Finanzmarktkrise II – die Gesamtanalyse

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Jahrhundertroman
Alternativtitel:
2077
Wie Schmidt sein 21. Jahrhundert sah
Jahrhundertroman
Archivar Schmidt und die globale Erschöpfung
Demokratiedämmerung
Wie Schmidt sein 21. Jahrhundert sah
Generation Sichtflug
Protokoll eines verlorenen Jahrhunderts
Die verlorene Epoche
Protokoll des 21. Jahrhunderts
Die verlorene Epoche
Wie Schmidt das 21. Jahrhundert sah
II
Inhalt
Vorwort
1
Vorgeschichten
4
Staatstheater
Generation Sichtflug
Das 20. Jahrhundert
4
6
12
2000 - 2024 Ein schleichender Weltkrieg und andere Krisen
16
Jahrhundertauftakt
Bewusstseinsstörung
Exkurs Wirtschaft
Russland und die Ukraine
Afrika
Die arabische Welt
Amerika
Israel und das historische Unrecht
China und Indien
Und Europa?
Noch einmal Wirtschaft
Zwischenstand
2025 - 2049 Hilflose Demokratie, Neues Denken
16
22
25
30
40
49
61
69
75
79
86
89
95
Parteienzuwachs
Was geht wie lange gut?
Dauerkonflikt um Staatsgrenzen
Flüchtlingsströme und territoriale Integrität
Kurze Begegnung
Scheidungsrecht für Staaten
Neues Denken in China
Eine Jahrhundertpartei?
Das digitale Hiroshima
Flächengewinne der Demokratie
Wankendes Vorbild Europa
Das Elend der Parteien
Hundertjahrfeiern
Sinnstiftungsversuche
Kleine Staatsreparaturen
95
108
112
115
118
121
126
141
145
156
161
175
189
197
207
III
2050 – 2074 Globale Erschöpfung
213
Mächtige Senioren
Neue Hoffnungsträger
Rentnerrevolution?
Das Yang-Konzept
Noch mehr Ideologiefreiheit
Die Krise der Archive
Abschied von Hauser
Ringen um Rohstoffe
Ölkartell: Die Bösen tun Gutes
Jahrhundertereignis Klimawandel
Schwache Cyberwehr
Mit Milliardären aus der Systemkrise?
Chinesische Visionen
Noch einmal Euphorie
Yang, China und die Neokraten
Wie Constanze es sah
2075 -… Ist das Jahrhundert noch zu retten?
213
215
226
230
234
240
247
257
265
269
277
281
291
309
313
318
325
Europa geht aufs Ganze
Altfall Griechenland
Deutsche Zustände
Denkwürdige Zusammenkunft
Kleine Neuerungen
Stillstände
Nachwort
325
328
330
333
347
350
355
1
Vorwort
Eine Geschichte des Jahrhunderts soll dies nicht werden, nicht einmal in Ansätzen.
Ich bin kein Historiker. Ich will weniger über die Ereignisse dieses Jahrhunderts
schreiben als darüber, wie Menschen, wie Bürger und politische Akteure in diesem
Jahrhundert gedacht haben. Ich weiß, auch das ist beinahe vermessen, wenigstens
dann, wenn man dabei aus eigener Erinnerung schöpfen will. Aber ich habe ein gutes
Gedächtnis, und ich habe sogar ein eigenes kleines Archiv. Keines, wie ich es in
meinem Berufsleben verwaltet habe, als Archivleiter des SPIEGEL, nur eines mit
privaten Aufzeichnungen, die ich, Archivarseele, die ich nun einmal bin, akribisch
verwahre. Wann ich wie und was als politischer Mensch gedacht habe, das finde ich
wohlsortiert in meinen Dateien und Zettelkästen.
Schrankfüllend ist es nicht. Im Beruf musste ich detailbesessen sein, aber damit war
meine Neigung zum Detail für dieses Leben erschöpft. Im sonstigen Leben versuchte
ich die Welt eher aus der Vogelperspektive zu betrachten, aber immer auch geerdet
durch archivarisches Faktenwissen.
Menschen werden noch immer nicht alt genug, um ein Jahrhundert aus eigenem
Erleben beschreiben zu können, aber ich bin immerhin in diesem Jahrhundert
aufgewachsen und mit ihm ziemlich alt geworden. Ich könnte mit diesem
Jahrhundertporträt noch warten, bis das Jahrhundertende näher kommt, aber zwei
Gründe sprechen dagegen. Erstens weiß ich nicht, wie lange ich als mittlerweile
Achtzigjähriger zu einer solchen Arbeit noch fähig wäre. Zweitens könnte dieses
Jahrhundert tatsächlich schon reif für eine abschließende Betrachtung sein. Würde
nämlich der Rest des Jahrhunderts die überfällige Zeitenwende bringen, würde dies
den Rahmen dieses Textes ohnehin sprengen. Dann hätte der Rest seinen Platz - als
dessen Vorspiel gewissermaßen - eher in einem Porträt des kommenden
Jahrhunderts. Oder aber das letzte Jahrhundertviertel wird - ich fürchte, so wird es
kommen - für dieses Jahrhundertporträt wenig Neues bringen.
2
Dieses Jahrhundert hat natürlich auch mein eigenes politisches Bewusstsein geprägt,
also bin ich Teil dessen, was ich hier beschreibe. Also muss ich mir auch darüber im
Klaren sein, wie mein eigenes Denken sich in den Etappen dieses Jahrhunderts
verändert hat. Das im Nachhinein zu verfolgen war fast ein Glückserlebnis. Ich weiß
jetzt, dass ich nicht noch einmal so denken darf, wie ich in früheren
Jahrhundertabschnitten gedacht habe, aber ich weiß natürlich auch, dass viel zu viele
es immer noch tun.
Als früherer Archivar falle ich aus der Rolle, wenn ich so etwas schreibe. Von einem
Archivar erwartet man Fakten, keine Meinung, kein Urteil, und diese Erwartung
habe ich in meinem Arbeitsleben lange erfüllen wollen. Aber gerade weil man von
mir keine Meinung erwartete, genoss ich die denkbar größte innere Meinungsfreiheit.
Ich nehme das als ein Privileg.
Die schreibenden Kollegen haben dieses Privileg nicht. Nur wer meinungsstark
schreibt, schreibt interessant, und interessant wirkt nur, was den Resonanzboden
bestehender Vorurteile zum Schwingen bringt. Das bringt die schreibenden Kollegen
immer wieder in Versuchung, sich Vorurteile zu eigen zu machen. Solcher
Versuchung war ich nie ausgesetzt. Von einem Archivar erwartet niemand, dass er
Vorurteile bedient. Das verleiht innere Freiheit, es hat allerdings auch seinen Preis:
Wer keine Vorurteile hat, der findet selten Gleichgesinnte.
Aber das war bei mir natürlich nicht von Anfang an so, ich wurde schließlich nicht
als Archivar geboren. Ich war achtundzwanzig, als ich im SPIEGEL-Archiv meine
erste Stellung antrat, und natürlich hatte ich damals schon politische Meinungen und
Urteile, und natürlich waren das großenteils Vorurteile. Ich könnte daher über die
Zeit davor, über das zwanzigste und das frühe einundzwanzigste Jahrhundert, nicht
so vorurteilsfrei schreiben, wie ich es möchte, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte,
im Archiv auf Hauser zu treffen, meinen Mentor, den großen Entzauberer von
Vorurteilen. Aber darüber später.
Kollase, den 25.04.2077
3
PS: Dieser Text wird wohl überwiegend Leser finden, die nach der Jahrhundertmitte
geboren sind. Trotzdem wünsche ich mir natürlich, dass auch einige Ältere, vielleicht
auch einige aus meiner Generation der um die Jahrtausendwende Geborenen, sich die
Mühe des Lesens machen werden, auch wenn sie darin nur wenige eigene
Meinungen bestätigt finden.
Wem täte es nicht gut, sich im hohen Alter doch noch einen Reim auf dieses
ungereimte Jahrhundert zu machen?
4
Vorgeschichten
Staatstheater
Irgendwo las ich, dass man sich jung fühlen muss, um für junge Leute zu schreiben,
und sich alt fühlen muss, um für Alte zu schreiben. Das gilt auch für das Schreiben
einer Geschichte des 21. Jahrhunderts. Ich kann nicht so tun, als wäre ich noch jung,
aber vielleicht hilft es, hier mit meiner Zeit als junger Mensch zu beginnen, auch
wenn ich damals manchmal das Gefühl hatte, nicht ganz in meine Zeit zu passen.
Meine Erinnerung setzt mit der Nacht der Jahrtausendwende ein. Ich musste für ein
Foto posieren: Mein Kindsgesicht todmüde vor einem vom Feuerwerk taghell
erleuchteten Berliner Nachthimmel. Zum Glück war unten auf dem Foto das
Brüstungsrohr unserer Dachterrasse zu sehen, sonst wären es wirklich nur der
beleuchtete Himmel und ich gewesen. Unter dem Foto in der Handschrift meiner
Mutter - die in ihrem ganzen Berliner Leben irgendwie doch das Mädchen vom
Lande geblieben war -: Matthias und das neue Jahrtausend feiern Geburtstag. Ich,
Matthias Schmidt, bin am 1. Januar 1996 geboren.
Es gibt andere peinliche Jugendfotos von mir, aber dieses gehört zu den peinlichsten.
Neujahrsgeborene gehen ohnehin mit einer Last ins Leben, nun war meiner
Kindheitserinnerung noch dieses Jahrtausendwendespektakel aufgebürdet. Ich hätte
das Foto später vernichten mögen, aber das habe ich - irgendwie bin ich eben doch
ein Zauderer - immer wieder aufgeschoben, bis heute. Das Foto wird diese Welt
wohl nach mir verlassen.
Vielleicht war es auch wegen dieses Fotos, dass ich mich später bei Feiern oft fragte,
ob denn der Anlass der richtige sei. Man soll sich nicht zu früh freuen, das hatte ich
früh gelernt, aber dann gilt doch auch: Man soll nicht zu früh feiern. Wie kann man
guten Gewissens eine Jahrtausendwende feiern, wenn man für das neue Jahrtausend
5
neues Unheil befürchten muss? Ich weiß, dass die wenigsten Jungen sich mit solchen
Gedanken befassen, aber die meisten Alten tun es leider auch nicht.
Später habe ich das Feiern dann etwas besser verstehen gelernt. Bei jungen
Menschen feiert man in die Zukunft hinein: In einem Jahr bist du schon sooooo groß.
Bei deinem nächsten Geburtstag bist du schon ein Schulkind. Nächstes Mal darfst du
schon wählen. Nächstes Jahr hast du schon deinen Führerschein. Nächstes Jahr hast
du schon dein Abitur. Nächstes Jahr studierst du schon.
Ganz anders bei alten Menschen. Sie feiern in die Vergangenheit hinein. Die späten
runden Geburtstage, die späten Jubiläen, die Silberhochzeiten, die Goldenen, die
Diamantenen - keine Rede mehr von Herausforderungen, von Zielen und Plänen, von
Zukunft überhaupt, höchstens noch ein trotziges: auf weitere soundso viele Jahre.
Ansonsten Erinnerungen, alte Geschichten, Erlebtes, Miterlebtes, Überstandenes,
Geleistetes, einzelne Glücksmomente. Erlittenes? Schwamm drüber.
Ich weiß, von privatem Feiern soll hier am allerwenigsten die Rede sein, aber
politische Feiern, Staatsfeiertage, haben damit Gemeinsamkeiten. All die Feiern von
politischen Jahrestagen sind Feiern in die Vergangenheit hinein. Mein Vater war
noch bei Feiern zu Jahrestagen der Oktoberrevolution dabei gewesen. Großes
Staatstheater mit Blick in die Vergangenheit, so sagte es einmal mein Großvater.
Natürlich wurde dabei auch kurz über Zukunft geredet, aber dafür versetzte man sich
erst einmal weit in die Vergangenheit. So fühlte sich die Gegenwart wie eine
strahlende Zukunft an, und die wirkliche Zukunft kam nur als Floskel vor.
Die Oktoberrevolution feiert niemand mehr, aber ist es mit dem Staatstheater unserer
Zeit, unseres Jahrhunderts nicht ähnlich? All die Jahrestage von lange
zurückliegenden Ereignissen, bei denen man sich in eine graue Vorzeit versetzt, um
sich umso emphatischer zur Gegenwart zu gratulieren. Fühlen die meisten
politischen Jahrestage, die wir heute feiern, sich nicht an wie diamantene
Hochzeiten? Aber was gibt es in der Politik noch oder was könnte es geben, das man
wie Kindergeburtstage, wie Geburtstage der Jugend feiern kann? Hat die Demokratie
uns nicht alle, Alte wie Junge, schon politisch vergreisen lassen? In diesem
6
Jahrhundert standen uns Hundertjahrfeiern - hundert Jahre deutsches Grundgesetz
und anderes - bevor, die genau diesen Gedanken aufdrängten.
Generation Sichtflug
Politische Vergreisung - das sind fast schon wieder Gedanken eines alten Mannes.
Wie war es, als ich achtzehn war? Ich versuche, an diese Zeit zu denken. Der Blick
ging damals in die Zukunft, die naheliegende eigene vor allem. Was wollte ich
werden? Was würde ich studieren? Ich ging die Sache damals ziemlich systematisch
an und stellte mir all die gängigen Fragen. Welcher Beruf gäbe deinem Leben Sinn?
An welchem hättest du Spaß? Wofür hättest du Talent? Was würde für Spannung
sorgen? Was gäbe dir Sicherheit? Womit ließe sich gutes Geld verdienen? Und
welches Studienfach wäre zu all dem der Schlüssel?
Vieles konnte ich vornherein ausschließen. Ich schaute in den Spiegel und wusste:
Andere sehen besser aus, du gehörst nicht ins Rampenlicht. Ich hörte mir zu und
wusste: Andere reden besser, flüssiger, überzeugender, also wirst du - Streitigkeiten
anderer langweilen dich sowieso - kein Anwalt, auch kein Politiker. Und ich horchte
in mich hinein und wusste: Andere sind durchsetzungsstärker, also wirst du kein
Manager, kein Unternehmer. Technik interessiert dich nur mäßig, also wirst du kein
Ingenieur. Naturwissenschaften hast du in der Schule gemieden, also wirst du kein
Chemiker, kein Biologe, kein Physiker. Zeichnen können andere viel besser, also
wirst du kein Künstler, kein Gestalter, kein Architekt. Du kannst kein Blut sehen,
also wirst du kein Arzt. Du bist ungeduldig, also wirst du kein Lehrer.
Schließlich ging ich zur Berufsberatung. Der Rat war: Sie sind noch nicht reif, sich
zu entscheiden, Sie brauchen eine Orientierungsphase, studieren sie erst mal was
Allgemeinbildendes.
Was das denn sein könnte, fragte ich.
Schauen Sie sich mal bei den Geistes- und Sozialwissenschaften um, war die
Antwort.
7
Ich durchforstete die Websites der Universitäten. Von den mehr als 200
Studiengängen schloss ich zwei Drittel sofort aus, mehr als 60 allgemeinbildende
blieben übrig. Viele mit klingenden Namen, sehr viele, von denen ich nie gehört
hatte, viele, unter denen ich mir nichts vorstellen konnte. Studiengangerfinder,
dachte ich, das wäre mein Beruf. Ich war in einem schwierigen Alter.
Ich schob die Entscheidung vor mir her. Ein guter Freund wollte Medizin in Halle
studieren, also entschied auch ich mich erst einmal für Halle. Welche anderen
Gründe sprachen dafür? Ich erinnere mich an keine, an Gründe, die dagegen
sprachen, schon eher. Mein Freund entschied sich dann doch für München. Für mich
zu spät, ich blieb bei Halle.
Die Entscheidung für Politik - genauer gesagt, die so genannte Wissenschaft davon hatte ich buchstäblich in letzter Minute getroffen. Jemand hatte mir von Graf erzählt,
der in Halle Politikwissenschaft lehrte. Graf sei anders als die meisten, ein hoch
interessanter Mann, für angehende Politologen Grund genug, nach Halle zu gehen.
Warum also nicht Politikwissenschaft in Halle?
Im Nebenfach habe ich dann - allgemeinbildend - Soziologie, Geschichte und
Philosophie studiert. Mit Halle hatte ich dann nach zwei Jahren meinen Frieden
gemacht. Natürlich war Halle mir zu klein und zu provinziell und die Stimmung zu
depressiv, und die Wochenenden waren zu lang, um dort bleiben, und fast immer zu
kurz, um zu Freunden nach München, Heidelberg oder Hamburg fahren zu wollen.
Aber irgendwann wurde Halle mir dann doch vertraut genug. Ähnlich mochte es
lange vorher Graf gegangen sein. Er lehrte seit über zwanzig Jahren in Halle, schien
aber in Gedanken dort nie ganz angekommen zu sein. Von vielen Studenten wurde er
„Der Fremde“ genannt. Aber Halle brauchte so einen. Er war das Glanzlicht im
Hallenser akademischen Alltag.
Nach sieben Jahren Halle war ich dann so weit, dass ich wusste, was ich hätte
werden wollen: Stadtplaner. Zu spät. Nun musste ich als studierter Politologe ins
Berufsleben eintreten. Aber was ließ sich daraus machen? Ich wusste es nicht, und
8
die meisten Kommilitonen auch nicht. Wir alle wussten nur, dass wir viel zu viele
waren für die Jobs, in denen wir unser Studienwissen anwenden konnten. Wenn wir
uns den akademischen Stil schnell genug abgewöhnten, hatte ein Dozent einmal
gesagt, könnten wir z.B. Journalisten werden oder Redenschreiber für Manager. Es
war spannend, und noch fühlte es sich gut an. Noch hatte ich nichts zu verlieren.
Als Student hatte ich oft darüber gelesen, welche Gedanken Ältere sich über unsere
Studentengeneration machte. Damals wurde in fast jeder Dekade eine neue
Generation ausgerufen, und unsere nannte man - warum, habe ich vergessen seltsamerweise Generation Z. Der Tonfall, in dem man über uns schrieb, war
ärgerlich, aber vieles Geschriebene war richtig. Wir waren viel mit uns selbst
beschäftigt. Die wenigstens waren politisch ernsthaft interessiert, auch unter den
Politikstudenten. Zeit für politisches Engagement hatten wir nicht oder nahmen wir
uns nicht. Die Bereitschaft, Lebenszeit für politische Ziele zu opfern, wächst eben so hat Graf es einmal gesagt - meistens aus Empörung, und empört waren wir nicht.
Empörung und Zorn herrschten anderswo.
„Euer Wohlstand frisst eure Zeit.“ So sagte Graf es in einer Vorlesung kurz vor
seiner Emeritierung, einer denkwürdigen Vorlesung, in der er aussprach, was keiner
seiner Kollegen je gewagt hätte. Er begann im üblichen akademischen Tonfall. Dann,
ganz spontan, ganz offensichtlich ungeplant, vielleicht sogar ungewollt, zuerst im
Tonfall einer beiläufigen Anmerkung, dann immer erregter, für Augenblicke wie in
unterdrücktem Zorn, rechnete er mit uns ab, mit seinen Studenten, nein mit einer
ganzen Studentengeneration. Und dann, fast am Schluss: Ihr seid die Generation
Sichtflug.
Generation Sichtflug. Das wurde bei uns ein geflügeltes Wort. "Na, du Sichtflieger",
so pflaumte man sich amüsiert an. Ich nahm es nicht so locker. Hatte Graf nicht
irgendwie Recht? Ja, irgendwie waren wir eine Generation Sichtflug. Aber hatte er
uns denn Besseres gelehrt? Den politischen Instrumentenflug? Nein, das hatte auch
er nicht. Sein kaum verhohlener Zorn traf, ohne dass er es merkte, auch ihn selbst.
9
Aber Graf legte kurz darauf noch einmal nach. Alle wussten, dass es sein allerletzter
Auftritt in Halle sein würde, der Hörsaal quoll über bis weit in die Flure hinein. Er
fing wieder streng akademisch an mit Anmerkungen zur politischen Theorie der
Gegenwart. Dann brach er unvermittelt ab, ließ seinen Blick in die Weite des
Hörsaals schweifen, dann sagte er:
- Aber das ist für euch natürlich alles graue Theorie.
Für euch, sagte er. Er hatte, solange ich ihn kannte, nie einen Studenten geduzt, nun
dieses „für euch“.
- Ihr wisst ja, fuhr er dann fort, dass ihr die Generation Sichtflug seid.
Dann wurde sein Tonfall schärfer, fast schneidend.
- Aber ihr macht nicht einfach nur Sichtflug, ihr macht Sichtflug im Nebel. Ohne
Kompass, ohne Orientierung. Und trotzdem gut gelaunt.
Dann der Zwischenruf eines Studenten: Woher kommt denn der Nebel?
Großes Gelächter im Hörsaal. Darauf Graf - jetzt siezte er uns wieder:
- Es ist der Nebel der Begriffe. Von überall her. Von den Medien, von Parteien, von
Regierungen, in Wahlkämpfen.
Dann, nach einer kurzen, kunstvollen Pause:
- Aber auch von den nebulösen akademischen Begriffen.
Wieder ein langer, weiter Rundblick in den Hörsaal.
- Den einen Rat gebe Ihnen noch mit: Behalten Sie die wenigen Prozente des
Lehrstoffs, die wichtig sein könnten, die Sie vielleicht zu etwas besseren
Staatsbürgern machen. Und vergessen Sie möglichst schnell den ganzen Rest.
Machen Sie den Kopf frei für Neues, das im wirklichen Leben hilft.
Im Saal eine fast unheimliche Stille. Dann ein anschwellendes Klopfen auf die
Tische.
10
Dann wieder Graf:
- Ich wünsche Ihnen viel Weitsicht auf Ihrem weiteren Lebensweg. Alles Gute.
Er schob die vor ihm liegenden Papiere zusammen und steckte seine Brille ein. Alle
im Hörsaal blieben sitzen. Dann standen die ersten auf, keiner ging. Dann fingen
einige an zu klatschen, dann immer mehr, dann standen fast alle, fast alle klatschten,
einige riefen "bravo".
Graf blieb stehen, kämpfte sichtlich mit den Tränen, dann machte er eine
beschwichtigende Handbewegung. Das Klatschen ebbte ab. Dann sein allerletzter
Satz:
- Ich sage das noch einmal: Vergessen sie möglichst schnell möglichst viel von dem,
was Sie hier gelernt haben.
Dann ging er, die Standing Ovations sichtlich genießend, mit einem verschmitzten
Lächeln. Es war der bewegendste Moment meiner Zeit in Halle. Vielleicht der
einzige wirklich bewegende.
Aber zu was hatten wir Graf eigentlich so frenetisch applaudiert? Zu seiner
unverhofften Wahrhaftigkeit? Dazu, dass unser Studium größtenteils
Zeitverschwendung war, all die schönen Demokratie- und sonstigen Theorien
eingeschlossen? Wir wussten es nicht. So begeistert wir von Grafs Auftritt gewesen
waren, so schnell war er vergessen. Am nächsten Tag tauchten die Gedanken wieder
in den Alltag ein, die nächste Seminararbeit, die nächste Klausur, das anstehende
Praktikum, die Fertigstellung der Bewerbungsmappe und so weiter, und schon waren
die Standing Ovations für Graf nur noch ein aus dem Zusammenhang gerissener
Erinnerungsfetzen. Eine Zehnsekundenaufnahme davon auf Youtube war nach ein
paar Tagen gelöscht. Drei Tage nach seiner Abschiedsvorlesung hatte Graf Halle für
immer verlassen.
11
Wenn ich mich richtig erinnere, sah ich Constanze - die Cramer, wie viele sie
nannten - zum ersten Mal in einer von Grafs Vorlesungen. Constanze Cramer. Politik
und Informatik im Nebenfach, Hauptfach Ökonomie. Ich war im dritten von vierzehn
Semestern, sie in ihrem vorletzten, dem siebten. Ein älterer Kommilitone neben mir
machte eine Kopfbewegung zu ihr hin. „Schau mal!“ Man kannte sie. Eine
Erscheinung. Auffallend schön, auffallend athletisch, auffallend weiblich, auffallend
schwarzes langes Haar, einschüchternd groß, manchmal auf hohen Absätzen,
auffallend gepflegt, auffallend gut gekleidet, auffallend geschminkt. Auf den ersten
Blick eine Allerweltseleganz wie aus Modejournalen, ein Karrieretyp. Eine von
jenen, die einmal von Weitem gesehen zu haben mir eigentlich vollauf genügt hätte.
Im ersten Moment konnte man sie auch für einen akademischen Jungstar halten, eine
angehende Professorin. Alles an ihr, ihre Körperhaltung, ihre Mimik, ihre Gestik,
ihre Blicke, sagte: Kommt mir nicht zu nahe; ich weiß, ihr würdet gern, aber tut es
nicht. Dazu passte ihr immer in voller Länge, nie in Kurz- oder Koseform
ausgesprochener Vorname. Immer Constanze, niemals Connie oder sonstwas. Bei
uns Politologen gab es keine Frauen und auch keine Männer, die es mit einer wie ihr
hätten aufnehmen mögen. "Bei solcher Frau bist du als Mann doch immer nur der
Kofferträger." Nur einmal - ich saß ihr in Grafs Seminar näher als sonst - erahnte ich
in ihrer Miene für einen kurzen Moment Tiefgründigeres.
Auch in Grafs Seminar war sie immer wortgewandt und schlagfertig, sie
argumentierte glänzend, aber wenn sie sprach, dann in angestrengtem, fast schrillem
Tonfall. Einer Erscheinung wie ihr hätte man eine wohlklingendere Stimme
gewünscht. Aber dann hätte man vielleicht auch sie spontan zur Generation Sichtflug
gezählt. Das wäre, wie ich später herausfand, ein großer Fehler gewesen. Ich habe ihr
viel zu verdanken, auch für dieses Buch.
12
Das 20. Jahrhundert
Die Geschichte orientiert sich nicht am Kalender. Ein kalendarisches Jahrhundert,
auch das einundzwanzigste, als zusammenhängende Epoche zu behandeln ist im
Grunde, ich weiß es, schlicht Unsinn. Wenn man unser Jahrhundert als historische
Epoche betrachten will, dann hat diese eher mit dem letzten Jahrzehnt des vorigen
Jahrhunderts begonnen, mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt.
Ich fange daher mit einer Anmerkung zum zwanzigsten Jahrhundert an. Wie haben
Menschen im vorigen Jahrhundert politisch gedacht? Was haben sie mit ihrem
Denken angerichtet, und was haben sie damit - im Guten wie im Schlechten verhindert? Welche Fortschritte gab es im politischen Bewusstsein? In
Geschichtsbüchern wird man vieles anders lesen, aber gerade deswegen will ich hier
aufschreiben, wie Hauser es mir schon vor 50 Jahren zu sehen geholfen hat.
Das zwanzigste Jahrhundert - nicht das kalendarische - hatte einigermaßen klare
Konturen. Die Zeit bis zur Jahrhundertmitte war, wie man weiß, das wohl dunkelste
Kapitel der Menschheitsgeschichte, die Zeit der Weltkriege, die Zeit
massenmörderischer Despotien und die Zeit martialischer und menschenverachtender
Ideologien. Es war die Zeit von kolonialistischer Ausbeutung und Rassismus, wozu,
um nur ein Beispiel zu nennen, das lange geleugnete und fast vergessene
Terrorregime in Belgisch Kongo mit seinen ca. 10 Millionen Opfern gehörte. Und es
war auch - und das wird hier eine herausragende Rolle spielen - das Jahrhundert in
politischem Leichtsinn, politischer Ignoranz, in Siegerwillkür und kolonialistischer
Überheblichkeit gezogener Staatsgrenzen. Daneben war es aber auch die Zeit, in der
eine vergleichsweise zivilisierte politische Ideologie, die Ideologie der Demokratie,
sich global durchzusetzen begann.
Das Ende des zweiten Weltkriegs war natürlich eine historische Zäsur. Im
nachfolgenden Ost-West-Konflikt steigerten sich die militärischen
Bedrohungsszenarien zu atomaren Weltuntergangsszenarien. Auch dem militärisch
Stärkeren drohte nun schlimmstenfalls die vollständige Vernichtung, und militärische
13
Überlegenheit bewahrte nicht mehr vor Vernichtungsangst. Vor allem in der
westlichen Welt war das Weltkriegsende daher auch eine Bewusstseinswende. Das
politische Bewusstsein wurde zuallererst zu einem Welt- und
Atomkriegsverhinderungsbewusstsein. Dies war das Verbindende dieser Ära.
Auf diesem Entwicklungsstand war die westliche Welt mit sich zufrieden.
Gegenüber dem Rest der Welt konnte sie immerhin einen politischen
Zivilisierungsvorsprung für sich reklamieren, der nach Jahrzehnten und teilweise
nach Generationen und Jahrhunderten zu bemessen war. Auch der sozialistischen
Staatenwelt sah man sich natürlich moralisch weit überlegen. Und da diese erst mit
jahrzehntelanger Verzögerung kollabierte, wurde auch die Selbstzufriedenheit der
westlichen Welt weit über ihre Zeit hinaus konserviert. Sonst wäre es spätestens in
den siebziger Jahren Zeit für die Einsicht gewesen, dass dem Zivilisierungsschub der
Nachkriegszeit ein neuer folgen muss.
Mit dem politischen Bewusstsein ging es in der späteren Nachkriegszeit kaum noch
voran. Den Schreckensregimen der ersten Jahrhunderthälfte folgten Diktatoren wie
Franco und Salazar, terroristische Militärjuntas wie in Argentinien, kommunistische
Schreckensherrscher wie Mao Zedong, Pol Pot und Ceausescu, archaische Despoten
wie Idi Amin und Saddam Hussein und Völkermorde wie in Ruanda. Es wurden auch von demokratischen Weltkriegssiegermächten - weiter konventionelle Kriege
geführt, u.a. in Korea, Vietnam und Afghanistan, allein in diesen Ländern mit mehr
als acht Millionen Todesopfern. Dies wurde im Westen nicht etwa als zivilisatorische
Entgleisung gesehen, sondern eher als natürliche Fortsetzung der Geschichte. Die
Beschränkung der Atommächte auf konventionelle Kriegführung galt in dieser Zeit
schon als Ausweis zeitgemäßer zivilisatorischer Reife.
