sie sich und echen. er n, mindest Zeit etw isp rten ndardgla Apo indem Sie iel vorangehe indem Sie mit en as Gutes wangerschaft n, Standard s 2 Stunden bzw s Alkohol tun. Still verzichte auf den Konsum insbesondere gläsern . nach zw n. wieder von Alkoh Alko stillen. 4 Stunden, bevo ei attraktiv Offerieren Sie zum Beisp ol e alkoholf r Sie Gäste hab reie Geträ iel Mit e en. nke, we auch nn Sie des A Es ist wic htig, nic Ihrem ht wenn es der werde mit Vorwürfen jeder Z zu reagie Alkohol nden Mu zu ren, tter sch werfällt, sie da sin verzichten. Sag Wenn S en auf d, wenn sie mit jem Sie ihr, dass Sie möchte. haben, i Mo für bei Fachp tivieren Sie sie andem sprechen sich Unt , sic ers an, sie auf onen zu suchen h Unterstützu Fachpers ng Ärztin zu eine Fachstelle . Bieten Sie ihr oder zum begleiten, Arzt/ zur wenn sie dies mö chte. EN MÖGLICHE AUSWIRKUNG CHAFT AUF DIE SCHWANGERS DES KINDES UND DIE GESUNDHEIT Korrespondenzadresse Sucht Schweiz Avenue Louis-Ruchonnet 14 Case postale 870 1001 Lausanne Tel. 021 321 29 11 [email protected] Wozu eine Charta für SGP-Mitglieder? Information für unsere Praxiskollegen Nicole Pellaud, SGP-Präsidentin, Genf und Sion Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Unsere Mitglieder haben auf den Erhalt dieser Charta sehr unterschiedliche Reaktionen gezeigt, es scheint mir deshalb sinnvoll, Hintergründe und Zweck des in Vorstand und Delegiertenversammlung diskutierten Vorgehens klarzustellen. In gewissen grösseren Städten entstehen Ärztezentren, die Ärzte einstellen, die nicht alle immer gemäss den in der Schweiz gültigen pädiatrischen Empfehlungen praktizieren, die lokalen Netzwerke nicht kennen und Kinder betreuen, ohne über eine pädiatrische Ausbildung zu verfügen. Wie kann unter diesen Umständen den Eltern gegenüber die Qualität der Betreuung, die sie in Ihrer Sprechstunde antreffen, herausgestellt werden? Warum sollen Eltern eher einen Kinderarzt aufsuchen, der den in der Schweiz validierten Ausbildungskriterien entspricht, als einen anderen Arzt? Es geht nicht darum, unseren Mitgliedern einen Good-practice-Ausweis auszustellen oder sie mit Leitlinien zu versorgen, sondern den Kinderarztpraxen, die es wünschen, eine Information für Eltern zur Verfügung zu stellen, die aufzeigt, weshalb es sich lohnt, einen Kinderarzt aufzusuchen. Es steht jedem SGP-Mitglied frei, diese Charta, die unseren Einsatz zugunsten der Kinder und Jugendlichen in der Schweiz würdigt, in seiner Praxis aufzulegen. Korrespondenzadresse [email protected] 56 Juristisches Vol. 28 Nr. 2 2017 Neues Kindesunterhaltsrecht ZGB). Diese Massnahme verbessert die Lebensqualität der Kinder, durch die Begünstigung des Elternteiles, der für ihren Unterhalt aufkommt. Bénédicte Laville, Fribourg Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Das neue, am 1. Januar 2017 in Kraft getretene Kindesunterhaltsrecht berücksichtigt eine Reihe von geäusserten Kritiken des vorher gültigen Rechts, das Ungleichbehandlungen zwischen verheirateten und unverheirateten Eltern schuf und das Kind finanziell benachteiligte. Es wurden mehrere Mechanismen geschaffen, um eine bessere Berücksichtigung der finanziellen Bedürfnisse des Kindes zu gewähr­leisten: 1.Vorrang der Unterhaltspflicht zugunsten des minderjährigen Kindes: Nach früherem Recht konnte der Unterhaltsbeitrag an das Kind bei beschränkten finanziellen Mitteln vermindert werden, wenn er den Anteil des geschiedenen Ehegatten konkurrenzierte. Das neue Recht führt eine Hierarchie unter den verschiedenen Unterhaltsbeiträgen ein, um eine Verschlechterung der kindlichen Situation zu vermeiden. So hat die Unterhaltsverpflichtung gegenüber einem minderjährigen Kind Vorrang gegenüber den übrigen familienrechtlichen Unterhaltspflichten (Art. 276a Abs. 1 ZGB). 