Beitrag Strumpf

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Patienten mit chronischen Schmerzen –
Eine interdisziplinäre Herausforderung
M. STRUMPF
Einleitung
In Deutschland gibt es nach Schätzungen 8 bis 10 Millionen Patienten mit chronischen
Schmerzen. Davon weisen ca. 500.000 bis 800.000 Patienten nach Angaben der
Deutschen Bundesregierung (2003) eine schwierige Schmerzproblematik auf. Schmerzen
zählen zu den häufigsten Symptomen, aufgrund derer Patienten einen Arzt aufsuchen. Die
Schmerzen sind in der Mehrzahl der Fälle das Symptom einer zugrunde liegenden
Erkrankung. Wird die Erkrankung kausal behandelt, vergeht in der Regel der Schmerz.
Bei einigen Patienten aber entsteht eine eigenständige, chronische Schmerzerkrankung.
Bei dem Prozess der Chronifizierung und der Aufrechterhaltung der Schmerzen spielen
nicht nur zeitliche Faktoren eine Rolle. Neben neurobiologische Veränderungen sind insbesondere psychische und soziale Faktoren für eine Chronifizierung verantwortlich.
Chronischer Schmerz kann aufgrund der bio-psycho-sozialen Bedingungen ein hoch
komplexes Krankheitsbild sein, das eine hoch komplexe therapeutische Herangehensweise erfordert: die interdisziplinäre Schmerztherapie.
Unterschiede zwischen akuten und chronischen Schmerzen
Akute Schmerzen haben eine biologisch sinnvolle Funktion als Warnsignal und als
Hinweis zur Diagnose einer zugrundeliegenden Erkrankung oder Verletzung. Akuter
Schmerz schützt somit den Organismus vor weiteren Schäden, indem z.B. bei einer
Epikondylitis oder nach einer Fraktur der Schmerz reflektorisch zur Schonung der betroffenen Extremität führt. Durch die Behandlung der Erkrankung oder Verletzung, ggf. in
Kombination mit einer adäquaten Behandlung der akuten Schmerzen, kommt es in der
Regel innerhalb weniger Tage zum persistieren der Schmerzen.
Im Gegensatz dazu haben chronische Schmerzen ihre Leit- und Warnfunktion verloren
und sich zu einem eigenständigen Krankheitsbild entwickelt. Die Schmerzerkrankung ist
bestimmt durch ein individuell unterschiedlich gewichtetes Bedingungsgefüge aus somatischen, psychischen und sozialen Faktoren (Abb. 1). In der Literatur wird häufig dann
von chronischen Schmerzen gesprochen, wenn ein Schmerz länger als drei oder sechs
Monate anhält. Diese ausschließlich auf die Zeit bezogene Definition ist hinsichtlich der
Komplexität und Individualität des Chronifizierungsprozesses nicht hinreichend.
Chronifizierung von Schmerzen
Auf der somatischen Ebene kann es insbesondere bei neuropathischen Schmerzen, z.B.
nach traumatischen Nervenverletzungen, bei Herpes Zoster Infektionen bei älteren Patienten oder bei Phantomschmerzen, sehr schnell zu neuroplastischen Veränderungen und
somit zu einem chronischen Schmerz kommen. Periphere und zentrale Sensibilisierungsvorgänge des afferenten nozizeptiven Systems sind durch eine Senkung der Erregungsschwelle charakterisiert. Dies führt zu einem Zustand der Übererregbarkeit in der afferenten Schmerzbahn, der z.B. bei Versagen hemmender Systeme langfristig persistieren
kann (Treede 2007). Für eine effektive Therapie und zur Verhinderung der Chronifizierung sind hier sehr enge Zeitfenster von nur wenigen Wochen vorhanden.
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Abb. 1: Das bio-psycho-soziale Modell chronischer Schmerzen (Waddell et al.1993).
