459 Kiefer und Kiefergelenke, Kaumuskulatur, Nervensystem, die Zähne mit dem Kauflächenkomplex und dem Parodont bilden das mastikatorische System. Seine Anteile sind morphologisch und physiologisch aufeinander abgestimmt (Normofunktion). Innerhalb eines Toleranzspielraums kann sich das Kausystem an Abweichungen von der Norm anpassen (Kompensation, Adaptation). Kommt es zu stärkeren Veränderungen oder Erkrankungen in einem seiner Teile, können die anderen mitbetroffen werden (Dekompensation oder regressive Adaptation; Bumann u. Lotzmann 1999, Farbatlas Band 12). Funktionsstörungen verursachen keine Parodontitis. Trotzdem müssen sie vom Zahnarzt erkannt (vgl. S. 174) und behandelt werden, weil sie Kaumuskulatur- und Kiefergelenk-Alterationen sowie übermäßige Attrition/Abrasion der Zahnhartsubstanz verursachen, die Zahnbeweglichkeit erhöhen und die Progression einer bestehenden Parodontitis fördern können (Ramfjord u. Ash 1983). Dargestellt werden: • normale Funktion – physiologische Zahnbeweglichkeit • gestörte Funktion – okklusales parodontales Trauma • Therapie funktioneller Störungen: Aufbissschienen Normofunktion Das komplexe stomatognathe System macht es schwierig, den Begriff „Normofunktion“ zu definieren. Es können nur physiologische Daten und Normen einzelner Komponenten genannt werden: Kraft Die normale Kaukraft ist abhängig von der aufgenommenen Nahrung: Bei der Aufnahme von Brei, Pudding usw. beträgt sie wenige N (1 Newton = 1 kg m/s2 = ca. 100 p), beim Kauen von zähem Fleisch ca. 150 N (ca. 15 kp) und auch bei sehr harter Nahrung erreicht sie selten mehr als 200 N (Ammann 1980). Dauer Die „normale“ zeitliche Belastung des Parodonts ist kurz. Die beim Kauen und Schlucken auf das Parodont übertragenen okklusalen Kräfte haben intermittierenden Charakter. Die eigentliche Belastung während eines Kauschlags hält nur 0,1–0,4 s an. Beim Schlucken (auch Leer- und Speichelschlucken) werden die Parodontien ca. 1 s belastet. Summiert man die Zeit über 24 Stunden, ergeben sich 15–20 min volle Belastung pro Tag (Graf 1969). Richtung Die „normale“ Richtung der Kräfte, die beim Kauen auf das Parodont übertragen werden, ist vielgestaltig. Die ideale Belastungsrichtung wäre vertikal-axial, weil dann alle Desmodontalfasern und damit auch der Alveolarfortsatz gleichmäßig belastet würden. Nicht einmal in zentrischer Okklusion ist eine solche axiale Belastung gegeben. Beim Kauen dagegen wirken abwechselnd bzw. kombiniert Kräfte vorwiegend aus horizontal-orofazialer und vertikaler Richtung (Graf et al. 1974; Graf u. Geering 1977). Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Funktion – funktionelle Therapie 460 Funktion – funktionelle Therapie Physiologische Zahnbeweglichkeit Die Zahnbeweglichkeit schwankt in täglichen sowie größeren Zyklen (Biorhythmus): Morgens sind die Zähne beweglicher als abends (Himmel et al. 1957). Zudem zeigen die verschiedenen Zahngattungen gemäß der Insertionsfläche der 1129 Physiologische Zahnbeweglichkeit bei steigender Belastung Kraft N = Newton, 1 N = ca. 100 p A initiale, desmodontale ZB Bei schwacher orofazialer Belastung mit 1 N (ca. 100 p) werden die Fasern des Desmodonts vorgespannt. B sekundäre, parodontale ZB Bei Belastung mit 5 N (ca. 500 p) wird zusätzlich der ganze Alveolarfortsatz (blau) elastisch deformiert. 