2.Unterhaltsbeitrag zur Gewährleistung der Betreuung des Kindes: Die Betreuung eines Kindes verursacht Kosten, sei sie nun durch Dritte (Kinderhort, Tagesmutter, aus­ serschulische Betreuung usw.) oder durch die Eltern sichergestellt. Die durch die Eltern aufgewendete Zeit verursacht indirekte Kosten, die sich in der Praxis als vermindertes Erwerbseinkommen auswirken, beziehungsweise durch vermehrt Haushalt und Familien­aufgaben gewidmetem, unbezahltem Zeitaufwand. Während Umfang und Dauer der zu leistenden Betreuung der Kinder im Rahmen des nachehelichen Vorsorgeunterhaltes festgehalten werden (Art. 125 Abs. 2 Ziff. 6 ZGB), wurden diese Elemente im Falle unverheirateter Mütter früher nicht berücksichtigt. Um die Gleichheit zwischen verheirateten und unverheirateten Eltern herzustellen, schreibt das Gesetz nun vor, dass der Unterhaltsbeitrag auch dazu dienen soll, die Betreuung des Kindes durch die Eltern oder durch Dritte zu gewährleisten (Art. 276 Abs. 2 und Art 285 Abs. 2 ZGB). 3.Verjährung: Die Dauer während welcher ein Kind seine Ansprüche gegenüber seinen Eltern geltend machen konnte, ohne sich einer Verjährungseinrede gegenüber zu sehen, unterschied sich je nachdem, ob der unterhaltspflichtige Elternteil die elterliche Sorge innehatte oder nicht. In ersterem Fall lief die Verjährung nicht, solange die elterliche Sorge rechtskräftig war. Um seine Rechte zu wahren, hatte das minderjährige Kind im gegenteiligen Fall, d. h. wenn der unterhaltspflichtige Elternteil die elterliche Sorge nicht innehatte, sei es infolge Scheidung, Entzug der elterlichen Sorge oder im Falle nicht verheirateter Eltern, keine andere Wahl, als gegen den unterhaltspflichtigen Elternteil gerichtlich vorzugehen. Indem mit dem neuen Recht die Verjährung erst nach der Volljährigkeit des Kindes beginnt (Art. 134 Ziff. 1 OR), bleibt die persönliche Bindung zwischen unterhaltspflichtigem Elternteil und Kind erhalten. Die Stellung des Kindes ist damit in finanzieller Hinsicht besser geschützt. 4.Besserstellung des Kindes bei gerichtlichen Verfahren: Gemäss Art. 299 bis 301a ZPO kann das Gericht für das Kind wenn nötig einen Beistand anordnen, um es in Fragen seine Unterhaltsbeiträge betreffend und auch im Falle eines Verfahrens zu vertreten. 5.Teilung der beruflichen Vorsorge: Es ist erwähnenswert, dass am 1. Januar 2017 eine Reform in Kraft getreten ist, welche die Teilung der beruflichen Vorsorge im Scheidungsfall betrifft und indirekt Folgen auf die finanzielle Lage der Kinder hat. Im Prinzip wird das während der Ehe und bis zum Zeitpunkt der Einleitung des Scheidungsverfahrens erworbene Vorsorgeguthaben bei der Scheidung hälftig geteilt (Art. 122, 123 ZGB). Der Richter hat jedoch seit dem 1. Januar 2017 die Möglichkeit, dem berechtigten Ehegatten, der nach der Scheidung den Unterhalt der gemeinsamen Kinder übernimmt, mehr als die Hälfte der Austrittsleistung zuzuteilen, unter der Bedingung, dass der verpflichtete Ehegatte noch