Auf der psychosozialen Ebene kann der zeitliche Prozess der Chronifizierung individuell
sehr unterschiedlich verlaufen. Ein Patient, der nach einem Unfall ein CRPS I
(Komplexes regionales Schmerzsyndrom; früher: Morbus Sudeck) entwickelt und gleichzeitig eine unfallbedingte posttraumatische Belastungsstörung hat, hat ein sehr hohes
Risiko für eine sehr frühzeitige Chronifizierung der Schmerzen. Eine Patientin mit selten
auftretenden episodischen Spannungskopfschmerzen kann über Jahre hinweg ohne größeren Leidensdruck gut kompensiert sein; erst in einer beruflichen Streß- und Konfliktsituation kann es dann es zu einer Häufung der Schmerzanfälle kommen, in der Folge zu
unkontrollierter Medikamenteneinnahme und schließlich zu einem medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerz mit Arbeitsunfähigkeit und depressiven Verstimmungen.
Zur Identifikation von Risikofaktoren für die Chronifizierung von Schmerzen liegen
im Bereich des Rückenschmerzes mehrere Untersuchungen vor (Hasenbring 1992,
Waddell 1998, Linton 2005, Korb 2005). Für andere Schmerzsyndrome fehlen
entsprechende Untersuchungen überwiegend. Zu den Risikofaktoren für die Chronifizierung von Schmerzen zählen insbesondere psychische und soziale Faktoren (Linton 2000,
Korb 2005):
• geringe soziale Unterstützung
• depressive Stimmungslage
• Angst-Vermeidungsverhalten
• Hilflosigkeit
• Bedrohlichkeitserleben
• Befürchtungen über weiteren Verlauf
• hohe Aufmerksamkeit für Schmerzgeschehen
• Unzufriedenheit am Arbeitsplatz
• inadäquate Krankheitsmodellvorstellungen
• passive Grundhaltung.
Diese psychosozialen Faktoren werden leider häufig nicht rechtzeitig in die Beurteilung
und Behandlung der Schmerzsymptomatik einbezogen, obwohl Sreeningsinstrumente zur
Verfügung stehen (Hasenbring, Pfingsten 2007). In der Folge werden die Patienten häufig verschiedensten, zum Teil invasiven monodisziplinären Therapien zugeführt werden,
die zu einer weiteren iatrogenen Chronifizierung beitragen können.
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Psychosoziale Risikofaktoren der Chronifizierung haben einen höheren prädiktiven
Stellenwert als biomedizinische Faktoren und konnten zusammen mit dem medizinischen
Faktor in 86 % eine Chronifizierung voraussagen (Hasenbring et al. 1994).
Zur Erfassung des Ausmaßes der Chronifizierung ist im deutschsprachigen Raum das
Mainzer Stadienkonzept des Schmerzes von Gerbershagen (1996) entwickelt worden. Die
dreistufige Stadieneinteilung setzt sich aus 4 Achsen zusammen, die die zeitlichen und
räumlichen Aspekte des Schmerzgeschehens, das Medikamenteneinnahmeverhalten und
die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen erfassen (Abb. 2). Die parametrischen
Eigenschaften des Stadienkonzeptes wurden in zwei Studien untersucht (Pfingsten et al.
2000, Hüppe et al. 2001). In beiden Studien wurde die Unabhängigkeit des Stadienkonzeptes von soziodemographischen Parametern, schmerzspezifischen Parametern und
dem zeitlichen Verlauf der Erkrankung bestätigt. Zudem zeigen die Daten, dass das
Abb. 2: Das Mainzer Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung (MPSS)Auswertungsformular.
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Ausmaß der Chronifizierung mit dem psychischen Befinden (Depressivität), der schmerzbedingten Beeinträchtigung (disability) und dem Ausmaß der Arbeitsunfähigkeit eng
zusammen hängt.
Was ist interdisziplinäre Schmerztherapie?
