Patienten mit chronischen Schmerzen – Eine interdisziplinäre Herausforderung M. STRUMPF Einleitung In Deutschland gibt es nach Schätzungen 8 bis 10 Millionen Patienten mit chronischen Schmerzen. Davon weisen ca. 500.000 bis 800.000 Patienten nach Angaben der Deutschen Bundesregierung (2003) eine schwierige Schmerzproblematik auf. Schmerzen zählen zu den häufigsten Symptomen, aufgrund derer Patienten einen Arzt aufsuchen. Die Schmerzen sind in der Mehrzahl der Fälle das Symptom einer zugrunde liegenden Erkrankung. Wird die Erkrankung kausal behandelt, vergeht in der Regel der Schmerz. Bei einigen Patienten aber entsteht eine eigenständige, chronische Schmerzerkrankung. Bei dem Prozess der Chronifizierung und der Aufrechterhaltung der Schmerzen spielen nicht nur zeitliche Faktoren eine Rolle. Neben neurobiologische Veränderungen sind insbesondere psychische und soziale Faktoren für eine Chronifizierung verantwortlich. Chronischer Schmerz kann aufgrund der bio-psycho-sozialen Bedingungen ein hoch komplexes Krankheitsbild sein, das eine hoch komplexe therapeutische Herangehensweise erfordert: die interdisziplinäre Schmerztherapie. Unterschiede zwischen akuten und chronischen Schmerzen Akute Schmerzen haben eine biologisch sinnvolle Funktion als Warnsignal und als Hinweis zur Diagnose einer zugrundeliegenden Erkrankung oder Verletzung. Akuter Schmerz schützt somit den Organismus vor weiteren Schäden, indem z.B. bei einer Epikondylitis oder nach einer Fraktur der Schmerz reflektorisch zur Schonung der betroffenen Extremität führt. Durch die Behandlung der Erkrankung oder Verletzung, ggf. in Kombination mit einer adäquaten Behandlung der akuten Schmerzen, kommt es in der Regel innerhalb weniger Tage zum persistieren der Schmerzen. Im Gegensatz dazu haben chronische Schmerzen ihre Leit- und Warnfunktion verloren und sich zu einem eigenständigen Krankheitsbild entwickelt. Die Schmerzerkrankung ist bestimmt durch ein individuell unterschiedlich gewichtetes Bedingungsgefüge aus somatischen, psychischen und sozialen Faktoren (Abb. 1). In der Literatur wird häufig dann von chronischen Schmerzen gesprochen, wenn ein Schmerz länger als drei oder sechs Monate anhält. Diese ausschließlich auf die Zeit bezogene Definition ist hinsichtlich der Komplexität und Individualität des Chronifizierungsprozesses nicht hinreichend. Chronifizierung von Schmerzen Auf der somatischen Ebene kann es insbesondere bei neuropathischen Schmerzen, z.B. nach traumatischen Nervenverletzungen, bei Herpes Zoster Infektionen bei älteren Patienten oder bei Phantomschmerzen, sehr schnell zu neuroplastischen Veränderungen und somit zu einem chronischen Schmerz kommen. Periphere und zentrale Sensibilisierungsvorgänge des afferenten nozizeptiven Systems sind durch eine Senkung der Erregungsschwelle charakterisiert. Dies führt zu einem Zustand der Übererregbarkeit in der afferenten Schmerzbahn, der z.B. bei Versagen hemmender Systeme langfristig persistieren kann (Treede 2007). Für eine effektive Therapie und zur Verhinderung der Chronifizierung sind hier sehr enge Zeitfenster von nur wenigen Wochen vorhanden. 271 Abb. 1: Das bio-psycho-soziale Modell chronischer Schmerzen (Waddell et al.1993). Auf der psychosozialen Ebene kann der zeitliche Prozess der Chronifizierung individuell sehr unterschiedlich verlaufen. Ein Patient, der nach einem Unfall ein CRPS I (Komplexes regionales Schmerzsyndrom; früher: Morbus Sudeck) entwickelt und gleichzeitig eine unfallbedingte posttraumatische Belastungsstörung hat, hat ein sehr hohes Risiko für eine sehr frühzeitige Chronifizierung der Schmerzen. Eine Patientin mit selten auftretenden episodischen Spannungskopfschmerzen kann über Jahre hinweg ohne größeren Leidensdruck gut kompensiert sein; erst in einer