über eine angebrachte Alters- und Invaliditätsvorsorge verfügt (Art. 124b Abs. 3 57 Auswirkungen und konkrete Anwendung dieser Reform des Kindesunterhaltsrechtes sind angesichts des erst vor kurzem erfolgten Inkrafttretens noch schlecht bekannt, und es bestehen noch Fragen zur praktischen Umsetzung. Der Gesetzgeber hat insbesondere darauf verzichtet, eine Berechnungsmethode für die Unterhaltsbeiträge festzulegen, und überlässt es somit dem Ermessen des Richters, die Höhe des Unterhaltsbeitrages im Einzelfall zu bestimmen. Es wird interessant sein, die Entwicklung der diesbezüglichen Recht­ sprechung zu verfolgen. Korrespondenzadresse Benedicte Laville Responsable Secteur juridique UPCF Rue de l’Hôpital 15 Case postale 1552 1701 Fribourg [email protected] Aktuelles aus dem pädiatrischen Fachbereich Neonatologie Update 2016 Matthias Roth-Kleiner, Lausanne Romaine Arlettaz Mieth, Zürich Organisation Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie (SGN) Vorstand Präsident: Matthias Roth-Kleiner, Lausanne Vize-Präsidentin: Romaine Arlettaz Mieth, Zürich Past-Präsident: Riccardo Pfister, Genève Quästor: Sven Schulzke, Basel Mitglieder: Marion Mönkhoff, Zollikerberg; Thomas Berger, Luzern; Mathias Nelle, Bern Webseite www.neonet.ch Mitgliederzahl der SGN Voll-Mitglieder: 154 Ausserordentliche Mitglieder: 30 Kollektivmitgliedschaften: 3 Ehrenmitglieder: 4 Sekretariat Schweizerische Gesellschaft für Neonatologie Meeting.com, Sàrl Rue de Pâquis 1, CP 100 CH-1033 Cheseaux-sur-Lausanne Email: [email protected] Tel.: +41 21 312 9261 Fax: +41 21 312 9263 Aktivitäten Jahres-Kongresse - 12.01.2016, Basel: «Developmental aspects of neonatal lung diseases» - 10.01.2017, Zürich: «Challenges in perinatal and neonatal infectious diseases» Alle Vorträge können angeschaut werden auf unserer Homepage. Link: www.neonet.ch (Go and see !!!) - 16.01.2018, Bern: «Hot Topics in Neonatology». Unterstützung und Förderung der Forschung Die SGN zeichnet jedes Jahr anlässlich der Jahresversammlung diverse Kollegen aus für die Qualität ihrer Forschungsarbeiten und unterstützt damit auch finanziell die Forschung im Perinatalbereich. Die Preisträger des Jahres 2017 sind: - Milupa Fellowship Award (CHF 10’000.-) Christoph Rüegger (Melbourne) «Nasal high-frequency oscillation to treat apnea of prematurity: a crossover, randomized clinical study» - Best short presentation - Severin Kasser et al. (Basel) «Cortical response to sensory stimuli in newborns after birth - the NociCop trial» - Best poster presentation - Ralf Eberhard et al. (Zurich) «The enlightened chest in an extremely preterm girl» - Case of the Year Award 2016 - Thomas M. Berger et al. (Luzern) «Unusual course of hyaline membrane disease - pulmonary interstitial glycogenosis» Internet- Auftritt der SGN: Auf unserer Internetseite www.neonet.ch stellen wir Ihnen diverse wichtige Informationen zu unserem Fachbereich zur Verfügung. Untenstehend finden Sie einige Beispiele: - Eine Sammlung von fast 200 «cases of the month» stellt Ihnen wichtige und interessante Fälle der Neonatologie vor, visuell und leserfreundlich aufbereitet in pdf-Format. Diese können einfach gemäss Organbefall oder mit Schlüsselwörtern gesucht werden. - Alle Vorträge des Jahreskongresses der SGN von Januar 2017 in Zürich können angeschaut werden, entweder auf Computer, oder auch via Tablet oder