Solche Beispiele zeichnen ein düsteres Bild dieser Epoche, aber in der westlichen
Welt wurde die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dennoch nicht als düstere Zeit
erlebt. Man lebte weiter im Bewusstsein, dass zumindest in der eigenen Welt das
Schlimmste verhindert und das Mögliche im Großen und Ganzen erreicht wurde. Die
westlichen Staaten führten gegeneinander keine Kriege, die noch verbliebenen
14
Despoten der westlichen Welt wurden schließlich gestürzt, und es gab vor allem
keinen Atomkrieg. Die konventionellen Kriege fanden woanders statt, wenn auch
immer wieder mit militärischer, finanzieller und geheimdienstlicher Beteiligung
etablierter Demokratien. Ansonsten blieben die westlichen Staaten ganz darauf
konzentriert, in der eigenen Welt den erreichten Status zu bewahren.
Nichts anderem diente auch die europäische Integration. Dass der Weg zur
politischen Einigung Europas aber nicht nur Konflikten vorbeugen, sondern sich
später selbst als konfliktträchtig erweisen würde, ahnte damals niemand. So wurde in
der westlichen Welt eine zwischenstaatliche Nachkriegsordnung festgezurrt, die den
durch die Weltkriege geschaffenen Status bewahrte. Als dann zehn Jahre vor der
Jahrtausendwende endlich die sozialistischen Regime des Ostens kollabierten, war
man in der westlichen Welt sicherer denn je, die denkbar höchste Stufe politischer
Zivilisierung erreicht zu haben. Nach zwei Weltkriegen und jahrzehntelangem
kaltem Krieg schien die Zeit der großen weltgeschichtlichen Dramen vorbei und die
Zeit reif für ein entspanntes neues Jahrhundert. Europa würde auf absehbare Zeit
friedlich und demokratisch vereint sein, und der Rest der Welt würde zur politischen
Zivilisierung des Westens aufschließen. Wir haben unsere großen politischen und
wirtschaftlichen Probleme gelöst, glaubte man, zumindest die grundsätzlichen, wir
haben die sozialen Konflikte hinreichend entschärft, und nach unserem Vorbild wird
nach und nach auch die restliche Welt es schaffen.
Auch die zwischenstaatliche Friedensordnung schien zumindest dem Prinzip nach
fest gefügt zu sein, nicht nur für Europa und den Westen. Die Staatengemeinschaft
hatte sich auf die Unverletzlichkeit bestehender Staatsgrenzen als vermeintlich
friedenswahrendes Prinzip geeinigt, auf das so genannte Prinzip der territorialen
Integrität. Damit hatten bestehende Staaten de facto einen Anspruch auf
Unveränderlichkeit ihrer Staatsgrenzen. Da die meisten Kriege bis dahin mit
Übergriffen auf Staatsgrenzen begonnen hatten, versprach man sich von der
Durchsetzung dieses Prinzips eine vollends nichtkriegerische Zukunft.
15
Fast über die gesamte zweite Jahrhunderthälfte hinweg gab es aber militante
Konflikte, die nicht in dieses Bild passten. Es gab innerstaatliche Konflikte wie in
Nordirland, im Baskenland, in Kaschmir und vielen anderen Krisenregionen, die im
Kern Konflikte um Staatsgrenzen waren und damit auch Konflikte um das Prinzip
der territorialen Integrität. Ähnliche Konflikte gab es fast permanent in Afrika, wo
sie allein in den neunziger Jahren Millionen Todesopfer forderten. Und Europa, das
das kriegerische Zeitalter zumindest für sich selbst überwunden glaubte, erlebte
schon bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Jugoslawien-Kriege und
andere ähnliche Gewaltkonflikte. Dies zeigte, wie brüchig die politische
Zivilisierung auch in Europa noch immer war. Diese Kriege waren nicht, wie viele
damals glaubten, die letzten Nachwehen eines kriegerischen zwanzigsten, sie waren
vielmehr der unheilvolle Auftakt zu einem unfriedlichen 21. Jahrhundert.
Aber die westliche Welt ließ sich von ihrer Selbstzufriedenheit zum
Jahrtausendausklang nicht ablenken. Die Sektkorken sollten knallen. So feierte man
ziemlich unbesorgt in ein verstörendes neues Jahrhundert hinein.
16
2000 - 2024 Ein schleichender Weltkrieg und andere Krisen
Jahrhundertauftakt
Meine Großeltern würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, wie ihr
Jahrhundert hier auf ein paar Seiten abgefertigt wird. Auch meine Eltern haben die
zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als große Selbstverständlichkeit erlebt wie fast
alle damals. Sie waren stolz darauf, was in ihrer Zeit überwunden, erkämpft und
verteidigt worden war, und sie wollten sich diese Zeit nicht kleinreden lassen. Mir
fällt der distanzierte Blick natürlich leichter. Für mich ist auch die zweite Hälfte des
20. Jahrhunderts eine Zeit, in der Menschen - auch die im so genannten Westen - sich
von Überzeugungen haben tragen lassen, die sich heute mit Vernunft nicht mehr
erklären lassen.
Aber nun endlich zu unserem, dem 21. Jahrhundert, in dem ich mein Berufsleben als
Archivar verbracht habe. Dass ich Archivar geworden bin, ist eigentlich ein Zufall.
Eigentlich hatte ich doch eher Redakteur werden wollen. Bis irgendwann ein älterer
Freund mir sagte, auch etwas wie Archivarbeit sollte man als Redakteur einmal
gemacht haben.
Das Wort Archivarbeit hatte bei mir keinen guten Klang. Archive sind eben keine
Orte, in die es viele lebenshungrige Mitt- oder Endzwanziger zöge. Aber dann war da
diese von Hauser verfasste verführerische Stellenanzeige des SPIEGEL. Meinen Sie
auch, dass Archivarbeit langweilig ist?, so begann sie, und wer auf solch einen Satz
stößt, kann nicht anders als weiterlesen.
Dann das Bewerbungsgespräch. Ich ging auf das einschüchternde Verlagsgebäude in
der Hamburger Hafen City zu und dachte: Hier wärest du ein winziges Rädchen einer
großen Maschinerie, das kannst du nicht wollen. Dann stand ich vor Hausers fast
bescheidenem Büro, die Tür stand offen, hinter einem großen, hellen Schreibtisch ein
schlanker Mann mit etwas gedrungener Figur, schmalem Gesicht, fast filigraner
Hornbrille und dichtem, leicht gewelltem dunklem Haar. Mit einer Geste bat er mich
17
herein, lenkte mich auf den spartanischen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Ein eher
stiller Typ, dachte ich, kein autoritärer Chef, nicht unsympathisch. Dann sah er mich
einen kurzen Moment lang mit einem eindringlichen, bis ins Innerste ausforschenden
Blick an, dann hörte ich seine helle, freundliche Stimme sagen:
- Ich bin Jan Hauser.
Als wäre damit alles gesagt.
Aber ein paar Sätze später waren wir schon in einem intensiven Gespräch, und nach
wenigen weiteren Sätzen wussten wir beide: Wir vertrauten einander. Und dann
seine Begeisterung für die Archivarbeit. Nirgendwo sind Sie so unabhängig wie hier,
erklärte er mir, nirgendwo erfährt man Überraschenderes, nirgendwo kann man
klarer denken. Ganz verstand ich es damals noch nicht, aber es machte mir Mut
weiterzufragen, so naiv und so direkt, wie es nur ein Anfänger tun kann.
- Aber was bewirkt man als Archivar? Welchen Einfluss hat man?
- Mehr, als Sie vermuten, sagte er. Vielleicht mehr als die meisten Redakteure.
Ich sah ihn erstaunt an, und genau das hatte er offenbar erwartet.
- Manche, die sich hier bewerben, wollten eigentlich Redakteur werden. Sie auch?
Ich tat, als müsse ich überlegen.
- Ich selbst wollte es nie, sagte er. Hier arbeitet man viel freier. Als Redakteur ist
man immer auch gefangen.
- Worin?
- Im Zeitgeist? In der Aktualität? In Vorgaben des Verlags?
Er sah mich auffordernd an, als warte er auf meine Bestätigung. Dann sagte er:
- Außerdem hat man hier im Archiv den Blick ins Weite.
- Weit in die Vergangenheit, meinen Sie?
- Das hängt ganz von Ihnen ab, sagte er.
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Dabei sah er mich wieder mit seinem eindringlichen Hauser-Blick an, einem
Seelenfängerblick, verführerisch und auftrumpfend zugleich, der Menschen für
Augenblicke sprachlos machen kann. Ich will dich, sagte mir der Blick in diesem
Moment, ich will dich für unser Archiv, ich will dich als Kollegen.
Ich senkte den Blick und horchte in mich hinein. Dann spürte ich, wie meine Miene
sich ganz ohne mein Zutun zu einem stummen, widerstandslosen „Du kriegst mich“
formte.
Hauser lehnte sich mit entspanntem Stöhnen zurück.
- Ich glaube, Sie passen zu uns.
Kurzes Schweigen.
- Vor allem wegen Ihrer breiten Allgemeinbildung.
Er beugte sich wieder vor.
- Allerdings…
über meinen Kopf hinwegsehend
- …ein bisschen mehr Wirtschaftswissen hätte nicht geschadet.
Dann:
- Aber egal, dafür haben wir jemand anderes.
Dann gab er sich einen Ruck, richtete sich auf, sah mich mit befreitem Lächeln an.
- Also? Sind wir uns einig?
So fing alles an. So kam ich zum SPIEGEL-Archiv, so kam ich mit Jan Hauser
zusammen, ohne den ich kein Archivar geworden wäre oder doch einer, wie die
meisten Menschen sich Archivare vorstellen, ohne den mein politisches Bewusstsein
noch heute ein ganz anderes wäre, als es geworden ist, und ohne den ich nicht einmal
auf den Gedanken hätte kommen können, dieses Buch zu schreiben.
19
Die meisten Menschen machen sich von einem Archiv wie unserem falsche
Vorstellungen. Sie meinen, wir archivierten nur Informationen, die unseren
Redakteuren beim Schreiben nützlich sind. Hauser hat mir erklärt, dass das bei uns
von Anfang an anders war: Wir archivierten nicht nach dem Kriterium Nützlichkeit,
darüber dürften wir uns kein Urteil anmaßen. Es gebe immer wieder unscheinbare
Informationen, die erst nach fünfzig oder mehr Jahren in ihrer Bedeutung erkannt
würden, und manche davon würden nirgendwo anders als in Archiven wie unserem
zu finden sein. Auch darin liege der Sinn unserer Arbeit.
Natürlich ist man als Archivar zuerst einmal Quellensammler, eine Art Buchhalter
des Zeitgeschehens. Im Umgang mit Informationen war ich immer auch passionierter
Systematiker. Mein Gedächtnis ist ein systematisches Privatarchiv, manche meinten
damals sogar, es sei ein Autistengedächtnis. Aber ich hatte nicht nur ein Bild davon,
was in diesem Jahrhundert politisch getan und gedacht wurde, mein Gedächtnis
versuchte auch zu speichern, was zu tun, zu denken oder zu dokumentieren
möglicherweise versäumt wurde.
Insofern sah ich als Archivar vieles anders, als andere es taten. Zum Aktuellen
musste ich professionelle Distanz halten, daran gewöhnte ich mich. Beruflich lebte
ich insofern in der Vergangenheit. Aber manches Mal bin ich aus dieser Rolle
gefallen. Manchmal habe ich der Redaktion Archiveinträge aufgedrängt, die mir für
mögliche spätere Artikel wichtig erschienen, auch sehr viel spätere. „Wozu denn
das?“, war dann oft die erstaunte Antwort, und darauf hätte ich antworten mögen:
„Das werdet ihr noch sehen.“ Habe ich natürlich nicht.
Seit ich im Archiv arbeitete, von 2024 an, hinterließen politische Ereignisse bei mir
viel tiefere Spuren als vorher. Ich versuchte nun auch, mir ein möglichst klares Bild
vom Denken und vom Handeln von Politikern meiner bisherigen Lebenszeit zu
machen. Dabei zehrte ich natürlich auch von Erinnerungen aus zweiter Hand, aber es
ist genug Zeit vergangen, um daraus allzu Einseitiges herauszufiltern.
20
Deutschland war zur Jahrtausendwende noch immer in der Rolle des
schuldbeladenen Weltkriegsverlierers. Nicht noch einmal auffallen in der
Weltgeschichte, das war noch immer eine Maxime deutscher Politik. Nicht negativ
auffallen, aber auch nicht mit dem Anspruch, besser zu sein als traditionsreichere
Demokratien. So waren die anderen mit Deutschland einigermaßen zufrieden und
erst recht Deutschland mit sich selbst. Anders ging es den
Weltkriegssiegerdemokratien. Sie taten sich, auch wenn sie es sich selbst noch kaum
eingestanden, schwer mit ihrem schleichenden Bedeutungsverlust. Keine guten
Voraussetzungen für eine vernunftgesteuerte Weltpolitik.
So war man zur Jahrtausendwende im so genannten Westen vor allem mit sich selbst
beschäftigt. „Es geht uns besser denn je“, dachte man, oder „Es könnte uns viel
schlechter gehen.“ Großen Veränderungswillen gab es nicht. Gedanken wie „Könnte
es uns und anderen nicht noch besser gehen?“ oder „Wie lange wird es uns noch so
gut gehen?“ waren Gedanken von Spielverderbern. Man wollte nicht in längeren
Zeiträumen denken als gewohnt. Meine Generation, die Generation Sichtflug nicht,
aber auch nicht die Generationen der Älteren.
Vielleicht war ich bis weit in die erste Jahrhunderthälfte hinein einfach noch zu jung,
um besondere Erwartungen an unser Jahrhundert zu haben. Erst Jahre nach meinem
Eintritt ins Archiv begann ich, Vergleiche zwischen unserem und dem 20.
Jahrhundert anzustellen. Wie weit sind Menschen, Staaten und die Staatenwelt im
letzten Jahrhundert vorangekommen, fragte ich mich nun, und um wie viel weiter
könnten sie in diesem Jahrhundert vorankommen? Fragen, mit denen ich mich
ziemlich allein fühlte. Bis ich darüber mit Hauser sprach.
Anfang unseres Jahrhunderts war bei Älteren die größte Sorge noch immer: Nicht
noch eine Jahrhunderthälfte wie die vorletzte, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Ich selbst hatte diese Sorge nie. Der Anspruch hätte doch sein müssen: nicht noch
eine Jahrhunderthälfte wie die jüngste, die fünf Nachkriegsjahrzehnte. Also habe ich
später die erste Hälfte unseres Jahrhunderts immer wieder an der zweiten Hälfte des
21
20. Jahrhunderts gemessen. Je länger ich dies tat, desto besorgter wurde ich. Das
habe ich aber, so gut ich konnte, für mich behalten.
Wem hätte ich es auch anvertrauen sollen? Kein Redakteur hätte darüber schreiben
wollen. Ein einziges Mal habe ich mich damit vorgewagt, und die Antwort war:
„Dafür finden wir keine Leser.“ Der Kollege hatte natürlich Recht. Dass die
Geschichte der politischen Zivilisierung mit der Ausbreitung der Demokratie
abgeschlossen sei, glaubte inzwischen niemand mehr, aber man sah sich dem Ziel
doch immer noch nah. „Was erwartest du eigentlich?“, sagte der Kollege noch, „so
viel Fortschritt in so kurzer Zeit gab es noch nie.“ Auch das mochte richtig sein, aber
die Antwort darauf wäre gewesen: „Es gab in so kurzer Zeit auch noch nie so viele
neue Probleme.“ In dieser Zeit war der Niedergang des demokratischen
Parteiensystems schon zu erahnen, aber auch das änderte nichts an der herrschenden
Selbstzufriedenheit.
Das gehört aber schon nicht mehr hierher, es gehört in die Geschichte späterer
Jahrhundertabschnitte.
22
Bewusstseinsstörung
Dieses kleine Jahrhundertporträt soll vor allem eine Bewusstseinsgeschichte sein.
Auch deswegen kann man dabei nicht über den barbarischen Jahrhundertauftakt
hinweggehen, den islamistischen Anschlag auf das New Yorker World Trade Center
im September 2001. Was haben die Täter dabei gedacht, was ihre Inspiratoren, was
ihre Sympathisanten? Was haben diejenigen gedacht, die auf diesen Anschlag
politisch reagierten, die dabei im Namen der Opfer zu handeln meinten und selbst zu
Tätern wurden? Wer hat bei all dem wie weit über die Folgen seines Handelns
nachgedacht, wer wie weit über die Folgen des Handelns der Anderen? Ein
Problemknäuel, das die Welt zu überfordern schien.
Erst einmal aber zu einer anderen fast unentwirrbaren Geschichte, über die ich im
Archiv lange recherchiert habe, zu den Jugoslawien-Kriegen der frühen neunziger
Jahre des letzten Jahrhunderts. Heute wissen wir, dass dies exemplarische Kriege zur
Lösung einer Jahrhundertaufgabe waren: der Entflechtung falsch zusammengesetzter
Staaten.
Dass Jugoslawien nach dem Zusammenbruch des Sozialismus nicht als
zusammenhängender Staat zu halten sein würde, war den Beteiligten offenbar rasch
klar. Niemand schien aber zu wissen, wie man einen solchen Staat friedlich auflöst.
Also gab es über die neunziger Jahre hinweg Krieg, genauer gesagt mehrere Kriege,
in die auch NATO-Staaten verwickelt waren.
Das Ergebnis, der Zerfall Jugoslawiens in Serbien, Kroatien und fünf weitere
eigenständige Nachfolgestaaten, war eigentlich für alle vorhersehbar. Warum
brauchte es dafür dann aber diese Kriege, eine Intervention der NATO und ein
anschließendes langes Besatzungsregime im Kosovo und in Bosnien? Und was,
wenn überhaupt etwas, hat man daraus gelernt? Und wenn man nichts oder zu wenig
gelernt hat: Konnte das der Auftakt einer Abfolge ähnlicher Kriege sein, womöglich
einer langen Ära von Kriegen zur Auflösung von Staaten? Und konnte es wirklich
sein, dass niemand, weder Politiker noch Bürger noch Experten, sich ernsthaft diese
23
Frage stellte? War die Welt womöglich in der Hand politischer Schlafwandler,
ähnlich wie sie es vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen war? Genau diesen
Anschein hatte es. Unser Jahrhundert begann ähnlich unheilträchtig wie das
vorherige.
Ein schlichter Rückfall in ein Denken wie hundert Jahre zuvor war dies aber nicht,
davon hat mich auch die Archivarbeit überzeugt. Wer sich mit den JugoslawienKriegen näher befasste, dem musste klar sein: Die Kriege des 21. Jahrhunderts
würden ganz andere sein als die großen Kriege der Vergangenheit. Die meisten
großen Kriege waren Ausbrüche überschießenden Machtgefühls gewesen. Wenn
man andere Staaten besiegen und damit Macht und Einfluss über fremde
Staatsgebiete ausweiten konnten, warum dann nicht? Gelohnt haben sich die großen
Kriege dieser Art aber auf sehr lange Sicht fast nie, und in der Welt des 21.
Jahrhunderts war dies weniger denn je zu erwarten. Dass auch unser Jahrhundert eine
Ära von Eroberungskriegen sein würde, war kein plausibles Szenario.
Nun aber Kriege wie die um Jugoslawien. Viele hieran Beteiligte waren natürlich
noch ganz in altem Denken befangen, verfolgten also noch auf Eroberung und
Unterdrückung gerichtete Kriegsziele. Im Kern ging es bei diesen Kriegen aber um
etwas ganz anderes. Hier wollte kein Despot oder Monarch oder ideologisch
verblendetes Regime seinen Herrschaftsbereich ausweiten. Hier wollten werdende
Demokratien sich Staatsgrenzen schaffen, in denen es unter ihren Bürgern genügend
spontanen Zusammenhalt geben würde und damit die Voraussetzungen für
innerstaatlichen Frieden. Das waren verständliche, vernünftige und alles andere als
unmoralische Anliegen. Trotzdem war die Staatenwelt hierauf völlig unvorbereitet.
Konzepte für eine friedliche Erfüllung dieser Anliegen hatte die Weltpolitik nicht.
Die aus der Geschichte gezogenen Lehren reichten hierfür offensichtlich nicht aus.
Heute wissen wir, dass die Staatenwelt auch aus den Jugoslawienkriegen keine
Lehren gezogen hat, nicht einmal diese, die sich unmittelbar aufdrängte: Wo
Autokraten stürzen, die ihr Staatsvolk nur mit eiserner Faust hatten zusammenhalten
können, leben bei den Bürgern generationenalte Zusammengehörigkeitsbedürfnisse
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und Fremdheitsgefühle neu auf. Wenn diese Bedürfnisse missachtet werden, kommt
es zu schweren innerstaatlichen Konflikten. Nur eine herausragende politische
Zivilisierung kann dann noch verhindern, dass die Zusammensetzung von
Staatsvölkern mit Gewalt, Terror, Bürgerkrieg oder Krieg neu ausgekämpft wird. Für
diese eine einfache Wahrheit war die Zeit noch nicht reif.
Man muss wohl froh sein, wenn in einem Jahrhundert wenigstens einige wenige
politische Ideologien und Dogmen überwunden werden. Das vorige Jahrhundert war
damit beschäftigt, Ideologien wie Kolonialismus, Imperialismus, Kommunismus,
Rassismus und Geschlechterdiskriminierung zu überwinden oder zumindest
abzumildern. Würde im 21. Jahrhundert wenigstens der alte ideologische Umgang
mit Staatsgrenzen überwunden werden? Diese Frage hatte mich in meiner Zeit im
Archiv immer wieder beschäftigt, und sie begleitet mich bis heute.
Zum politischen Bewusstsein nach der Jahrtausendwende an dieser Stelle nur noch
dies: In dieser Zeit war viel von Globalisierung die Rede, also auch davon, dass fast
überall auf der Welt ähnliche Informationen und gleiches Wissen verfügbar würden.
Dies, so glaubte man, würde zu einer globalen Angleichung der politischen
Zivilisierung führen. Diese Auffassung war zum Ende des 20. Jahrhunderts geradezu
zum Dogma geworden. Aber eine Ideologie sah man hierin natürlich nicht, allenfalls
eine Ideologie zur Überwindung von Ideologien, also ein denkbar harmlose.
Aber es war eben doch eine Ideologie, und diese hatte, wie sich zeigen sollte, ähnlich
fatale Auswirkungen wie die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Sie war Wegbereiterin
für die größte politische Katastrophe des ersten Jahrhundertviertels, den Krieg der
USA und Großbritanniens gegen den Irak und den mörderischen Flächenbrand, der
ihm im Nahen Osten folgte. Möglich wurde dieser Krieg nur, weil Figuren wie
George W. Bush und Tony Blair ernsthaft glaubten, ein besiegter und vom Diktator
Saddam befreiter Irak würde sich ähnlich rasch modernisieren, sich also ähnlich
rasch zu einer stabilen modernen Demokratie entwickeln können, wie die
Nachkriegs-Bundesrepublik es getan hatte. Bush, Blair und ihre zahllosen
Gesinnungsgenossen und Sympathisanten hatten aber, wie die Nachkriegsgeschichte
25
des Irak dann zeigte, vom Modernisierungspotential des Irak und vergleichbarer
Länder nicht die geringste Ahnung. Nach dem Sturz Saddam Husseins offenbarte
sich im Irak ein politischer Bewusstseinsstand, der eher Parallelen zum
Dreißigjährigen Krieg nahelegte als zur Situation Deutschlands nach dem Zweiten
Weltkrieg. Der vermeintliche Befreiungskrieg wurde damit zum exemplarischen Fall
eines gescheiterten Modernisierungskrieges. Der Nachkriegs-Irak wurde formal
demokratisiert, aber als Demokratie war er von Anfang an nicht lebensfähig. Er
zerfiel in Bürgerkriegen, die noch archaischer geführt wurden als im zerfallenden
Jugoslawien. Die westlichen Modernisierer, die Krieg für eine höhere Stufe
politischer Zivilisierung zu führen vorgaben, standen damit in der Wirkung ihres
Tuns moralisch auf dem Niveau ihrer Kriegsgegner. Nach dem Zerfall des Irak gab
es keine politische und militärische Weltmacht mit glaubhafter moralischer Autorität
mehr. Die Welt war in der politischen Zivilisierung zurückgefallen.
Exkurs Wirtschaft
An meinem zweiten Arbeitstag im Archiv stellte Hauser mich den Kollegen vor. Alle
freundlich, einige beinahe herzlich. Die meisten schienen hoch konzentriert zu sein,
manche introvertiert, manche etwas verschroben, wie die meisten Menschen sich
Archivare vorstellen. Vielleicht ist wirklich etwas Wahres daran, dass typische
Archivare leicht autistische Züge haben. Aber wenn Hauser auf sie zuging, hellte
sich bei fast allen die Miene auf.
Am Ende unserer Tour standen wir, Hauser und ich, vor einer geschlossenen Tür am
Ende eines langen Flurs. "Hier sind wir in der Wirtschaftsabteilung", sagte Hauser.
Er ging hinein, ich einen Schritt hinter ihm. Im Raum nur ein Schreibtisch, dahinter
eine junge Frau mit auffallend kurzem schwarzem Haar, markanter Brille. Sie sah
kurz auf, schaute Hauser aus dem Augenwinkel an, sagte ein kurzes "hallo?".
- Ihr neuer Kollege.
- Ach so, sagte sie. Dann, mit einem freundlichem Lächeln noch einmal: Hallo!
Ich sagte nichts, sah sie eine Weile unschlüssig an. Ein bekanntes Gesicht?
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Sie erwiderte meinen Blick, zögerte, zog die Augenbrauen hoch , dann, mit
geweitetem Blick, ein Anflug von Lächeln.
- Haben wir uns schon mal gesehen?
Diese Stimme! Sie war es, es war ihre Stimme, Constanzes Stimme. Es war die
angestrengte, etwas schrille und kratzige Stimme der Cramer.
Ich rührte mich nicht. Dann stand sie auf, kam auf mich zu, streckte die Hand aus.
Cramer, die Souveräne. Was tun? Mich in Luft auflösen? Ihre Hand griff schon nach
meiner, da stand sie vor mir mit ihrem jetzt kurz geschnittenem Haar und ihrer
markanten Brille, so selbstbewusst wie früher, so imposant wie früher und ebenso
elegant wie früher. Aber unnahbar? Nein. Nicht unnahbar, nicht einschüchternd,
nicht abweisend. Hatten wir uns alle in ihr getäuscht?
- Vielleicht im Seminar?, fragte ich mit viel zu leiser Stimme. In Grafs Seminar?
- Ja genau.
- Constanze Cramer? Frau Cramer?
- Constanze.
- Matthias. Matthias Schmidt.
- Ja, jetzt erinnere ich mich.
Ach, ihr kennt euch?, fragte Hauser. Dabei sah er uns abwechselnd mit dem gütigen
Blick eines Vaters an, der zusieht, wie sein Kind einen Freund von früher trifft.
- Ihr werdet öfter miteinander zu tun haben.
- Würde mich freuen, sagte Constanze. Dann setzte sie sich wieder an den
Schreibtisch.
Als wir gegangen waren, sagte Hauser: Sehr selbstbewusste Frau.
Genau, hätte ich sagen mögen, aber ich traute mich nicht. Tagelang ging mir diese
Bemerkung Hausers durch den Kopf. Würde er das später einmal auch über mich
sagen: Sehr selbstbewusster Mann, dieser Schmidt? Würde ich das wollen? War ich
von Constanze, der sehr selbstbewussten, der Cramer, schon wieder eingeschüchtert
wie damals als junger Student? Von der Constanze, die Informatik und Ökonomie
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studierte, Fächer, die ich mir nicht zugetraut hätte? Die fast doppelt so schnell
studiert hatte wie ich? Die, wie sie bald erzählen würde, vier Jahre bei einer
Unternehmensberatung gearbeitet hatte, zu einem Gehalt, das ich vielleicht nie im
Leben erreichen würde, vier Jahre ein Leben aus dem Koffer, 13-Stunden-Tage, 60Stunden-Wochen, die vielen Reisezeiten nicht mitgerechnet, und die dabei gelernt
hatte, sich ganz ungeniert unbeliebt zu machen? Die also nicht nur eine Erscheinung
war, sondern auch ein Arbeitstier, konsequent und durchsetzungsstark? Die gerade
einmal drei Jahre älter war als ich, mir aber mindestens sechs Jahre Berufs- und
vielleicht auch Lebenserfahrung voraus hatte?
Aber warum saß sie nun hier im Archiv? Warum machte sie nicht Karriere im
Management? Warum nicht, wie es damals viele erwartet hatten, eine
Hochschulkarriere? Viele Jahre später hat sie mir auch das freimütig erklärt: Starke
Erscheinung mit schwacher Stimme, so habe man an der Hochschule über sie
geredet. Man habe sie sehen und man habe Texte von ihr lesen wollen, aber ihr
zuhören wollen habe man nicht. Das habe sie gerade noch früh genug gemerkt.
- Und?, frage ich. Hast du es bedauert?
- Nein, sagte sie. Die Erinnerung an Grafs Abschiedsvorstellung hat es mir leicht
gemacht.
Wirtschaftsexpertin im Archiv einer Zeitschrift wie dem SPIEGEL zu sein ist ein
ziemlich einsamer Job. Die Archivarbeit allein brachte uns selten zusammen, aber
wir schafften uns unsere Gelegenheiten. Wenn wir uns trafen, dann bestimmte
natürlich meistens Constanze die Themen, und natürlich ging es dann oft um
Wirtschaft. Ich versuchte dann, wenigstens höfliches Interesse zu zeigen, und sie
dankte es mir mit immer mehr Geduld. Sie konnte einem Laien wie mir die
Wirtschaft so leichthändig, so gut gelaunt und mit so wenigen Worten verständlich
machen niemand sonst. Hätte sie mir diesen Nachhilfeunterricht nicht gegeben,
würde ich mich heute nicht trauen, hier kurz etwas Eigenes zur
Wirtschaftsentwicklung in unserem Jahrhundert anzumerken.