1130 Gesundes Parodont, Zahnbeweglichkeit der verschiedenen Zahngattungen Die angegebenen Bereiche sind durchschnittliche Normwerte des Gesunden bei konstant starker Kraft in orofazialer Richtung (5 N, parodontale Zahnbeweglichkeit). Die jeweiligen Werte entsprechen dem Grad 0 der Zahnbeweglichkeitsstabelle (S. 174). I C P M Inzisivi Canini Prämolaren Molaren mm 100 15 Desmodontalfasern im Zahnzement, also je nach Wurzelzahl, -länge und -durchmesser, unterschiedliche Beweglichkeiten (Abb. 1130). Erhöhte Zahnbeweglichkeit Die Zahnbeweglichkeit kann sich durch ein okklusales Trauma oder quantitativen Knochenverlust bei Parodontitis erhöhen. Eine erhöhte Zahnbeweglichkeit allein stellt aber kein Kriterium für Gesundheit oder Erkrankung des Parodonts dar. A B 100p 500p 10 5 0 mm 100 mm 100 15 15 10 10 5 5 M 0 8 7 P 6 5 C 4 3 I 2 I 1 1 C 2 3 P 4 5 M 6 7 8 0 Initiale, desmodontale Zahnbeweglichkeit (A) Sekundäre, parodontale Zahnbeweglichkeit (B) Sie ist definiert als die erste Bewegungsphase bei Belastung des Zahns und beträgt 1 N (ca. 100 p) in orofazialer Richtung. Der Zahn bewegt sich dabei relativ leicht innerhalb der Alveole. Gewisse desmodontale Faserbündel werden gespannt, andere entspannt, ohne dass der knöcherne Alveolarfortsatz wesentlich deformiert wird. Sie wird durch Belastung des Zahns mit 5 N in orofazialer Richtung gemessen. Bei diesen relativ starken Kräften wird – vermittelt durch die gespannten Desmodontalfasern – der gesamte Alveolarfortsatz deformiert, welcher der weiteren Auslenkung des Zahns mehr Widerstand entgegensetzt. Die initiale Zahnbeweglichkeit ist relativ groß: Sie ist eine Funktion der Breite des Desmodontalspalts und der histologischen Struktur des Parodonts und beträgt je nach Zahngattung etwa 0,05–0,10 mm. Schwankungen der parodontalen Zahnbeweglichkeit bei gesundem Parodont hängen von Masse und Qualität des Alveolarknochens ab. Die normale parodontale Zahnbeweglichkeit beträgt je nach Zahngattung 0,06–0,15 mm. Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Die „syndesmotische Aufhängung“ des Zahns in seinem Zahnhalteapparat sowie die Elastizität des gesamten Alveolarfortsatzes gewährleisten eine messbare (Periodontometer, Mühlemann 1967; Periotest, Schulte et al. 1983) physiologische Zahnbeweglichkeit (ZB) in horizontaler, vertikaler und rotatorischer Richtung. Okklusales parodontales Trauma 461 Definition Folgen „Mikroskopische Veränderung der parodontalen Strukturen im Bereich des Desmodonts, die sich klinisch in einer (reversiblen) Erhöhung der Zahnbeweglichkeit manifestiert“ (Mühlemann et al. 1956; Mühlemann u. Herzog 1961). Als Folge des okklusalen Traumas zeigen sich histologische Veränderungen im Desmodont: Blutzirkulationsstörungen, Thrombosierung desmodontaler Gefäße, Ödematisierung und Hyalinisierung kollagener Fasern, Entzündungszell-Infiltration, Kernpyknose von Osteo-, Zemento- und Fibroblasten, Gefäßwucherungen (Svanberg u. Lindhe 1974). Der Desmodontalspalt weitet sich adaptiv sanduhrförmig aus, was klinisch als erhöhte Beweglichkeit der traumatisierten Zähne und röntgenologisch als Triangulation erkennbar wird. Ob ein Überwiegen proinflammatorischer Mediatoren ein okklusales Trauma verstärken könnte, wird vermutet, ist bis heute aber nicht nachgewiesen. 1131 Normales Parodont – primäres okklusales Trauma A B C A Zahn im gesunden Parodont. B Wird dieser Zahn unphysiologisch belastet (Parafunktion, Jiggling), kommt es zu histologischen Veränderungen im Desmodont (rot) und zur Erweiterung des Desmodontalspalts in den Druckzonen (rote Blitze). C Das Desmodont passt sich der Fehlbelastung an. Der sanduhrförmig erweiterte Desmodontalspalt erlaubt eine erhöhte Zahnbeweglichkeit (ZB). 