Die adäquate Therapie chronischer Schmerzen ist nicht nur multidisziplinär, sondern auch
interdisziplinär (Loeser et al. 1990, Loeser 1998). Die Begriffe „multidisziplinär“ und
„interdisziplinär“ werden in der Fachsprache häufig austauschbar verwendet, müssen
jedoch sachlich differenziert werden. Interdisziplinäre Schmerztherapie ist mehr als die
multidisziplinäre Addition fachspezifischer Einzelaspekte. Interdisziplinäre Schmerztherapie ist die integrierte und koordinierte Verwendung fachspezifischer Fähigkeiten
und Erfahrungen. Sie kennzeichnet sich durch einen transparenten Kommunikationsprozess, der alle Diagnostiker und Therapeuten einbezieht, die mit dem Patienten zu tun
haben. Die Mitglieder eines interdisziplinären Teams bringen nicht nur ihr Fachwissen
ein, sondern sie tragen auch zu der Integration der Informationen innerhalb des Teams
bei und tragen gemeinsam Verantwortung. Dies impliziert, dass alle offen sein müssen
für die Sichtweise und Herangehensweise anderer beteiligter Disziplinen. Damit können
traditionelle fachspezifische Grenzen verschwimmen oder sogar aufgehoben sein. Interdisziplinäre Arbeit erfordert fachübergreifende Kompetenz, besonders hinsichtlich der gemeinsamen Kommunikation und Sprache, der Fähigkeit des integrativen Denkens und
der Kooperationsfähigkeit, aber auch hinsichtlich eines Basiswissens über Möglichkeiten und Methoden der anderen Fachdisziplinen. In der praktischen interdisziplinären
Arbeit sind diagnostische und therapeutische „Auftragsarbeiten“ obsolet. Befunde und
Methoden der unterschiedlichen Fachdisziplinen müssen gleichzeitig in ein Gesamtkonzept integriert werden. Ein gut funktionierendes interdisziplinäres Team gewinnt so
ein Maximum an Informationen, therapeutischen Möglichkeiten und gegenseitiger therapeutischer Unterstützung und kann damit die beste mögliche Patientenversorgung
gewährleisten.
Interdisziplinäre Schmerzzentren bieten die ambulante und stationäre Behandlung von
Patienten mit chronischen Schmerzen an, eine Einschränkung auf bestimmte Schmerzsyndrome besteht nicht. Im idealen Fall sollte sich ein interdisziplinäres Team folgend
zusammensetzen (Loeser 1998):
• mindestens fünf verschiedene Berufsgruppen
• davon: Spezialisten aus mindestens zwei unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen
• mindestens ein Spezialist aus Psychologie, Psychiatrie oder Psychosomatik
• anderen Berufsgruppen: Physiotherapie, Sozialarbeit, Ergotherapie, Pflegepersonal
und andere Fachrichtungen.
Die Vertreter aller Berufsgruppen sind gemeinsam und gleichzeitig am diagnostischen
und therapeutischen Prozess beteiligt. Eine vollzeitige Anwesenheit des Personals, klare
Organisationsstrukturen mit täglichen interdisziplinären Konferenzen, Verfügbarkeit weiterer konsiliarischer Mitarbeiter, Verfügbarkeit psychologischer Diagnostik und Therapie
für alle Patienten.
Die standardisierte, multidimensionale Erfassung und Dokumentation von Schmerzen
ist für eine gute Diagnostik, Verlaufsmessung, Therapiedokumentation und Qualitätssicherung unumgänglich. Eine Arbeitsgruppe der deutschen Gesellschaft zum Studium
des Schmerzes (DGSS) und der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie (DGS) hat
den Deutschen Schmerzfragebogen (DSF) entwickelt, validiert und empfiehlt diesen als
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Standard zur Qualitätssicherung (zu beziehen ist dieser Fragebogen über die Geschäftsstelle der DGSS; Internet: www.dgss.org; ein Scannerprogramm, mit dem der Deutsche
Schmerzfragebogen eingelesen werden kann, steht ebenfalls zur Verfügung). Neben allgemeinen anamnestischen und krankheitsbezogenen Angaben beinhaltet dieser
Fragebogen standardisierte Instrumente zur Erfassung der Schmerzintensität, der Erträglichkeit der Schmerzen, der Schmerzempfindung, der schmerzbedingten Beeinträchtigung, von Angst und Depression sowie der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Dieser
umfassende Fragebogen sollte zu Beginn und spätestens am Ende einer Schmerztherapie
eingesetzt werden, um so Therapieeffekte zu dokumentieren. Bei länger andauernden
Therapien empfiehlt sich eine Verlaufsmessung alle drei Monate. Aus der Auswertung des
Fragebogens können sich wichtige Hinweise für die möglicherweise notwendige
Modifikation oder Intensivierung von therapeutischen Maßnahmen ergeben. Weitere
standardisierte Instrumente, die in diesem Fragebogen nicht enthalten sind, sollten je nach
individueller Symptomatik des Patienten und nach diagnostischer Fragestellung des
Therapeuten eingesetzt werden. Der Aufwand für eine umfassende, standardisierte
Schmerzerfassung ist nicht unerheblich. Die Verwendung multidimensionaler Testinstrumente ist aber ein wichtiges Kriterium zur Charakterisierung spezieller schmerztherapeutischer Einrichtungen, das auch relevant ist für die Abrechnung schmerztherapeutischer
Leistungen und für die Weiterbildung. Eine deutliche Erleichterung bei der Qualitätssicherung bieten EDV-Programme (z.B. QUAST, Gockel und Maier 2000).