28
Aber sind Wirtschaftsfragen für die Bewusstseinsgeschichte unseres Jahrhunderts
überhaupt wichtig? Oder sind sie zumindest dann eher unwichtig, wenn eine Epoche
vom Scheitern großer historischer Projekte wie Friedenswahrung oder globaler
Modernisierung geprägt ist? So würde ich vielleicht noch heute denken, wenn die
Gespräche mit Constanze nicht gewesen wären.
In meinen ganz jungen Jahren glaubte ich, politische Stimmungen seien von nichts so
abhängig wie von der Wirtschaftslage. Constanze erklärte mir, dass das einmal so
gewesen sein mag, aber nicht mehr so ist. Die meisten Bürger sind zufrieden, solange
es für sie wirtschaftlich nicht bergab geht. Solange es nur überschaubaren
Minderheiten wirtschaftlich schlecht geht, will die demokratische Mehrheit keine
großen politischen Veränderungen. Wer will es ihr verübeln? Dass ihr eine ganz
andere Politik mehr Wohlstand bringen würde, lässt sich schwer beweisen.
Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts begann eine schwere Finanzmarkt- und
Bankenkrise, und in Teilen Europas folgte ihr eine lange Staatsverschuldungs- und
Wirtschaftskrise. In manchen Medien war die Rede davon, dass in dieser Krise
Marktwirtschaft und Kapitalismus versagt hätten, aber wirklich ernst nahmen das nur
wenige. Die große Mehrheit der Bürger war gelassener. In Deutschland sowieso,
aber selbst in den Staaten, die die Krise viel stärker zu spüren bekamen, blieben
große politische Veränderungen aus. Was hätte sich, von einer etwas strengeren
Kontrolle der Banken abgesehen, politisch auch ändern sollen, um Krisen solcher Art
zu verhindern? Auch Constanze hatte darauf noch keine Antwort.
Eine Zeitlang glaubte ich, in Kreisen der Wissenschaft wisse man dies genauer, aber
dann hat Constanze es mir so erklärt: Es gebe zwei verschiedene Arten von
Wirtschaftswissenschaften, und beide führten in dieser Frage nicht weiter. Die eine,
im Elfenbeinturm der Theorie, beschäftige sich vor allem mit sich selbst, die andere
mische sich in die Politik ein. Die eine, die theoretische, sei intellektuell auf
höchstem Niveau, die andere sei auf dem Niveau der Politik, der sie sich andiene.
Die eine sei für politische Fragen unbrauchbar, die andere gebe den politischen Rat,
den ihre Geld- und Auftraggeber suchten. So sei es schon immer gewesen, sagte sie,
29
und so werde es sicher auch bleiben. Ich habe sie dann gefragt, ob die Wissenschaft
nicht doch dazulerne und in Zukunft besser vor Wirtschaftskrisen werde bewahren
helfen. Sie wisse von Krisen, erklärte sie, die durch Wirtschaftstheorien verursacht
wurden, aber von keiner, die durch Wirtschaftstheorie verhindert wurde. Sie glaube
auch nicht, dass sich daran viel ändern werde. Ob es wirklich alles so einfach sei,
fragte ich sie noch, und ihre schnippische Antwort war: Nein, aber für einen Laien
wie dich ist es Wesentliche.
Aber genug davon, mehr als ein kleiner Exkurs in Wirtschaftsfragen soll hier nicht
sein. Womit ich nicht sagen will, dass Wirtschaft für das politische Bewusstsein in
diesem Jahrhundert doch eher nebensächlich sei. Natürlich erleichtert
Wohlstandswachstum auch Fortschritte in der politischen Zivilisierung. Aber
wirtschaftlicher Fortschritt wird, wie mir Constanze einmal erklärte, nicht von der
Politik und nicht von Politikern gemacht. Politiker behaupteten oft das Gegenteil, die
meisten glaubten es sogar, aber es sei nicht so. Politik könne wirtschaftlichen
Fortschritt behindern oder zulassen, aber machen könne sie ihn nicht.
- Noch nicht?, fragte ich.
- Im Zulassen des Fortschritts kann die Politik noch besser werden.
So redete sie. Kurze, knappe Erläuterungen, gekrönt von einem Satz wie ein
Schlusswort, der mich erst einmal sprachlos machte, der mir dann aber immer
plausibler erschien. Das war ihr großes Talent. Ob sie einige ihrer Talente als
Archivarin nicht doch vergeude, fragte ich sie einmal, und auch darauf gab sie eine
Antwort, die mir allmählich immer plausibler wurde:
Ja, sagte sie, das habe sie sich natürlich auch gefragt. In der Unternehmensberatung
habe sie gelernt, Dinge genau auf den Punkt zu bringen. Da müsse man zeigen, dass
man manches auch ganz anders sehen kann, als die Mandanten es schon viel zu lange
gesehen hätten, und dabei gehe es weniger um die richtige Lösung als um die
Möglichkeit einer Lösung, und da dies oft, was die Kunden nicht gleich merken
dürften, eine eher diffuse Botschaft sei, sei es umso wichtiger, sie knackig zu
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präsentieren. "Es muss sitzen. Es muss ein kleiner Schock sein." Das, meinte sie, sei
ihr meistens gelungen. Es klang so engagiert, als würde sie nichts lieber tun wollen
als genau solche Arbeit, und doch so distanziert, als erzählte sie von einem früheren
Leben.
Wieso sie dann nicht dabei geblieben sei, fragte ich.
- Auch solches Leben wollte ich einmal gelebt haben. Aber man zahlt einen Preis.
- Welchen?
- Ich bin hier in der Reha. Das Archiv ist meine Reha.
Viel klüger fühlte ich mich danach nicht, aber ich fühlte, dass, was die Wirtschaft
angeht, viele doch viel weniger klug waren, als sie glaubten. Ein gutes Gefühl. Die
Wirtschaftsentwicklung unseres Jahrhunderts hat ihm Recht gegeben.
Russland und die Ukraine
Mit der Arbeit im Archiv hatte ich mich bald angefreundet. Begeisterung war es
nicht, aber je mehr ich über Alternativen nachdachte, desto besser fühlte ich mich
dort aufgehoben. Was kein Wunder war, wenn man einen Hauser als Chef hatte.
Hauser und ich waren einander so nah, wie Kollegen verschiedener Generationen es
nur sein können.
Aber Hauser überraschte auch immer wieder mit Bemerkungen, die mich
verunsicherten. So sagte er einmal beiläufig, er kenne das Archiv fast auswendig. Ich
sah ihn natürlich ungläubig an. Nein, sagte er, natürlich nicht buchstäblich das ganze
Archiv, aber das, worauf es ankomme. Die Schätze des Archivs sozusagen. Von
einer Million Archivinformationen seien das höchstens einige hundert. Über die
Jahrzehnte habe er ein Gespür dafür entwickelt, welche das sein könnten. Lernen
könne man das nicht, sagte er, lehren könne man es auch nicht, man könne eben nur
ein Gespür dafür entwickeln
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Nur einige hundert von einer Million Archivinformationen sollten wirklich wichtig
sein? Pflegten wir also doch einen Berg von Karteileichen, in dem es nur sporadisch
Spuren wichtigen Lebens gab? Ich fragte Constanze, ob sie es nach ihren
zweieinhalb Jahren Archiverfahrung etwa auch so sehe.
Ja, sagte sie, im Archiv einen wirklichen Schatz zu finden, das sei fast wie ein
Lottogewinn. Archivarbeit erfordere nun einmal Geduld.
- Aber wenn es wirklich so ist, fragte ich, machen wir dann nicht etwas grundsätzlich
falsch?
- Vielleicht, sagte sie. Einen Unternehmensberater sollte man vielleicht nicht darauf
ansetzen.
Was der denn sagen würde, wollte ich fragen, aber dann wusste ich schon selbst die
Antwort. Er würde eine große Reorganisation vorschlagen. Constanze hatte mir ja
geschildert, wie es geht. Ein langer diffuser Bericht, am Ende eine knackige
Botschaft: Das Archiv muss schrumpfen, das Archiv muss sich ganz und gar in Frage
stellen.
Weiter wollte ich es mir damals noch nicht ausmalen, auch wegen Hauser nicht. Das
Archiv in Frage zu stellen hieße, Hauser in Frage zu stellen, und nichts lag mir
ferner.
Hauser war nicht nur ein kollegialer Chef für uns alle, auch im Umgang mit
Redakteuren, dachte ich, bewies er sicheres Gespür. Trotzdem war sein Verhältnis
zur Redaktion nicht ohne Spannungen. Jahre später, lange nachdem ich sein
Nachfolger geworden war, hörte ich im Vorbeigehen einen unserer Chefredakteure
sagen: „Einen zweiten Hauser hatten wir uns eigentlich nicht gewünscht, oder?“ Ein
Kommentar über einen allseits hoch geschätzten Kollegen klingt anders.
Hatte es eine Seite Hausers gegeben, von der ich nichts ahnte? Hatten sich
Redakteure irgendwann von Hauser falsch informiert gefühlt oder sogar manipuliert?
Hatte er Archivinformationen für sich behalten? Hatte er Informationen
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weitergegeben, von denen er wusste, dass sie falsch waren? War er so bei der
Chefredaktion in Misskredit geraten? Nichts davon wollte ich glauben.
Dann erinnerte ich mich, wie Hauser einmal Archive mit Geheimdiensten verglichen
hatte. Geheimdienstler, hatte er gesagt, arbeiteten diskret und unauffällig, deswegen
werde ihre Macht weit unterschätzt, und ähnlich sei es bei Archivaren. Ein
Geheimdienstchef könne Regierungschefs und Minister ins offene Messer laufen
lassen, er könne ihnen Macht über andere geben, er könne, das wisse ich doch, sogar
Kriegsbereitschaft wecken und Kriegsausbrüche verhindern helfen, und daran habe
sich nichts geändert. Ein Archivleiter sei ein Geheimdienstchef im Kleinen. Auch er
könne Menschen, vor allem natürlich Redakteure, ins offene Messer laufen lassen
und Menschen Macht über andere geben. Ganz unauffällig. Ich fragte ihn, ob er es
schon einmal getan habe, und er antwortete, das glaube er nicht.
Archivare, fuhr er dann fort, könnten herausfinden, wer welche Archivinformationen
genutzt, also auch, wer welche Informationen Kollegen und Lesern vorenthalten hat.
Deswegen seien viele Redakteure vor Archivaren auf der Hut, auch ich würde das
noch erleben.
Sprach er aus Erfahrung? War er womöglich ein kleiner Intrigant? Hatte er sogar
mitgemischt, als einige Jahre vorher zwei Chefredakteure entlassen wurden? Und
hatte ein Gespräch, das wir über Information und Desinformation im Krieg geführt
hatten, nicht auch damit zu tun? Redaktionen gehe es im Krieg nicht viel anders als
Regierungen, hatte er gesagt. Man erwarte von ihnen, dass sie wissen und schreiben,
wer im Krieg die Guten und wer die Bösen seien. Auch wenn sie es nicht wüssten,
werde der Druck irgendwann zu groß, dann lege die Redaktion sich fest, auch wenn
ein moralisches Urteil eigentlich noch unmöglich sei. Und wie diese Festlegung dann
ausfalle, das hänge auch von Informationen aus dem Archiv ab.
Ich fragte nach einem Beispiel, und darauf gab er eine lange Antwort über den
Anschluss der Krim an Russland und den Bürgerkrieg in der Ostukraine.
33
Alle Regierungen, alle Geheimdienste, alle politischen Parteien und alle Medien
hätten in dieser Sache ebenso viel desinformiert wie informiert. Moskau habe es
getan, Kiew ebenso und die Staaten des Westens kaum weniger. Wir vom Archiv,
sagte er, gaben uns damals alle Mühe, Information von Desinformation
unterscheiden zu helfen, aber genützt hat es wenig. Die Redaktion habe sich Beweise
dafür gewünscht, dass nur Putin böswilliger Friedensstörer und Kriegstreiber war,
die Regierungen des Westens und der Ukraine dagegen nur dem Frieden dienten. Nur
zwei Redaktionskollegen - es tue ihm immer noch Leid um sie - hätten sich daran
nicht gehalten.
An dieser Stelle kann ich nicht anders, als einen ersten Ausschnitt aus Hauser
Aufzeichnungen einzuflechten, auf die ich zwei Jahre nach seinem Ausscheiden aus
dem Archiv gestoßen bin. Ich hätte mir gewünscht, Hauser hätte mir diese
Aufzeichnungen selbst anvertraut, aber ich fand sie rein zufällig bei einer Recherche
im Archiv. Sie waren noch vollkommen unberührt, augenscheinlich noch von
niemandem gelesen oder auch nur durchgeblättert oder angeschaut. Hauser hatte am
Tag seiner Verabschiedung ein einziges Exemplar dieser Aufzeichnungen ins Archiv
gestellt, wie ein unauffälliges Geschenk an den Verlag, als wollte er es dem Zufall
überlassen, ob sie je von jemandem gelesen würden. Ich hatte das Glück, ihr Finder
und erster Leser zu sein. Auch mit diesen Aufzeichnungen ist Hauser für mich dann
zu einem Zeitzeugen des ersten Vierteljahrhunderts geworden.
Natürlich hat Hauser darin auch einiges über Russland und Russlands Rolle im
Ukrainekonflikt geschrieben, und natürlich hatte er dazu eine Meinung, die damals
alles andere als die gängige war.
Als Archivar hätte ich mir manchmal doch gewünscht, Überflüssiges und Nebensächliches
herauszuhalten und dem, was ich für das Besondere hielt, einen bevorzugten Platz zu geben.
Aber ich habe es nicht getan. Auch zum Ukraine-Konflikt mussten wir natürlich wahllos das
viele Redundante archivieren, das westliche Politiker, Organisationen, Ämter und Medien
hierzu absonderten und das die Rollen von Gut und Böse fast immer auf die gleiche Art
verteilte. Eine Zeitlang waren "Russlandversteher" und "Putinversteher" unter Journalisten
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Schimpfworte. Die anderen, die Nichtversteher also, waren die selbstsichere Mehrheit, auch
bei uns.
Russland als Restgebilde der Sowjetunion, das den Verlust der Großmachtrolle nicht
verkraftet und sich Teile der Ukraine einverleiben will, um sich dabei doch noch einmal als
Großmacht zu inszenieren - das war im Westen die gassenläufige Deutung. Aber was war
daran stimmig? Richtig war das innere Bild von Russland als verstörter Ex-Großmacht.
Geschwächte nationale Identität, bedrohtes politisches Selbstbewusstsein und ein Verlangen
nach Ersatzbefriedigungen, dazu ein Präsident Putin, der für eben diese Gefühle ein sicheres
Gespür hatte. Populistische Rhetorik und Symbolik, autokratischer Führungsstil, neuer
Nationalismus, neue Feindseligkeit gegenüber Minderheiten jeglicher Art,
Durchsetzungskraft vor Rechtsstaatlichkeit, neue Religiosität, das waren - nach einer kurzen
Phase versuchter Verwestlichung - die Quellen des politischen Empfindens im
postsowjetischen Russland. Putins Nachfolger werden dieser Linie auf absehbare Zeit
folgen. Amerika verkraftet den Entzug der Weltmachtrolle etwas besser, schon wegen seiner
viel längeren demokratischen Geschichte, aber Ähnlichkeiten werden bleiben.
Und die Ukraine? Opfer verschleppten russischen Großmachtwahns? So wollten die
Regierenden im Westen es sehen, aber plausibel war es nie. Als die inneren Unruhen mit
Protesten in Kiew begannen, war die Ukraine, innerlich zerrissen und wirtschaftlich
rückständig, schon fast ein gescheiterter Staat. Seit der Ausgliederung aus der Sowjetunion
immer wieder inkompetente, korrupte und abgewählte Staatsführungen, die der Westen zum
Teil dennoch hofierte. Dann im Winter 20013/14 der Kiewer Bürgeraufstand gegen den
Präsidenten Janukowitsch, in dem sich alles andere offenbarte als landesweit staatstragende
Gemeinsamkeiten. Auch im Archiv finden sich die Belege für eine ganz andere Sicht der
Dinge: Die Staatsgrenzen der Ukraine waren ähnlich willkürlich gezogen wie die
Staatsgrenzen vieler ehemaliger Kolonien. Also war die Bevölkerung dieser Ukraine nicht
dafür gemacht, auf Dauer in einem gemeinsamen Staat zu leben. In Teilen des Landes war
diese Ukraine für die Mehrheit der Bevölkerung nicht zur politischen Heimat geworden.
Dort herrschte gegenüber dem eigenen Staat ein spontaner und ganz und gar legitimer
Widerwille, auch wenn die dafür gebräuchliche Bezeichnung keinen guten Klang hat:
Separatismus.
35
Das Weitere will ich zusammenfassen: Die Krim sei Russland zugefallen, weil die
Krim-Bewohner es so wollten. Russland habe dabei unauffällig und fast gewaltlos
geholfen, also hinlänglich zivilisiert, ohne gewalttätiges Großmachtgehabe. Es habe
sich, im Gegenteil, taktisch klug für die Freiheit von Bürgern eingesetzt, über ihre
Staatszugehörigkeit selbst zu bestimmen. Selbst wenn Russland hier aus falschen
Motiven das moralisch Richtige getan habe, bleibe es doch das Richtige, und wer das
Richtige tue, dürfe dafür nicht mit Sanktionen bedroht und bestraft werden. Genau
das aber hätten die westlichen Demokratien bekanntlich getan. Sie hätten eine
Sanktionsmaschinerie in Gang gesetzt, um Russland für einen legitimen Einsatz für
das Selbstbestimmungsrecht der Krim-Bewohner zu bestrafen. Hausers Fazit des
Krim-Konflikts: Hier sei eine falsch gezogene, konfliktträchtige Staatsgrenze ohne
Blutvergießen nachhaltig korrigiert worden, ohne dass dadurch erkennbar neue
Konflikte und größere neue Minderheitenprobleme geschaffen seien. Dies sei
geradezu ein historischer Glücksfall. Selten in der Geschichte sei eine umstrittene
Grenze so reibungslos im Sinne der Bürger korrigiert worden. Einer Figur wie Putin
könne man manches vorwerfen, aber die Loslösung der Krim von der Ukraine ganz
sicher nicht. Die Welt habe ja erlebt, wie kurz danach in der arabischen Welt um
umstrittene Grenzen ganz anders, nämlich mit schlimmstem Terror und Krieg
gekämpft wurde, vorher habe sie dies in den Jugoslawienkriegen erlebt, und die Welt
werde sich wundern, wie oft sich dies noch wiederholen werde. Spätere Historiker
würden sich einmal fragen, warum der Westen die von Russland unterstützte
Loslösung der Krim damals nicht als friedenswahrende Bereinigung der politischen
Landkarte gewürdigt habe.
Und dann Hausers Kommentar zum Konflikt um die Ost-Ukraine:
Die Krim ließ sich von der Ukraine mit einem sauberen chirurgischen Schnitt
abtrennen. Im Fall der Ost-Ukraine war dies anders. Russlands Rolle war hier
dubioser. Vielleicht hatte Putin, geblendet von der Leichtigkeit der Operation Krim,
die Komplikation dieses Konflikts unterschätzt, als er die ostukrainischen
Separatisten bestärkte. Er könnte geglaubt haben, auch hier könne nach einem rasch
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anberaumten Referendum die ukrainische Staatsgrenze schnell und friedlich
korrigiert werden. Es gab zwar ein Referendum in der Region Donezk, in dem eine
überwältigende Mehrheit für die Abspaltung von der Ukraine votierte. Aber welcher
Grenzverlauf würde der richtige sein? Wie sollten die Minderheitenrechte im
abgespaltenen Gebiet geregelt werden? Und sollte das abgespaltene Gebiet ein
vollständig eigenständiger Staat werden, mit eigener Armee und eigener Währung,
oder sollte er auf eine eigene Armee, eine eigene Währung und womöglich noch auf
andere Zuständigkeiten verzichten? Oder sollte die Ostukraine sich ganz und gar
Russland anschließen? Die ostukrainischen Separatisten zu unterstützen, ohne diese
Fragen zu Ende gedacht zu haben, war fahrlässig. Insofern trifft Putin und seine
Mitstreiter große Mitschuld am Leid im ostukrainischen Bürgerkrieg.
Nicht weniger Schuld tragen aber die ukrainische Staatsführung und deren westliche
Unterstützer, diejenigen also, die den Ostukrainern eine freie Entscheidung über ihre
Staatszugehörigkeit verweigern wollten. Das Ergebnis dieser Verweigerung: nach
einem opferreichen Bürgerkrieg ein schwelendes Staatsgrenzenproblem und damit
ein neuer schwelender Konfliktherd in Europa. Aber was konnte man vom
ukrainischen Staat damals anderes erwarten? Von einem Staat in der denkbar
kompliziertesten politischen Lage, um dessen Führung sich in dieser Zeit nur
politische Anlernlinge bewarben, darunter ein Boxweltmeister und ein
Schokoladenfabrikant, noch blutigere Laien also als die Staatslenker sonstiger, auch
westlicher Demokratien? Präsident wurde damals - als das in der Tat kleinere Übel zuerst der Schokoladenfabrikant, der dann aber natürlich in jeder nur denkbaren
Hinsicht überfordert war.
Dass auch der Westen in diesem Konflikt nicht flexibler reagierte, lässt sich ebenso
wenig mit Vernunftgründen erklären. Erklärbar ist es nur mit Dogmengläubigkeit.
Nach dem Dogma der territorialen Integrität sollte jedem Staat die Unverletzlichkeit
seiner Grenzen garantiert sein, auch dann, wenn er, wie die Ukraine es tat, einem
Teil seiner Bürger das Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit
verweigert. Alles, was die Grenzen bestehender Staaten eigenmächtig in Frage
37
stellte, also auch die von Separatisten abgehaltenen Referenden und Wahlen in der
Ostukraine, wurde demnach von westlichen Regierungen für illegitim erklärt, nicht
zuletzt unter Berufung auf das Völkerecht. Von Regierungen also, die selbst, allen
voran die USA, das Völkerrecht immer wieder nach Gutdünken auslegten.
Natürlich ist das Dogma der territorialen Integrität aus leidvoller historischer
Erfahrung entstanden. Die Erfahrung war, dass die meisten Kriege von
Staatsführungen ausgingen, die eigenmächtig und gewaltsam Staatsgrenzen
verändern wollten. Vom Dogma der territorialen Integrität versprach man sich, dass
es den bisher wichtigsten aller Kriegsgründe aus der Welt schaffen und damit eine
weitestgehend friedliche Welt schaffen würde. Das war sicherlich gut gemeint, aber
es hat alles andere als nachhaltigen Frieden gebracht. Auch in der Ukraine wurde
im Namen dieses Dogmas ein Krieg der Regierung gegen eigene Bürger geführt, die
frei über ihre Staatszugehörigkeit entscheiden wollten.
Wie werden künftige Historiker hierüber einmal urteilen? Mit Entsetzen über das
politische Denken in unserem Jahrhundert? Hoffentlich.
Wie Hauser es hier formulierte, klang es so wohltuend selbstverständlich. Ich war
beim Ukraine- Konflikte immer unsicher gewesen, welche Seite - wenn überhaupt
eine - moralisch im Recht ist. Wie hatte ich übersehen können, dass das Dogma der
territorialen Integrität mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker unvereinbar ist?
Nur einmal, als ich erfuhr, dass sogar der greise Helmut Schmidt den Anschluss der
Krim an Russland mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker verteidigt hatte, war
ich diesem Gedanken nahe gekommen. Hatte die Staatengemeinschaft sich mit dem
Dogma der territorialen Integrität ein globales Denkverbot auferlegt? War die
Auffassung, ein Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit sei mit dem
Frieden unter den Völkern unvereinbar, ein fataler historischer Irrtum?
Bei einer Archivrecherche stieß ich auf den seit Mitte des 20. Jahrhunderts
andauernden Zypern-Konflikt. Seit Jahrhunderten lebten im Norden des Inselstaates
mehrheitlich Türken, im bevölkerungsreicheren Süden mehrheitlich Griechen. Die
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Türken fühlten sich von der griechischen Mehrheit seit jeher schlecht behandelt. Als
die griechische Mehrheit den Anschluss Zyperns an Griechenland anstrebte, war dies
für die türkische Minderheit natürlich ein Schreckensszenario. Der Konflikt hierüber
wurde zwei Jahrzehnte lang mit beiderseitigem brutalem Terror geführt, ein
opferreicher Konflikt also, in dessen Verlauf Hunderttausende innerhalb des Landes
und aus dem Land flüchteten und vertrieben wurden. Schließlich besetzte die Türkei
1974 Nordzypern, das sich daraufhin zu einem unabhängigen Staat ausrief. Die
Türkei half damit den türkischen Zyprioten, über ihre Staatszugehörigkeit frei zu
entscheiden, und intervenierte so gesehen für die Freiheit und gegen das Dogma.
Allerdings war hiernach die Vorgeschichte schon mit zu viel Gewalt und Unrecht,
mit zu vielen Verbrechen beider Konfliktparteien belastet, als dass das Problem
allein mit Referenden über die Staatszugehörigkeit noch hätte gelöst werden können.
Erst nach einem halben Jahrhundert komplizierter Vermittlungsarbeit, begleitet von
einer ganz allmählichen politischen Bewusstseinsveränderung, konnte zur
Staatszugehörigkeit der Zyprer wenigstens eine provisorische Übereinkunft erzielt
werden. Selbst in diesem vergleichsweise übersichtlichen Fall reicht also eine
Generation nicht aus, um die Denkblockade in Sachen Separatismus auch nur
ansatzweise zu lösen. Der auf Zypern jahrzehntelang herrschende Terror und die
Invasion Nordzyperns durch die Türkei lassen sich sogar als Vorboten der neuen Ära
des Unfriedens deuten, die mit den Jugoslawien-Kriegen der neunziger Jahre
begonnen hat.
Aber auch hierzu war Hauser, wie ich bald herausfand, mit seinen Gedanken schon
viel weiter. Gegen Ende seiner Aufzeichnungen schrieb er:
Nicht der Separatismus ist maßlos und radikal, sondern dessen Unterdrückung. Nicht
Radikalisierung führt zum Separatismus, sondern die Verweigerung separatistischer
Anliegen führt zur Radikalisierung. So war es auch in Zypern, in Jugoslawien und in der
Ukraine. Aber es gibt Beispiele dafür, dass es anders geht. Tschechien und die Slowakei z.B.
haben sich friedlich voneinander getrennt, weil beide Seiten es so wollten, weil keine Seite
dogmatisch verblendet war und weil zudem der künftige Grenzverlauf ziemlich unstrittig
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war. So einvernehmlich hätte es auch mit der Krim ausgehen können, wenn die dogmatische
Verblendung nicht gewesen wäre.
Aber auch in Russland war das Bewusstsein in Sachen Separatismus natürlich nicht weiter
fortgeschritten. Russland trat für das separatistische Selbstbestimmungsrecht da ein, wo es
um die Interessen von Russen ging. Wenn es um die Bewahrung eigener Staatsgrenzen ging,
um den Separatismus von Minderheiten im eigenen Staat, beharrte auch Russland auf dem
Dogma der territorialen Integrität. Damit rechtfertigte es seine brutal geführten Kriege in
Tschetschenien und anderen abtrünnigen Regionen. Im opportunistischen Umgang mit
völkerrechtlichen Dogmen standen Russland und der Westen einander also kaum nach.
Der Westen hätte hierbei moralische Überlegenheit wiedergewinnen können. Er hätte z.B.
die Zustimmung zum Anschluss der Krim an Russland davon abhängig machen können, dass
Russland auch in Tschetschenien und anderen Landesteilen Referenden über die
Staatszugehörigkeit zulässt. Auch wenn Russland Jahrzehnte gebraucht hätte, um sich
ernsthaft hierauf einzulassen: Ein erster Schritt in Richtung einer neuen
Weltfriedensordnung hätte dies werden können..
Die Rückwärtsgewandtheit des Denkens in Sachen Staatsgrenzen bezeugte in dieser Zeit
kaum ein Politiker so unverblümt wie Putin, als der den Zerfall der Sowjetunion als die
größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Damit zeigte er, wie
schwach auch bei ihm, der sein politisches Handwerk besser beherrschte als die meisten
Staatslenker des Westens, das Vorstellungsvermögen für langfristige politische
Veränderungen war. Die Sowjetunion war ein auf Zwang gegründetes künstliches
Staatsgebilde gewesen, also konnte ihr Zerfall keine geopolitische Katastrophe sein. Die
friedliche Auflösung der Sowjetunion hat vielmehr diverse Kriege vermeiden helfen, wie sie
im zerfallenden Jugoslawien geführt wurden. Wenn die Auflösung der Sowjetunion eine
Katastrophe zur Folge hatte, dann war es die in Russland entstandene politische Sinnleere.
Westliche Vorstellungen von Demokratie konnten diese Leere nicht füllen. So war es kein
Wunder, dass sich im politischen Bewusstsein Russlands postsowjetische, chauvinistische,
zaristische und westlich-demokratische Denkfiguren irrational und unberechenbar
verknäuelten.
40
Natürlich stutze ich, wenn ich so etwas las. Meinte Hauser wirklich, die westliche
Demokratie sei für Russland nicht die passende Staatsform? Ganz fremd war mir der
Gedanke nicht, aber noch zu fremd, als dass ich ihm damals hätte nachgehen wollen.
Vielleicht hätte ich mich näher damit befasst, wenn ich mich schon damals gefragt
hätte, ob die ethnischen und religiösen Minderheiten Russland auf Dauer die Treue
halten würden. Konnte man sich dessen bei den 20 Millionen russischen Muslimen
sicher sein, aus denen schon eine Generation später bis zu 30 Millionen werden
sollten? Würden diese sich in Russland nicht früher oder später als unwillkommene
Minderheit fühlen und über ihre Staatszugehörigkeit neu entscheiden wollen?
Auszuschließen war das schon damals nicht. Sicher war nur, dass diese Minderheiten
sich von politischen Dogmen nicht ewig würden einschüchtern lassen.
