Glykobiotechnologie - Zuckerforschung nimmt Fahrt auf

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Glykobiotechnologie - Zuckerforschung nimmt Fahrt
auf
Neben DNA und Proteinen spielen Zuckerstrukturen eine große Rolle bei zellulären
Transport- und Kommunikationsvorgängen, sie sind Teil der molekularen Steuerungs- und
Regelungsmaschinerien. Das macht sie zu einem interessanten Objekt für die
Biotechnologie. Die Pharmaindustrie hat das Potenzial der Zuckerstrukturen ebenso erkannt
wie die Lebensmittelbranche und die Materialwissenschaft.
Die Ära der Zuckerforschung ist angebrochen. Genau genommen stecken wir bereits mitten
drin. Vor etwa zehn, 15 Jahren setzte in den Lebenswissenschaften ein Umdenken ein. Bessere
Analyseverfahren und ein immer tieferes Verständnis zellulärer Mechanismen brachten zutage,
dass Zuckerstrukturen an weit mehr biologischen Funktionen beteiligt sind als bisher gedacht.
In der Folge rückte die Zuckerforschung immer mehr in den Fokus der Wissenschaft. 2003
stufte das Massachusetts Institute of Technology (MIT) die Glykobiotechnologie als eine von
zehn Spitzentechnologien der Zukunft ein.
Grundlagen- und angewandte Forschung arbeiten in Deutschland Hand in Hand, um die
Glykobiologie und die Glykobiotechnologie zu einem Exzellenzfeld deutscher Forschung zu
machen und international auf diesem Gebiet ganz vorne mit dabei zu sein. Nach dem
„Förderschwerpunkt Glykobiotechnologie“ startete das BMBF im November 2006 den
„Arbeitsgruppenwettbewerb Glykobiotechnologie“, um diesen Forschungszweig nachhaltig in
Deutschland zu etablieren.
Zelluläre Zuckerstrukturen stehen Modell für neue Materialien und
Oberflächen
Baden-Württemberg ist mit herausragenden Forschern und Projekten vertreten. Ein
Schwerpunkt ist die Untersuchung des Zuckerpelzes auf den Zelloberflächen. So erforscht und
entwickelt eine Arbeitsgruppe unter Leitung von Dr. Ralf Richter am Stuttgarter Max-PlanckInstitut Modelle der zellulären Zuckerhülle. Damit sollen Struktur-Funktions-Zusammenhänge
aufgeklärt und das System zu einer neuen Plattform für die Biosensorik ausgebaut werden
(siehe Betrag „Wie funktionieren Zellen? Modelle der Zuckerhülle liefern neue Antworten“).
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Saccharose - eine Form von Zucker (Foto:© Takeda Pharma)
Für die Entwicklung innovativer Biomaterialien ist das Wissen um Zucker und ihre
Bindungspartner unverzichtbar. Das betrifft Implantate, Prothesen und generell alle
Werkstoffe, die mit biologischen Systemen interagieren. Zuckerbindende Proteine , die Lektine,
stehen im Fokus vieler Arbeiten. Prof. Dr. Wittmann an der Universität Konstanz erforscht
beispielsweise die multivalente Erkennung und Differenzierung von galaktosebindenden
Lektinen durch oberflächengebundene Neoglykopeptide (siehe Beitrag "Wie kommunizieren
Zellen? - Konstanzer Chemiker untersuchen Kohlenhydrat-Protein-Interaktionen").
Bindungsverhalten bietet neue Perspektiven für Diagnose und
Therapie
Die spezifische Bindung von Lektinen an Zuckerstrukturen ist auch für die Medizin ein
Schlüsselvorgang, sein Verständnis soll zu ganz neuen Therapien führen. Die Arbeitsgruppe um
Dr. Ingo Müller an der Uni Tübingen befasst sich mit der spezifischen Zuckerhülle von
Krebszellen und erforscht, wie die Zucker mit Oberflächen-Lektinen von Zellen des
Immunsystems wechselwirken (Beitrag „Krebszellen: Glykosylierungsmuster könnte
angreifbare Schwachstelle sein“).
Das Prinzip spezifischer Bindungen zwischen Zuckern und Proteinen wird auch in der
biotechnologischen Arzneimittelproduktion genutzt. Es wird intensiv daran geforscht, neue
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Eine natürliche Killerzelle (Foto: © eye of science, Rupert Handgretinger)
beziehungsweise optimierte Zellsysteme zu entwickeln, mit denen die Verzuckerung
therapeutischer Moleküle gezielt initiiert und gesteuert werden kann. Ein Beispiel zeigt die
Freiburger greenovation Biotech GmbH. Sie nutzt Moospflanzen, um therapeutische Proteine zu
entwickeln. Die Pflanzenproteine werden mit humanen Zuckerstrukturen versehen und können
dadurch von Zielzellen im menschlichen Körper erkannt werden.