Smartphone, dank einer professionnellen Aufnahme- und Wiedergabetechnik. - Eine Liste mit Informationen zu allen Neonatologie-Abteilung der Schweiz, die von der «Commission for the Accreditation of Neonatal Units» (CANU) evaluiert und validiert wurden mit Angabe der Dauer der zugelassenen fachspezifischen Weiterbildungsdauer in Neonatologie und Pädiatrischer Intensivmedizin. - Eine Liste der aktuell gültigen Guidelines der SGN. 58 Vol. 28 Nr. 2 2017 Prüfung zum Schwerpunkt Neonatologie FMH Die nächste Prüfung findet im September 2017 (schriftlich) und November 2017 (mündlich) in Zürich statt. Zusätzliche Informationen werden zu gegebener Zeit auf der Webseite der SGN publiziert (http://www.neonet.ch/en/education/examination-committee/) oder sind direkt beim Präsidenten der Prüfungskommission erhältlich: Dr. M. Stocker ([email protected]) start4neo – Kurse in Neugeborenen-Reanimation Unter Aufsicht der SGN werden in praktisch allen Regionen der Schweiz «Start4neo» Kurse angeboten für alle Berufsgruppen des Gesundheitswesens, die Neugeborene bei der Geburt betreuen. Jedes Jahr werden ca 1000 Fachpersonen (Kinderärzte, Geburtshelfer, Anästhesisten, Hebammen und Pflegefachpersonen) ausgebildet in der NeugeborenenReanimation mittels praxisorientierten Szenarien. Interssierte wenden sich direkt ans Sekretariat ([email protected]) für zusätzliche Informationen oder für die Anmeldung zu einem Kurs. M. Roth-Kleiner, Präsident SGN R. Arlettaz Mieth, Vize-Präsidentin SGN Korrespondenzadresse [email protected] Aktuelles aus dem pädiatrischen Fachbereich Vol. 28 Nr. 2 2017 Pädiatrische Infektiologie Christoph Berger, Zürich Fachorganisation Pediatric Infectious Diseases Group of Switzerland (PIGS) Internetseite www.pigs.ch Kontakt: [email protected] Vorstand Präsident: Prof. Dr. med. Christoph Berger, Universitäts-Kinderspital Zürich Sekretärin: Dr. med. Anita Niederer-Loher, Ostschweizer Kinderspital St. Gallen Kassier: Dr.med. Alessandro Diana, Clinique des Grangettes, Chêne-Bougeries Anzahl Mitglieder 47 Allgemeines Die pädiatrische Infektiologiegruppe Schweiz (PIGS) setzt sich zusammen aus pädiatrischen Infektiologen, aus Spitalpädiatern mit Interesse an pädiatrischer Infektiologie, sowie aus infektiologisch interessierten Kinderärzten und Assistenzärzten in Ausbildung zum Facharzt für Kinder- und Jugendmedizin. PIGS steht - insbesondere auch jungen - infektiologisch interessierten Kinderärztinnen und Kinderärzten der Schweiz offen, unabhängig davon, ob sie neben dem Facharzt für Kinderund Jugendmedizin auch über denjenigen der Infektiologie verfügen oder diesen anstreben. PIGS hat sich zum Ziel gesetzt, Voraussetzungen für ein qualitativ hoch stehendes Management von Kindern mit Infektionskrankheiten zu schaffen. Dies erfolgt einerseits durch Verfassung nationaler Empfehlungen zum Management wichtiger pädiatrisch-infektiologischer Krankheitsbilder und andererseits durch Initiierung und Durchführung von Studien. PIGS sieht sich als Bindeglied zwischen der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie und der Schweizerischen Gesellschaft für Infektiologie und engagiert sich auch in der Zusammenarbeit mit anderen Fachgesellschaften zu Themen, die die pädiatrische Infektiologie betreffen (z. B. Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe). Die halbjährlichen Sitzungen dienen als offenes Forum zur Diskussion von gemeinsamen Empfehlungen und multizentrischen Studienprotokollen. Sie werden ergänzt durch Fallvorstellungen, Informationen von PIGS Mitgliedern über ihre Mitarbeit in verschiedenen Arbeitsgruppen, Projekten und Richtlinien zum Management von Infektionskrankheiten. PIGS-Mitglieder vertreten die schweizerische pädiatrische Infektiologie auch in internationalen Expertengruppen und stehen als Mitautoren von AWMF-Leitlinien oder im Handbuch der Deutschen Gesellschaft für pädiatrische Infektiologie in engem Austausch mit den europäischen Kollegen. Hauptaktivitäten im Jahr 2016 waren die Verfassung der «Leitlinie zur Abklärung und Vorbeugung von Infektionskrankheiten und Aktualisierung des Impfschutzes bei asymptomatischen asylsuchenden Kindern und Jugendlichen» und die Fertigstellung der nationalen Konsens-«Empfehlungen zur Diagnose und Behandlung von akuten osteoartikulären Infektionen im Kindesalter» gemeinsam mit der Expertengruppe Kinderorthopädie der Schweizerischen Gesellschaft für Orthopädie und Traumatologie und der Schweizerischen Gesellschaft für Kinderchirurgie (siehe Paediatrica Vol. 28 / Nr. 1 / Seite 8, bzw. www. pigs.ch). Sie ergänzen bestehende Empfehlungen (z. B. Diagnose und Therapie der Harnwegsinfektion, der aktuen Otitis media, Pneumonie etc., siehe www.pigs.ch) und zeigen mit nationalem Konsens für eine zielgerichtete rationale Antibiotikatherapie die Anstrengungen im Sinne der nationalen Strategie Antibiotikaresistenzen (www.star.admin.ch), an welcher PIGS sich zusammen mit der SGP aktiv beteiligt. Zu den nationalen Strategien (Impfungen und Noso) hat PIGS Stellungnahmen mit pädiatrisch-infektiologischen Aspekten eingebracht. Zweiter Schwerpunkt war und ist die Auswertung der Swiss Pediatric Sepsis Study, in welcher in gut vier Jahren fast 1000 Kinder mit Sepsis eingeschlossen werden konnten (erste Publikationen siehe www.pigs.ch, weitere folgen). 59 Ein dritter Schwerpunkt war der 5. PIGS Intensive Course in Pediatric Infectious Diseases im November 2016 in St.Gallen. Dieser Kurs, der sich an Assistenzärztinnen und Assistenzärzte in Weiterbildung in oder mit Interesse an pädiatrischer Infektiologie richtete, hat sehr grosses Interesse, gute Diskussionen und positive Feedbacks ausgelöst. Zusammenfassungen der Referate können auf der PIGS Website eingesehen werden. Hinweise für pädiatrisch-infektiologisch interessante Veranstaltungen finden Sie ebenfalls auf der PIGS-Website. Das nächste PIGS Meeting findet am 10. Mai 2017 in Bern statt. Interessenten sind jederzeit willkommen Korrespondenzadresse Prof. Dr. med. Christoph Berger Präsident PIGS Universitäts-Kinderspital Zürich 8032 Zürich [email protected] Aktuelles aus dem pädiatrischen Fachbereich Gynea - Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie Ruth Draths, Luzern, Präsidentin Die Schweizerische Arbeitsgemeinschaft für Kinder- und Jugendgynäkologie setzt sich zum Ziel, Wissen und Kenntnisse über die gynäkologischen Erkrankungen, Symptome, Untersuchungsmethoden und Therapien bei kleinen und heranwachsenden Mädchen zu fördern. weiter aufzubauen. Ebenso besteht eine intensive Zusammenarbeit mit der Kinder- und Jugendgynäkologischen Arbeitsgruppe in Deutschland und vor allem durch unser Vorstandsmitglied Francesca Navratil auch weiteren Ländern. Aktivitäten Zukünftige Tätigkeit Alle Vorstandsmitglieder sind in ihren Arbeitsfeldern, in Praxen und Kliniken aktiv und engagieren sich an Fort- und Weiterbildungen im In- und Ausland, so auch an den wichtigsten jugendgynäkologischen Fortbildungen im Jahr, dem Women’s Health Congress, dem Symposium Jugendgynäkologie und Kontrazeption in Pfäffikon sowie am Jahreskongress der SGGG. Wie bereits 2015 war die Gynea auch am Jahreskongress der Schweizerischen Gesellschaft für Pädiatrie mit einem Vortrag präsent. 