Das Spektrum therapeutischer Maßnahmen der interdisziplinären Schmerztherapie
umfasst alle für den Patienten notwendigen Therapieoptionen:
• das gesamte Spektrum der medikamentösen Schmerztherapie
• Entzugsbehandlung
• Blockadetechniken
• Neurostimulationsverfahren
• Psychotherapie
• Physiotherapie
• Ergotherapie.
Die Ausrichtung der Therapie ist individuell und kann, abhängig vom jeweiligen Patienten, zum Beispiel einen Schwerpunkt auf invasiven Therapiemaßnahmen oder auch auf
verhaltensmedizinischen Verfahren haben. Kennzeichnend für die interdisziplinäre
Schmerztherapie ist es, dass die verschiedenen notwendigen Therapiemaßnahmen abgestimmt und koordiniert parallel durchgeführt werden.
Indikationen für interdisziplinäre Schmerztherapie
Der Anaesthesist John Bonica gründete 1961 das erste interdisziplinäre Schmerzzentrum
an der Universität von Washington in Seattle. In den folgenden Jahrzehnten entstanden
insbesondere in den sogenannten Industrieländern weitere interdisziplinäre Schmerzzentren, in denen primär Patienten behandelt werden, bei denen der chronische Schmerz
zu einem eigenständigen Krankheitsbild geworden ist.
Klare Indikationskriterien für eine interdisziplinäre Schmerztherapie sind aufgrund der
noch fehlenden wissenschaftlichen Fundierung noch nicht allgemein verbindlich formuliert. Aus der klinischen Praxis heraus können aber Warnsignale benannt werden, die die
Weiterleitung eines Patienten in eine interdisziplinäre schmerztherapeutische Einrichtung
indizieren:
• Unzureichende Schmerzreduktion durch die bisherige Therapie
• Unerwartet lange bestehende oder häufig auftretende Schmerzen
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•
•
•
•
•
•
•
Multiple Schmerzprobleme
Schmerzbedingte Arbeitsunfähigkeit länger als drei Monate
Psychische Auffälligkeiten
Inaktivität des Patienten und passive Konsumhaltung
(Vor-)bestehende psychische Erkrankung (Komorbidität)
Soziale Belastungen
Divergenz zwischen objektiver Behinderung, subjektiver Beeinträchtigung und
geklagten Schmerzen.
In der letzten Zeit wird sinnvollerweise zunehmend darüber diskutiert, interdisziplinäre
Schmerzzentren nicht ausschließlich als letzte mögliche Versorgungsinstanz für Patienten
mit chronischen Schmerzen zu nutzen, auch wenn dies sicherlich ein sehr wichtiger
Aufgabenbereich ist. Insbesondere unter ökonomischen Gesichtspunkten kann es höchst
effektiv sein, Patienten mit einer beginnenden Chronifizierung der Schmerzen einer interdisziplinären Behandlungseinrichtung zuzuweisen. Die umfassenden diagnostischen und
therapeutischen Möglichkeiten dieser Zentren können dazu beitragen, eine weitere
Chronifizierung zu verhindern, indem frühzeitig die physische, psychische und soziale
Rehabilitation eingeleitet wird. Die Prävention chronischer Schmerzen ist ein äußerst
wichtiges klinische Aufgabengebiet und Forschungsgebiet, da eine rechtzeitige interdisziplinäre Schmerztherapie für Hochrisiko-Patienten gesundheitspolitisch von besonderer
Bedeutung ist.