beruflichen Streß- und Konfliktsituation kann es dann es zu einer Häufung der Schmerzanfälle kommen, in der Folge zu unkontrollierter Medikamenteneinnahme und schließlich zu einem medikamenteninduzierten Dauerkopfschmerz mit Arbeitsunfähigkeit und depressiven Verstimmungen. Zur Identifikation von Risikofaktoren für die Chronifizierung von Schmerzen liegen im Bereich des Rückenschmerzes mehrere Untersuchungen vor (Hasenbring 1992, Waddell 1998, Linton 2005, Korb 2005). Für andere Schmerzsyndrome fehlen entsprechende Untersuchungen überwiegend. Zu den Risikofaktoren für die Chronifizierung von Schmerzen zählen insbesondere psychische und soziale Faktoren (Linton 2000, Korb 2005): • geringe soziale Unterstützung • depressive Stimmungslage • Angst-Vermeidungsverhalten • Hilflosigkeit • Bedrohlichkeitserleben • Befürchtungen über weiteren Verlauf • hohe Aufmerksamkeit für Schmerzgeschehen • Unzufriedenheit am Arbeitsplatz • inadäquate Krankheitsmodellvorstellungen • passive Grundhaltung. Diese psychosozialen Faktoren werden leider häufig nicht rechtzeitig in die Beurteilung und Behandlung der Schmerzsymptomatik einbezogen, obwohl Sreeningsinstrumente zur Verfügung stehen (Hasenbring, Pfingsten 2007). In der Folge werden die Patienten häufig verschiedensten, zum Teil invasiven monodisziplinären Therapien zugeführt werden, die zu einer weiteren iatrogenen Chronifizierung beitragen können. 272 Psychosoziale Risikofaktoren der Chronifizierung haben einen höheren prädiktiven Stellenwert als biomedizinische Faktoren und konnten zusammen mit dem medizinischen Faktor in 86 % eine Chronifizierung voraussagen (Hasenbring et al. 1994). Zur Erfassung des Ausmaßes der Chronifizierung ist im deutschsprachigen Raum das Mainzer Stadienkonzept des Schmerzes von Gerbershagen (1996) entwickelt worden. Die dreistufige Stadieneinteilung setzt sich aus 4 Achsen zusammen, die die zeitlichen und räumlichen Aspekte des Schmerzgeschehens, das Medikamenteneinnahmeverhalten und die Inanspruchnahme medizinischer Leistungen erfassen (Abb. 2). Die parametrischen Eigenschaften des Stadienkonzeptes wurden in zwei Studien untersucht (Pfingsten et al. 2000, Hüppe et al. 2001). In beiden Studien wurde die Unabhängigkeit des Stadienkonzeptes von soziodemographischen Parametern, schmerzspezifischen Parametern und dem zeitlichen Verlauf der Erkrankung bestätigt. Zudem zeigen die Daten, dass das Abb. 2: Das Mainzer Stadienmodell der Schmerz-Chronifizierung (MPSS)Auswertungsformular. 273 Ausmaß der Chronifizierung mit dem psychischen Befinden (Depressivität), der schmerzbedingten Beeinträchtigung (disability) und dem Ausmaß der Arbeitsunfähigkeit eng zusammen hängt. Was ist interdisziplinäre Schmerztherapie? Die adäquate Therapie chronischer Schmerzen ist nicht nur multidisziplinär, sondern auch interdisziplinär (Loeser et al. 1990, Loeser 1998). Die Begriffe „multidisziplinär“ und „interdisziplinär“ werden in der Fachsprache häufig austauschbar verwendet, müssen jedoch sachlich differenziert werden. Interdisziplinäre Schmerztherapie ist mehr als die multidisziplinäre Addition fachspezifischer Einzelaspekte. Interdisziplinäre Schmerztherapie ist die integrierte und koordinierte Verwendung fachspezifischer Fähigkeiten und Erfahrungen. Sie kennzeichnet sich durch einen transparenten Kommunikationsprozess, der alle Diagnostiker und Therapeuten einbezieht, die mit dem Patienten zu tun haben. Die Mitglieder eines interdisziplinären Teams bringen nicht nur ihr Fachwissen ein, sondern sie tragen auch zu der Integration der Informationen innerhalb des Teams bei und tragen gemeinsam Verantwortung. Dies impliziert, dass alle offen sein müssen für die Sichtweise und Herangehensweise anderer beteiligter Disziplinen. Damit können traditionelle fachspezifische