Afrika
Es gäbe an dieser Stelle noch viel über die zwei gemeinsamen Jahre im Archiv zu
erzählen, in denen Hauser und ich einander so nahe kamen. Aber dies ist nicht die
Geschichte von Hauser und mir, es soll eine kurze Bewusstseinsgeschichte des
Jahrhunderts sein, soweit möglich sogar eine Weltgeschichte, und daher muss hier
erst einmal von anderen Weltregionen die Rede sein, in denen sich im ersten
Jahrhundertviertel ähnliche Dramen abspielten wie die gerade geschilderten, Dramen
also um Fragen der Staatszugehörigkeit.
Im demokratischen Europa galt Streit um Staatsgrenzen lange als ein Problem von
gestern. Es komme nicht darauf an, so war die herrschende Meinung, in welchem
Staat man als Bürger lebe, es komme nur darauf an, dass Staaten die
Minderheitenrechte wahrten.
Dies konnte zur herrschenden Meinung werden, weil in Westeuropa nur noch ein
kleiner Teil der Bürger von dem Problem betroffen war. Die Kriege der
Vergangenheit bis hin zu den Jugoslawienkriegen hatten in Europa viele
Willkürgrenzen korrigiert, und in der Tat war auch der Umgang mit Minderheiten
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zivilisierter geworden. Aber durfte man Ostukrainern, Krimbewohnern und anderen
deswegen vorschreiben, sich unerfüllte Staatszugehörigkeitswünsche zu versagen?
Darüber, sagte Hauser einmal, dürfe sich doch niemand ein Urteil anmaßen, ohne die
Betroffenen selbst gehört zu haben. Ob ich denn selbst einmal mit Betroffenen
darüber geredet hätte. Und als ich darauf nicht antwortete: Ich könnte ja einmal einen
Griechen fragen, was heute geschähe, wenn Griechenland oder Teile davon noch
immer unter türkischer Herrschaft stünden, aber die Antwort könne ich mir sicher
auch denken. Ich könnte auch einmal einen Finnen fragen, was Finnen heute täten,
wenn ihr Land noch immer zu Russland gehörte. Die Finnen würden dies, da sei er
ganz sicher, selbst dann nicht hinnehmen wollen, wenn Russland
Minderheitenreichte ähnlich respektierte wie westeuropäische Staaten. Falsche
Staatsgrenzen seien nun einmal keine von selbst heilenden Wunden, und sie würden
es wahrscheinlich nie werden. Die vielen Kriege in Europa hätten viele
Staatsgrenzen korrigiert, aber, das wisse ich doch auch, damit sei die Frage der
Staatszugehörigkeit auch in Europa nicht für immer und nicht überall vom Tisch,
auch nicht im Europa der Europäischen Union.
Nach solchen Gesprächen mit Hauser war ich immer wieder verblüfft, in welcher
politischen Ahnungslosigkeit ich, nein wir alle, unsere ersten Lebensjahrzehnte
verbracht hatten.
Mit Hausers Hilfe hatte ich den Separatismus neu verstehen gelernt, aber es gab noch
einen anderen politischen Begriff, den ich ebenso neu verstehen lernen musste:
Parallelgesellschaften. Dieser Begriff war in der westlichen Welt ebenso negativ
besetzt, er löste ebensolche Abwehrreflexe und ebensolche Empörung aus wie der
Separatismus. Es hat lange gedauert, bis ich Hausers Ausführungen dazu wirklich
ernst nahm, und noch länger, bis sie mir ganz und gar einleuchteten.
Wir wollen keine Parallelgesellschaften in unserem Land. Darüber herrschte in
Deutschland und vielen anderen Ländern Einvernehmen. Dieser Spruch ging
konservativen Politikern am leichtesten über die Lippen, aber Widerspruch gab es
dagegen auch anderswoher nicht. Was aber, fragte Hauser, waren die Alternativen?
42
In vielen Ländern sei längst ein Zustand erreicht, in dem es nur noch darum gehe, ob
sich Parallel- oder ob sich Gegengesellschaften im eigenen Land bilden würden.
Gegengesellschaften bedeuteten unvermeidlich Gewalt und Terror.
Parallelgesellschaften dagegen stünden für die Chance auf ein friedliches
Nebeneinander. Notfalls müsse der Staat Parallelgesellschaften sogar gezielt fördern,
um daraus nicht Gegengesellschaften entstehen zu lassen. Nur so werde in manchen
Ländern der innerstaatliche Frieden künftig noch zu wahren sein. Diese Länder
müssten lernen, Parallelgesellschaften nicht als Schreckensszenarien zu betrachten,
sondern als ein Befriedungskonzept.
Ich gestehe, dass ich mir erst mehr als dreißig Jahre später ernsthaft die Frage stellte,
wie mit staatlicher Förderung funktionierende Parallelgesellschaften entstehen
können.
Aber genug erst einmal davon. An dieser Stelle muss von Afrika die Rede sein. Auch
die Probleme Afrikas hätte ich in meinen ersten Lebensjahrzehnten fast ignoriert,
wären nicht die wachsenden Flüchtlings- und Migrantenströme nach Europa
gewesen, die in manchen europäischen Ländern schon Parallelgesellschaften und
teilweise sogar Gegengesellschaften aufkeimen ließen.
Afrika hatte Hauser immer am Herzen gelegen. In seiner Jugend hatte er mit seiner
Familie ein Jahr lang in Kenia gelebt, eine Erfahrung, sagte er, die ihn erst gelehrt
habe, die Welt des wohlhabenden Westens mit dem nötigen Abstand zu betrachten.
Zu Afrika hat er solchen Abstand nicht immer gewahrt. Manche seiner
Aufzeichnungen zum Afrika des ersten Jahrhundertviertels lesen sich wie
verzweifelte Klageschriften, aber ich will hier etwas nüchterner bleiben. Hier geht es
mir darum, ob die Probleme der politischen Zivilisierung in Afrika mit denen im
Westen und anderswo in der Welt vergleichbar waren. Die Antwort nehme ich
vorweg: Genau so war es natürlich.
Ich will mich den Problemen Afrikas auf einem Umweg nähern, dem Umweg über
den Fall Ukraine. Die Ereignisse dort verstanden zu haben kann helfen, das Afrika
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des ersten Jahrhundertviertels zu verstehen. Deswegen ist hier aus Hausers
Erinnerungen noch ein Abschnitt zur Ukraine am Platz. Er beginnt - ganz und gar
untypisch für Hauser - mit einem Zitat aus einer Zeitung.
Im Juli 214 las ich in einer deutschen Tageszeitung diesen Beitrag Carl Bildts, des
schwedischen Außenministers, der im Jugoslawien Konflikt lange für die UNO tätig
gewesen war: (FAZ vom 7./8.Juli 2014)
„…Die meisten Grenzen Europas wurden mit Blut gezogen, im Laufe von
Jahrhunderten brutaler Konflikte, ethnischer Säuberungen und
Bevölkerungsbewegungen. Diesen abgeschlossenen Prozess wieder zu öffnen
hieße, erneutem Blutvergießen Tür und Tor zu öffnen. Daher wurde in den
Turbulenzen nach dem Kalten Krieg ein fundamentales Prinzip formuliert: Das
Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wurde anerkannt, alle
existierenden Grenzen mussten jedoch respektiert werden. Jede Veränderung
bedürfte der Zustimmung.
Dieses Prinzip wurde … von der EU in der Jugoslawien-Krise… bekräftigt. Wir
haben auf der territorialen Integrität Kroatiens bestanden und es abgelehnt, eine
Auflösung Bosniens in Erwägung zu ziehen. Die Grenze zwischen nördlichem
Kosovo und Südserbien sollte bleiben.
"Alle existierenden Grenzen müssen respektiert werden" und "Jede Veränderung
bedürfte der Zustimmung". So also denken die Carls Bildts dieser Welt, so denkt die
UNO, so denkt die Staatengemeinschaft, und danach hat die ganze Welt sich zu
richten. Welche Anmaßung! Als ich diese Sätze las, fiel es mir wie Schuppen von den
Augen. Das Drama um die Ukraine glich im Prinzip nicht nur dem JugoslawienKonflikt, sondern auch vielen anderen mit Krieg, Bürgerkrieg und Terror
ausgetragenen Konflikten. Ich dachte an Kaschmir, an Nordirland, an den Kaukasus,
an die Tamilen in Sri Lanka, an Tibet, an die Kurden, an Aceh in Indonesien, an
Libyen, Irak und Syrien, an den Sudan und Ruanda und viele andere aktuelle und
potentielle Konfliktregionen. In all diesen Fällen ging es um die Frage, wer mit wem
44
in einem gemeinsamen Staat leben wollte und wer mit wem besser nicht. Und es ging
darum, sich dies von niemandem vorschreiben zu lassen.
Könnte also der Jugoslawien-Konflikt der Beginn einer neuen weltgeschichtlichen
Bereinigung von Staatsgrenzen gewesen sein? Der Anfang einer langsamen Lösung
vom Dogma der territorialen Integrität von Staaten und damit der Anfang eines
langen Kampfes für die Freiheit der Bürger, in freien Wahlen Staatsgrenzen
korrigieren und über ihre Staatszugehörigkeit entscheiden zu können? Könnten also
die Jugoslawienkriege der Auftakt zu einem Weltkrieg in Etappen gewesen sein, zu
einem Dritten Weltkrieg, der unser Jahrhundert prägen wird wie die ersten beiden
Weltkriege das vorherige?
Ich wusste darauf natürlich keine Antwort, aber ich versuchte nun, im Archiv erst
einmal mein Wissen aufzubessern. Ich fand heraus, dass es mehr als hundert aktive
separatistische Bewegungen in der Welt gab, um ein Vielfaches mehr, als ich
vermutet hatte. Aber wer im Archiv zu suchen weiß, der erfährt auch, dass
separatistische Neigungen noch viel weiter verbreitet sind. Die aktiven
separatistischen Bewegungen waren nur die Spitze eines Eisbergs.
Bei diesen Recherchen wurde mir allmählich klar: Selbst die stabilsten Staaten der
Welt können sich nicht sicher sein, dass sich nicht irgendwann, und sei es nach
Jahrhunderten, ein Teil ihrer Bürger von ihnen lösen will. Bei den Konflikten um
Staatsgrenzen wird es daher nie ein Ende der Geschichte geben. Wenn das aber so
ist, dann darf die Welt nie nachlassen, ihren Umgang mit diesen Konflikten weiter zu
entwickeln und weiter zu zivilisieren. Sonst kann es keine friedliche Welt geben.
Das war bei Hauser der beinahe kühle Prolog zu einer leidenschaftlichen Schilderung
mehrerer afrikanischer Dramen des frühen 21. Jahrhunderts. Hier, in einer
Geschichte des politischen Bewusstseins, soll so viel Leidenschaft nicht sein. Hauser
schrieb über Afrika noch ganz in der politischen Gefühlslage seiner Zeit, aber
inzwischen sieht man die Ereignisse natürlich distanzierter. Deswegen fasse ich
Hausers Schilderung hier auf meine Weise zusammen.
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Beginnen will ich mit dem Fall Sudan. Der unabhängige Staat Sudan war eine der
unheilvollen Hinterlassenschaften des Kolonialismus. Seine Grenzen waren - nach
langer kriegerischer Vorgeschichte - Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von
Europäern mit dem Lineal auf die afrikanische Landkarte gezeichnet worden. Dieser
Sudan wurde von Anfang an von schweren inneren Konflikten heimgesucht. Der
überwiegend christliche Süden führte gegen den dominanten arabisch-muslimischen
Norden einen jahrzehntelangen Sezessionskrieg. Viele Hunderttausende starben,
Millionen wurden vertrieben. 2011 konnte der Süden des Landes schließlich eine
Volksabstimmung über seine Eigenständigkeit durchsetzen. Dabei gab es natürlich
eine überwältigende Mehrheit für die Gründung des eigenen Staates.
Warum mussten, bevor es endlich zur Teilung dieses fehlkonstruierten Staates kam,
Millionen Menschen leiden und sterben? Waren auch sie Opfer einer Ideologie?
Opfer des von der Staatengemeinschaft, auch vom Westen und allen demokratischen
Staaten vertretenen Dogmas der territorialen Integrität? Und damit Opfer des lange
vorher begonnenen, sich in Etappen vollziehenden Dritten Weltkriegs? Eine
plausiblere Erklärung dieser Tragödie findet sich nirgendwo. Mitverursacher dieser
Tragödie sind daher die Staaten, die dieser Ideologie Eingang ins Völkerrecht
verschafft haben und danach nicht von ihr lassen mochten. Also vor allem die
demokratischen Staaten des Westens.
Ist der Sudan aber nicht ein Extremfall, der nur mit der rückständigen politischen
Zivilisierung Afrikas zu erklären ist? Die politische Gewaltbereitschaft war in
Ländern wie dem Sudan natürlich höher als im weltkriegsgeläuterten Westeuropa.
Trotzdem drängen sich die Parallelen zu innereuropäischen Konflikten der jüngeren
Vergangenheit auf, vom Zypernkonflikt bis zum Fall Jugoslawien.
Die Fälle Sudan und Jugoslawien haben noch etwas gemeinsam: Bei beiden waren
die Probleme der Staatszugehörigkeit mit einer einmaligen Staatsaufteilung
keineswegs gelöst. Im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina schwelten danach
Minderheitenkonflikte weiter, die nur durch ein lang andauerndes Besatzungsregime
eingefroren werden konnten. Auch im Südsudan war durch die Sezession kein
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innerstaatlicher Frieden hergestellt. Der eigenständig gewordene Südsudan erwies
sich vielmehr seinerseits als unfreiwillige Zwangsgemeinschaft zweier einander seit
jeher fremder Volksgruppen. Der Konflikt zwischen diesen Gruppen, den Dinka und
den Nuern, fand im Rest der Welt zunächst wenig Beachtung, aber auch er folgte
dem Muster der Hauptkonflikte unseres Jahrhunderts. Er wurde durch
Waffenstillstände und durch Machtaufteilungen zwischen Stammesführern
entschärft, aber gelöst wurde er nicht.
Nach ähnlichem Muster wurden auch in Ländern östlich des Südsudan Bürgerkriege
und Bürgerkriege geführt, der Unabhängigkeitskrieg Eritreas und der erbitterte
Bürgerkrieg in Somalia, der Hungersnöte mit Hunderttausenden Todesopfern zur
Folge hatte. Auch in diesem Krieg spielte die Frage, wer mit wem in welchen
Grenzen einen gemeinsamen Staat betreiben wollte, eine wichtige Rolle.
Weitere Bürgerkriegs- und Terrorszenarien spielten sich in den Folgejahrzenten in
vielen anderen Regionen Afrikas ab, darunter Nigeria, Mali, Kenia und Kongo, und
immer wieder ging es dabei auch um die Frage, welche Stammes- und welche
Religionsgemeinschaften, ob und wo also u.a. Muslime und Christen weiter in einem
gemeinsamen Staat leben wollten. Immer wieder war der Befund, dass Staatsvölker,
die in Kolonien und Diktaturen als Zwangsgemeinschaften lange funktioniert hatten,
bei allmählicher Demokratisierung und Liberalisierung auseinanderdrifteten. Der
beunruhigendste Befund für Afrika war, dass mit Nigeria ausgerechnet sein
bevölkerungsreichstes Land - dank seiner Ölförderung zugleich eines der
wohlhabendsten -, in seiner nationalen Einheit besonders gefährdet war. Es waren
immer wieder die Landesteile mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, in denen
Separatisten mit Gewalt und Terror für die Loslösung vom nigerianischen
Vielvölkerstaat kämpften.
In Nigeria war es lange vorher schon zum weltweit tragischsten Konflikt dieser Art
gekommen. Mit seiner ethnisch, sprachlich und konfessionell äußerst inhomogenen
Bevölkerung war Nigeria von Beginn an, seit seiner 1960 erlangten Unabhängigkeit,
eine Brutstätte innerer Konflikte. Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit kam es zum
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Sezessionskrieg um das abtrünnige Biafra, der in einen Völkermord mündete und
etwa drei Millionen Menschen das Leben kostete. Auch dieser Krieg kann im
Nachhinein nur als Teil oder Vorläufer des schleichenden Dritten Weltkriegs um die
Korrektur falsch gezogener Staatsgrenzen verstanden werden.
Wie unheilvoll die westliche Welt in diesem neuen Weltkrieg von Anfang an agierte,
wurde hier so deutlich wie kaum irgendwo sonst. Den Krieg um Biafra führte
Nigerias Regierung mit Billigung und mit militärischer und finanzieller
Unterstützung zahlreicher westlicher Staaten. Natürlich wollte kein westlicher Staat
bekennen, mitschuldig zu sein an nigerianischen Staatsgrenzen, innerhalb deren ein
friedliches und gewaltfreies Miteinander unmöglich war. Und erst recht wollten
westliche Staaten vermeiden, dass das Dogma der territorialen Integrität
ausgerechnet in Afrika ins Wanken geriet. Sie zogen es vor, für dieses Dogma in
Afrika Kriege zu führen und führen zu lassen, denen Millionen von Menschen zum
Opfer fielen.
Auch in den Folgejahrzehnten blieben politische Bewusstseinsfortschritte aus, die
Afrika vergleichbare Tragödien erspart hätten. Ende des vorigen Jahrhunderts kam es
zum Völkermord in Ruanda, einem innerstaatlichen Konflikt zwischen den Stämmen
der Hutus und Tutsis, der fast eine Million Menschenleben kostete. Auch in diesem
Konflikt war eine falsche, von den Bürgern nicht gewollte Zusammensetzung eines
Staatsvolks die Hauptursache. Und auch in der Entstehungsgeschichte und im
Verlauf dieses Konflikts haben westliche Staaten Mitschuld auf sich geladen. Auch
dies ist eine der afrikanischen Tragödien, die zur leidvollen Vorgeschichte unseres
kaum weniger leidvollen Jahrhunderts gehören.
Die schon damals gängige Sicht der Dinge war natürlich, dass die Täter in solchen
Tragödien im Zweifel und fast immer die Separatisten seien. Man müsse doch einen
Staat nicht auseinanderreißen, so meinte man, nur weil ein Teil seiner Bürger sich
einen anderen Pass wünsche. Das Beispiel Schweiz mit seinen vier
Sprachgemeinschaften zeige ja, was bei gutem Willen der Beteiligten möglich sei.
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Dazu soll hier ein wörtliches Zitat von Hauser genügen: Wer die Schweiz als den
Normalfall annimmt, an dem der Rest der Welt, auch Afrika, sich gefälligst zu
orientieren habe, der ist mit seinen Gedanken in einem falschen Jahrtausend.
So viel zur Rolle westlicher Dogmen in afrikanischen Tragödien. Natürlich haben
westliche Staaten in postkolonialen Zeiten nicht nur Unheil über Afrika gebracht, sie
haben auch zu helfen versucht. Aber auch hierzu hatte Hauser eine besondere
Meinung, und auch damit, denke ich, verriet er - wie mit allem, was er über Afrika
schrieb - ein ziemlich sicheres Gespür. Deswegen will ich hier noch diesen
Ausschnitt aus seinen Aufzeichnungen zu Afrika anschließen:
Wie viel hat die Entwicklungshilfe westlicher Staaten Afrika genützt? Ein Bruchteil
davon hat die Lebensbedingungen der Menschen eine Zeitlang, fast nichts davon hat
sie nachhaltig verbessert. Ein Teil wird in die Verwaltung nicht lebensfähiger
Staaten gepumpt, ein Teil von korrupten Eliten abgezweigt, ein Teil versandet in
unfähigen Bürokratien, viel wird - das habe ich mit eigenen Augen gesehen - für in
Geberländern ersonnene Projekte verpulvert, die unter afrikanischen Bedingungen
nicht funktionieren können. Einen beträchtlichen Teil verbraucht zudem die
Selbstorganisation.
Es ist nicht einmal abwegig, dass die bisherige Entwicklungshilfe mehr Schaden als
Nutzen gestiftet haben könnte. Ganz sicher hat sie viele falsche Hoffnungen geweckt
und damit in Afrika viele Energien fehlgelenkt. Aber viel schlimmer ist natürlich
dies: Dass Helferländer - Biafra war eines der frühen Beispiele - mit Militärhilfe
Leid über Afrika gebracht haben, das durch keine noch so großzügige
Entwicklungshilfe wiedergutzumachen war. Mit ihren Waffenlieferungen waren
westliche Helferländer in den Machterhalt vieler skrupelloser afrikanischer Regime
und in fast alle afrikanischen Kriege und Bürgerkriege verstrickt, oft sogar - wie in
Biafra, Ruanda und im Sudan - auf beiden Seiten eines Konflikts zugleich. Westliche
Kolonialmächte haben Afrika zuerst mit falschen Staatsgrenzen durchzogen, dann
haben sie die Hand dazu gereicht, solche falschen Staatsgrenzen mit brutalster
Waffengewalt zu verteidigen.
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Was hätte anderes getan werden müssen? Natürlich Hilfe zum Aufbau von Staaten,
die unter afrikanischen Lebensbedingungen bestmöglich funktionieren. Aber sollten
das Demokratien nach westlichem Muster sein? Ein Ja darauf verbietet sich längst.
Man kann für Afrika nur hoffen, dass die richtige Antwort vor der nächsten Welle
von Krieg und Terror gefunden wird.
Ja, auch so konnte Hauser sein, so abgründig, dass es einem für Momente die
Sprache verschlug. Dabei blitzte aber auch auf, was Hauser mit dem weiten Blick des
Archivars gemeint hatte, dem Blick auch weit in die Zukunft. Er sah, wie langsam
das politische Bewusstsein seit dem Ende des Kolonialismus vorangekommen war,
und er fragte sich, ob es im kommenden halben Jahrhundert schneller gehen könnte.
Seine Antwort war negativ.
Die arabische Welt
In meinen jungen Jahren waren - soweit ich mich damit befasste - die großen
politischen Konflikte dieser Welt für mich Einzelereignisse. Jeder Konflikt schien
seine eigenen Ursachen zu haben, und für den Umgang mit jedem Konflikt musste
demnach Politik ein eigenes Konzept entwickeln. Erst Hausers Aufzeichnungen
haben mir die Augen dafür geöffnet, dass die meisten dieser Konflikte, besonders die
gewaltsamen, ähnlichen Mustern folgen. Sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen,
mich hier mit so vielen Weltregionen zu befassen. Du übernimmst dich, hätte ich
gedacht, und du versuchst zusammenzubringen, was nicht wirklich zusammengehört.
Nun also auch noch die arabische Welt? Ja, es muss sein. Eine der Ursachen fast aller
großen Konflikte sei Phantasielosigkeit, schreibt Hauser, Phantasielosigkeit sei
weltweit unerschöpflich, und allein das sei ein großer globaler
Erklärungszusammenhang. Schon deswegen verzettele man sich nicht, wenn man
sich mit vielen Konflikten zugleich befasse. Solche Aussagen erschienen mir damals
noch reichlich abstrakt, aber später bewahrten sie mich vor vielen vorschnellen
Urteilen.
50
Über die arabische Welt des ersten Jahrhundertviertels hat Hauser in vielen Details
geschrieben, immer wieder mit der Empörung des zeitgenössischen Betrachters. So
viel Detail soll hier nicht sein und auch nicht so viel - dafür liegt vieles mittlerweile
zu weit zurück - Empörung. Zumindest dieser eine Absatz aus Hausers
Aufzeichnungen passt aber unverändert hierher:
Wenn schon nicht in Afrika, hätte dann nicht zumindest in der arabischen Welt zu Beginn des
Jahrhunderts eine Modernisierung nach westlichem Muster gelingen sollen? Als es 2011 in
mehreren arabischen Ländern zu Massenprotesten gegen die herrschenden Regimes kam,
galt dies im Westen als Ausbruch eines endlich erwachten Modernisierungswillens. Damit
sei, glaubte man, im arabischen Raum die Zeit für die Demokratisierung nach westlichem
Muster gekommen. Die Bürger müssten nur ihre Despoten mit der notwendigen
Entschlossenheit stürzen, wo nötig mit militärischer Hilfe des Westens, und sich dann
demokratische Verfassungen nach westlichem Muster geben. Und man glaubte auch, die
danach zu wählenden arabischen Regierungen und ihre Bürger würden sich dem Dogma der
territorialen Integrität unterwerfen. Staatsgrenzen würden also unangetastet bleiben. So
werde in der arabischen Welt die Demokratie den innerstaatlichen Frieden bringen, und das
Prinzip der territorialen Integrität werde den Frieden zwischen den Staaten wahren. Die
arabische Welt werde demnach in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts einen ähnlichen
Weg nehmen wie Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts.
Grundlegender hatte der Westen nicht irren können. Wenn schon nichts anderes, hätte der
westlichen Welt zumindest dies von vornherein zu denken geben müssen: Die arabische Welt
hatte in der jüngeren Vergangenheit kein einziges Jahrzehnt ohne Krieg erlebt, keine einzige
anhaltende Phase des Friedens, wie sie fast überall in Europa und der übrigen westlichen
Welt schon zur Selbstverständlichkeit geworden waren. Dementsprechend weit lag dieser
Teil der Welt in der politischen Bewusstseinsentwicklung zurück. Die Folge war absehbar:
Der so genannte arabische Frühling war der Anfang großen Unglücks.
So weit Hauser, und ich muss dem nichts hinzufügen. Nichts von dem, was er hier
schreibt, ist überholt oder durch die Ereignisse widerlegt, im Gegenteil.
Ich will hier erst einmal die Entwicklungen im ersten Jahrhundertviertel aus Hausers
Sicht, aber mit eigenen Worten kurz rekapitulieren. Nicht für Ältere wie mich, die all
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das noch gut in Erinnerung haben, aber für die Jüngeren, die sich hiervon vielleicht
nur ein einfaches und einseitiges Bild haben machen können. Alles handelt hier vom,
wie Hauser es nannte, tiefen Unglück in der arabischen Welt und davon, wie
westliche Vorstellungen von Demokratie und Völkerrecht vor diesem Unglück
versagten. Dabei betrachte ich die arabischen Staaten, so willkürlich ihre Grenzen
noch immer gezogen sind, erst einmal je für sich. Das war zwar damals irreführend
und ist es noch heute, aber es macht die Sache einfacher. Diese Staaten existieren ja
zumindest dem Namen nach noch immer.
Ägypten
Nachdem Anfang 2011 der tunesische Autokrat Ben Ali außer Landes
geflohen war, verloren kurz danach auch die Bürger Ägyptens die Geduld mit
ihrer Staatsführung. In Kairo und anderen Städten kam es zu
Massenprotesten gegen das seit drei Jahrzehnten herrschende
scheindemokratische Mubarak-Regime. Die Lage war explosiv. Schließlich
sahen selbst die ägyptischen Militärs keinen anderen Ausweg mehr, als
Mubarak, eigentlich einen der Ihren, zu entmachten und es mit
demokratischen Wahlen zu versuchen.
Die Präsidentschaftswahl gewann ein islamistischer Kandidat, die
Parlamentswahl gewann seine islamistische Partei. Das war nicht, was ein
Großteil der Bürger, was das ägyptische Militär, was die ägyptische
Beamtenschaft und was auch die westliche Welt sich erhofft hatten. Dieses
Wahlergebnis spaltete das Land.
Das Militär machte schließlich kurzen Prozess. Der demokratisch gewählte
islamistische Präsident und die von Parlament gewählte islamistische
Regierung wurden gewaltsam abgesetzt, ein einflussreicher General ließ sich
mit Rückdeckung der Streitkräfte zum neuen Präsidenten wählen, viele
hundert politisch aktive Islamisten wurden in Massenprozessen zum Tode
verurteilt.
52
Damit herrschte de facto wieder ein Militärregime, nunmehr aber ein
unverbrauchtes, vom Misskredit der Mubarak-Ära geläutertes und damit
vorerst stabiles. Die kurze demokratische Episode erschien danach wie ein
rasch bereinigter Fehltritt der jüngeren ägyptischen Geschichte. Die kurze
Einlassung auf die Demokratie nach westlichem Muster hatte Ägypten keinen
Schritt vorangebracht, auch nicht in der politischen Zivilisierung. Der Wille, es
mit solcher Art Demokratie noch einmal zu versuchen, war damit auf
absehbare Zeit erloschen.
Libyen
Irgendwann, das war leicht vorhersehbar, würde auch in Libyen ein Großteil
der Bürger ihren Despoten nicht mehr ertragen können. Anfang 2011, nach
über vierzigjähriger Gaddafi-Herrschaft, kam es, vom Osten des Landes
ausgehend und mit verdeckter Unterstützung westlicher Regierungen, zu
Protesten, die sich rasch zu einer starken Rebellenbewegung ausweiteten.
Luftstreitkräfte mehrerer NATO-Staaten unterstützten die Rebellen mit
zehntausenden Kampfflugzeugeinsätzen, natürlich in der Erwartung, den
Übergang in eine geordnete demokratische Zukunft herbeizubomben.
Die westliche Militärintervention - sie forderte mehr Todesopfer als der
gesamte jahrzehntelange Terror des Gaddafi-Regimes - führte zum Sturz
und zur Ermordung Gaddafis, aber danach versank das Land in blutige
Anarchie. Statt zu einer blühenden Demokratie wurde Libyen zu einem
innerlich zerrissenen, ohnmächtigen und regellosen, einem so genannten
gescheiterten Staat. Auch in diesem Libyen waren die Bürger nicht vom
Willen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit getragen.
Welche Hilfe konnten westliche Staaten in dieser Situation noch leisten? Bald
zeigte sich, dass keine der innerlibyschen Konfliktparteien der Nach-GaddafiZeit sich westlichen Werten verpflichtet sah. Für westliche
Demokratisierungshilfe fehlte es also an geeigneten Adressaten. Damit
53
waren die in Libyen engagierten westlichen Staaten mit ihrem politischen
Latein am Ende. Sie hatten das militärische Know-how gehabt, um einen
Gaddafi stürzen zu helfen, aber ihnen fehlte das politische Know-how, um
auf den Trümmern des Gaddafi-Regimes einen besser funktionierenden
neuen Staat entstehen zu lassen.