"Bereits das erste von Boehringer Ingelheim 1985 hergestellte Biopharmazeutikum Actilyse
war ein Glykoprotein", sagt Dr. Michael Schlüter. Der Chemiker ist von Anfang an dabei und
leitet eine Abteilung, die im Laufe der Jahre mächtig gewachsen ist, so wie auch die Produktion
der Biopharmazeutika am Standort Biberach.
Lebensmittel mit bioaktiven Zuckerverbindungen
Fucus-Arten eignen sich als Lieferant für Algenpolysaccharide. (Foto: Anoxymer GmbH)
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Einen anderen Weg, aber ebenfalls ausgehend von Pflanzen, geht die Esslinger Anoxymer
GmbH. Sie erforscht die gesundheitsfördernde Wirkung von pflanzlichen Zuckerstrukturen, die
über die Nahrung aufgenommen werden. Das Unternehmen entwickelt Extrakte, in denen
bioaktive Mehrfachzucker angereichert sind. Um die Hintergründe zu therapeutischem und
vorbeugendem Nutzen geht es im Beitrag „Mehr als nur leere Kalorien: Mehrfachzucker in
Nahrungsmitteln“.
Alle glykobiologischen und glykobiotechnologischen Fragestellungen haben eines gemeinsam:
Die Forschung an den hochkomplexen Zuckermolekülen ist stets mit hohen Datenaufkommen
verbunden. Sie müssen erfasst, verwaltet und verarbeitet werden. Computergestützte
Simulationen und Modellierungen sind gerade in der Glykobiologie wegen der besonders
komplexen Zusammenhänge nur mithilfe moderner Bioinformatik zu bewältigen. Ein Pionier
der Glykobioinformatik war Dr. Claus-Wilhelm von der Lieth vom Deutschen
Krebsforschungszentrum (DKFZ) in Heidelberg. Seine Ansätze beschreibt der Beitrag
"Glykobiotechnologie: Durchbruch für die Glykomik".
Was ist Glykobio(techno)logie?
Komplexe Zuckerverbindungen werden Glykane genannt. Das Wort leitet sich vom
griechischen glykós für „süß“ ab. Einzelne Zuckerbausteine (Monomere) wie Glucose oder
Fructose sind in Glykanen zu Polymeren verkettet. Diese Ketten können sehr lang sein,
sich verzweigen und mit anderen Molekülen wie Lipiden oder Proteinen verbunden sein.
Dadurch entsteht eine Komplexität, die die von reinen Nukleinsäuren und Proteinen weit
übersteigt. Drei einzelne Zuckerbausteine reichen bereits, um mehr als 27.000
unterschiedliche Strukturen daraus aufzubauen. Entsprechend vielfältig sind die
Funktionen, die Zuckerverbindungen ausüben können. Glykane sind wichtig für die
Kommunikation der Zellen untereinander beziehungsweise zwischen Zellen und ihrer
molekularen Umgebung, sie sind wichtig für die Gewebestruktur und sie speichern
Informationen.
So wie die Bezeichnungen Proteom und Genom für die Gesamtheit der Proteine
beziehungsweise Gene eines Organismus steht, hat sich für die Gesamtheit der
Zuckerverbindungen der Begriff Glykom durchgesetzt. Häufig wird synonym für die
Glykobiologie der Begriff Glykomik oder sein englisches Pendant Glycomics verwendet.
In der Gykobiologie werden die Strukturen und Funktionen der Zuckerverbindungen
erforscht, in der Glykobiotechnologie werden sie auf den praktischen Nutzen hin
untersucht. Zell- und krankheitsspezifische Glykane können in der Medizin als
Diagnosemarker dienen sowie als Angriffsort für medikamentöse Therapien. Außerdem
spielen Zuckerstrukturen bei Biopharmazeutika eine immer größere Rolle, sie beeinflussen
unter anderem ihre Stabilität, Aktivität und Immunogenität. Glykane geben aber auch der
Materialwissenschaft neue Impulse, sie dienen als Modell zur Entwicklung neuer
Biomaterialien, zum Beispiel als Träger (Scaffold) bei der Züchtung von Ersatzgeweben (
Tissue Engineering). Last but not least können Zuckerstrukturen als Nahrungsmittelzusatz
gesundheitsfördernde Wirkung entfalten.
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Glossar
Dossier
01.02.2008
leh
© BIOPRO Baden-Württemberg GmbH
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