2017 wird die Gynea an verschiedenen Kongressen präsent sein: Am Women’s Health Congress in Lausanne gestaltet die Gynea gemeinsam mit der SGRM der gynäkologischen Endokrinologie einen Jugendgynäkologischen Block. Im März findet in Pfäffikon wieder das ganztätige Symposium zu Jugendgynäkologie und Kontrazeption statt. Im April findet das zwei-jährliche Symposium Jugendgynäkologie in Berlin statt, dieses Jahr als gemeinsame Fortbildung der Deutschen, Österreichischen und Schweizerischen Arbeitsgemeinschaft. Im Juni 2017 kann die Gynea am Jahreskongress der SGGG ein Hauptthema zum Thema ‚Hotspot Endokrinologie in der Jugendgynäkologie’ gestalten. Am Women’s Health Congress leitete die Gynea eine spannende Session mit drei Vorträgen und Diskussionen über Kontrazeption bei Töchtern von BRCA- positiven Müttern, PCOS in der Adoleszenz sowie über die Intimchirurgie bei Jugendlichen. Im Frühling fand das 9. Symposium Jugendgynäkologie und Kontrazeption in Pfäffikon unter der wissenschaftlichen Leitung der Gynea, statt. Dieses eintägige Symposium bietet eine Fülle praxisrelevanter Themen rund um die Jugendgynäkologie und beleuchtet aktuelle Aspekte der Kontrazeption. Am Jahreskongress der SGGG (Schweizerische Gesellschaft für Gynäkologie und Geburtshilfe) gestaltete die Gynea zwei Workshops zu den Themen «Sexuelle Gewalt an Kindern und Jugendlichen» und «Fertilitätserhaltung bei Mädchen mit onkologischen Erkrankungen». Netzwerk Gynea pflegt die interdisziplinäre Zusammenarbeit mit anderen Fachgesellschaften wie der Pädiatrie, der gynäkologischen Endokrinologie und der Psychosomatik und ist mit Vorstandsmitgliedern in verschiedenen Arbeitsgruppen vertreten, um die Vernetzung Personelles Auf Ende 2015 sind die vorgängigen CoPräsidentinnen Irène Dingeldein und Renate Hürlimann zurückgetreten. Wir möchten an dieser Stelle beiden Kolleginnen ganz herzlich für ihr grosses Engagement für die Gynea danken. Seit dem 1. Januar 2016 wurde nun das Präsidium von Ruth Draths, Gynäkologie, übernommen, Vizepräsidentin wurde Dorit Hoffmann, Pädiatrie. Für Michal Yaron, die aus dem Vorstand zurückgetreten ist, wurde Isabelle Navarria zum Vorstandsmitglied ernannt. Der Vorstand setzt sich wie folgt zusammen: Ruth Draths, Präsidentin, Dorit Hoffmann, Vizepräsidentin und Irène Dingeldein, Renate Hürlimann, Gabriele Merki, Isabelle Navarria, Francesca Navratil, Saira-Christine Renteria. Organisatorisches Im Berichtsjahr traf sich der Vorstand zu drei Sitzungen jeweils in Bern und Zürich. Der Austausch unter den Vorstandsmitgliedern 60 Vol. 28 Nr. 2 2017 und der Geschäftsstelle ist rege. Ob per E-Mail oder Telefon – die Erreichbarkeit aller ist gegeben und die Kommunikation schnell und aktiv. Gynea hat 135 Mitglieder in der ganzen Schweiz, der jährliche Mitgliederbeitrag beträgt CHF 50.– Korrespondenzadresse Geschäftsstelle Gynea Breitingerstr. 