Was war hier unter Berufung auf westliche Werte erreicht worden? Die
Antwort ist: weniger als nichts. Die Post-Gaddafi-Ära brachte den
allermeisten Libyern weniger Sicherheit, weniger Wohlstand und weniger
Lebensqualität als die Zeit der Gaddafi-Despotie. Und niemand schien zu
wissen, wie dies zu ändern war.
Syrien
Der so genannte arabische Frühling führte in Ägypten zum Scheitern der
Demokratie, in Libyen führte er zum Staatszerfall, aber eine noch viel
größere Tragödie erlebte Syrien. In Teilen des Landes kam es zu Aufständen
gegen die seit vier Jahrzehnten andauernde Despotie von Vater und Sohn
Assad. Wie in Libyen, wollte der Westen hierin zunächst den Aufstand eines
politisch heranreifenden Staatsvolkes gegen seinen Unterdrücker erkennen,
einen Aufstand also, der Assad unweigerlich stürzen und aus Syrien eine
funktionsfähige Demokratie machen würde. Anders als in Libyen, trauten
NATO-Staaten sich hier aber nicht, militärisch zu intervenieren. Das
militärische und politische Risiko erschien zu groß, auch weil das AssadRegime starke Verbündete hatte.
Im anschließenden Bürgerkrieg zeigte sich, dass auch die Rebellion in Syrien
alles andere war als der Aufstand eines im Widerstand gegen das Regime
einigen Staatsvolkes. Das Land zerfiel in eine Region mit mehrheitlich
regimetreuer Bevölkerung und Regionen, in denen andere
Bürgerkriegsparteien erbittert um Macht und Vorherrschaft kämpften, fast alle
mit verdeckter Unterstützung westlicher, arabischer oder anderer Staaten,
54
wobei die fundamentalistische sunnitische Organisation Islamischer Staat
zum militärisch, finanziell und auch nach Anhängerzahl mit Abstand stärksten
Akteur wurde. Auch hier brach mit der Rebellion alles andere an als
Fortschritt in der politischen Zivilisierung. In diesem Bürgerkrieg kämpften
Rebellen ebenso unerbittlich gegeneinander wie gegen das Assad-Regime,
und all diese Kämpfe wurden mit äußerster Härte und Grausamkeit geführt.
Dem Krieg fielen hunderttausende Syrer zum Opfer, Millionen flohen außer
Landes, und fast die Hälfte der Bevölkerung, etwa zehn Millionen Menschen,
wurde zu Flüchtlingen im eigenen Land.
Auch hier verlief also alles ganz anders, als ein blauäugiger Westen es
zunächst erwartet hatte. Ein syrisches Volk, das geeint in einem von Assad
befreiten Syrien leben wollte, gab es nicht. Auch Syrien war ein Staat
gewesen, der nur mit der eisernen Faust eines Despoten hatte
zusammengehalten werden können und mit der Schwächung des Despoten
unweigerlich zerfallen musste. Despoten wie Assad waren sich dessen
immer bewusst, und ihre Herrschaftsmethoden waren immer auf diesem
Wissen gegründet. Eben deswegen waren sie so lange gegenüber
denkbaren Alternativen das kleinere Übel geblieben. Für ein Syrien mit
einem geschwächten oder gar ohne einen Assad war der blutige Zerfall
vorgezeichnet und damit die Entstehung neuer Staatsgebilde, deren Grenzen
in langen Bürgerkriegen auszukämpfen sein würden.
In einem Fall wie Jugoslawien war einigermaßen vorhersehbar gewesen,
entlang welcher Grenzen es in Einzelstaaten zerfallen würde, und daher
waren die Kriege zur Auflösung Jugoslawiens noch vergleichsweise
glimpflich verlaufen. Im Fall Syrien aber waren die Vorstellungen über die
Aufteilung syrischen Staatsgebiets viel verworrener. Diese Vorstellungen
konkretisierten sich großenteils erst in einem Prozess grausamer
konfessioneller und ethnischer Säuberungen, an dem als Täter und Opfer
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Araber und Kurden, Sunniten und Schiiten, Alawiten, Christen und andere
ethnische und konfessionelle Gruppen und Minderheiten beteiligt waren.
Selten hat daher ein Staat im Bürgerkrieg eine so totale Zerstörung erfahren.
Natürlich wäre jede politische Lösung dieses Konflikts für fast alle Beteiligten
unvergleichlich glimpflicher gewesen. Aber wie Hauser sagte: Die verfügbare
politische Phantasie - und auch die verfügbare Vernunft - war hierfür viel zu
schwach, auch im Westen. Nach der Rebellion entstand auch auf syrischem
Territorium nichts anderes als ein von kriegsmüden Kämpfern notdürftig
gedeckeltes Pulverfass.
Irak
Die Tragödie Syriens, schon für sich genommen eine der schlimmsten des
ersten Jahrhundertviertels, verschmolz mit der des Irak. Dessen Zerfall folgte
einer ähnlichen Logik, er war von ähnlichen Gräueln geprägt, er forderte
ähnlich viele Opfer, er überschnitt sich geographisch mit dem Zerfall Syriens,
aber er hatte auf ganz andere Weise begonnen. Den Sturz des Despoten
hatten westliche Streitkräfte besorgt. Die USA und Großbritanniens hatten
den Irak unter falschem Vorwand angegriffen, dabei die irakischen
Streitkräfte weitgehend ausgeschaltet, das Land besetzt, Saddam Hussein
festgenommen und ihn von irakischen Staatsorganen hinrichten lassen.
Die danach bis 2011 andauernde Besatzung des Irak war geprägt von
ständigem Terror, allgegenwärtiger Gewaltkriminalität, von
bürgerkriegsartigen religiösen und ethnischen Konflikten und immer wieder
auch von Terroranschlägen auf westliche Besatzungstruppen. Als diese 2011
abzogen, war der Irak formell eine eigenständige Demokratie, die sich nach
westlichen Vorstellungen stabilisieren sollte. Auch diese Illusion zerstob aber
schon nach kurzer Zeit. Auch den Bürgern des Irak fehlte es am Willen zur
gemeinsamen Staatszugehörigkeit. Der vorherrschende Wille war der Wille
zur Trennung.
56
Auch im Irak waren die Motive der verfeindeten Bevölkerungsgruppen, ihrer
Milizen und ihrer Geldgeber vielfältig und zeitweise schwer zu entwirren.
Auch hier kämpften u.a. Araber gegen Kurden, Sunniten gegen Schiiten und
sunnitische Gruppierungen gegeneinander. Dieser Bürgerkrieg erwuchs aber
auch aus der Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit einer Männergeneration, die
nach der Saddam-Despotie über ein Jahrzehnt lang von Krieg, Besatzung,
Terror und Bürgerkrieg geprägt worden und für die eine Sinnerfüllung ohne
Feindbilder und Gewaltkonflikte kaum noch vorstellbar war. Auch dies trug
dazu bei, dass die Terrororganisation Islamischer Staat so viel Einfluss und
Macht gewinnen und so große Teile irakischen und syrischen Territoriums
unter ihre Kontrolle bringen konnte. Dabei half ihr, dass sie mit der Errichtung
eines sunnitischen Kalifats ein scheinbar klares Ziel in Sachen staatlichen
Zusammenhalts und Staatsgrenzen vorgab. Hier mischten sich also,
begünstigt durch die heillose Vorgeschichte, legitime
Zusammengehörigkeitsbedürfnisse von Staatsbürgern auf mörderische
Weise mit archaischem Religionsverständnis und niedersten Gewalt- und
Racheinstinkten. So blieb vom Irak nur ein politisch, wirtschaftlich und auch
kulturell gescheiterter Phantomstaat, auf dessen Trümmern sich dann im
weiteren Bürgerkrieg mehrere eigenständige staatsähnliche Gebilde
entwickelten.
Ich will es hier bei diesen kurzen Skizzen zu einzelnen arabischen Staaten belassen
und nicht auch noch auf kriegerische Auseinandersetzungen jener Zeit im Jemen und
anderen arabischen Staaten eingehen. Praktisch nirgendwo in der arabischen Welt,
auch nicht in Saudi-Arabien, den Golf-Emiraten und im arabischen Nordafrika,
herrschte ein politisches Regime, von dem man erwarten konnte, dass es bis weit in
die zweite Jahrhunderthälfte würde bestehen können. Hauserscher Weitblick zeigte:
In der arabischen Welt spielten sich keine isolierten Dramen einzelner Staaten ab,
dies war ein großes gesamtarabisches Drama mit wiederkehrenden Mustern. Vor
57
allem aber war es Teil des großen Weltdramas um falsch gezogene Staatsgrenzen
und erzwunge Staatszugehörigkeiten.
Als ich ein zweites und drittes Mal in den Hauserschen Aufzeichnungen darüber las,
erlebte ich in Gedanken noch einmal die Nachricht vom Tod eines älteren Freundes
aus der Studienzeit. Er war Journalist. Schon als Student ein ruheloser Geist, nach
dem Studium ein Praktikum bei SPIEGEL, dann ein Jahr bei einer Presseagentur,
dann beim Rundfunk, danach Freiberufler, spezialisiert auf Reportagen aus
Krisengebieten.
Wenn ein bekannter Fernsehjournalist in einem Krisengebiet getötet wird, erfährt
davon die Welt, der Tod eines Freiberuflers ist den Medien selten eine Nachricht
wert. Spiegel-Online, wo ich davon erfuhr, immerhin einen Vierzeiler. Ich war sehr
traurig, aber ich verdrängte es schnell. Erst als ich dann Hausers Aufzeichnungen
über die arabische Welt las, habe ich dazu noch einmal recherchiert. Im Netz
verstreut gab es zum Tod meines Freundes Dutzende Beiträge. Er war im heftig
umkämpften früheren Grenzgebiet zwischen Irak und Syrien getötet worden. Ein
gewaltsamer Tod, so viel war klar, alles andere blieb im Nebel kriegs- und
bürgerkriegstypischer Desinformation. Schiitische und sunnitische Milizen,
Geheimdienste, ein US-Drohnenkommando, gewöhnliche Kriminelle, ein
missgünstiger Kollege, ein enttäuschter arabischer Liebhaber, ein schießwütiger
Polizist, all das waren mutmaßliche Täter. Hier gab es zu viele, die zu vieles zu
vertuschen hatten und die, wo immer sich die Gelegenheit bot, Gegnern einen Mord
in die Schuhe schoben. Wer behauptet, im arabischen Drama die Wahrheit zu
kennen, der lügt, hatte sagte Hauser einmal gesagt. Hier begann ich es zu verstehen.
Nur Eines war in diesem Drama klar: Die westliche Vorstellung, arabische Despotien
würden sich in ihren bestehenden Staatsgrenzen zu friedlichen Demokratien
wandeln, war kläglich gescheitert. Erst recht gescheitert war natürlich die
Vorstellung, solche friedliche Demokratisierung ließe sich durch Militärintervention
und Besatzung erzwingen. Wenn es eine erste plausible Lehre aus diesen
Geschehnissen gab, dann konnte es nur diese sein: Demokratisierung und das
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Festhalten an willkürlichen Staatsgrenzen waren nicht miteinander vereinbar. Aber
fast die gesamte Staatengemeinschaft war von dieser Einsicht noch weit entfernt. Sie
sah zu, wie die arabisch-muslimische Zivilisation zusammenbrach, wie die
arabischen Bürgerkriegsstaaten in Hoffnungslosigkeit versanken und wie mit den
Flüchtlingsströmen Armut, Entwurzelung und Elend auch deren Nachbarstaaten
heimsuchte. Hier blieb nur die vage Hoffnung, dass sich irgendwann geläuterte
Nachkriegsgenerationen nach neuen Regeln aus diesem Elend würden befreien
wollen.
So viel zu den Tragödien der arabischen Welt im ersten Jahrhundertviertel. Waren
diese etwas anderes als die Fortsetzung des schleichenden Dritten Weltkriegs, der im
20. Jahrhundert in Afrika und Europa begonnen hatte? Nein. Hauser sah es schon
damals so, ich erkannte es Jahre später. Der Versuch, der arabischen Welt die
Demokratie aufzuzwingen, war gescheitert, und ebenso der Versuch, Frieden durch
Festschreibung von Staatsgrenzen zu schaffen, durch das Dogma also der
territorialen Integrität.
Die westliche Welt ließ trotzdem nicht davon ab, dass die von den Kolonialmächten
gezogenen Staatsgrenzen im Nahen Osten Bestand haben sollten. Diese Grenzen
hatten schließlich fast ein Jahrhundert lang gehalten, Zeit genug, so meinte man, um
unter Staatsbürgern den nötigen Zusammenhalt wachsen zu lassen. Aber auch hier
zeigte sich, dass ein Jahrhundert eine kurze Zeitspanne sein kann, wenn es um den
Willen und Unwillen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit geht. Auch nach einem
Jahrhundert ohne Krieg und Bürgerkrieg kann politisch Trennendes, seien es
ethnische, konfessionelle, kulturelle, sprachliche oder andere Differenzen, neu
aufbrechen oder neu entstehen und einen Staat zerreißen. Je demokratischer ein Staat
sich organisiert, desto anfälliger wird er dafür. So hat Hauser es damals in seinen
Erinnerungen beschrieben:
Solange ein autokratisches System stark geführt ist, ob mit repressiver Gewalt, mit Charisma
oder mit beidem, wird die Staatsgrenzenfrage von den Bürgern selten gestellt, auch wenn der
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spontane Zusammengehörigkeitswille eher schwach ist. Zu den vielen historischen
Beispielen hierfür gehörten - zumindest zeitweilig - das osmanische Reich, die
österreichisch-ungarische Monarchie, das Zarenreich und kurzzeitig wohl auch die
Sowjetunion. Die Bürger solcher Regime entwickeln ein gemeinsames
Untertanenbewusstsein, das sie über viele Differenzen hinweg miteinander verbindet. Eine
Demokratie kann solche Art Gemeinsamkeit nicht bewahren. Wird ein solches autokratisches
System demokratisiert, müssten sich daher staatstragende Gemeinsamkeiten neu formieren.
Wenn dies innerhalb bestehender Staatsgrenzen gelingt, ist das ein Glücksfall. Solches Glück
aber für selbstverständlich zu nehmen ist politische Brandstiftung.
Die Grenzen im heutigen Europa, sagte Hauser in einem späteren Gespräch, seien
über Jahrhunderte mit viel Blut gezogen worden, dies geschehe nun auch im Nahen
Osten, und es sei dort noch längst nicht abgeschlossen. Solange falsche Grenzen mit
Blut verteidigt würden, könnten richtige Grenzen nicht ohne Blutvergießen gezogen
werden. So werde es im Nahen Osten weitergehen, und die demokratische Welt
werde dabei weiter mitmischen, die USA, die NATO, Staaten der EU und sogar die
Vereinten Nationen. Selbst wenn eine richtige Grenze einmal erkämpft worden sei,
könne der Weg zum förmlichen Frieden noch sehr weit sein. Ein Beispiel wie
Nordzypern zeige, wie die Welt Staaten, die nach der Dogmatik des Völkerrechts
keine sein dürfen, mehr als ein halbes Jahrhundert ignorieren könne, nur um ihre
Dogmen nicht ins Wanken zu bringen. Der schleichende Dritte Weltkrieg unserer
Zeit werde daher neue gefährliche Provisorien hervorbringen und damit neue
Altlasten für künftige Weltpolitik.
Ich fragte Hauser, ob es vielleicht doch etwas übertrieben sei, von einem
schleichenden Weltkrieg zu sprechen.
Nein, sagte er damals, es sei ja schon jetzt ein Jahrhundertkrieg, und im Archiv
könne sich jeder leicht zusammenrechnen, dass es auch nach den Opferzahlen ein
wirklicher Weltkrieg sei. Trotzdem habe er Verständnis für jeden, der daran
zweifele. Ein Dritter Weltkrieg vor aller Augen, und kaum jemand will davon
60
wissen, darüber reden und darüber schreiben, das könne doch eigentlich nicht sein,
so habe er ja zu Anfang auch gedacht.
Ob denn auch er mit niemandem darüber gesprochen habe, fragte ich.
Bei der Arbeit fast nie, sagte er, nur ein einziges Mal, eher aus Versehen, als eine
Redakteurin von ihm etwas zur Lage in Syrien und dem Irak wissen wollte. Da sei es
aus ihm herausgerutscht: Das sei ein Stück Dritter Weltkrieg, und ob sie nicht einmal
darüber schreiben wolle? Wie bitte?, habe sie gefragt, und er darauf: Doch, wir
erleben einen schleichenden Dritten Weltkrieg. Da habe sie ihn wie einen
Außerirdischen angesehen. Aber es werde schon nicht so schlimm wie der Zweite
Weltkrieg werden, habe sie dann gesagt. Nein, ganz so schlimm nicht, habe er
geantwortet, insofern könne man eigentlich beruhigt sein.
Solchen Wortwechsel habe er sich nicht ein zweites Mal zumuten wollen.
Dass dieser Dritte Weltkrieg ein Krieg um Staatsgrenzen ist und dass der Verlauf von
Staatsgrenzen nie ein für alle Mal geregelt sein werde, dass also die Frage, wer mit
wem in einem gemeinsamen Staat leben wolle, ein ewiges Menschheitsthema sei,
auch in Europa, das hatte er mir ja schon früher erklärt. Aber diese Erkenntnis war
noch nicht die Lösung des Problems, das wusste natürlich auch Hauser. Konnte es
überhaupt eine Lösung geben? Wie dachte Hauser darüber? Ich brauchte einige Zeit,
bis ich mich traute, ihm diese Frage zu stellen:
- Wie könnte denn dieser Dritte Weltkrieg beendet werden?
- Er wird zu Ende sein, wenn die Staaten sich Regeln für die friedliche Korrektur von
Staatsgrenzen haben.
Er schwieg eine Weile, sah etwas verlegen an mir vorbei, als müsse er mir eine
schmerzliche Wahrheit eröffnen.
Dann sagte er:
- Wird der Westen einmal die Größe haben, der arabischen Welt beim Aufbau einer
anderen als der westlichen Demokratie zu helfen?
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In diesem Moment schien es mir, als stellte er sich diese Frage zum ersten Mal. Aber
das dürfte, wie ich später herausfand, ein Irrtum gewesen sein.
Amerika
Dass Hausers Aufzeichnungen eine Fundgrube gekonnter Übungen in Weitsicht
waren, hatte ich nicht anders erwartet. Erstaunt war ich dann aber doch über die
Breite seiner Themen und mehr noch darüber, wie sich fast alles in einen großen
Zusammenhang fügte. Auch das, was er über Amerika schrieb.
Innerhalb der westlichen Welt verlief das erste Jahrhundertviertel eher harmlos, wie
eine Fortsetzung der geschichtslosen Zeit vor der Jahrtausendwende. So begann der
Abschnitt, in dem zum ersten Mal von Amerika die Rede war. Und weiter: Man
sollte Geschichtlichkeit, wie man sie aus der Vergangenheit kennt, sich und anderen
nicht wünschen. Geschichte in diesem Sinne hatte fast immer mit Unfrieden und
Leid, mit Unfreiheit, Diskriminierung, Irrglauben und Schuld zu tun. So gesehen,
könnte man sich Geschichtslosigkeit wünschen. Die Geschichtslosigkeit westlicher
Demokratien in den letzten Jahrzehnten war aber alles andere als eine
Wunscherfüllung. Sie war das Ergebnis von Phantasie- und Tatenlosigkeit und von
mangelnder Voraussicht.
Amerika zum Beispiel. Das Land, das sich in seiner Geschichte immer als Vorbild
oder sogar als Heilsbringer verstand, als Vorreiter der Befreiung von Monarchie
und Despotie, der Verbreitung von Demokratie und als moralisch überlegene Weltund Supermacht, auch wenn es in dieser Rolle viel vermeidbares Unheil gebracht
hat. Im Innern hat Amerika sich im ersten Jahrhundertviertel kaum gewandelt.
Dieselben zwei Parteien und ihre Präsidenten wechselten einander im Regieren ab,
und dies in demselben antiquierten Verfahren wie seit jeher. Schon dies ließ
Fortschritte im politischen Bewusstsein kaum erwarten.
Auch die Anschläge vom September 2001 führten nicht zu einer Neu-, sondern eher
zu einer Rückbesinnung. Sie hatten Amerika in seinem nationalen Selbstbewusstsein
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gekränkt und schufen ein ungekanntes Gefühl von Verletzlichkeit. Wie konnten wir,
fragte man sich, wir, die einzige verbliebene Supermacht, mit so einfachen Mitteln so
markerschütternd getroffen werden? Die politischen Reflexe waren: nicht in der
Opferrolle verharren, die alte Unverletzlichkeitsgewissheit wiederherstellen und
auch das alte Gefühl der Überlegenheit, beides möglichst entschlossen, möglichst
rasch, beides mit den bekannten und vermeintlich bewährten Mitteln militärischer,
technologischer und wirtschaftlicher Übermacht. Hieraus wuchs dann der Glaube,
zu moralischer Prinzipientreue weniger denn je verpflichtet zu sein. Amerika sah
sich moralisch legitimiert, einen Weltkrieg gegen den Terror zu führen und dabei ein
improvisiertes Weltkriegsrecht anzuwenden, das u.a. eine globale Überwachung
elektronischer Kommunikation und gezielte Tötungseinsätze auf fremden
Staatsgebieten erlaubte. Die Frage aber, die nach der Tragödie vom 11. September
am ehesten das politische Bewusstsein hätte voranbringen können, kam in Amerika
niemandem in den Sinn: Warum ausgerechnet wir? Warum ziehen ausgerechnet wir,
die wir eine so hohe politische Moral für uns beanspruchen, in Teilen der Welt
solchen Hass auf uns? Und weil diese Frage ungestellt blieb, verhärtete sich nach
diesen Anschlägen das politische Bewusstsein nicht nur in Amerika.
Veränderungsdruck kam von woanders her. Amerika musste sich, so sehr es auch für
den Weltkrieg gegen den Terror aufrüstete, der Rolle als einzige Weltmacht und
einziger Weltpolizist nach und nach entwöhnen. Die Welt war zu groß und das
globale Machtgefüge war zu vielfältig geworden, um mit den Mitteln der USA noch
die weltpolitische Führungsrolle spielen zu können. Dieser Entzug vom Rauschmittel
weltpolitischer Allmacht verstörte nicht nur Amerikas Politiker, es verstörte auch
seine patriotisch gesinnten Bürger.
Ein paar Absätze später nahm er den Gedanken so wieder auf:
Ich fragte einen unserer Amerikakorrespondenten, ob es der politischen Zivilisierung
Amerikas guttäte, wenn ihm die Bürde der Supermachtrolle genommen würde.
- Vielleicht, sagte er, aber die Welt würde davon nicht besser.
63
- Warum?, fragte ich.
- Weil es noch immer kein Land gibt, das besser auf die Welt aufpassen würde.
- Braucht die Welt denn noch einen Aufpasser?
- Unbedingt.
Ich wusste, dass er Recht hatte, aber dieses schroffe Unbedingt überraschte mich.
Ein Ja oder ein Leider hätte ich erwartet, und ich hätte dann fragen mögen: Wie
lange noch?, aber dieses Unbedingt klang wie ein „Davon habt ihr Archivare doch
keine Ahnung“.
Kurz danach schickte er mir eine Mail: Denk auch an Russland.
Ich wusste natürlich, was er meinte. Russland als die Supermacht, die erst recht
keine mehr war und erst recht darunter litt.
Die Weltmachtrolle ist eine Droge zuallererst für die Regierenden, aber sie wird es
mit der Zeit auch für das Volk. Das geschwächte Imperium ist wie eine alternde Diva
auf Entzug von Glanz und Ruhm. Es greift zu Ersatzdrogen. Wie die Diva gegen das
Vergessenwerden notfalls Skandale inszeniert, so inszeniert das geschwächte
Imperium Konflikte mit noch besiegbaren Feinden.
Amerikas Irak-Krieg gehörte zu diesem Entzugsszenario und auch Russlands
Tschetschenien-Kriege. Die beiden scheidenden Supermächte haben den Irak und
Tschetschenien auf dem Gewissen, unter anderem. Sie haben den zeitigen Rückzug
auf die bescheidenere weltpolitische Rolle, in der sie noch gebraucht wurden,
verpasst, und viele Hunderttausende haben dies mit dem Leben bezahlt. Und
schlimmer: Die beiden Supermächte haben damit die politische Zivilisierung im
eigenen Land, aber auch in den Opferländern weit zurückgeworfen. Dass Konflikte
wie die im Irak und in Tschetschenien auch gewaltlos lösbar sein würden, erschien
nun unvorstellbarer denn je.
In der Rückschau überrascht das nicht mehr, aber bevor ich es las, hatte ich es
nirgendwo mit dieser Selbstverständlichkeit geschrieben gesehen. Hauser hatte es
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mir ja schon erklärt: Archivare können sich leichter eine unabhängige Meinung
bilden als andere. Sie müssen in ihrer politischen Meinung keine Rücksichten
nehmen, nicht auf Leser, Politiker, Informanten, Verleger oder andere. Außerdem
wissen sie mehr.
Über Amerika im ersten Jahrhundertviertel schreibt Hauser noch vieles, zu dem ich
aus eigenem Erleben nichts hinzuzufügen habe, zum Beispiel, wie die politische
Rhetorik unter Obama etwas zivilisierter wurde, aber die Politik sich kaum änderte.
Ein Schwarzer als Präsident, das habe das Bewusstsein in der Rassenfrage
vorangebracht, aber in nichts anderem. Und dann auch, wie sich dies unter Obamas
Nachfolgerin fortsetzte. Wieder Politik mit dem Blick in die Vergangenheit. Noch
immer die verkrampfte Großmachtattitüde des Weltpolizisten, noch immer die
Interventionsbereitschaft zur Verteidigung liebgewonnener, aber veralteter Dogmen
und noch immer die Willkür im Umgang mit dem Völkerrecht, aber weder der Wille
noch die Kraft, für eine Erneuerung veralteten Völkerrechts zu streiten. Um das zu
leisten, schreibt er, müsste Amerika sich neu erfinden. Und weiter:
Aber welche andere Möglichkeit hätte es gegeben? Wer sonst hätte bei Wahlen eine
Mehrheit bekommen können? Und wie erginge es einem amerikanischen Präsidenten, der
seinem Wahlvolk im politischen Bewusstsein vorübergehend enteilte? Weltpolitisches
Sendungsbewusstsein und andere Rauschmittel tun noch immer ihre Wirkung. Erst wenn der
Leidensdruck unerträglich wird, wächst die Bereitschaft zum Entzug, auch bei der
Weltmacht Amerika. Noch leidet es zu wenig.
Und dazu an anderer Stelle noch:
Was passiert, wenn Amerika in der Weltmachtrolle von Staaten verdrängt wird, die
wirtschaftlich, technologisch und militärisch aufholen, nicht aber in der politischen
Zivilisierung? Von China und anderen? Man mag an die Folgen noch nicht denken, aber es
wird so kommen.
Seine Supermachtrolle wird Amerika nicht halten können, aber könnte es nicht auf andere
Weise dominant bleiben? Könnte es eine Weltrolle spielen, die mehr auf moralischer
Führungskraft gegründet ist als auf militärischer, wirtschaftlicher und technologischer? Auf
65
einem Know-how in gewaltfreier Konfliktlösung beispielsweise? Auf einem Vorsprung in
Vermittlungs- und Problemlösungskompetenz ? Dafür müsste es allerdings ebenso schnell an
moralischer Autorität gewinnen, wie es an militärischer und wirtschaftlicher Dominanz
verliert. Das ist natürlich nur ein Traum.
Ich weiß, was Leser solcher Texte einwenden würden. Meinungsstark und faktenarm,
würden sie sagen, wo bleibt die nüchterne Neutralität eines Archivars? Parteiische
Spekulation, die zu Recht im Archiv verstaubt und nirgendwo gedruckt wurde. Aber
ich weiß eben: Mehr Faktenwissen als Hauser hatte damals kaum jemand. Fundierter
hätte kaum jemand spekulieren können.
Und Hauser hat ja nichts übertrieben, im Gegenteil. Ich bin natürlich kein AmerikaExperte, aber ich kann mich in das politische Bewusstsein vieler Amerikaner
hineinversetzen. Ich war ein halbes Jahr lang Austauschschüler in Kalifornien, habe
ein Semester an der New York University studiert - besser gesagt, verbracht -, und
bei Graf habe ich zwei Seminare über Amerika besucht, eines über „Amerikas
politisches System und seine Nahostkriege“. Ein ziemlich trockenes Seminar, wären
da nicht Grafs gelegentliche messerscharfe Kommentare gewesen. Es war
Sommersemester. Am letzten Seminartermin, einem heißen Hallenser Julitag, lud
Graf uns in ein nahegelegenes Gartencafé ein. Ein Kommilitone referierte kurz über
die politischen Entscheidungsprozesse 2011 vor den amerikanischen Luftangriffen
auf Libyen. Dann übernahm Graf. Die offene Gartencaféatmosphäre beflügelte ihn.
Sein Tonfall, seine Mimik, seine Wortwahl, alles war anders als gewohnt,
schneidiger, selbstbewusster, aber auch mit einer ungewohnten Härte. Ob wir denn
eine Vorstellung davon hätten, fragte er, mit welchem Bildungs- und Kenntnisstand
Mitglieder des US-Kongresses Kriegsvollmachten erteilten.
Natürlich hatte keiner von uns sich diese Frage je gestellt.
- Dann informieren Sie sich mal hier, sagte er.
Er notierte auf einer Serviette eine Internetadresse und ein Passwort und ließ sie
herumgehen. Es war die Webadresse einer kleinen privaten Stiftung.
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- Kein präzise empirische Studie, aber methodisch klug aufgebaut. Das Ergebnis ist
schlüssig: Der Abstand zwischen dem Bildungsstand von Kongressmitgliedern und
dem von Durchschnittsbürgern hat sich in den Jahrzehnten, die die Studie abdeckte,
deutlich verringert. Insofern kann der Kongress immer weniger geistige Führung
leisten.
Keiner von uns reagierte.
- Regt Sie das nicht auf?