Grenzen verschwimmen oder sogar aufgehoben sein. Interdisziplinäre Arbeit erfordert fachübergreifende Kompetenz, besonders hinsichtlich der gemeinsamen Kommunikation und Sprache, der Fähigkeit des integrativen Denkens und der Kooperationsfähigkeit, aber auch hinsichtlich eines Basiswissens über Möglichkeiten und Methoden der anderen Fachdisziplinen. In der praktischen interdisziplinären Arbeit sind diagnostische und therapeutische „Auftragsarbeiten“ obsolet. Befunde und Methoden der unterschiedlichen Fachdisziplinen müssen gleichzeitig in ein Gesamtkonzept integriert werden. Ein gut funktionierendes interdisziplinäres Team gewinnt so ein Maximum an Informationen, therapeutischen Möglichkeiten und gegenseitiger therapeutischer Unterstützung und kann damit die beste mögliche Patientenversorgung gewährleisten. Interdisziplinäre Schmerzzentren bieten die ambulante und stationäre Behandlung von Patienten mit chronischen Schmerzen an, eine Einschränkung auf bestimmte Schmerzsyndrome besteht nicht. Im idealen Fall sollte sich ein interdisziplinäres Team folgend zusammensetzen (Loeser 1998): • mindestens fünf verschiedene Berufsgruppen • davon: Spezialisten aus mindestens zwei unterschiedlichen medizinischen Fachrichtungen • mindestens ein Spezialist aus Psychologie, Psychiatrie oder Psychosomatik • anderen Berufsgruppen: Physiotherapie, Sozialarbeit, Ergotherapie, Pflegepersonal und andere Fachrichtungen. Die Vertreter aller Berufsgruppen sind gemeinsam und gleichzeitig am diagnostischen und therapeutischen Prozess beteiligt. Eine vollzeitige Anwesenheit des Personals, klare Organisationsstrukturen mit täglichen interdisziplinären Konferenzen, Verfügbarkeit weiterer konsiliarischer Mitarbeiter, Verfügbarkeit psychologischer Diagnostik und Therapie für alle Patienten. Die standardisierte, multidimensionale Erfassung und Dokumentation von Schmerzen ist für eine gute Diagnostik, Verlaufsmessung, Therapiedokumentation und Qualitätssicherung unumgänglich. Eine Arbeitsgruppe der deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) und der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie (DGS) hat den Deutschen Schmerzfragebogen (DSF) entwickelt, validiert und empfiehlt diesen als 274 Standard zur Qualitätssicherung (zu beziehen ist dieser Fragebogen über die Geschäftsstelle der DGSS; Internet: www.dgss.org; ein Scannerprogramm, mit dem der Deutsche Schmerzfragebogen eingelesen werden kann, steht ebenfalls zur Verfügung). Neben allgemeinen anamnestischen und krankheitsbezogenen Angaben beinhaltet dieser Fragebogen standardisierte Instrumente zur Erfassung der Schmerzintensität, der Erträglichkeit der Schmerzen, der Schmerzempfindung, der schmerzbedingten Beeinträchtigung, von Angst und Depression sowie der gesundheitsbezogenen Lebensqualität. Dieser umfassende Fragebogen sollte zu Beginn und spätestens am Ende einer Schmerztherapie eingesetzt werden, um so Therapieeffekte zu dokumentieren. Bei länger andauernden Therapien empfiehlt sich eine Verlaufsmessung alle drei Monate. Aus der Auswertung des Fragebogens können sich wichtige Hinweise für die möglicherweise notwendige Modifikation oder Intensivierung von therapeutischen Maßnahmen ergeben. Weitere standardisierte Instrumente, die in diesem Fragebogen nicht enthalten sind, sollten je nach individueller Symptomatik des Patienten und nach diagnostischer Fragestellung des Therapeuten eingesetzt werden. Der Aufwand für eine umfassende, standardisierte Schmerzerfassung ist nicht unerheblich. Die Verwendung multidimensionaler Testinstrumente ist aber ein wichtiges Kriterium zur Charakterisierung spezieller schmerztherapeutischer Einrichtungen, das auch relevant ist für die Abrechnung schmerztherapeutischer Leistungen und für die Weiterbildung. Eine deutliche