1132 Reduziertes Parodont – sekundäres okklusales Trauma A B C A Das Parodont ist durch Parodontitis reduziert (erhöhte ZB). B Schon geringere parafunktionelle Belastungen führen zu einer zusätzlichen Erhöhung der ZB („sekundäres okklusales Trauma“). Bleibt das Trauma bestehen, kann es zu einer progressiven ZB kommen. C Eine Adaptation mit hoher ZB ist aber auch bei reduziertem, gesundem Parodont möglich. Wie Experimente belegen, vermögen abnorme okklusale Kräfte weder eine Gingivitis noch eine Parodontitis auszulösen. Allenfalls können sie das Fortschreiten einer bereits bestehenden Parodontitis – besonders während aktiver Phasen – beschleunigen (Svanberg u. Lindhe 1974; Polson et al. 1976a, b; Lindhe u. Ericcson 1982; Pihlstrom 1986; Hanamura et al. 1987). Ein verbreiterter, aber in seiner histologischen Struktur wieder normaler Parodontalspalt und eine erhöhte, aber nicht ständig weiter zunehmende Zahnbeweglichkeit bleiben bestehen (Nyman u. Lindhe 1976). Adaptation an unphysiologische Kräfte – adaptive Phase Bei starken, anhaltend abnormen okklusalen Kräften kann es zu einer progressiven Zahnbeweglichkeit kommen (Funktionsverlust). Die Eliminierung der Ursachen des Traumas ist dann unbedingt angezeigt. Bei länger bestehendem okklusalem Trauma kann sich das Parodont auch ohne Therapie der Überbelastung anpassen. Progressive Lockerung bei unphysiologischen Kräften (fehlende Adaptation) – progressive Phase Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Okklusales parodontales Trauma 462 Funktion – funktionelle Therapie Okklusaler Aufbissschutz („bite guard“) – Michigan-Schiene Infolge der verkrampften Muskulatur ist ein Einschleifen aber häufig unmöglich. Okklusion/Desmodont, Kiefergelenk, Muskulatur und das Zentralnervensystem (ZNS) beeinflussen sich wechselseitig. Die Aktivität des ZNS wird wesentlich von psychischen Komponenten „übersteuert“ (Graber 1985). Diese zentralnervöse Hyperaktivität wird durch erhöhten Tonus der Kaumuskulatur (Pressen, eventuell Knirschen) abreagiert. Bei gleichzeitig vorliegenden Okklusionsstörungen kommt es zu einem Circulus vitiosus, der sich am einfachsten durch einen okklusalen Aufbissschutz, z. B. eine Michigan-Schiene, unterbrechen lässt (Ramfjord u. Ash 1983). Die Okklusion wird vom Regelkreis abgekoppelt, die Muskulatur entspannt. Normalerweise kann dann nach wenigen Wochen direkt im Mund eingeschliffen werden. 1133 Michigan-Schiene im Artikulator (Oberkiefer) Der abnehmbare Aufbissschutz wird nach Registrierung der Bissverhältnisse in einem wenigstens linear einstellbaren Artikulator hergestellt; bei möglichst geringer Bisserhöhung (Plattendicke). M Rechts: Schnitt 1 im Bereich der flachhöckerigen Molaren (M). Die Schiene kann hier flach sein. Bei Seitbissbewegungen (Arbeits- und Balanceseite, blaue Pfeile) geht durch die steilere Eckzahnführung der Kontakt sofort verloren. 1 1134 Konstruktionsmerkmale der Michigan-Schiene Alle bukkalen Höcker der Seitenzähne sowie Eckzähne und Inzisivi (I) des Unterkiefers okkludieren auf der im Kontaktbereich flachen Schiene. Transversalschnitte 1, 2, 3. Rechts: Im Transversalschnitt 2 des steilhöckerigen Prämolaren (P) ist das Schienenprofil eingedellt, um zu starke Bisserhöhungen zu verhüten. Trotzdem müssen auch hier beim Seitbiss (Pfeile) die Arbeits- und Balancekontakte sofort verloren gehen. I 1 2 3 P 2 1135 Michigan-Schiene – abnehmbarer Aufbissschutz Die okklusalen Kontakte zwischen Schiene und bukkalen Höckerspitzen des Unterkiefers sind rot, die Gleitbahnen des führenden Unterkiefer-Eckzahns grün eingezeichnet. Rechts: Schnitt 3. Im Bereich des Eckzahns (C) ist eine Eckzahnsperre („cuspid rise“) eingebaut: Dieser steile Schienenwulst ist die einzige Führung des Unterkiefers bei Seit- und Vorbissbewegungen. C 3 Heruntergeladen von: Thieme E-Books & E-Journals. Urheberrechtlich geschützt. Bei Parafunktionen (Bruxismus), die zum okklusalen parodontalen Trauma (Zahnbeweglichkeitserhöhung) oder zur Progression einer Parodontitis geführt haben, ist das Gebiss einzuschleifen und sind Knirschfacetten zu eliminieren.