Funktion – funktionelle Therapie

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Kiefer und Kiefergelenke, Kaumuskulatur, Nervensystem, die Zähne mit dem Kauflächenkomplex
und dem Parodont bilden das mastikatorische System. Seine Anteile sind morphologisch und physiologisch aufeinander abgestimmt (Normofunktion).
Innerhalb eines Toleranzspielraums kann sich das Kausystem an Abweichungen von der Norm anpassen (Kompensation, Adaptation). Kommt es zu stärkeren Veränderungen oder Erkrankungen in
einem seiner Teile, können die anderen mitbetroffen werden (Dekompensation oder regressive
Adaptation; Bumann u. Lotzmann 1999, Farbatlas Band 12).
Funktionsstörungen verursachen keine Parodontitis. Trotzdem müssen sie vom Zahnarzt erkannt
(vgl. S. 174) und behandelt werden, weil sie Kaumuskulatur- und Kiefergelenk-Alterationen sowie
übermäßige Attrition/Abrasion der Zahnhartsubstanz verursachen, die Zahnbeweglichkeit erhöhen
und die Progression einer bestehenden Parodontitis fördern können (Ramfjord u. Ash 1983).
Dargestellt werden:
• normale Funktion – physiologische Zahnbeweglichkeit
• gestörte Funktion – okklusales parodontales Trauma
• Therapie funktioneller Störungen: Aufbissschienen
Normofunktion
Das komplexe stomatognathe System macht es schwierig,
den Begriff „Normofunktion“ zu definieren. Es können nur
physiologische Daten und Normen einzelner Komponenten
genannt werden:
Kraft
Die normale Kaukraft ist abhängig von der aufgenommenen
Nahrung: Bei der Aufnahme von Brei, Pudding usw. beträgt
sie wenige N (1 Newton = 1 kg m/s2 = ca. 100 p), beim Kauen von zähem Fleisch ca. 150 N (ca. 15 kp) und auch bei sehr
harter Nahrung erreicht sie selten mehr als 200 N (Ammann
1980).
Dauer
Die „normale“ zeitliche Belastung des Parodonts ist kurz. Die
beim Kauen und Schlucken auf das Parodont übertragenen
okklusalen Kräfte haben intermittierenden Charakter. Die
eigentliche Belastung während eines Kauschlags hält nur
0,1–0,4 s an. Beim Schlucken (auch Leer- und Speichelschlucken) werden die Parodontien ca. 1 s belastet. Summiert man die Zeit über 24 Stunden, ergeben sich
15–20 min volle Belastung pro Tag (Graf 1969).
Richtung
Die „normale“ Richtung der Kräfte, die beim Kauen auf das
Parodont übertragen werden, ist vielgestaltig. Die ideale
Belastungsrichtung wäre vertikal-axial, weil dann alle Desmodontalfasern und damit auch der Alveolarfortsatz gleichmäßig belastet würden. Nicht einmal in zentrischer Okklusion ist eine solche axiale Belastung gegeben. Beim Kauen
dagegen wirken abwechselnd bzw. kombiniert Kräfte vorwiegend aus horizontal-orofazialer und vertikaler Richtung
(Graf et al. 1974; Graf u. Geering 1977).
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Funktion – funktionelle Therapie
460
Funktion – funktionelle Therapie
Physiologische Zahnbeweglichkeit
Die Zahnbeweglichkeit schwankt in täglichen sowie größeren Zyklen (Biorhythmus): Morgens sind die Zähne beweglicher als abends (Himmel et al. 1957). Zudem zeigen die verschiedenen Zahngattungen gemäß der Insertionsfläche der
1129 Physiologische Zahnbeweglichkeit bei steigender
Belastung
Kraft N = Newton, 1 N = ca. 100 p
A initiale, desmodontale ZB
Bei schwacher orofazialer
Belastung mit 1 N (ca. 100 p)
werden die Fasern des Desmodonts vorgespannt.
B sekundäre, parodontale ZB
Bei Belastung mit 5 N (ca. 500 p)
wird zusätzlich der ganze
Alveolarfortsatz (blau) elastisch deformiert.
1130 Gesundes Parodont,
Zahnbeweglichkeit der verschiedenen Zahngattungen
Die angegebenen Bereiche sind
durchschnittliche Normwerte des
Gesunden bei konstant starker
Kraft in orofazialer Richtung (5 N,
parodontale Zahnbeweglichkeit).
Die jeweiligen Werte entsprechen
dem Grad 0 der Zahnbeweglichkeitsstabelle (S. 174).