Erleichterung bei der Qualitätssicherung bieten EDV-Programme (z.B. QUAST, Gockel und Maier 2000). Das Spektrum therapeutischer Maßnahmen der interdisziplinären Schmerztherapie umfasst alle für den Patienten notwendigen Therapieoptionen: • das gesamte Spektrum der medikamentösen Schmerztherapie • Entzugsbehandlung • Blockadetechniken • Neurostimulationsverfahren • Psychotherapie • Physiotherapie • Ergotherapie. Die Ausrichtung der Therapie ist individuell und kann, abhängig vom jeweiligen Patienten, zum Beispiel einen Schwerpunkt auf invasiven Therapiemaßnahmen oder auch auf verhaltensmedizinischen Verfahren haben. Kennzeichnend für die interdisziplinäre Schmerztherapie ist es, dass die verschiedenen notwendigen Therapiemaßnahmen abgestimmt und koordiniert parallel durchgeführt werden. Indikationen für interdisziplinäre Schmerztherapie Der Anaesthesist John Bonica gründete 1961 das erste interdisziplinäre Schmerzzentrum an der Universität von Washington in Seattle. In den folgenden Jahrzehnten entstanden insbesondere in den sogenannten Industrieländern weitere interdisziplinäre Schmerzzentren, in denen primär Patienten behandelt werden, bei denen der chronische Schmerz zu einem eigenständigen Krankheitsbild geworden ist. Klare Indikationskriterien für eine interdisziplinäre Schmerztherapie sind aufgrund der noch fehlenden wissenschaftlichen Fundierung noch nicht allgemein verbindlich formuliert. Aus der klinischen Praxis heraus können aber Warnsignale benannt werden, die die Weiterleitung eines Patienten in eine interdisziplinäre schmerztherapeutische Einrichtung indizieren: • Unzureichende Schmerzreduktion durch die bisherige Therapie • Unerwartet lange bestehende oder häufig auftretende Schmerzen 275 • • • • • • • Multiple Schmerzprobleme Schmerzbedingte Arbeitsunfähigkeit länger als drei Monate Psychische Auffälligkeiten Inaktivität des Patienten und passive Konsumhaltung (Vor-)bestehende psychische Erkrankung (Komorbidität) Soziale Belastungen Divergenz zwischen objektiver Behinderung, subjektiver Beeinträchtigung und geklagten Schmerzen. In der letzten Zeit wird sinnvollerweise zunehmend darüber diskutiert, interdisziplinäre Schmerzzentren nicht ausschließlich als letzte mögliche Versorgungsinstanz für Patienten mit chronischen Schmerzen zu nutzen, auch wenn dies sicherlich ein sehr wichtiger Aufgabenbereich ist. Insbesondere unter ökonomischen Gesichtspunkten kann es höchst effektiv sein, Patienten mit einer beginnenden Chronifizierung der Schmerzen einer interdisziplinären Behandlungseinrichtung zuzuweisen. Die umfassenden diagnostischen und therapeutischen Möglichkeiten dieser Zentren können dazu beitragen, eine weitere Chronifizierung zu verhindern, indem frühzeitig die physische, psychische und soziale Rehabilitation eingeleitet wird. Die Prävention chronischer Schmerzen ist ein äußerst wichtiges klinische Aufgabengebiet und Forschungsgebiet, da eine rechtzeitige interdisziplinäre Schmerztherapie für Hochrisiko-Patienten gesundheitspolitisch von besonderer Bedeutung ist. Effektivität interdisziplinärer Schmerztherapie Die Forschung zur Effektivität und Effizienz der interdisziplinärer Schmerztherapie ist vor allem in den USA umfangreich durchgeführt worden. Die Kriterien zur OutcomeBeurteilung müssen entsprechend der Komplexität chronischer Schmerzen mehrdimensional sein und dürfen sich nicht allein auf die Verminderung der Schmerzintensität reduzieren. Die Effektivität der interdisziplinären Schmerztherapie ist durch viele Studien belegt (detaillierte Ausführungen: Flor et al. 1992; Turk 1996, Turk und Okifuji 1996, 1998). Sowohl im Vergleich zu unbehandelten Kontrollgruppen als auch im Vergleich zu Monotherapien konnte die Überlegenheit der interdisziplinären Schmerztherapie hinsichtlich