Graf sah sich in der Runde um. Wieder keine Reaktion. Schließlich sagte ich:
- Ganz wohl ist einem dabei natürlich nicht.
- Na, hoffentlich, sagte er. Es bedeutet doch: Mit Katastrophen wie dem Irak-Krieg
oder der Untätigkeit in Sachen Klimaschutz ist weiterhin zu rechnen.
Er ließ den Satz kurz auf uns einwirken.
- Aber sie sollten sich die Studie ganz genau ansehen. Wie viele Stunden, Tage,
Wochen, Monate, meinen Sie, müssten Parlamentarier sich auf Entscheidungen über
Krieg und Frieden ober über Maßnahmen zum Klimaschutz vorbereiten?
Wieder nur betretene Mienen.
Für einen Moment schien Graf in Gedanken versunken. Dann fragte er:
- Wie viel Zeit würden Sie für solche Entscheidungen brauchen?
Wieder keine Antwort.
- Mehr als für eine Seminararbeit oder weniger?
- Mehr, sagten einige.
- Mindestens einige Monate, sagte ich schließlich.
- Zeit oder Arbeitszeit?, fragte Graf.
- Reine Arbeitszeit natürlich.
67
- Und nun schätzen Sie mal, wie viel Vorbereitungszeit die Kongressabgeordneten
sich für die Entscheidung über den Irak-Krieg genommen haben, vom Zeitunglesen
natürlich abgesehen.
In der Runde wieder nur Schulterzucken.
- Die Studie sagt: Im Durchschnitt nicht einmal vier Stunden. Die meisten
Abgeordneten haben außer Zeitungen und den Vorlagen ihrer Fraktion keine
weiteren Quellen studiert. Mehr als zwei Dritteln der Kongressmitglieder reichte das
für ein Ja zum Krieg.
- Und die anderen?, fragte ein Kommilitone? Die Neinsager?
- Die haben sich im Durchschnitt eine halbe Stunde mehr genommen.
Einen Moment lang kostete Graf unsere stumme Überraschung aus. Dann sagte er:
- Wenn man die Terminpläne von Parlamentariern kennt, kann einen das kaum
überraschen.
Wir fühlten uns alle ertappt. Während des ganzen Seminars war keiner von uns auch
nur entfernt auf die Idee gekommen, sich solche Fragen zu stellen.
- So funktioniert Demokratie, sagte Graf fast genüsslich.
Und dann:
- Und glauben Sie nicht, dass es in Deutschland wesentlich anders ist. Auch unsere
Demokratie ist in Wahrheit eine Dilettantendemokratie.
Dann stand er auf und wünschte uns allen entspannte Semesterferien. Fast schon im
Weggehen sagte er dann noch:
- Und glauben Sie erst recht nicht, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern
wird.
Ich muss gestehen, dass auch diese mahnenden Worte Grafs bei mir kaum Spuren
hinterließen. Umso eindrücklicher kamen sie mir in Erinnerung, als zu Beginn des
zweiten Jahrhundertquartals die Erosion der amerikanischen Demokratie immer
68
deutlicher wurde. Gründe dafür gab es viele. Mit dem Schwinden des
Weltmachtstatus schwand auch der einende patriotische Überschwang. Die
etablierten Parteien verloren weiter an Respekt und Niveau, und damit sank auch das
Niveau der politischen Auseinandersetzung. Damit aber waren Tür und Tor weiter
denn je für populistische Botschaften geöffnet.
Es waren Populisten, die am trotzigsten an der Vorstellung eines wirtschaftlich,
militärisch und moralisch dominierenden Amerikas festhielten. Sie lasteten Amerikas
Machtverlust den etablierten Politikern an, und eine Zeitlang hatten sie damit großen
Erfolg. Aber lange hielt dieser Erfolg nicht vor. Also stürzten Populisten sich auch in
den USA auf das Thema, das europäischen Populisten die meisten Wählerstimmen
brachte: die wachsende kulturelle, ethnische und wirtschaftliche Disparität.
Lange Zeit beschränkten die Populisten sich darauf, ihren Einfluss in den etablierten
Parteien auszubauen, aber dann zeichneten sich in immer mehr Regionen Chancen
auf eigenständige Mehrheiten ab. Die logische Folge war, dass sich zwei kleine
populistische Parteien gründeten, von denen die eine ihre Wähler von den
Demokraten, die andere von den Republikanern abwerben wollte. Was blieb danach
den beiden etablierten Parteien, als sich im Kampf um Wählerstimmen auf das
Niveau der Populisten einzulassen? Was anderes als der Versuch, sich ihrerseits
Mehrheiten auch durch offene Geringschätzung unbeliebter Minderheiten zu sichern,
sich der Angst vor Überfremdung anzunehmen und so auf allen Seiten Ressentiments
zu schüren? Noch verhinderte das Mehrheitswahlrecht eine Zersplitterung der
Parteienlandschaft, aber ausschließen mochte sie kaum noch jemand. Es bahne sich
an, warnten einige der nachdenklichsten Köpfe Amerikas, was im 20. Jahrhundert
niemand mehr für möglich gehalten hätte: ein inneramerikanischer Kulturkampf.
Welche Gruppen sich dabei in vorderster Front gegenüberstehen würden, ob dies
Konservative und Liberale sein würden oder Arme und Reiche, christliche
Fundamentalisten und islamische, Weiße, Schwarze, Hispanics und Asiaten,
Protestanten, Katholiken, Juden und Muslime, Verteidiger und Gegner des
Sozialstaats, der Todesstrafe, des privaten Waffenbesitzes, des Klimaschutzes und
69
der Atomenergie oder ob sich nicht ganz neue kampfbereite Wertegemeinschaften
herausbilden würden, das war nicht absehbar. Dass aber alle Amerikaner sich in allen
politischen Angelegenheiten Mehrheitsentscheidungen unterwerfen würden, wie
auch immer sie ausfielen, und dass dies immer so bleiben werde, daran keimten erste
Zweifel auf.
Ich weiß nicht mehr, ob es Graf war, der dazu einmal sinngemäß diesen Kommentar
gab: Es gebe viele innerlich zerrissene Staaten auf der Welt, aber bei mindestens
ebenso vielen werde sich die innere Zerrissenheit erst noch zeigen. Die Welt werde
noch lernen müssen, dass es ein Glück sei, wenn die innere Zerrissenheit eines
Staates nichts Schlimmeres als gewöhnlichen Separatismus zur Folge habe, der ja
relativ einfach, nämlich durch die Korrektur von Staatsgrenzen, zu befrieden sei. In
vielen Ländern seien die Probleme noch viel komplizierter.
Dem folgte eine Aufzählung von Staaten, die hiervon irgendwann betroffen sein
könnten. Amerika war einer von ihnen.
Israel und das historische Unrecht
Warum hatte ich Hauser oft nicht auf Anhieb verstanden, wenn er über das
Staatsgrenzenproblem sprach? Vielleicht, weil ich noch nicht ahnte, dass der
Umgang mit Staatsgrenzen für ihn nur ein Beispiel für ein allgemeineres Problem
war. Hauser glaubte, dass fast alle politischen Prinzipien Notbehelfe sind, dass fast
alle ein Verfallsdatum haben, so fundamental sie vorübergehend auch erscheinen
mögen. Würden sie dennoch als fundamental anerkannt, dann seien sie schwerlich
noch ohne Blutvergießen zu erschüttern, egal, als wie unvollkommen, unzeitgemäß
und konfliktträchtig sie sich im Lauf der Zeit auch erwiesen hätten. So sei es mit dem
Dogma der der territorialen Integrität, das - so Hauser damals wörtlich - sich als
dunkler Schatten über unser Jahrhundert gelegt habe, und so könne es sogar mit dem
einfachen demokratischen Mehrheitsprinzip sein. Wäre ich Hauser in all dem von
Anfang an gefolgt, wäre unsere Verständigung leichter gewesen.
70
Die Welt hat zu lange so getan, als komme der Wille, Staatsgrenzen zu korrigieren,
nur von skrupellosen Staatsführungen. Er kommt natürlich auch von den Bürgern.
Das Dogma der territorialen Integrität enthält den Bürgern Freiheiten vor. Es ist
insofern ein Dogma der Unfreiheit, und es ist daher auch ein Dogma, das den Frieden
gefährdet und Kriege und Bürgerkriege riskiert. Die Bürger wollen über ihre
Staatszugehörigkeit möglichst frei entscheiden können, das sah Hauser glasklar, und
er glaubte, dass der Kampf um diese Freiheit zu einem politischen Leitmotiv dieses
Jahrhunderts werden würde. Würde es also bei kommenden politischen
Gewaltkonflikten vor allem um diese Freiheit gehen? War das Zeitalter der
Eroberungs-, Bestrafungs- und Präventivkriege der vergangenen Jahrhunderte vorbei,
und hatte nun eine lange Ära des Kampfes für die freie Wahl der Staatszugehörigkeit
begonnen? Das schien unausweichlich, aber noch war dies nirgendwo als Reformziel
formuliert worden.
Es hat lange gedauert, bis mir klar wurde, dass auch das Problem Israel hiermit zu
tun hatte. Ich hatte das Israel- und Palästina-Problem immer für einen Sonderfall
gehalten, und das ist es sicher auch. Nie war ich auf irgendein Dokument, einen
Kommentar oder ein Ereignis gestoßen, das mir das Gefühl gab: Hier ist das Problem
gründlich verstanden. Alle politischen Begriffe, alle Rhetorik, alle Theorie perlten
daran ab. Das Problem schien zu kompliziert zu sein, als dass politisches Denken es
erfassen, und natürlich erst recht zu kompliziert, als dass gewöhnliche Politik es
lösen könnte. Zugleich schien es, dass die Welt und die Konfliktparteien, Israel,
seine Nachbarstaaten und die Palästinenserorganisationen, sich mit der Unlösbarkeit
des Problems im Grunde abgefunden hatten. Regelmäßig aufflackernder Terror,
permanente Terrorangst, sich wiederholende begrenzte Kriege, permanent
scheiternde, weil als oberflächlich erkannte Vermittlungsversuche anderer Staaten,
auf all das waren die politischen Reflexe und die politische Rhetorik eingestellt. Der
Konflikt und die Empörung der Konfliktparteien übereinander waren zur militanten
Routine geworden.
71
Vor diesem Hintergrund verfestigten sich auch die konflikttreibenden Vorurteile.
Dazu gehörte, dass die israelische Seite unter Berufung auf ihr überlegenes
zivilisatorisches Niveau meinte, ein Terroropfer auf der eigenen Seite sei moralisch
gegen Dutzende oder Hunderte Terroropfer auf der Gegenseite aufzuwiegen. Die
Parteien verfielen so in gegenseitiges sprachloses Misstrauen. Der Friedenswille trat
hinter die Angst zurück, in einem Friedensprozess könnte die Gegenseite einen
unverdienten Vorteil erringen. Keine der Parteien entwickelte eine realistische
Vorstellung davon, wie eine einvernehmliche Dauerlösung aussehen könnte. Und auf
beiden Seiten galten Menschen, die auch nur in Gedanken neuartige
Friedenskompromisse erkunden wollten, als Verräter.
Was diesen Konflikt so einzigartig machte, ist aber noch etwas anderes. Es ist die
Rolle des historischen Unrechts. Beide Konfliktparteien, Israelis wie Palästinenser,
reklamierten für sich, dass ihre Militanz der Korrektur erlittenen historischen
Unrechts dient. Beide Seiten sahen sich vor der Geschichte in der Opferrolle, und
beide verlangten von der jeweils anderen, diese ihre Opferrolle anzuerkennen. Die
Israelis leiteten hieraus her, dass der gewaltsam erkämpfte Status quo allenfalls ein
moralischer Gleichstand sei, die Palästinenser, dass der Staat Israel ewig auf
moralischem Unrecht gegründet bleiben werde.
Natürlich ist das von beiden Seiten erlittene historische Unrecht unbestreitbar.
Welche Rolle konnten die daraus hergeleiteten Ansprüche aber in einer
Friedenslösung spielen? Wie waren sie zu bemessen, zu gewichten und
möglicherweise gegeneinander aufzurechnen? Auch darüber habe ich mit Hauser
einige Male gesprochen. Solange die Parteien noch kämpfen könnten, sagte er,
würden sie hierum weiter kämpfen wollen. Zu einer friedlichen Aufrechnung könne
es nur kommen, wenn das Kämpfen für beide Seiten offenkundig aussichtlos sei.
Aber Hauser war kein Fatalist, er gab sich auch hierbei nicht ohne Hoffnung
gebenden Gedanken zufrieden. Ich will ihn noch einmal direkt zu Wort kommen
lassen, mit dem Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs, das mir noch immer gut in
Erinnerung ist:
72
- Es gibt ein Thema, sagte Hauser, um das ich sehr lange, bis vor wenigen Jahren
sogar, in meinen Gedanken einen großen Bogen gemacht habe: historisches Unrecht.
Das Thema war mir zu kompliziert.
- Zu kompliziert?, fragte ich. Sogar dir?
- Zu kompliziert oder zu brisant oder beides. Man kann darüber nicht offen reden
oder schreiben, ohne sich Feinde zu machen. Man würde immer von irgendwem
beschuldigt, für die falsche Seite Partei zu ergreifen.
- Nicht von mir, das weißt du.
- Natürlich, sonst säßen wir hier nicht zusammen. Ich fange mal so an: Die Welt ist
voll von historischem Unrecht. Die Menschheitsgeschichte ist eine
Unrechtsgeschichte. Je weiter ihr historisches Gedächtnis zurückreicht, desto stärker
fühlen Völker, Volksgruppen, Ethnien, Glaubens-, Kultur- und
Sprachgemeinschaften sich mit historischem Unrecht belastet. Desto eher sehen sie
sich im Recht, selbst erlittenes oder von ihren Vorfahren erlittenes Unrecht gegen
selbst begangenes neues Unrecht aufzurechnen. Das hat sich in der zivilisierteren
Welt etwas abgemildert, aber ganz frei davon sind auch die Zivilisiertesten noch
nicht.
- Deutschland hat viel historisches Unrecht begangen.
- Das zu seinem Glück nicht mit gleichem Unrecht vergolten wurde. Aber der Fall
Deutschland zeigt auch, wie kompliziert das Thema Wiedergutmachung ist. Die
Reparationen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt wurden, haben
das Land überfordert. Das hat neue Kriegsbereitschaft geweckt.
- Man darf mit Wiedergutmachungsforderungen nicht zu weit gehen?
- Wer den Gegner vernichtet, bekommt von ihm nichts zurück, wer ihn schwächt,
bekommt wenig. Klüger ist es, wenn man es dem Gegner gutgehen lässt.
- Der sich dann aber seiner moralischen Verantwortung entziehen könnte.
73
- Ja, aber vollständige Wiedergutmachung kann man auch mit Gewalt nicht
erzwingen. Die symbolische Wiedergutmachung ist ohnehin wichtiger.
- Willy Brandts Kniefall in Warschau?
- Ein Lehrstück für die Geschichtsbücher. Es hat viel mehr bewirkt als Milliarden an
Wiedergutmachung.
- Ein Lehrstück auch für Israel?
- Vielleicht. Israel ist aber ein viel schwierigerer Fall. Dort kann es nur Frieden
geben, wenn der Staat Israel sich dazu bekennt, das auch er auf historischem Unrecht
gegründet ist. Erst wenn das einmal ausgesprochen ist, vor der Weltöffentlichkeit,
glaubhaft unwiderruflich, werden Schritte zu einer Einigung überhaupt vorstellbar.
Aber ebenso müsste natürlich die andere Seite das vom jüdischen Volk erlittene
historische Unrecht anerkennen.
- Der gemeinsame Kniefall eines Palästinenserführers und eines israelischen
Präsidenten?
- Etwas in der Art.
- Ein Kniefall in Gaza für die Opfer israelischer Angriffe? Ein gemeinsamer Besuch
in Auschwitz, Hand in Hand? Ein palästinensischer Gandhi neben einem israelischen
Willi Brandt? Utopisch.
- Vorerst, das weiß ich, aber einen anderen Weg zum Frieden gibt es nicht. Wenn die
Symbolik geschafft ist, dann wird der Frieden nicht an ein paar Quadratkilometern
strittigen Territoriums scheitern und nicht an einigen Milliarden Dollar
Wiedergutmachung. Dann wird es auch viel Hilfe Dritter geben.
- Warum sollte Israel ohne Zwang Wiedergutmachung zahlen?
- Selbst die großzügigste israelische Wiedergutmachung würde nur einen Bruchteil
dessen ausmachen, was Israel an Ausgaben für Kriegsbereitschaft erspart bliebe.
74
- Aber dass Israelis und Palästinenser sich über einen Geldbetrag einigen und dann
innige Freundschaft ausbricht…
- …wie zwischen Deutschland und Polen zum Beispiel,
- das glaubst du doch selbst nicht.
- Ja, hier ist eben alles noch viel komplizierter. Wirklich zur Besinnung werden beide
Seiten erst kommen, wenn beide wissen, dass sie einander vernichten könnten.
- Ein Gleichgewicht des Schreckens?
- Wenn du so willst. Dann erst tritt die Frage in den Hintergrund, ob die andere Seite
unverdiente Vorteile erlangt. Dann geht es um Lösungen, die allen Beteiligten
nützen. Und dann könnte sogar die Suche nach allgemeinen Regeln beginnen, aus
denen sich solche Lösungen ergeben.
- Regeln für den Umgang mit historischem Unrecht?
- Ja. Eine Aufgabe für die Staatengemeinschaft. Wenn die Staatengemeinschaft
irgendwann das Dogma der territorialen Integrität aufgibt, dann ist sie so weit, auch
Regeln für den Umgang mit historischem Unrecht zu entwickeln.
- Berechnungsformeln für Entschädigungen?
- Orientierungshilfen dafür, unter anderem. Man wird z.B. feststellen, dass jüngeres
historisches Unrecht schwerer wiegt als älteres, an lebenden Generationen
begangenes schwerer als an früheren Generationen begangenes.
- Keine leichte Aufgabe für die Staatengemeinschaft.
- Natürlich nicht. Deswegen wird sie auch nicht so bald gelöst werden. Nicht in
deinem Jahrhundert.
Mir stockte kurz der Atem. „Nicht in deinem Jahrhundert“, das kam so beiläufig und
doch so endgültig und abweisend heraus. Das 21. Jahrhundert kurz abgefertigt als
hoffnungsloser Fall, und ich als Teil davon. Ich schaffte es danach nicht, das
75
Gespräch wieder in Gang zu bringen. Wir tauschten noch ein paar holprige Sätze aus,
bis er mich an der Tür verabschiedete.
- Hat gutgetan, mit dir zu reden, sagte er noch, und dann zuallerletzt: Die
kompliziertesten Probleme werden immer als letzte gelöst. Bevor Israelis und
Palästinenser sich verständigen, muss erst einmal eine neue Ordnung in die arabische
Welt kommen.
Womit er natürlich u.a. meinte, dass die arabische Welt aus dem Dogma der
territorialen Integrität herausgewachsen sein müsste.
Nach diesem Gespräch habe ich den Israel-Konflikt umso aufmerksamer verfolgt.
Um zur Besinnung zu kommen, hatte Hauser gesagt, müssten beide Seiten sich
eingestehen, dass die jeweils andere Seite sie vernichten könnte. Das hieß: Vor der
Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung muss die Fähigkeit zur gegenseitigen
Vernichtung kommen.
Ich wusste damals nicht, ob ich darauf hoffen oder es fürchten sollte.
China und Indien
Natürlich war spätestens im ausgehenden 20. Jahrhundert die kommende Dominanz
Chinas in der Welt absehbar, aber vorbereitet hat sich die Welt darauf nicht. Für den
Westen war China auch im ersten Viertel unseres Jahrhunderts fast noch ein
Kuriosum. Ein kommunistischer Staat, beherrscht von einer kommunistischen Partei,
mit einer höchst erfolgreichen kapitalistischen Wirtschaft, das erschien wie ein
Widerspruch in sich. Fast alle kommunistischen Staaten dieser Welt waren am Ende
des 20. Jahrhunderts wirtschaftlich kollabiert, und übrig blieben ein bitter armes
Nordkorea, ein verarmtes Kuba und ein boomendes China, dessen
Wirtschaftsleistung schon die der USA überholt hatte.
Damals verfolgte ich das Geschehen in China nur beiläufig in den Medien. Ich malte
mir die weitere Entwicklung etwa so aus: Chinas Wirtschaft war vom Joch der
staatlichen Lenkung großenteils befreit, der Wohlstand war rasch gewachsen, aber
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nun leide das Volk immer mehr unter dem Joch der politischen Bevormundung. Also
sei nach dem wirtschaftlichen bald auch der politische Systemwechsel fällig, der
Wechsel zur Demokratie nach westlichem Muster. Je schneller die Wirtschaft
wachse, desto eher.
Bis ich auch darüber mit Hauser sprach.
Meine Ungeduld verstehe er, erklärte Hauser, aber es sei komplizierter, als ich
meinte, und auch langwieriger.
Manchmal gehe es aber doch sehr schnell, erwiderte ich, so überraschend schnell wie
z.B. der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Demokratisierung in Osteuropa.
Aber Hauser sah es natürlich ganz anders. Ob unsere Art von Demokratie für dieses
China überhaupt ein Segen wäre, sagte er - und dabei sah er mich an wie ein von
seinem Schüler enttäuschter Lehrer - daran habe er seine Zweifel. Ich wisse doch, in
wie vielen Ländern die Demokratisierung in einer Tragödie geendet habe, zumindest
im ersten Versuch: Ägypten, der Irak, Libyen, die Ukraine und so weiter,
Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nicht zu vergessen, und selbst Russland sei
ja eine Scheindemokratie, die dem Einparteiensystem Chinas ähnlicher sei als
westlichen Demokratien.
Dann ließ er einen langen Monolog folgen. Auch China sei ein Staat, dessen Grenzen
nicht für die Ewigkeit gemacht seien, schon weil sie im Lauf der Geschichte
willkürlich und selbstherrlich gezogen wurden. Mehr als 100 Millionen Bürger des
heutigen China gehörten Minderheiten an, die sich ihrem Staat nicht spontan
verbunden fühlten, Uiguren, Tibeter und andere. Und auch die ethnischen Chinesen
sprächen verschiedene Sprachen, auch wenn sie eine gemeinsame Schriftsprache
hätten, und keiner wisse, wie loyal diese Sprachgemeinschaften einem chinesischen
Zentralstaat gegenüber auf Dauer bleiben würden. Auch für China werde daher das
Dogma der territorialen Integrität nicht ewig zu halten sein. Je überstürzter eine
Demokratisierung komme, desto wahrscheinlicher sei es, dass das Land ungeordnet
zerfalle. Auch auf dem Territorium Chinas könnten also irgendwann weitere
77
Episoden des Dritten Weltkriegs ausgetragen werden. Ob China in seinen heutigen
Grenzen von demokratisch gewählten Mehrheiten auf Dauer friedlich regiert werden
könne, sei mehr als ungewiss. Eine Demokratie nach westlichem Muster sei für
dieses China womöglich eine noch schlechtere Staatsform als die kommunistische
Einparteienherrschaft.
Ich wandte natürlich sofort ein, dass es für Einparteiensysteme fast nur noch
abschreckende Beispiele gebe. Es gebe aber auch abschreckende Beispiele für
Mehrparteiensysteme, erwiderte Hauser, darüber seien wir uns ja einig. Außerdem
sei der Unterschied zwischen einem Einparteiensystem und einem demokratischen
Mehrparteiensystem viel geringer als allgemein angenommen. In
Mehrparteiensystemen seien die Unterschiede zwischen den ernsthaft wählbaren
Parteien ja immer geringer geworden.
Ob er nicht doch etwas übertreibe, fragte ich.
- Vielleicht, sagte er. Aber was etwas übertrieben ist, ist deswegen ja nicht falsch.
- Ist nicht Indien ein Gegenbeispiel?, erwiderte ich. Müsste nicht, wenn er mit China
Recht habe, Indien schon längt auseinandergefallen sein?
Die Geschichte Indiens, antwortete er, sei doch alles andere als eine
Erfolgsgeschichte der Demokratie. Als Demokratie sei Indien nie gut regiert worden,
was einer der Gründe dafür sei, dass es wirtschaftlich so weit hinter China
zurückbleibe. Außerdem habe Indien seit dem Zweiten Weltkrieg vier Kriege um den
Verlauf von Staatsgrenzen geführt, drei Kriege mit Pakistan und einen Krieg mit
China, und es habe mehrere separatistische Bewegungen in verschiedenen Teilen des
Landes niedergeschlagen. Auch all dies seien Vorläufer des schleichenden Dritten
Weltkriegs gewesen, und dieser werde sich auch in Indien noch fortsetzen, auch
wenn er dort hoffentlich weniger gewalttätig ausgetragen würde als in anderen Teilen
der Welt.
Dann gab er mir noch einen kurzen Nachhilfeunterricht zur politischen Situation
Indiens. Indiens Bevölkerung sei ethnisch, sprachlich und konfessionell etwa so
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heterogen wie die des gesamten europäischen Kontinents. Dass dieses Indien
zentralistisch regiert werde, sei nicht das Resultat eines spontanen Willens aller
Inder. Die Autorität der indischen Zentralregierung werde daher auf Dauer ähnlich
fragil sein, wie es bei einer vom Atlantik bis zum Ural zuständigen europäischen
Zentralregierung der Fall wäre. Spätestens wenn die Bürger des heutigen Indiens die
letzten Reste politischer Untertanenmentalität abgeschüttelt hätten, würden sie sich
ernsthaft fragen, wer mit wem weiterhin in einem gemeinsamen Staat leben wolle.
Dann aber gehe die Geschichte Indiens in seinen heutigen Grenzen ihrem Ende
entgegen.
Wann das sein werde, fragte ich. In diesem Jahrhundert, im nächsten, im
übernächsten?
Das, erwiderte er, komme darauf an, wie lange die Bürger dieser Welt sich in ihren
Freiheitsansprüchen noch von alten Dogmen einschüchtern lassen. Dazu wage er
keine Prognose.
Ob er denn über die Zukunft Chinas schon einmal mit Chinesen und über die
Zukunft Indiens mit Indern gesprochen habe, fragte ich.
- Hast du schon einmal mit Deutschen über die Zukunft Deutschlands gesprochen?
Auch das typisch Hauser: Eine Frage mit einer erhellenden Frage zu beantworten.
Wie weit in die politische Zukunft denn Deutsche dächten, hätte er auch fragen
können, oder: Wie weit denken Deutsche über die nächste Wahlperiode hinaus?
Fragen, auf die die Antwort sich erübrigt. Aber meine Frage muss ihn doch auch
nachdenklich gemacht haben. Kurz danach erzählte er mir, dass sich einige Monate
vorher eine Chinesin bei ihm als Praktikantin beworben hatte. Vielleicht hätte er sie
einstellen sollen, sagte er, vielleicht habe er da einen Fehler gemacht. Dabei sah er
weit über meinen Kopf hinweg, als sei ihm gerade eine Erkenntnis gekommen, die
mich nichts angehe. Aber dann, seinen Blick nun fest auf mich gerichtet: Pass auf,
dass du nicht irgendwann solche Fehler machst.
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Vielleicht wäre ich mit Tian, meinem späteren chinesischen Kollegen und Freund,
nicht zusammengekommen, wenn diese Bemerkung Hausers nicht gewesen wäre.
Und Europa?
Hauser lebte allein. Manchmal fragte ich mich, ob auch das ein Grund für seine
abgründige politische Skepsis sein könnte. War er am Ende nur ein grantelnder
politischer Kauz, der sich von der Welt allein gelassen fühlte und die Welt dafür mit
Geringschätzung bestrafte? Und mit wem außer mir teilte er überhaupt seine
politischen Gedanken? Und könnte es mir später womöglich ähnlich gehen? Mit
wem würde ich die Gedanken teilen können, die Hauser mir nahebrachte? Mit
Constanze zumindest, darauf hoffte ich schon damals.
Hauser ließ die Welt des frühen 21. Jahrhunderts gern wie ein einziges Krisengebiet
erschienen. Aber war nicht - neben Amerika - wenigstens Westeuropa eine
Ausnahme? Es gab schwere Wirtschaftskrisen in einigen europäischen Ländern, aber
waren das nicht Nebensächlichkeiten, untergeordnete Randerscheinungen des
Weltgeschehens und in der Geschichtsschreibung Europas allenfalls ein Fußnote
wert? Würde nicht zumindest die jüngste Geschichte Westuropas davon überstrahlt
bleiben, dass letztlich überall Demokratie und Frieden eingekehrt waren und ein
einigermaßen stabiler Wohlstand erreicht war? Und davon, dass es eine Europäische
Union gab, immerhin Trägerin des Friedensnobelpreises, deren Mitgliedsländer
immer mehr politische Gemeinsamkeiten festschrieben? Und dass diese Union weit
nach Osteuropa hineingewachsen war und weiter wachsen würde?
Ja, meinte Hauser, mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei die Gegenwart
natürlich nicht zu vergleichen, aber die Frage sei eben, ob dieser Fortschritt
ausreiche. Für das Dreivierteljahrhundert nach dem Zeiten Weltkrieg reiche er wohl,
auch wenn die Politik in dieser Zeit viel Unheil angerichtet oder tatenlos
hingenommen habe. Noch lebten wir in einer Zeit, in der die Bürger Europas sich mit
dem, was Politik leiste, letztlich zufrieden gäben. Er hoffe aber, dass das nicht so
bleiben werde.
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Ich fragte ihn, ob man solche Unzufriedenheit wirklich erhoffen oder nicht eher
befürchten sollte. Viele an meiner Stelle hätten ihm sicher diese Frage gestellt, und
von vielen hätte Hauser solche Frage sicher erwartet. Nicht von mir. Er stutzte, dann
sah er mich mit einer Miene an, in der sich Überraschung, Enttäuschung und
Streitlust mischten.
Dann legte er los, in einem Tonfall, in dem ich ihn nie gehört hatte. Ob mir denn
nichts wirklich nahegehe, nicht der überall lauernde Terror, nicht die großen
Flüchtlingsdramen dieser Welt, nicht die unzivilisierten Parallel- und
Gegengesellschaften in halbwegs zivilisierten Staaten, nicht der überall wachsende
Einfluss junger populistischer Parteien, die ja noch viel schlimmer seien als die
etablierten, auch in Deutschland.