23 CH-8002 Zürich [email protected] www.gynea.ch Personelles Vol. 28 Nr. 2 2017 IN MEMORIAM Andrea Poretti 12. 04. 1977 - 22. 03. 2017 Eugen Boltshauser, für die Schweizerische Gesellschaft für Neuropädiatrie drea hat sich in diesem Bereich langfristig engagiert und profiliert. Wir trauern um einen besonderen Kollegen und Freund. Unfassbar ist die Nachricht, dass Andrea kürzlich unerwartet in Baltimore gestorben ist. Andrea Poretti stammte aus Bioggio (TI, Nähe Lugano). Er hat 2002 in Bern das Medizinstudium abgeschlossen. Anschliessend arbeitete er an einer Dissertation («Outcome of craniopharyngioma in children: long-term complications and quality of life») in der Neuropädiatrie – Neuroonkologie am Kinderspital Zürich. Diese später viel zitierte Arbeit war wohl der Anstoss, sich zum Neuropädiater weiterzubilden. Nach einem Jahr Pädiatrie am Ospedale Civico in Lugano absolvierte Andrea die Weiterbildung in Pädiatrie - Neuropädiatrie – Neurologie in Zürich. Ich hatte das grosse Privileg, Andrea während 15 Jahren zu begleiten und zu unterstützen. Er war ein hervorragender und allseits beliebter Assistent. Er hatte stets ein gutes Einvernehmen mit der Ärzteschaft auf allen Stufen, den paramedizinischen Berufen und insbesondere mit den Patienten und den Eltern. Neben seiner tagefüllenden klinischen Tätigkeit begann Andrea zu publizieren, er war ausserordentlich wissbegierig, engagiert, «produktiv» – bereits als Assistent umfasste seine Publikationsliste 25 Einträge. Ich konnte ihn für das von mir seit Jahren gepflegte Gebiet der Kleinhirnaffektionen begeistern, ihm gleichsam den «Stab» weitergeben – An- Nach Abschluss der Facharzt-Weiterbildung wechselte Andrea als Research Fellow nach Baltimore an die Johns Hopkins School of Medicine zu Prof. Thierry Huisman, der zuvor Chefarzt der Kinder-Radiologie/Neuroradiologie am Kinderspital Zürich war. Unter seinem Mentoring war Andrea wissenschaftlich sehr erfolgreich. Seine klinisch-neuropädiatrischen sowie bildgebenden Kenntnisse prädestinierten ihn für übergreifende Projekte. Aufgrund seiner profunden Kenntnisse in Neuropädiatrie und «Advanced Imaging» wurde Andrea in Editorial Boards mehrerer Zeitschriften gewählt (Cerebellum & Ataxias, Journal of Neuroimaging, American Journal of Neuroradiology, Neuropediatrics). Dank vieler persönlicher Kontakte war Andrea ein gefragter Referent, national wie international. Im August 2015 wurde er zum Assistant Professor of Radiology und Head of Pediatric Neuroimaging Research befördert. Aktuell war seine Promotion zum Associate Professor in Vorbereitung. Seit einigen Monaten konnte Andrea auch klinisch im Kennedy Krieger Institute (ebenfalls in Baltimore) arbeiten – ihm schwebte eine Kombination von wissenschaftlicher und klinischer Tätigkeit vor. Die an ihn oft gestellte Frage, wann er in die Schweiz zurückzukehren gedenke, beschäftigte ihn, er liess die Antwort aber offen. Die erfolgreiche Karriere änderte nichts an Andrea’s Art und liebenswürdiger Persönlichkeit: er blieb der Inbegriff von Zuverlässigkeit, Hilfsbereitschaft und Bescheidenheit. Andrea pflegte den Kontakt zu zahlreichen Mitgliedern der Schweizerischen Gesellschaft für Neuropädiatrie, sei es per Mail oder persönlich anlässlich von Besuchen in der Schweiz. Zahlreiche nach seinem Tod erhaltene Rückmeldungen belegen die hohe Wertschätzung, die Andrea genossen hat. «Ihn kennengelernt zu haben, war ein Privileg» schrieben viele. Andrea hinterlässt in fachlicher und menschlicher Hinsicht eine grosse Lücke. Er wird uns fehlen. 