I
C
P
M
Inzisivi
Canini
Prämolaren
Molaren
mm
100
15
Desmodontalfasern im Zahnzement, also je nach Wurzelzahl, -länge und -durchmesser, unterschiedliche Beweglichkeiten (Abb. 1130).
Erhöhte Zahnbeweglichkeit
Die Zahnbeweglichkeit kann sich durch ein okklusales Trauma oder quantitativen Knochenverlust bei Parodontitis erhöhen. Eine erhöhte Zahnbeweglichkeit allein stellt aber
kein Kriterium für Gesundheit oder Erkrankung des Parodonts dar.
A
B
100p
500p
10
5
0
mm
100
mm
100
15
15
10
10
5
5
M
0
8
7
P
6
5
C
4
3
I
2
I
1
1
C
2
3
P
4
5
M
6
7
8
0
Initiale, desmodontale Zahnbeweglichkeit (A)
Sekundäre, parodontale Zahnbeweglichkeit (B)
Sie ist definiert als die erste Bewegungsphase bei Belastung
des Zahns und beträgt 1 N (ca. 100 p) in orofazialer Richtung. Der Zahn bewegt sich dabei relativ leicht innerhalb
der Alveole. Gewisse desmodontale Faserbündel werden gespannt, andere entspannt, ohne dass der knöcherne Alveolarfortsatz wesentlich deformiert wird.
Sie wird durch Belastung des Zahns mit 5 N in orofazialer
Richtung gemessen. Bei diesen relativ starken Kräften wird –
vermittelt durch die gespannten Desmodontalfasern – der
gesamte Alveolarfortsatz deformiert, welcher der weiteren
Auslenkung des Zahns mehr Widerstand entgegensetzt.
Die initiale Zahnbeweglichkeit ist relativ groß: Sie ist eine
Funktion der Breite des Desmodontalspalts und der histologischen Struktur des Parodonts und beträgt je nach Zahngattung etwa 0,05–0,10 mm.
Schwankungen der parodontalen Zahnbeweglichkeit bei
gesundem Parodont hängen von Masse und Qualität des
Alveolarknochens ab. Die normale parodontale Zahnbeweglichkeit beträgt je nach Zahngattung 0,06–0,15 mm.
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Die „syndesmotische Aufhängung“ des Zahns in seinem Zahnhalteapparat sowie die Elastizität des gesamten Alveolarfortsatzes gewährleisten eine messbare (Periodontometer,
Mühlemann 1967; Periotest, Schulte et al. 1983) physiologische Zahnbeweglichkeit (ZB) in horizontaler, vertikaler und
rotatorischer Richtung.
Okklusales parodontales Trauma
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Definition
Folgen
„Mikroskopische Veränderung der parodontalen Strukturen
im Bereich des Desmodonts, die sich klinisch in einer (reversiblen) Erhöhung der Zahnbeweglichkeit manifestiert“
(Mühlemann et al. 1956; Mühlemann u. Herzog 1961).
Als Folge des okklusalen Traumas zeigen sich histologische
Veränderungen im Desmodont: Blutzirkulationsstörungen,
Thrombosierung desmodontaler Gefäße, Ödematisierung
und Hyalinisierung kollagener Fasern, Entzündungszell-Infiltration, Kernpyknose von Osteo-, Zemento- und Fibroblasten, Gefäßwucherungen (Svanberg u. Lindhe 1974). Der Desmodontalspalt weitet sich adaptiv sanduhrförmig aus, was
klinisch als erhöhte Beweglichkeit der traumatisierten Zähne
und röntgenologisch als Triangulation erkennbar wird.
Ob ein Überwiegen proinflammatorischer Mediatoren ein
okklusales Trauma verstärken könnte, wird vermutet, ist bis
heute aber nicht nachgewiesen.
1131 Normales Parodont –
primäres okklusales Trauma
A
B
C
A Zahn im gesunden Parodont.
B Wird dieser Zahn unphysiologisch belastet (Parafunktion,
Jiggling), kommt es zu histologischen Veränderungen im
Desmodont (rot) und zur Erweiterung des Desmodontalspalts
in den Druckzonen (rote Blitze).
C Das Desmodont passt sich der
Fehlbelastung an. Der sanduhrförmig erweiterte Desmodontalspalt erlaubt eine erhöhte Zahnbeweglichkeit (ZB).
1132 Reduziertes Parodont –
sekundäres okklusales Trauma
A
B
C
A Das Parodont ist durch Parodontitis reduziert (erhöhte ZB).
B Schon geringere parafunktionelle Belastungen führen zu
einer zusätzlichen Erhöhung
der ZB („sekundäres okklusales
Trauma“). Bleibt das Trauma
bestehen, kann es zu einer
progressiven ZB kommen.