Effektivität interdisziplinärer Schmerztherapie
Die Forschung zur Effektivität und Effizienz der interdisziplinärer Schmerztherapie ist
vor allem in den USA umfangreich durchgeführt worden. Die Kriterien zur OutcomeBeurteilung müssen entsprechend der Komplexität chronischer Schmerzen mehrdimensional sein und dürfen sich nicht allein auf die Verminderung der Schmerzintensität reduzieren. Die Effektivität der interdisziplinären Schmerztherapie ist durch viele Studien
belegt (detaillierte Ausführungen: Flor et al. 1992; Turk 1996, Turk und Okifuji 1996,
1998). Sowohl im Vergleich zu unbehandelten Kontrollgruppen als auch im Vergleich zu
Monotherapien konnte die Überlegenheit der interdisziplinären Schmerztherapie hinsichtlich verschiedenster Variablen nachgewiesen werden:
• Schmerzreduktion
• Verminderter / rationaler Gebrauch von Analgetika
• Erhöhte Aktivität
• Verminderte Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen
• Verminderte schmerzbedingte Behinderung
• Rückkehr an den Arbeitsplatz
• Weniger iatrogene Schädigungen
• Beendigung sozialmedizinischer Verfahren.
Auch die Kosteneffizienz interdisziplinärer Schmerztherapie ist belegt (Strumpf et al.
1998). Turk und Okifuji (1998) berechnen, dass durch eine interdisziplinäre Schmerztherapie, unter Einbeziehung der direkten und indirekten Kosten, 97.000 Dollar pro
Patient eingespart werden können und kommen zu dem Schluss, dass die Frage nach der
grundsätzlichen Effektivität interdisziplinärer Schmerztherapie mittlerweile überflüssig
ist.
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Situation in Deutschland - Theorie versus Praxis
Deutschland hat weltweit in der Schmerztherapie eine Vorreiterrolle eingenommen,
indem 1996 vom Bundesärztetag die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“
für alle klinischen medizinischen Fachbereiche eingeführt wurde. Das Ausbildungscurriculum wurde auf einer interdisziplinären Basis ausgearbeitet. 1999 ist das Thema
Schmerztherapie in die Weiterbildungsordnungen aller klinischen Facharztdisziplinen
aufgenommen worden. Schmerztherapie ist leider nicht mehr Prüfungsfach für Medizinstudenten. Aber es ist ein Kerncurriculum Schmerztherapie für die Lehre für das Querschnittfach Schmerztherapie nach der neuen Ausbildungsordnung von einer Ad-hocKommission der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) erarbeitet
und vorgestellt worden. Für Psychologen wird seit Jahren die Zusatzweiterbildung
„Spezielle Schmerzpsychotherapie“ mit klaren Richtlinien und Strukturen von der
Deutschen Gesellschaft für Psychologische Schmerztherapie und Forschung (DGPSF) in
Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) angeboten. Diese Entwicklungen sind sehr positiv zu bewerten.
Interdisziplinärer Schmerztherapie ist in wissenschaftlichen Diskussionen und Überlegungen in Deutschland ein anerkanntes und als notwendig erachtetes Konzept. In der klinischen Praxis reduziert sich interdisziplinäre Schmerztherapie jedoch immer noch auf
ein Schlagwort. Auch wenn sich die Situation in den letzten Jahren etwas verbessert hat,
gibt es immer noch zu wenige schmerztherapeutische Einrichtungen in Deutschland, die
über multimodale Kooperationsformen hinaus tatsächlich interdisziplinär arbeiten.
Patienten mit chronischen Schmerzen sehen sich einer Auswahl verschiedener Versorgungsinstanzen - vom Hausarzt, über den Facharzt, über die Schmerzpraxis bis hin zur
interdisziplinären Schmerzklinik - gegenüber, die häufig genug untereinander nicht ausreichend koordiniert sind. Die Koopertionsstrukturen zu verbessern und Schnittstellen zu
definieren ist eine wichtige und notwendige Aufgabe für die nahe Zukunft.