Aber dann, in Sekundenschnelle, war er wieder der souveräne, kontrollierte Hauser.
Gefasst und ruhig sprach er davon, dass es ja in Europa Länder gebe, Griechenland
unter anderem und auch Italien zähle er dazu, die in den letzten hundert Jahren fast
nie ordentlich regiert worden seien. Und dass die Bürger sich dies hätten gefallen
lassen, weil niemand ihnen Alternativen aufgezeigt habe. Fast überall seien
politische Parteiensysteme zusammengebrochen, auch in Deutschland sehe er dies
kommen. Überall hätten alte Volksparteien und ihre Politiker Macht an populistische
Anlernlinge verloren, die außer rhetorischem Talent kaum etwas zu bieten hätten.
Berlusconi sei der erste Gipfel dieses Desasters gewesen, und inzwischen schafften
es immer mehr ahnungslose Populisten, die Tsipras, Le Pens, & Co., in höchste
Staatsämter. Das politische Wunder unserer Zeit sei die Gelassenheit, mit der Bürger
dies noch immer hinnähmen. Einen Hoffnungsschimmer sehe er allein darin, dass
das Nichtwählen noch weiter zunehme, auch in Deutschland, und dass es sich von
dem Unterschichtenphänomen, das es lange war, zum Ausdruck seriöser politischer
Geisteshaltung entwickelt habe.
Ich sah keinen Grund, ihm zu widersprechen. Aber woher nahm er die Gewissheit,
mit der er immer wieder solche ungewöhnlichen Thesen vertrat? Dieses eine und
81
einzige Mal wagte ich ihn zu fragen, welcher politischen Richtung er denn früher
einmal gefolgt sei.
- Meinst du etwa, rechts oder links?
Er winkte mit einer wegwerfenden Geste ab. So etwas, sagte er dann, sei ihm zum
Glück erspart geblieben. Sonst wäre er auch als Archivar am falschen Platz.
Aber ganz könne man sich nie davor schützen, sagte er dann, irgendeiner politischen
Richtung zugerechnet zu werden. Zum Beispiel in der Zuwanderungsfrage. Die
denkbar dümmste Antwort, da sei er ganz sicher, auf das demographische Desaster
der Wohlstandsnationen sei es, die Geburtenlücke hauptsächlich durch Zuwanderung
schließen zu wollen. Mit dieser Meinung stehe er aber weder rechts noch links, er
stehe nur für langfristiges Denken, längerfristiges zumindest, als alle so genannten
Rechten oder Linken es zeigten.
Dann erklärte mir im Kontext Europa noch einmal das Problem der Staatsgrenzen,
wie er es vorher zu anderen Weltregionen erklärt hatte: dass auch die EU-Staaten
sich starre Staatsgrenzen verordnet hätten und dass sogar die EU sich immer mehr als
Staatswesen mit festgeschriebenen Grenzen verstehe. Die EU habe insofern ihre
eigene Entwicklung als Einbahnstraße angelegt, nicht ahnend, dass diese
Einbahnstraße eine Sackgasse ist. Die zeuge von einem denkbar schwachen
Vorstellungsvermögen für den Wandel politischer Bedürfnisse. So etwas sei noch nie
und nirgendwo sehr lange gutgegangen und werde auch in Zukunft nirgendwo lange
gutgehen.
Aber die EU, wandte ich ein, sei doch eine Union demokratischer Staaten und damit
ganz und gar auf demokratischen Prinzipien gegründet. Er meine doch sicher nicht,
dass es mit der Demokratie nicht lange gutgehen werde.
Das wisse er nicht, erwiderte er, aber das Beispiel EU zeige doch, wie wenig
Orientierung das Demokratieprinzip für sich genommen biete. Die EU könne einmal
das historische Projekt werden, das die Augen für die begrenzten Möglichkeiten der
Demokratie öffne.
82
Mir schwirrte der Kopf. Hauser sah, dass ich keine Antwort herausbrachte, und fuhr
unbeirrt fort:
- Du hast ja Recht, über solche Dinge muss sich noch kein Bürger Gedanken machen
und auch kein Politiker, der in Zeiträumen von ein paar Amts- oder Mandatsperioden
denkt. Übrigens auch kein Journalist, der über das schreiben muss, was gerade seine
Leser bewegt. Wer interessiert sich heute schon für die zweite Hälfte des
Jahrhunderts?
Auch darauf brachte ich natürlich keine Antwort heraus.
- Und Schottland?, fuhr Hauser fort. Was sagst du eigentlich zu Schottland?
- Ja, sagte ich, die Schotten geben keine Ruhe mit ihrer Unabhängigkeit, die Schotten
sind ein Problem.
Hausers Miene verzog sich. Dann, mit einer für ihn ganz ungewohnten Heftigkeit:
- Unsinn. Das Problem sind doch nicht die Schotten.
Er schloss kurz die Augen, als hielte er meine Ignoranz nicht aus, dann sah er mich
an wie in Erwartung einer Entschuldigung, und dann, wieder gewohnt souverän und
gelassen:
- Oder meinst du, die Schotten dürften nicht unabhängig sein wollen?
Dann hielt er einen kurzen Monolog über die Bedeutung des schottischen
Unabhängigkeitsreferendums von 2014. Dieses Referendum sei zwar zu früh
gekommen, um erfolgreich zu sein, trotzdem sei es der Beginn einer Zeitenwende
gewesen. Aber wie es mit beginnenden Zeitenwenden so sei: kaum jemand bemerke
sie, weil nur wenige sie bemerken wollten. Der Groschen falle dann erst Jahre,
Jahrzehnte oder sogar Generationen später.
Ob er sich damals denn wirklich ein unabhängiges Schottland gewünscht habe, fragte
ich.
Er sei kein Schotte, sagte er, ihm persönlich sei es egal, aber er habe den Schotten
Umstände gewünscht, unter denen sie sich den Wunsch nach Unabhängigkeit ganz
83
ohne Ängste, ohne Missgunst und ohne organisierte Widerstände hätten erfüllen
können.
Das lag mir damals noch zu fern, um es sofort zu verstehen. Erst als ich später
Hausers Gedanken zur schottischen Unabhängigkeit noch einmal in seinen
Aufzeichnungen nachlas, kam mir dieses Gespräch wieder in den Sinn. Vielleicht ist
es gut so. In diesem Moment hätte Hauser es kaum so schlüssig erklären können wie
im folgenden Abschnitt seiner Aufzeichnungen, auch wenn dieser nur aus
Stichwortnotizen besteht.
Wahlbeteiligung
Beim Referendum weit über 80%, so hoch wie lange nicht mehr bei demokratischen Wahlen.
Das zeigt: Von der Frage, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben will, fühlen die
Bürger sich stärker berührt als von allen anderen Wahlentscheidungen. Ist demnach die
Freiheit, in dieser Frage direkt entscheiden zu können, nicht die elementarste aller
politischen Freiheiten? Worüber, wenn nicht darüber, sollen Volksentscheide abgehalten
werden?
Eine wirklich reife Demokratie werden wir also erst haben, wenn Referenden über die
politische Unabhängigkeit eine Selbstverständlichkeit sind. Das schottische Referendum war
immerhin ein kleiner Schritt dahin.
Vorgeschichte
Die Schotten brauchten für ihr Referendum die Zustimmung der britischen Zentralregierung.
Diese gab die Zustimmung nur mit einer Hinterlist. Die Referendumsfrage musste eine
einfache Ja/Nein- Frage sein: Soll Schottland ein unabhängiges Land sein, ja oder nein.
Eine unzumutbare Vereinfachung. Danach konnte London sich einigermaßen sicher sein,
dass das Referendum scheitern würde.
Wahlkampf
Natürlich wurde im Wahlkampf getäuscht und getrickst, verharmlost und dramatisiert,
aufgebauscht und heruntergespielt, wie man es bei Wahlen gewohnt ist. Die
Unabhängigkeitsgegner waren dabei im Vorteil. Sie konnten Ängste vor vermeintlich
unkalkulierbaren Risiken schüren, vor einer Aussperrung Schottlands aus der EU und aus
84
dem Währungsgebiet des britischen Pfundes und des Euro, vor einem Exodus internationaler
Großunternehmen, vor militärischer Schutzlosigkeit, vor verfallenden Rentenansprüchen an
die britische Rentenversicherung und generell vor Verarmung. Solche nebulösen Ängste
dürften die Wahl entschieden haben. Dazu kam das Last-minute-Angebot der britischen
Regierung, Schottland künftig etwas mehr politische Eigenständigkeit einzuräumen.
Das andere Szenario
Die Schotten haben der britischen Regierung die Zustimmung zum Referendum mühsam
abgerungen. Es hätte auch anders kommen können. Eine selbstsicherere Zentralregierung
hätte die Zustimmung vermutlich verweigert. Dann hätten die Schotten womöglich ein
illegales Referendum abgehalten, das eine Mehrheit für die Unabhängigkeit ergeben hätte.
Aber was wäre geschehen, wenn Schottland sich danach für unabhängig erklärt hätte?
Wirtschaftssanktionen? Militärisches Eingreifen? Oder doch die Duldung der illegalen
Abspaltung? Alles natürlich - nach herrschendem Politikverständnis - unvorstellbar. Es
wäre also, so oder so, etwas zuvor Unvorstellbares passiert. Ein Gewinn für die politische
Vorstellungskraft allemal.
Schlussfolgerungen
Natürlich ist die Frage der schottischen Unabhängigkeit nicht für immer vom Tisch. Das
Referendum war insofern eine ermutigende Niederlage. Dass die britische Zentralregierung
dem Referendum zugestimmt hat, könnte sich also als beispielgebendes historisches Ereignis
erweisen.
Natürlich werden Staaten und Staatenbündnisse, auch Organisationen wie die UNO und die
EU, davon erst einmal nichts wissen wollen. Und natürlich wurden selbst die
naheliegendsten Schlussfolgerungen unter den Teppich gekehrt. Zum Beispiel: Warum wollte
die ukrainische Regierung den Bewohnern der Krim und des Donbass verweigern, was die
britische Regierung den Schotten zugestanden hat? Warum also durfte es kein legales
Unabhängigkeitsreferenden auf der Krim und im Donbass geben? Warum hat die
ukrainische Regierung stattdessen Krieg im eigenen Land geführt? Warum haben die
Staaten des Westens, warum hat auch Großbritannien sie darin noch großsprecherisch
bestärkt? Warum haben sie Russland dafür bestrafen wollen, dass es solche Referenden
unterstützt hat? Hoffnungslose Verstrickungen in Widersprüche.
85
Wie geht es weiter?
Das schottische Referendum war ein politischer Tabubruch. Die Katalanen wollten ihnen
darin folgen, auch sie wollten ein legales Referendum über die Unabhängigkeit, aber der
spanische Staat hat es ihnen verwehrt. Dies aber hat das katalanische
Unabhängigkeitsstreben eher gestärkt als geschwächt.
Auch im Scheitern könnte das schottische Referendum also geholfen haben, das
Selbstbestimmungsrecht der Bürger über ihre Staatszugehörigkeit zu stärken. Irgendwann
sollte das Prinzip gelten: Grenzen sind zu verändern, wenn die Bürger es so wollen.
Irgendwann muss dafür aber ein wegweisendes Beispiel gegeben werden. Wo, wenn nicht in
Europa, sollte dies passieren?
So weit Hausers Kommentare zum schottischen Unabhängigkeitsreferendum. In das
gebundene Exemplar seiner Aufzeichnungen hatte er hierzu noch eine Ergänzung
eingeheftet:
Was kann alles geschehen, wenn Separatismus nicht mehr geächtet ist? Ist dieser Gedanke
irgendwo zu Ende gedacht worden? Wenn die Bürger einer Minderheitsregion wie
Schottland sich für unabhängig erklären dürfen, dann muss dies natürlich auch für
Mehrheitsregionen gelten, beispielsweise für England. Dann könnte z.B. England seinen
Austritt aus dem vereinigten Königreich erklären, was nichts anderes als der Hinauswurf
von Schottland, Wales und Nordirland wäre. So etwas würde vielleicht nie geschehen, aber
dürfte die Staatengemeinschaft es ausschließen? Wenn sie es mit der Freiheit und dem
Selbstbestimmungsrecht wirklich ernst meinte, dürfte sie es nicht.
Mir wurde schummrig bei dem Gedanken, was der Welt noch an politischer
Bewusstseinsentwicklung bevorstand.
Erstaunlich kurz war dann Hausers spätere Notiz zum ersten britischen Referendum
über den Verbleib in der EU. Nicht die knappe Mehrheit für den Verbleib sei dabei
das wichtige Ereignis gewesen, sondern dass es das Referendum überhaupt gegeben
habe. Auch dafür habe nicht zuletzt das schottische Unabhängigkeitsreferendum den
Weg bereitet. Wenn man dies weiterdenke, dann sehe man die Welt auf eine lange
Epoche derartiger Unabhängigkeitsreferenden zusteuern.
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Noch einmal Wirtschaft
Hauser kam aus einer Lehrerfamilie und war gelernter Philosoph, seine späte
Dissertation hatte er über „Spuren der Geschichte des utopischen Denkens im
politischen Diskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ geschrieben. Constanzes
Bildungshintergrund war ein ganz anderer. Ihre Eltern waren Gastwirte, und sie
selbst hatte vor ihrem Ökonomiestudium eine Banklehre absolviert. Man hätte
meinen können, hier würden zwei schwer verträgliche Mentalitäten
aufeinanderstoßen, aber so war es nicht. Constanze kehrte fast nie ihr
Wirtschaftswissen hervor und Hauser nie seinen philosophischen Hintergrund. Er sei
vielleicht der letzte Philosoph, sagte er einmal, der in einem Archiv wie unserem
arbeite, und selbst er würde wohl keinen gelernten Philosophen mehr einstellen.
Die beiden hatten sich jahrelang offenbar gut verstanden, und warum es nicht immer
so blieb, weiß ich bis heute nicht genau. Nicht alle hatten es mit Hauser so leicht wie
ich. Hauser war kein Dogmatiker, aber so umgänglich er ansonsten war, so
kompromisslos war er in seinem Berufsethos: Archivare müssten vollständig neutral
sein, in der Archivarbeit dürfe man sich von keinen Neigungen und Abneigungen
und keinen Schuld- und Verdienstzuschreiben auch nur im Geringsten beeinflussen
lassen, sonst würde das Archiv, auch ohne dass die Beteiligten es wollten oder
merkten, tendenziös, zumindest in Nuancen, und nicht einmal das sei tolerabel.
Archivar sollte eigentlich nur werden, wer noch in keinem Konflikt eine Partei für
alleinschuldig befunden und wer noch nie eine politische Partei gewählt habe. Er
wusste, wie schwer selbst ihm diese Neutralität manchmal fiel, aber umso strenger
war er hierin mit sich selbst und mit anderen.
Hauser hatte wohl erwartet, dass Constanze als Ökonomin seinem Neutralitätsideal
am ehesten entsprechen würde. Constanze war in Sachen Neutralität sicher nicht
schlechter als andere Archivare, aber wohl auch nicht besser. Für Hauser war das
eine Enttäuschung. Trotzdem hatte er Respekt vor ihr. In vielem dachten Hauser und
87
Constanze zumindest ähnlich, sie dachten sogar, was ich in meiner Anfangszeit im
Archiv noch nicht ahnte, auf ähnlichem Niveau.
Hauser glaubte nicht, dass sich in unserem Jahrhundert noch viel ereignen werde, zu
dem der Schlüssel nicht in seinem ersten Quartal liege oder noch weiter in der
Vergangenheit. Als Ökonomin sah Constanze die Dinge ähnlich. Nach der ersten
Weltwirtschaftskrise in den vergangenen dreißiger Jahren, erklärte sie mir, habe fast
ein halbes Jahrhundert lang die Überzeugung vorgeherrscht, dass die
Wirtschaftsentwicklung vom Staat gelenkt werden müsse, danach fast ein halbes
Jahrhundert lang der Glaube an die Selbstregulierung der Märkte. Dieser Streit habe
irgendwann einmal geklärt werden müssen, und das sei nach der kleinen
Weltwirtschaftskrise zu Beginn unseres Jahrhunderts wohl endlich der Fall. Heute
weiß ich, dass es ganz so einfach nicht war, aber ich weiß auch, dass Constanze
damit in wenigen Worten das Wesentliche getroffen hat. Deswegen versuche ich hier
meinem Laiengedächtnis noch etwas abzuringen, das sie mir zu den
Wirtschaftsproblemen des ersten Jahrhundertviertels erläutert hat:
Die kleine Weltwirtschaftskrise der ersten Dekade habe als Bankenkrise begonnen,
dann seien ihr in Europa Staatsverschuldungskrisen gefolgt und schließlich in großen
Teilen Europas langwierige wirtschaftliche Strukturkrisen mit hoher Arbeitslosigkeit.
Nach zehn Jahren hätten diese Krisen im Großen und Ganzen als ausgestanden
gegolten, aber das sei ein Irrtum gewesen. Das sei nur so erschienen, weil
Notenbanken und Regierungen alle Register der Symptomverschleierung gezogen
hätten.
Das Grundproblem sei eigentlich simpel. Die Vermögenden dieser Welt, Personen,
Institutionen, Unternehmen und einige Staaten, hatten mehr Geldvermögen gebildet,
als gewinnbringend angelegt werden konnte. Dies habe es in der Geschichte schon
mehrfach gegeben, und die natürlichste Bereinigung solcher Krise sei ein Crash, in
dem Geldvermögen vernichtet wird. Das sei ganz einfach zu erklären: Geldvermögen
seien nichts anderes als Forderungen an Schuldner, und wenn Schuldner in einem
Crash zahlungsunfähig würden, dann gehe überschüssiges Geldvermögen unter. Die
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Zahlungsunfähigkeit von Schuldnern sei daher nicht etwa das Problem, dass es in der
Krise zu vermeiden gelte, sondern es sei die Lösung. Zumindest sei es ein wichtiger
Teil der Lösung.
Überschüssiges Geldvermögen könne aber nicht nur in einem Crash vernichtet, es
könne auch durch Inflation entwertet werden, die Wirkung sei letztlich die gleiche.
Auch Inflation sei daher nicht das, was man in einer solchen Krise fürchten müsse,
auch Inflation könne ein wichtiger Teil der Lösung sein. In einer solchen Krise führe
daher alles Gerede von Inflationsgefahren in die Irre. Es sollte vielmehr von
Inflationshoffnungen die Rede sein.
Warum war das aber nicht der Fall? Constanzes dazu: Wie man für das richtige Maß
Inflation sorge, das habe man damals nicht gewusst, was wiederum mit dem
Festhalten an alten Dogmen zu erklären sei. Auch Ökonomen seien eben nicht gegen
Ideologien und Vorurteile gefeit.
Hier lag eine wichtige Gemeinsamkeit mit Hauser. Ähnlich wie Hauser die Politik
blind an Dogmen wie der territorialen Integrität festhalten sah, sah Constanze
Ökonomen, Finanzpolitiker und Zentralbanken in Dogmen der Crash- und
Inflationsvermeidung verstrickt. Nach Hauser kann die Verstrickung in solche
überholten Dogmen über Generationen oder Jahrhunderte andauern. Constanze war
weniger pessimistisch. Ökonomen, meinte sie, seien eher pragmatisch, sie brauchten
zur Überwindung alter Dogmen meistens nur eine Generation. Damals hielt ich das
für glaubhaft.
Ich will mich hier nicht zu weit in die Ökonomie hineinwagen, aber das Folgende
scheint mir an dieser Stell einfach und verständlich genug zu sein. In neuerer Zeit,
meinte Constanze, werde die Forderung nach Staatsentschuldung selbst in
wirtschaftlichen Krisenzeiten wieder dogmatisch hochgehalten. Nach diesem Dogma
sollten verschuldete Staaten auch in der Krise möglichst rasch ihre Schulden
zurückzahlen, auch das sei ein notwendiger Beitrag zur Krisenbewältigung. Aber
auch dies, meinte Constanze, sei falsch. Wenn ein Staat Schulden zurückzahle,
89
müssten die Empfänger das zurückerhaltene Geld anderswo anlegen, also in der
Privatwirtschaft. Aber es herrsche ja gerade deswegen Krise, weil in der
Privatwirtschaft nicht mehr genügend Geld rentierlich angelegt werden könne. Wenn
ausgerechnet in der Krise zusätzliches Geldvermögen in die Privatwirtschaft dränge,
dann werde die Krise dadurch weiter verschärft. Die Sanierung von Staatshaushalten
könne in solcher Krise also alles noch schlimmer machen.
Solche Gedanken, sagte Constanze damals, gälten allerdings noch als Ketzerei.
Sie erschienen mir aber logisch schlüssig, erwiderte ich.
Das sind sie auch, sagte sie.
Zwischenstand
Natürlich hatte ich in dieser Zeit noch immer ein anderes Bild von Politik als Hauser
und natürlich auch ein ganz anderes, als ich es heute habe. Hätte ich schon als
Dreißigjähriger einen Rückblick auf das erste Jahrhundertviertel zu schreiben
versucht, wäre wenig Überraschendes dabei herausgekommen. Es gab einfach zu
wenig, von dem ich damals überrascht oder gar entgeistert gewesen wäre. Ich war
eben noch sehr jung.
Wie hätte ich, frage ich mich manchmal, als junger Mann auf Gedanken zum ersten
Jahrhundertviertel reagiert, wie sie hier aufgeschrieben sind? Das Meiste wäre mir
ziemlich abwegig erschienen, und sicher auch den meisten anderen. Insofern hat es
in den letzten 50 Jahren doch kleine Bewusstseinsfortschritte gegeben, nicht nur bei
mir. Allein in der Entgeisterung, wie Hauser sie mir nach und nach vermittelt hat,
liegt schon viel Fortschritt.
Auch Hausers Entgeisterung über die Politik westlicher Staaten hat sich wohl erst
beim Abfassen seiner Aufzeichnungen ganz entfaltet. Je näher er dem Ende seiner
beruflichen Neutralitätspflicht kam, desto freieren Lauf wird er seinen kritischen
Gedanken gelassen haben. Er gehört nicht zu denen, die in Staatsmännern wie
Adenauer, de Gaulle, Kennedy, Brandt oder Schmidt seither unerreichte Vorbilder
90
sahen, und doch verkörperten die Spitzenpolitiker seiner Zeit für ihn einen
Niedergang der politischen Kultur. Mit den Bushs, Blairs, Berlusconis und Sarkozys
habe es begonnen, schreibt er in seinen Aufzeichnungen, einer Ära notorisch
inkompetenter Politikdarsteller, die die geistige und moralische
Orientierungslosigkeit von Demokratien verkörperten, und auch wenn es einige
westliche Demokratien, darunter Deutschland, mit ihrem Führungspersonal weniger
schlimm getroffen habe, habe doch auch dort nur niedriges politisches Mittelmaß
geherrscht. Der schillernden Generation Berlusconi & Co. seien im allerbesten Fall
biedere politische Handwerker gefolgt, auch in Deutschland. Daran werde sich auch
nichts ändern, denn bei sinkendem Renommee der Politiker strebten immer weniger
herausragende junge Menschen noch politische Karrieren an. Die Qualität des
politischen Führungspersonals werde also immer prekärer, und das ausgerechnet in
einer Zeit, in der politische Führung immer mehr Kompetenz, Mut und Phantasie
erfordere. Und an anderer Stelle weiter: Die Führungsschwäche der Politik bewege
immer mehr Bürger dazu, entweder den Wahlen fernzubleiben oder ihre Stimme
Parteien zu geben, die statt politischer Problemlösungen nur diffuse
Stimmungsmache zu bieten hätten. Weil zudem die Mittelmäßigkeit des politischen
Personals den Eindruck vermittele, Politik könne eigentlich jeder, fühlten sich noch
die ahnungslosesten Bürger berufen, in solchen Parteien mitzuwirken. Auch das
ziehe das Niveau des politischen Denkens und Handelns weiter herunter.
Führungsfiguren von historischem Rang bringe eine solche politische Kultur
jedenfalls nicht hervor. Hausers Zusammenfassung: Politisch leben wir in einer Ära
verschleierter Unfähigkeit.
Für Hauser war das ausgehende erste Jahrhundertquartal in Westeuropa eine Zeit der
Stagnation von Politik und politischem Bewusstsein gleichermaßen. Ich kann mich
selbst davon nicht ganz ausnehmen. Wir waren umgeben von Krisenherden und
einem schleichenden Dritten Weltkrieg, wirtschaftlich ging es schleppend voran,
Politikmüdigkeit und Nichtwählen breiteten sich weiter aus, die etablierten Parteien
verloren zunehmend Wähler an Rechtspopulisten oder wurden selbst populistischer,
91
die Entwicklung der EU war in einer Sackgasse, und die soziale Ungleichheit nahm
weiter zu. Trotzdem verharrte das politische Bewusstsein in unserem Teil der Welt in
schlafwandlerischer Selbstgerechtigkeit. War das die neue und, wie Hauser sie
nannte, unheimliche Normalität, auf die wir uns für lange Zeit einzustellen hatten?
Nach Hauser ließe die Demokratie nichts anderes erwarten. Eine der Schwächen der
Demokratie sei, dass sie sich mit der Überwindung alter Dogmen systematisch
schwertue, nicht nur beim Dogma der territorialen Integrität. Aber Hauser sah auch
dies mit der denkbar größten Nüchternheit. Die Schuld an der politischen Stagnation
trügen nicht, wie es in politischen Debatten immer wieder suggeriert werde, einzelne
Politiker. Als Diener des Systems könnten diese nur in den Mechanismen des
Systems denken und handeln, und diese Mechanismen ließen ihnen wenig
Spielraum. Die Grenzen persönlicher Schuld seien daher gerade in demokratischer
Politik sehr eng gesteckt. Aber selbst damit hatte Hauser sich vom politischen
Bewusstsein seiner Zeit ziemlich weit entfernt. Die Unheimlichkeit der politischen
Normalität spürten nur Wenige.
Es gibt einen Politikernamen, der an dieser Stelle unbedingt genannt werden muss:
Karl-Theodor zu Guttenberg. Als Studenten verbanden wir mit diesem Namen kaum
eigene Erinnerungen, aber in Grafs letzten Vorlesungen spielte er eine wichtige
Rolle. Guttenberg, so Graf, war genau der Mann gewesen, der den Anschein hätte
wahren können, mit der deutschen Demokratie könne es so weitergehen wie bisher.
Der Mann also, der noch einmal die Illusion hätte nähren können, dass Politik
eigentlich ganz leicht sei. Der Mann, der selbst unüberwindbar erscheinende
Schwierigkeiten mit unnachahmlicher Selbstverständlichkeit weglächelte und damit
jeden Zweifel an der Stärke der Demokratie im Keim erstickte. In wirklich
schwierigen Zeiten, so Graf, werde auch im demokratischen Deutschland
irgendwann der Ruf nach einer starken Führungsfigur laut werden, z.B. einer
deutschen Le Pen, und dann müsse Deutschland dankbar sein, wenn sich stattdessen
ein Guttenberg anbiete.
92
Als ich Hauser einmal davon erzählte, schloss er an Grafs Gedanken ganz spontan
an. Im Grunde habe schon Berlusconi in diese Politikerkategorie gehört, als eine Art
Guttenberg der kulturellen Unterschicht, aber auch die Renzis, Tsipras, Orbáns &
Co. gehörten dazu, zu den Politikern also, die ihren Dilettantismus und ihre
Überforderung mit Elan, Charisma und Rhetorik geschickt überspielten. Gerade in
schwierigen Zeiten werde die Demokratie immer wieder solche Figuren
hervorbringen, und der Zufall würde darüber bestimmen, aus welchem politischen
Lager sie erwüchsen. Auch Deutschland, sagte Hauser, werde irgendwann seinen
linken oder rechten Guttenberg erleben, und vielleicht werde sich sogar der
leibhaftige Karl-Theodor in der Politik zurückmelden. Das sei schon deswegen nicht
unwahrscheinlich, weil Berufspolitiker, die unfreiwillig oder freiwillig aus der
Politik ausschieden, sehr bald merkten, dass sie außer Politik nicht viel anderes
könnten und - abhängig geworden vom Gefühl der eigenen Wichtigkeit - nicht viel
anderes wollten. Insofern sei es, so Hauser, keineswegs ein Glück für Deutschland
gewesen, dass Guttenberg seine politische Karriere wegen der Schummeleien bei
seiner Doktorarbeit hatte abbrechen müssen. Das dicke Ende komme noch.
So viel zur politischen Bewusstseinslage in Deutschland. Aber welches politische
Bewusstsein herrschte anderswo in der Welt? Wie weit waren globale
Gemeinsamkeiten in der politischen Zivilisierung gediehen? Natürlich hoffte man im
Westen noch immer, dass der Rest der Welt zum westlichen Stand der politischen
Zivilisierung weiter aufschließen werde. Selbst damit aber, so beschreibt es Hauser,
wäre noch wenig gewonnen. Denn damit würde der Rest der Welt ja genau die
Dogmen übernehmen, die für den schleichenden Dritten Weltkrieg und andere
Katastrophen ursächlich seien.
Aber der Stand der politischen Zivilisierung war natürlich von Land zu Land und
auch innerhalb von Ländern höchst unterschiedlich. Auch die innerstaatlichen
Entwicklungsunterschiede waren damals wie heute nach Generationen und teilweise
sogar nach Jahrhunderten zu bemessen, was es u.a. unmöglich machte, mit rationalen
Argumenten demokratische Wahlen zu gewinnen. Und wie schwer eine rationale
93
Verständigung zwischen Staaten sehr unterschiedlicher politischer
Zivilisierungsniveaus sein kann, das hat sich auch in den gewaltsamen Konflikten
des frühen 21. Jahrhunderts gezeigt.