61 Korrespondenzadresse [email protected] Lesebrief Vol. 28 Nr. 2 2017 Überlegungen eines Kinderarztes an der Wende zum Ruhestand Yvon C. Heller, Nyon Übersetzung: Rudolf Schlaepfer, La Chaux-de-Fonds Nach 30 Jahren Tätigkeit bin ich Kindern, Jugendlichen, ihren Eltern und allen, die sie betreut haben, dankbar für die zahlreichen Gelegenheiten partnerschaftlicher Zusammenarbeit, die sich im Verlaufe der Jahre ergaben. Mit dem Entstehen zahlreicher Hilfsangebote und der Entwicklung pädiatrischer Spezialgebiete (Kinderkardiologie, Kinderpsychiatrie usw.) wurde die Notwendigkeit enger Zusammenarbeit noch wichtiger. Es geht im heutigen Umfeld darum, die Zersplitterung der Pädiatrie zu vermeiden und die globale Vision von Kind und Familie nicht zu verlieren. Die sektorielle Entwicklung der Pädiatrie ist eine Quelle der Einsamkeit und Isolierung, nicht nur des Arztes, sondern auch von Kind und Familie. Die globale Betrachtung der Gesundheit und die Rolle des Kinderarztes gewinnen damit eine ganze besondere Bedeutung, und das Schaffen von Netzwerken, an welchen das Kind und sein Umfeld beteiligt sind, umso grössere Bedeutung und Sinn. einen gemeinschaftlichen Ansatz des Gesundheitswesens zu entwickeln, in ein Jahrhundert meistern, in welchem sich eine personalisierte/genomische Vision der Medizin anzeigt? In Bezug auf chronische Krankheiten und (physische und geistige) Behinderungen sind bei der Betreuungsplanung vor allem die Schule, aber auch Sozial- und Kinderschutzdienste unabdingbare Partner geworden. Dieser pluridisziplinäre Ansatz ermöglicht es den beteiligten Fachkräften nicht nur, sich zu koordinieren, sondern auch aufmerksamer auf Kind und Familie zu hören, und das Kind damit am Betreuungsplan teilhaben zu lassen, wie dies in der UN-Kinderrechtskonvention empfohlen wird. Damit der Kinderarzt in Zukunft weiterhin existieren kann, ist es meiner Meinung nach notwendig, dass er aus seiner Praxis, seinem Labor und seinem Spital hinausgeht, um im Lebensbereich des Kindes aktiv zu werden, um sich dort gemeinsam mit seiner Familie, für the best interest des Kindes einzusetzen, um die Bedürfnisse aller Kinder und Jugendlichen bestmöglich zu vertreten, z. B. der Kinder mit einer Behinderung oder mit Migrationshintergrund. Integrative Gesundheitskonzepte, die effiziente, gerechte und allgemeinzugängliche Gesundheitsdienste voraussetzen, sind ein Ansatz der ins Auge gefasst werden sollte. Ein in diesem Zusammenhang wichtiges Element ist die Verfügbarkeit von Übersetzern für fremdsprachige Kinder. Nur so können sie und ihre Familien an einem Betreuungsplan teilhaben. Ohne diese Unterstützung kann der Kinderarzt seine Aufgabe, anzuhören, zu begleiten und zu betreuen nicht angemessen wahrnehmen. Die pluridisziplinäre Betreuung ist damit ein wichtiges Mittel, um deren Qualität in Zusammenarbeit mit Kind und Familie zu gewährleisten. Der Kinderarzt nimmt daran teil als Bindeglied zwischen den verschiedenen Perspektiven. Und den notwendigen Rahmen dazu bildet das Übereinkommen über die Rechte des Kindes. Wie können wir den Übergang von einem Jahrhundert, im Verlaufe dessen so viele Anstrengungen unternommen wurden, um Korrespondenzadresse [email protected] 62