Es besteht nach wie vor eine Unterversorgung von Patienten mit problematischen chronischen Schmerzsyndromen. In einer Bochumer Studie (Willweber-Strumpf et al. 2000)
wurden Zahlen über die Häufigkeit chronischer Schmerzen in der ambulanten Versorgung
durch niedergelassene Ärzte ermittelt, um zumindest regional Rückschlüsse auf den generellen Behandlungsbedarf und den Bedarf an spezialisierten schmerztherapeutischen Einrichtungen ziehen zu können. In fünf verschiedenen Facharztpraxen der Stadt Bochum
wurden insgesamt 900 Patienten mit einem Fragebogen befragt. Bei den Arztpraxen handelte es sich um eine Allgemeinarztpraxis, eine orthopädische, eine neurologische, eine
chirurgische und eine internistische Facharztpraxis. Die Befragung der Patienten erfolgte
zufällig, abhängig davon, welche Patienten am Befragungstag die jeweilige Praxis aufsuchten und bereit waren, den Fragebogen anonym auszufüllen. Bei der Hälfte aller befragten Patienten (453 von 900, 48,8% der befragten Männer, 50,9% der befragten
Frauen) waren akute oder chronische Schmerzen der Grund ihres Arztbesuches. In der
orthopädischen Praxis suchten sogar 88% (n = 176) aller befragten Patienten den Arzt
wegen akuter oder chronischer Schmerzen auf. 36,4% (n = 328) aller befragten Patienten
litten unter chronischen Schmerzen. Nur 3 Patienten waren jemals in einer interdisziplinären Schmerzklinik behandelt worden. Dabei war die angegebene Beeinträchtigung
durch die Schmerzen hoch. Über 70% der Patienten (n = 230) gaben an, aufgrund der
Schmerzen schlecht zu schlafen. Über 40% der befragten Patienten konnten aufgrund
ihrer Schmerzen ihren Freizeitaktivitäten nicht mehr nachgehen, 17% konnten ihren
Haushalt nicht mehr selbständig versorgen. 15% der Patienten waren wegen ihrer
Schmerzen berentet worden beziehungsweise hatten einen Rentenantrag gestellt. 19,2%
der Patienten gaben an, wegen der Schmerzen tageweise von der Arbeit fern bleiben zu
müssen. Diese Zahlen verdeutlichen die Unterversorgung der Patienten mit chronischen
Schmerzen.
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Es fehlt heute sicher nicht an Ärzten und Psychologen, die an der Schmerztherapie interessiert sind und sich dieser Aufgabe widmen würden. Hemmschuh für eine großflächige
Etablierung interdisziplinärer Schmerztherapieeinrichtungen sind immer noch Finanzierungsprobleme. Interdisziplinäre Therapie wird entmutigt, da die Leistungen nur gebietsbezogen abgerechnet werden können und der lohnende Aufwand der interdisziplinären
Arbeit nicht vergütet wird. Chronische Schmerzen sind ein bedeutsames sozioökonomisches Problem in Deutschland.
Nicht jeder Patient mit chronischen Schmerzen muss in einer interdisziplinären Schmerzklinik behandelt werden und für nicht alle Patienten, die dort behandelt werden, muss die
Therapie auf Dauer in dieser Klinik fortgesetzt werden. Ziel jeder interdisziplinären
Schmerztherapie muss es sein, den Patienten, sobald eine stabile Therapie etabliert ist,
wieder in die hausärztliche oder fachärztliche Betreuung zu leiten. Voraussetzung dafür
sind ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen aller Ärzte in der Basisschmerztherapie,
der medikamentösen Therapie (Analgetika inklusive der Opioide und Koanalgetika)
sowie bei nichtmedikamentösen Behandlungsverfahren (TENS, Physiotherapie, Veranlassung einer Psychotherapie), um einer iatrogenen Chronifizierung entgegenzuwirken
oder um eine eingeleitete Therapie kompetent weiterzuführen. Eine enge, konkurrenzlose Kooperation zwischen den Ärzten in den verschiedenen Versorgungseinrichtungen ist
dabei unabdingbar, leider fehlen diese Strukturen jedoch sehr häufig.
Um die Versorgungssituation von Patienten mit chronischen Schmerzen zu verbessern
und damit Kosten zu sparen, sind zwingende Zukunftsaufgaben im Sinne eines
"disease managements":
• die Kompetenz aller Ärzte in der Basisschmerztherapie zu verbessern
• einen Stufenplan der Versorgung sowie klare Indikationskriterien und Zuweisungsregelungen für die verschiedenen Versorgungsstufen innerhalb der Schmerztherapie
zu entwickeln
• die Kooperation der verschiedenen Versorgungsinstanzen zu verbessern
• die Anzahl interdisziplinärer schmerztherapeutischer Einrichtungen deutlich zu
erhöhen.
Diese Aufgabe sollte nicht alleine den Politikern und den Kostenträgern überlassen
werden.
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