C Eine Adaptation mit hoher ZB
ist aber auch bei reduziertem,
gesundem Parodont möglich.
Wie Experimente belegen, vermögen abnorme okklusale
Kräfte weder eine Gingivitis noch eine Parodontitis auszulösen. Allenfalls können sie das Fortschreiten einer bereits
bestehenden Parodontitis – besonders während aktiver
Phasen – beschleunigen (Svanberg u. Lindhe 1974; Polson et
al. 1976a, b; Lindhe u. Ericcson 1982; Pihlstrom 1986; Hanamura et al. 1987).
Ein verbreiterter, aber in seiner histologischen Struktur wieder normaler Parodontalspalt und eine erhöhte, aber nicht
ständig weiter zunehmende Zahnbeweglichkeit bleiben bestehen (Nyman u. Lindhe 1976).
Adaptation an unphysiologische Kräfte – adaptive Phase
Bei starken, anhaltend abnormen okklusalen Kräften kann es
zu einer progressiven Zahnbeweglichkeit kommen (Funktionsverlust). Die Eliminierung der Ursachen des Traumas ist
dann unbedingt angezeigt.
Bei länger bestehendem okklusalem Trauma kann sich das
Parodont auch ohne Therapie der Überbelastung anpassen.
Progressive Lockerung bei unphysiologischen Kräften
(fehlende Adaptation) – progressive Phase
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Okklusales parodontales Trauma
462
Funktion – funktionelle Therapie
Okklusaler Aufbissschutz („bite guard“) – Michigan-Schiene
Infolge der verkrampften Muskulatur ist ein Einschleifen
aber häufig unmöglich. Okklusion/Desmodont, Kiefergelenk, Muskulatur und das Zentralnervensystem (ZNS) beeinflussen sich wechselseitig. Die Aktivität des ZNS wird
wesentlich von psychischen Komponenten „übersteuert“
(Graber 1985).
Diese zentralnervöse Hyperaktivität wird durch erhöhten
Tonus der Kaumuskulatur (Pressen, eventuell Knirschen)
abreagiert. Bei gleichzeitig vorliegenden Okklusionsstörungen kommt es zu einem Circulus vitiosus, der sich am einfachsten durch einen okklusalen Aufbissschutz, z. B. eine
Michigan-Schiene, unterbrechen lässt (Ramfjord u. Ash
1983). Die Okklusion wird vom Regelkreis abgekoppelt, die
Muskulatur entspannt. Normalerweise kann dann nach
wenigen Wochen direkt im Mund eingeschliffen werden.
1133 Michigan-Schiene
im Artikulator (Oberkiefer)
Der abnehmbare Aufbissschutz
wird nach Registrierung der Bissverhältnisse in einem wenigstens
linear einstellbaren Artikulator
hergestellt; bei möglichst geringer
Bisserhöhung (Plattendicke).
M
Rechts: Schnitt 1 im Bereich der
flachhöckerigen Molaren (M). Die
Schiene kann hier flach sein. Bei
Seitbissbewegungen (Arbeits- und
Balanceseite, blaue Pfeile) geht
durch die steilere Eckzahnführung
der Kontakt sofort verloren.
1
1134 Konstruktionsmerkmale
der Michigan-Schiene
Alle bukkalen Höcker der Seitenzähne sowie Eckzähne und Inzisivi
(I) des Unterkiefers okkludieren auf
der im Kontaktbereich flachen
Schiene. Transversalschnitte 1, 2, 3.
Rechts: Im Transversalschnitt 2
des steilhöckerigen Prämolaren (P)
ist das Schienenprofil eingedellt,
um zu starke Bisserhöhungen zu
verhüten. Trotzdem müssen auch
hier beim Seitbiss (Pfeile) die
Arbeits- und Balancekontakte
sofort verloren gehen.
I
1
2
3
P
2
1135 Michigan-Schiene –
abnehmbarer Aufbissschutz
Die okklusalen Kontakte zwischen
Schiene und bukkalen Höckerspitzen des Unterkiefers sind rot,
die Gleitbahnen des führenden
Unterkiefer-Eckzahns grün eingezeichnet.
Rechts: Schnitt 3. Im Bereich des
Eckzahns (C) ist eine Eckzahnsperre („cuspid rise“) eingebaut:
Dieser steile Schienenwulst ist die
einzige Führung des Unterkiefers
bei Seit- und Vorbissbewegungen.
C
3
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Bei Parafunktionen (Bruxismus), die zum okklusalen parodontalen Trauma (Zahnbeweglichkeitserhöhung) oder zur
Progression einer Parodontitis geführt haben, ist das Gebiss
einzuschleifen und sind Knirschfacetten zu eliminieren.
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