verschiedenster Variablen nachgewiesen werden: • Schmerzreduktion • Verminderter / rationaler Gebrauch von Analgetika • Erhöhte Aktivität • Verminderte Inanspruchnahme medizinischer Versorgungsleistungen • Verminderte schmerzbedingte Behinderung • Rückkehr an den Arbeitsplatz • Weniger iatrogene Schädigungen • Beendigung sozialmedizinischer Verfahren. Auch die Kosteneffizienz interdisziplinärer Schmerztherapie ist belegt (Strumpf et al. 1998). Turk und Okifuji (1998) berechnen, dass durch eine interdisziplinäre Schmerztherapie, unter Einbeziehung der direkten und indirekten Kosten, 97.000 Dollar pro Patient eingespart werden können und kommen zu dem Schluss, dass die Frage nach der grundsätzlichen Effektivität interdisziplinärer Schmerztherapie mittlerweile überflüssig ist. 276 Situation in Deutschland - Theorie versus Praxis Deutschland hat weltweit in der Schmerztherapie eine Vorreiterrolle eingenommen, indem 1996 vom Bundesärztetag die Zusatzbezeichnung „Spezielle Schmerztherapie“ für alle klinischen medizinischen Fachbereiche eingeführt wurde. Das Ausbildungscurriculum wurde auf einer interdisziplinären Basis ausgearbeitet. 1999 ist das Thema Schmerztherapie in die Weiterbildungsordnungen aller klinischen Facharztdisziplinen aufgenommen worden. Schmerztherapie ist leider nicht mehr Prüfungsfach für Medizinstudenten. Aber es ist ein Kerncurriculum Schmerztherapie für die Lehre für das Querschnittfach Schmerztherapie nach der neuen Ausbildungsordnung von einer Ad-hocKommission der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) erarbeitet und vorgestellt worden. Für Psychologen wird seit Jahren die Zusatzweiterbildung „Spezielle Schmerzpsychotherapie“ mit klaren Richtlinien und Strukturen von der Deutschen Gesellschaft für Psychologische Schmerztherapie und Forschung (DGPSF) in Kooperation mit der Deutschen Gesellschaft zum Studium des Schmerzes (DGSS) angeboten. Diese Entwicklungen sind sehr positiv zu bewerten. Interdisziplinärer Schmerztherapie ist in wissenschaftlichen Diskussionen und Überlegungen in Deutschland ein anerkanntes und als notwendig erachtetes Konzept. In der klinischen Praxis reduziert sich interdisziplinäre Schmerztherapie jedoch immer noch auf ein Schlagwort. Auch wenn sich die Situation in den letzten Jahren etwas verbessert hat, gibt es immer noch zu wenige schmerztherapeutische Einrichtungen in Deutschland, die über multimodale Kooperationsformen hinaus tatsächlich interdisziplinär arbeiten. Patienten mit chronischen Schmerzen sehen sich einer Auswahl verschiedener Versorgungsinstanzen - vom Hausarzt, über den Facharzt, über die Schmerzpraxis bis hin zur interdisziplinären Schmerzklinik - gegenüber, die häufig genug untereinander nicht ausreichend koordiniert sind. Die Koopertionsstrukturen zu verbessern und Schnittstellen zu definieren ist eine wichtige und notwendige Aufgabe für die nahe Zukunft. Es besteht nach wie vor eine Unterversorgung von Patienten mit problematischen chronischen Schmerzsyndromen. In einer Bochumer Studie (Willweber-Strumpf et al. 2000) wurden Zahlen über die Häufigkeit chronischer Schmerzen in der ambulanten Versorgung durch niedergelassene Ärzte ermittelt, um zumindest regional Rückschlüsse auf den generellen Behandlungsbedarf und den Bedarf an spezialisierten schmerztherapeutischen Einrichtungen ziehen zu können. In fünf verschiedenen Facharztpraxen der Stadt Bochum wurden insgesamt 900 Patienten mit einem Fragebogen befragt. Bei den Arztpraxen handelte es sich um eine Allgemeinarztpraxis, eine orthopädische, eine neurologische, eine chirurgische und eine internistische Facharztpraxis. Die Befragung der Patienten erfolgte zufällig, abhängig davon, welche Patienten am Befragungstag die jeweilige Praxis aufsuchten und bereit waren, den Fragebogen anonym auszufüllen. Bei der Hälfte aller befragten Patienten (453 von 900, 48,8% der befragten Männer, 50,9% der befragten Frauen) waren akute oder chronische Schmerzen der Grund ihres Arztbesuches. In der orthopädischen Praxis suchten sogar 88% (n = 176) aller befragten Patienten den Arzt wegen akuter oder chronischer Schmerzen auf. 36,4% (n = 328) aller befragten Patienten litten unter chronischen Schmerzen. Nur 3 Patienten waren jemals in einer interdisziplinären Schmerzklinik behandelt worden. Dabei war die angegebene Beeinträchtigung durch die Schmerzen hoch. Über 70% der Patienten (n = 230) gaben an, aufgrund der Schmerzen schlecht zu schlafen. Über 40% der befragten Patienten konnten aufgrund ihrer Schmerzen ihren Freizeitaktivitäten nicht mehr nachgehen, 17% konnten ihren Haushalt nicht mehr selbständig versorgen. 15% der Patienten waren wegen ihrer Schmerzen berentet worden beziehungsweise hatten einen Rentenantrag gestellt. 19,2% der Patienten gaben an, wegen der Schmerzen tageweise von der Arbeit fern bleiben zu müssen. Diese Zahlen verdeutlichen die Unterversorgung der Patienten mit chronischen Schmerzen. 277 Es fehlt heute sicher nicht an Ärzten und Psychologen, die an der Schmerztherapie interessiert sind und sich dieser Aufgabe widmen würden. Hemmschuh für eine großflächige Etablierung interdisziplinärer Schmerztherapieeinrichtungen sind immer noch Finanzierungsprobleme. Interdisziplinäre Therapie wird entmutigt, da die Leistungen nur gebietsbezogen abgerechnet werden können und der lohnende Aufwand der interdisziplinären Arbeit nicht vergütet wird. Chronische Schmerzen sind ein bedeutsames sozioökonomisches Problem in Deutschland. Nicht jeder Patient mit chronischen Schmerzen muss in einer interdisziplinären Schmerzklinik behandelt werden und für nicht alle Patienten, die dort behandelt werden, muss die Therapie auf Dauer in dieser Klinik fortgesetzt werden. Ziel jeder interdisziplinären Schmerztherapie muss es sein, den Patienten, sobald eine stabile Therapie etabliert ist, wieder in die hausärztliche oder fachärztliche Betreuung zu leiten. Voraussetzung dafür sind ausreichende Kenntnisse und Erfahrungen aller Ärzte in der Basisschmerztherapie, der medikamentösen Therapie (Analgetika inklusive der Opioide und Koanalgetika) sowie bei nichtmedikamentösen Behandlungsverfahren (TENS, Physiotherapie, Veranlassung einer Psychotherapie), um einer iatrogenen Chronifizierung entgegenzuwirken oder um eine eingeleitete Therapie kompetent weiterzuführen. Eine enge, konkurrenzlose Kooperation zwischen den Ärzten in den verschiedenen Versorgungseinrichtungen ist dabei unabdingbar, leider fehlen diese Strukturen jedoch sehr häufig. Um die Versorgungssituation von Patienten mit chronischen Schmerzen zu verbessern und damit Kosten zu sparen, sind zwingende Zukunftsaufgaben im Sinne eines "disease managements": • die Kompetenz aller Ärzte in der Basisschmerztherapie zu verbessern • einen Stufenplan der Versorgung sowie klare Indikationskriterien und Zuweisungsregelungen für die verschiedenen Versorgungsstufen innerhalb der Schmerztherapie zu entwickeln • die Kooperation der verschiedenen Versorgungsinstanzen zu verbessern • die Anzahl interdisziplinärer schmerztherapeutischer Einrichtungen deutlich zu erhöhen. Diese Aufgabe sollte nicht alleine den Politikern und den Kostenträgern überlassen werden. Literatur 1. 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. 9. 278 Deutsche Bundesregierung (2003) Antwort der Bundesregierung auf die kleine Anfrage Abgeordneter – Adäquate Versorgung von Schmerzpatienten. Drucksache 15/2295 Flor H, Fydrich T, Turk DC (1992) Efficacy of multidisciplinary pain treatment centres: a meta-analytic review. 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