Am größten war das Gefälle der politischen Zivilisierung natürlich im Verhältnis zu
islamistisch geprägten Staaten. Es spielt kaum eine Rolle, ob man hierbei die
politische Gewaltbereitschaft von Islamisten mit dem Bewusstseinstand christlicher
Kreuzzügler oder von Akteuren der beiden ersten Weltkriege vergleicht, ob man also
den Zivilisierungsrückstand nach Generationen oder Jahrhunderten bemisst. In jedem
Fall erfordert der politische Umgang mit solchen Entwicklungsdiskrepanzen einen
zeitlichen Denkhorizont, der demokratischen Politikern fremd ist.
Auch in Hausers Aufzeichnungen finden sich einige Anmerkungen zum politischen
Bewusstsein von Islamisten. So zitiert er z.B. einen algerischen
Fußballnationalspieler, der im Sommer 2014 vor der Weltöffentlichkeit bekundete, er
und seine Mitspieler hätten bei einem Weltmeisterschaftsspiel „für alle Muslime der
Welt“ gekämpft. Es sei natürlich besser, schreibt Hauser, Religionskämpfe würden
symbolisch auf dem Fußballfeld ausgetragen als mit Waffengewalt, aber eine solche
Äußerung könne doch so verstanden werden, dass sich im Sport ein globaler
Religionskampf fortsetze. Man dürfe sich nicht wundern, wenn die Reaktionen
hierauf nicht gerade auf hohem zivilisatorischem Niveau lägen. Die
Auseinandersetzung mit dem politischen Islam lasse daher auch den Westen in der
politischen Zivilisierung zurückfallen. Nicht der Islam an sich, aber doch der
politische Islam stehe daher der politischen Zivilisierung der Welt im Weg.
Aber würde auch der politische Islam womöglich doch ein kurzlebiges
Bewusstseinsphänomen sein? War das nach dem Zusammenbruch des Sozialismus
ausgerufene globale Ende der Geschichte vielleicht doch nur um eine oder zwei
Generationen verschoben? Setzte die Welt nicht doch zum Endspurt der politischen
Zivilisierung an, in den sich auch die noch rückständigen Teile der Welt bald
einfinden würden?
94
Hausers Antwort war natürlich ein klares Nein. Allein die anhaltenden Kriege und
Bürgerkriege um Staatszugehörigkeiten und Staatsgrenzen, schrieb er, straften solche
Erwartung Lügen. Fortschritte in der politischen Zivilisierung sehe er bestenfalls im
Schneckentempo kommen. Seine einleuchtende Begründung: Die politisch leidlich
zivilisierten Staaten hätten einen immer geringen Anteil an der Weltbevölkerung.
Diese Staaten würden daher auch in der Weltpolitik eine immer geringere Rolle
spielen, zivilisatorisch weniger entwickelte Staaten dagegen eine immer größere. Im
Weltdurchschnitt gesehen werde es schon deswegen mit der politischen Zivilisierung
eher bergab gehen.
Ich fragte ihn noch, was das für das Selbstbestimmungsrecht von Bürgern über ihre
Staatszugehörigkeit und über Staatsgrenzen bedeute.
Natürlich nichts Gutes, sagte er.
Und dann überraschte er mich mit einem Gedanken, den ich zwar nicht auf Anhieb
verstand, der mir später aber als einer der wichtigsten politischen Gedanken meiner
Lebenszeit erschien: Die so empfundene Kälte des globalen Kapitalismus werde bei
immer mehr Menschen ein Bedürfnis nach stärkeren politischen
Gemeinschaftserlebnissen entstehen lassen, wozu auch die Solidarität in erstarkten
staatlichen Solidargemeinschaften gehöre. Umso wichtiger werde dann aber auch die
Freiheit werden, über die Zugehörigkeit zu solchen Gemeinschaften selbst zu
entscheiden.
Hauser sah, wie ich mich mühte, diesem Gedanken zu folgen.
Es möge altmodisch klingen, sagte er dann, für manche sogar reaktionär, aber eine
passendere Formulierung falle ihm dafür nicht ein: Im globalen Kapitalismus müsse
der Staat mehr denn je politische Heimat sein.
Mit Nationalismus und Patriotismus im alten Sinne, sagte er schließlich noch, habe
das aber nichts zu tun.
Konkret vorstellen konnte ich es mir in diesem Moment noch nicht, aber ich war erst
einmal beruhigt.
95
2025 - 2049 Hilflose Demokratie, Neues Denken
Parteienzuwachs
Der Paukenschlag zum Auftakt des ersten Jahrhundertquartals war der Anschlag auf
das World Trade Center gewesen, der Auslöser des Weltkriegs gegen den Terror, der
ein Teil des schleichenden Dritten Weltkriegs war. Das zweite Jahrhundertquartal
begann weniger aufsehenerregend. Nach der Jahrtausendwende war die Welt aus
dem schönen Traum gerissen worden, mit der Vorherrschaft von Demokratie und
Marktwirtschaft sei die Zeit ewigen Friedens und Wohlstands angebrochen. Dieser
Traum war ausgeträumt, und die Erwartungen waren gedrückt.
Statt mit einem Paukenschlag begann das zweite Jahrhundertquartal mit einem lang
anhaltenden Trommelwirbel, der die Krisen der Zeit wie in einem großen politischen
Welttheater aneinanderreihte. Aber man täte diesem zweiten Jahrhundertquartal
Unrecht, wenn man nicht auch anerkennte, dass die Demokratie in dieser Zeit ihre
beste Phase erlebte. Es gab Ausnahmen, es gab China, es gab noch Nordkorea, es
gab muslimische Gottesstaaten und Emirate, es gab gescheiterte Staaten ohne
etablierte Staatsordnung, es gab noch einige wenige bekennende Autokratien, aber
immer weniger Staaten bekannten sich noch offen dazu, keine Demokratie im
üblichen Sinne zu sein. Zumindest dem Schein nach orientierten sich mehr Staaten
denn je am Beispiel westlicher Demokratien. Spätere Historiker dürften den Zenit
der modernen Demokratie auf das frühe zweite Quartal des 21. Jahrhunderts datieren.
Keine der Krisen, die das erste Jahrhundertquartal geprägt hatte, war zu Beginn des
zweiten Quartals wirklich gelöst, einige Konflikte waren mit militärischen und
diplomatischen Mitteln vorerst eingefroren worden, aber fast alle schrieben sich in
den Anfängen des zweiten Quartals neu in die Weltgeschichte ein. Der schleichende
Dritte Weltkrieg brachte sich in vielen Krisenherden in Erinnerung. Eine neue
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Intifada in Palästina, opferreicher als alle bisherigen. Ein wieder aufflammender
Bürgerkrieg im Norden Nigerias. Gewaltsame Konflikte zwischen Religionsgruppen
in Indien. Terror in Pakistan. Brutale Unterdrückung von Widerstandsbewegungen in
Ägypten, Algerien, den Golfstaaten, im Iran und anderswo. Fast die gesamte
arabische Welt war weiterhin ein Pulverfass, und das würde, so schien es, zumindest
eine weitere Generation so lang bleiben. Die Staatsgrenzenfrage war noch unendlich
weit von einer Friedenslösung entfernt, viele Millionen Vertriebene sannen weiter
auf Rückkehr und Rache. Die Flucht des jordanischen Königs aus dem eigenen Land
war ein neues Menetekel für die gesamte arabische Welt. Erstmals formierte sich
eine staatenübergreifende gesamtkurdische Bewegung in der Türkei, im Iran und auf
den früheren Staatsgebieten des Irak und Syriens. Die Türkei spielte sich als die neue
führende Ordnungsmacht des Nahen Ostens auf, mit den gleichen zynischen
Methoden wie die einstmaligen Supermächte in Zeiten des kalten Krieges, mit
militärischer Unterstützung also auch für unzivilisierteste Rebellen und Autokraten.
Viele westliche Demokratien, besonders natürlich in Europa, wurden von wieder
anschwellenden Flüchtlingsströmen bedrängt, was immer stärkere Bürgerproteste zur
Folge hatte. Gescheiterte Staaten Afrikas wie Somalia, Libyen und andere hatten ihre
Lage kaum verbessert.
Die Schwäche vieler Demokratien ließ mafiöse Organisationen stärker werden denn
je, in Mexico, Südamerika, Italien, Russland, der Ukraine und vielen anderen Staaten
der Welt, und sie ließ weitere staats- und rechtsfreie Regionen innerhalb
funktionierender Staaten entstehen. In großen Teilen der Welt waren
Geldkapitalbildung und Verschuldung wieder außer Kontrolle und standen die
Finanzmärkte wieder am Rand des Kollapses. Vor die Wahl gestellt zwischen Crash
und Langzeitkrise, entschieden die Regierungen und großen Zentralbanken der Welt
sich abermals für Letztere. Die strukturschwachen Staaten des Euroraums
schlingerten weiter in wirtschaftlicher Stagnation. Die Europäische Zentralbank
kämpfte immer noch einen verzweifelten Kampf, um diesen Staaten mit lockerem
Geld aus der Krise zu helfen. Die Finanzmärkte wetteten wieder auf ein
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Auseinanderbrechen der Euro-Zone, aber die EZB setzte dem abermals mit einer
bedingungslosen Garantieerklärung für die Krisenstaaten des Euroraums ein
vorläufiges Ende. EZB und europäische Regierungen präsentierten der Öffentlichkeit
die schwelende Dauerkrise als das immer noch kleinstmögliche Übel und damit als
Erfolg. Noch wollte die Mehrheit der Bürger ihnen glauben.
All dem zum Trotz stand die westliche Demokratie in ihrem Zenit. In der
Demokratie gehe eben alles langsam, sollte Hauser später sagen, sehr langsam sogar,
und wenn sie untergehe, werde auch das sehr langsam geschehen, so langsam, dass
die Menschen es nicht einmal als Untergang wahrnehmen. Oberflächlich gesehen
war in der westlichen Welt die Lage zu Beginn des zweiten Quartals tatsächlich
unauffällig, auch in Europa. Sicher, es gab neue gewalttätige Unruhen in
französischen Migrantenvorstädten, in England und anderswo in Europa, aber daran
hatte die Mehrheit der Bürger sich fast schon gewöhnt. Die Franzosen reagierten mit
der Wahl einer rechtsextremen Präsidentin, die gegen die Krise aber außer
unversöhnlicher Rhetorik nichts aufzubieten hatte.
Wenn man genau hinhörte, war aber auch im demokratischen Westeuropa der
politische Trommelwirbel wahrnehmbar, auch wenn er sich aus großenteils leisen
Einzeltönen zusammensetzte. Die Parteiensysteme in den meisten Staaten waren
weiter zerbröselt, und mit Ausnahme von Großbritannien war die Bildung von
Regierungskoalitionen immer unberechenbarer geworden und das Wählen für die
Bürger damit immer mehr zum Lotteriespiel. Die Wahlbeteiligung ging fast überall
weiter zurück, teilweise sogar dramatisch, in immer mehr Ländern bis weit unter
50%. Fast überall gründeten rhetorisch begabte Charismatiker neue politische
Parteien, darunter - zuerst in Deutschland - die Parteien der Lesben und Schwulen,
die für ein immer noch anerkennungsbedürftiges Lebensgefühl standen, aber umso
weniger für konkrete politische Inhalte.
Ein wichtigeres Ereignis war die Gründung der ersten muslimischen Parteien.
Muslimisch Soziale Union – MSU, diese Namensgebung der muslimischen Partei in
Deutschland war ein geschickter Schachzug. In der Bundestagswahl 2029 verfehlte
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sie mit 3,5% noch deutlich den Einzug in den Bundestag, aber ihr langfristiges
Stimmenpotential lag natürlich deutlich höher. In den Altparteien begann man, die
Koalitionsmöglichkeiten nach einem eventuellen Einzug der MSU in den Bundestag
auszuloten. Die Schlussfolgerungen waren niederschmetternd. Dass die MSU schon
damals bei renommierten Verfassungsrechtlern Gutachten bestellt hatte, die die 5%Hürde für muslimische Parteien für verfassungswidrig erklären würden, wusste in
den Altparteien noch niemand.
Die AfD, die Alternative für Deutschland, hatte schon lange vorher das Schicksal
vieler populistischer Parteien ereilt, die Selbstzerstörung durch innere Spaltung. Ihr
Gründer Bernd Lucke, der sich mit vergleichsweise seriösen Anliegen in das
Abenteuer der Parteigründung gestürzt hatte, gestand am Ende ein, die Mechanismen
im demokratischen Parteienwesen gründlich verkannt zu haben. Aber mit der
Marginalisierung der AfD, die sich Bernd Luckes entledigt hatte, war die deutsche
Parteienlandschaft keineswegs bereinigt. Als das Scheitern der AfD besiegelt war,
gründeten sich die Deutschen Demokraten. Sie machten alles richtig, was der
Gründer der AfD falsch gemacht hatte. Sie überstürzten nichts, sie nahmen nur
Mitglieder auf, die sich in ihren Zielen und Vorurteilen weitgehend einig waren und
ebenso in der Unterstützung ihres Vorsitzenden: Karl-Theodor zu Guttenberg.
Schon in den ersten Umfragen nach der Parteigründung lagen die Deutschen
Demokraten bei 8%. Wieder loteten die Altparteien die theoretischen
Koalitionsmöglichkeiten aus. Die Lage war verzweifelter denn je.
Aber erst einmal zurück zu Hauser, ohne dessen Beistand ich bei diesen Ereignissen
die politische Orientierung wohl vollends verloren hätte. Viele von Hausers
Erklärungen zum politischen Geschehen waren mir allerdings noch immer nicht auf
Anhieb klar, und vieles hätte ich nicht einmal wiedergeben können, so geduldig er es
mir auch erklärt hatte. Anders wurde es erst in den späten zwanziger Jahren. Bei
einem Gespräch mit einem Studienfreund merkte ich plötzlich: Jetzt redest du ja fast
wie Hauser. Ich hatte dem Freund von Hausers Gedanken zum Staatsgrenzenproblem
erzählt. Er meinte, das sei doch altes Denken. Es gehe doch nicht mehr darum, wie
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Staatsgrenzen zu korrigieren seien, das Ziel müsse doch sein, Staatsgrenzen
überflüssig zu machen.
Ja, sagte ich, das könne so sein, aber was tun in den tausend Jahren, bis es so weit
ist?
So ähnlich hätte Hauser es sagen können. Es war ein gutes Gefühl. Ich spürte: Ich
kann schon argumentieren wie Hauser, ich muss mir Argumente wie die seinigen
nicht mühsam abringen. Jetzt kommen sie mir auch spontan.
Hauser war ein Chef, wie man ihn sich nur wünschen kann, vor allem seinetwegen
habe ich die Arbeit im Archiv fast immer gemocht. Der Gedanke „nur“ - wie ich es
zu Anfang empfunden hatte - ein Archivar zu sein, war nach zwei Jahren
Archivarbeit längst verflogen. Aber soll man deswegen keine neuen
Herausforderungen suchen? Will man deswegen, wie Hauser, den allergrößten Teil
seines Berufslebens in ein und demselben Archiv verbringen? Das waren noch
unfertige Gedanken, aber Hauser erahnte sie. Als wir einmal gemeinsam vor einem
Monitor mit den Tücken der Archivsoftware kämpften, sagte er: "Man kann natürlich
auch mit anderer Arbeit glücklich werden."
Ein paar Monate später zeigte ein Freund mir das Stellenangebot der A-E-B-Stiftung,
einer neuen parteinahen Stiftung in Berlin. Auch dabei ging es um Archivarbeit, aber
nicht nur. Das Ganze würde also vielseitiger sein, dachte ich, und lebensnäher. Ich
schickte eine Mail, bekam rasch eine vielversprechende Antwort, kurz danach die
Einladung zum Vorstellungsgespräch. Auf der Fahrt nach Berlin
Aufbruchsstimmung. Dann das Gespräch, mit Leuten, dachte ich, mit denen sich gut
auskommen ließe.
Eine Woche später die Einladung zu einem zweiten Gespräch. Wieder war die
Stimmung gut, diesmal bekam ich ein konkretes Angebot. Ich hätte natürlich darauf
vorbereitet sein sollen, aber ich war es nicht. Ich dankte höflich und versprach, mich
bis zum nächsten Morgen zu entscheiden. Auf der Rückfahrt tauschte ich Dutzende
SMS mit meiner Freundin, alle ihre Antworten ermutigten mich. Kurz vor der
100
Ankunft in Hamburg tippte ich ein: Soll ich's so abschicken: Dank für Ihr Angebot,
das ich sehr gern annehme? Ihre Antwort: Genehmigt.
Am nächsten Morgen bei Hauser das kleinlaute Bekenntnis, das ich gehen wolle.
Aber bei Hauser keine Spur von Enttäuschung, auch kein Wort, um mich zum
Bleiben zu bewegen. Hatte ich das vielleicht doch erwartet? Vielleicht darauf
gehofft? Er hatte mich und meine Arbeit immer geschätzt, und nun kein einziges
Wort des Bedauerns, nur dieser klare, offene, bejahende Blick. Ob er mir zu dem
Wechsel wirklich rate, fragte ich ihn dann doch, und seine typische Hauser-Antwort
war: Du könntest vom Regen in die Traufe kommen, aber auch das wäre eine
unschätzbare Erfahrung.
Wer war die A-E-B-Stiftung? Hauser, das offenbarte er mir kurz danach, wusste
mehr darüber als ich. Um Mitarbeiter warb die A-E-B mit dem Slogan
„Überparteilich für Deutschlands Parteien“. Parteinahe Stiftungen hatte es natürlich
schon sehr lange gegeben, jede der größeren Parteien hatte ihre eigene, jede von
ihnen strikt im Dienst ihrer Partei, und lange war es ihnen blendend gegangen. Aber
in den zwanziger Jahren war es für die Stiftungen finanziell enger geworden. Mitte
der Zwanziger beauftragten schließlich die beiden größten Stiftungen fast
gleichzeitig eine Unternehmensberatung mit einer Kostenanalyse. Beide Stiftungen,
ohne es zu wissen, dieselbe Firma.
Die Feststellung der Berater: Die parteinahen Stiftungen machten zu fast 70%
überlappende Arbeit, auch wenn sie ihre Ergebnisse verschiedenen Zielgruppen
präsentierten.
Ihr Vorschlag: Lagern Sie Archive und Recherche in eine gemeinsame Organisation
aus, beschränken Sie sich dann auf die Aufbereitung von Ergebnissen in Ihrem
Sinne.
Genau so, aus schierer Geldnot, wurde es dann von den Unionsparteien und der SPD
beschlossen. Auch die Grünen wurden in das Konzept eingebunden.
Hausers bissiger Kommentar dazu:
101
- Die bestehenden Stiftungen schrumpfen zu Einrichtungen der gehobenen
Propaganda. Vor zwanzig oder dreißig Jahren hätte es darüber einen Aufschrei
gegeben, aber in eurer Generation nimmt man das ja gelassener.
Und dann, im Ton respektvoller:
- Warum sollte man sich auch über scheinbar Unabwendbares aufregen?
Ob er denn wirklich meine, fragte ich dann, dass die Arbeit bei der A-E-B für mich
eine unschätzbare Erfahrung sein würde.
- Auf jeden Fall, sagte er.
Am vorletzten Arbeitstag saß ich mittags allein in der Cafeteria. Jemand legte die
Hand auf meine Schulter. Ich drehte mich um, sah das befreite Lächeln von
Constanze.
Ob dies mein vorletzter Tag sei, fragte sie. Und ob ich wirklich zu dieser Stiftung
nach Berlin ginge.
- Ja, sagte ich.
Nur dieses peinliche, einfallslose Ja, sonst nichts. Constanze, die Cramer, hatte die
Hand auf meine Schulter gelegt, mich befreit angelächelt, sich neben mich gesetzt,
wollte mit mir reden, und mir fiel nichts anderes ein als ein Ja.
Sie ließ mich endlose Sekunden warten, dann sagte sie;
- Warst ein sehr guter Kollege. Das weißt du.
Dann folgte ein langer, schnell gesprochener Monolog, als müsse sie sich beeilen,
um mir, solange ich noch da bin, sagen zu können, was dringend zu sagen war. Sie
habe gehofft, sagte sie, ich würde noch eine Zeit bleiben, aus demselben Grund, aus
dem sie selber bisher geblieben war, wegen Hauser. Sie habe von Hauser bei Weitem
nicht alles gelernt, was man von ihm lernen könne, aber sie wisse, dass er mir
gegenüber offener und mitteilsamer gewesen sei, insofern sei ich ihr ein Stück
102
voraus, vielleicht sei ich deswegen schon jetzt bereit für Neues. Und ob ich wisse, an
wen Hauser sie erinnere, natürlich an Graf, und ob auch ich manchmal noch an die
Sache mit der Generation Sichtflug dächte. Darüber habe sie oft nachgedacht in den
letzten Jahren, und inzwischen sei sie ziemlich sicher, dass Hauser in dieser Sache
ganz ähnlich denke wie Graf. Irgendwann, vielleicht schon in zehn oder zwanzig
Jahren, solle über diese unsere Generation einmal ein Buch geschrieben werden, und
ob ich mir so etwas zutraute. Wir, sagte sie dann, sie und ich, seien beide nicht
gerade typische Exemplare dieser Generation, was wir zum Teil Graf zu verdanken
hätten, aber natürlich auch Hauser, und gerade deswegen sei ich möglicherweise der
Richtige, um später einmal solch ein Generationenporträt zu schreiben. Wenn ich
Hilfe dabei brauchte, könne sie versuchen zu helfen.
Ich war verblüfft, geschmeichelt, geängstigt, eingeschüchtert, verlegen, alles
zugleich, aber Constanze sah mich nur mit geradem, unaufgeregtem Blick an.
Wer weiß, sagte ich nach einer Weile, aber so etwas sei in meiner Lebensplanung
bisher nicht vorgesehen.
In ihrer auch nicht, sagte sie, aber Generation Sichtflug sei doch schon einmal ein
schöner Buchtitel.
Ich war überwältigt von diesem Monolog, der mich den immer noch leicht
irritierenden Klang ihrer Stimme völlig überhören ließ. Constanze, die Cramer, der
ich mich immer unterlegen gefühlt hatte, der ich nie ebenbürtig sein würde, diese
Constanze und ich, wir waren jetzt Kollegen auf Augenhöhe.
Sie stand auf.
- Wir verlieren uns nicht aus den Augen, sagte sie dann, zu mir herabsehend, dann
beugte sie sich - das Unterlegenheitsgefühl flutete zurück - zu mir herunter und
umarmte mich kurz.
- Wir verlieren uns nicht aus den Augen, wiederholte sie. Versprochen?
- Ja, sagte ich. Von mir aus versprochen.
103
Als ich mich von Hauser verabschieden wollte, lud er mich - es war das erste Mal für den Abend zu sich nach Hause ein. Nur auf ein halbes Glas Bier, meine Zeit sei ja
jetzt, so kurz vor dem Umzug, sicher knapp, sagte er - wie immer in seiner freundlich
nüchternen Art, aber diesmal mit einem beinahe herzlichen Lächeln.
Hauser lebte in einer kleinen, bis an die Decken mit Büchern vollgestopften
Dachgeschosswohnung eines wuchtigen, die umliegenden Gebäude leicht
überragenden Altbaus in Eppendorf. Er habe, sagte er, fast immer allein gelebt. Das
Alleinleben sei beileibe nicht leicht, dazu wolle er niemandem raten, aber als
Alleinlebender habe man mehr Zeit zum Denken als andere, und das sei ein
unschätzbarer Vorteil.
- Und den hast du genutzt, sagte ich. Ich dachte oft, dein Vorsprung im Denken sei
uneinholbar.
Ich glaube, das Kompliment tat ihm gut. Er sagte nichts, sah mich nur abwartend an,
so ruhig, als habe er unbegrenzt Zeit für mich.
Dann führte er mich - es war Spätsommer - auf seine Dachterrasse, von wo wir weit
über die Dächer der Stadt in die tiefe Abendsonne sahen.
- Der weite Blick, sagte ich. Auch hier, zu Hause.
- Hier übe ich ihn.
- Üben musst du ihn nicht mehr.
- Doch, den zu üben ist eine Lebensaufgabe. Genau das wollte ich dir noch sagen. In
Berlin, bei deiner neuen Arbeit, wird es damit schwer werden.
Wieder so eine Bemerkung von Hauser, die sprachlos machte, die ich danach lange
vergaß, bis sie mir, fast auf den Tag genau zwei Jahre später, wieder in den Sinn
kam, als wäre es gestern gewesen.
104
In Berlin kamen unsere Zwillinge zur Welt. Danach war es mit dem weiten Blick
sowieso vorbei. Kinder sind ein großes, vielleicht das allergrößte Glück, aber auch
Glück, das lernte ich schnell, kann, wenn es zu groß wird, eine Last sein. Hauser ließ
seine Gedanken zu Hause ins Weite schweifen, meine Gedanken steckten im Alltag
fest. Wenn die Zwillinge stundenlang schrien, waren sie dann ernsthaft krank, oder
bekamen sie nur neue Zähne? Würde morgen der Durchfall ausgestanden, der
Schnupfen kuriert sein? Würden wir Eltern uns womöglich bei den Kindern
anstecken? Würde die Vertretung der Tagesmutter sie wirklich von der Krippe
abholen kommen? Würden nächste Woche die Großeltern nach Berlin kommen und
für ein paar Tage einspringen? Und wie lange würden wir, würde ich solches Leben
schadlos durchhalten, ein Leben ohne Zeit für Gedanken, wie Hauser sie dachte?
Wenig Zeit zum Nachzudenken zu haben muss aber kein Fluch, es kann auch ein
Segen sein. Es kommt auf die Umstände an. In der Zeit in Berlin war es auch ein
Segen. In die Arbeit bei der A-E-B-Stiftung fand ich schnell hinein. Alles war fast,
wie ich es erwartet hatte, kein Grund zum Grübeln also, freundliche Kollegen und
eine Arbeit, deren Sinn leicht zu fassen war. Parteinahe Stiftungen dienen Parteien,
also tat die A-E-B es auch. Ich arbeitete nun also für politische Parteien, und so
steckte ich mitten im politischen Leben der Republik. Tatsächlich lebensnäher, so
empfand ich es, als bei Hauser im Verlagsarchiv. Ich könnte vom Regen in die
Traufe kommen, hatte Hauser gesagt, aber nichts davon spürte ich. Nicht, bevor ich
Mesäcker traf.
Martin Mesäcker war achtundzwanzig, seit Schülerzeiten Parteimitglied der CDU,
hatte Jura studiert und Parteikarriere gemacht, und er hatte schon beste Aussichten
auf ein Bundestagsmandat. Rechts-, Innen- und Außenpolitiker sei er, so stellte er
sich mir vor, als er seinen kurzen Dienst im Archiv antrat. Es habe gerade so gepasst,
sagte er, dass er sechs Wochen bei der A-E-B arbeiten könne, fast ein Muss sei das
für einen Politiker, der irgendwann einmal auch in Stiftungsangelegenheiten
mitentscheiden werde. Und da er nun einmal hier sei, wolle er auch kurz ins Archiv
hineinschnuppern. Ich merkte mir: Mesäcker, der Schnupperer.
105
Aber Mesäcker war auch ein begnadeter Rhetoriker. Einer, der zu fast allen
politischen Themen eine Meinung hatte, zu allem, gefragt oder nicht, seine Meinung
kundtat und dabei alle in Grund und Boden reden konnte. Ein Meister der
rhetorischen Improvisation. Ein Sprechblasenartist, so nannte ihn ein Kollege, einer,
der gelegentlich originell formuliere, aber nie mit einem originellen Gedanken
aufgefallen sei und es auch nie tun werde. In Sachen Mesäcker war dieser Kollege,
ein Sympathisant der Grünen, parteiisch, aber er hatte Recht. Behalte den Mesäcker
im Auge, sagte er, der wird große Karriere machen. Danach war ich dankbar,
Mesäcker kennengelernt zu haben. Es half mir, das Geschäft der Politik zu verstehen.
Der Kontakt zu Hauser war schon zu Beginn meiner Berliner Zeit abgebrochen, aber
darüber machte ich mir keine Gedanken. Natürlich gab es - auch in Berlin lag die
Kopie seiner Aufzeichnungen zuhause immer auf meinem Schreibtisch - kurze
Momente, in denen ich an ihn dachte, aber ich vermisste ihn nicht. Ich hatte ja nicht
einmal Zeit dafür. Bis ich, nach fast zwei Jahren, an einem Herbstsonntag, wir waren
zurück von einem Kurzurlaub an der Ostsee, die Post durchsah. Obenauf eine
Ansichtskarte mit Alpenpanorama. Die Rückseite eng und schwer leserlich
beschrieben. Hausers Schrift! In diesem Moment lebte alles wieder auf, waren die
Gedanken wieder genau da, wo sie bei der letzten Begegnung mit Hauser gewesen
waren.
Hauser machte Urlaub in einer Almhütte in Tirol. Für den Urlaub, schrieb er, suche
er sich Orte, an denen man einen klaren Kopf bewahrt, und dieser sei so einer. Ein
paar klare Gedanken seien ihm oben auf der Alm schon gekommen, und vielleicht
der wichtigste von allen sei: Ich könnte einmal sein Nachfolger werden.
Verlier es nicht aus den Augen, stand darunter.
Ich las diese Sätze ein Dutzend Mal. Nichts hätte mich mehr überrascht, nichts mehr
erschreckt, nichts hätte mich mehr gerührt. Es war typisch Hauser. So kurz und
knapp und klar formuliert, aber wenn ich darüber nachdachte, waberte eine
Gedankenwolke durch den Kopf. War, was er mir schrieb, eine Prognose? War es
106
eine Warnung? War es ein Auftrag? Und was meinte er eigentlich mit „Nachfolger“?
Nachfolger in seiner Art zu denken? Oder womöglich Nachfolger als Archivleiter?
Oder beides? Er hätte es mir sagen oder er hätte es mir mailen können, dann wäre es
eine Aufforderung zum Dialog gewesen, aber nun kam es als Postkarte, und ich war
damit allein.
Schließlich schickte ich ihm eine kurze Mail: Habe mich sehr gefreut über deine
Postkarte. Wir sollten darüber reden.
Die Antwort kam - ganz untypisch für Hauser - erst acht Wochen später.
- Du wirst bald eine Einladung vom Verlag bekommen. Überleg dir gut, was du tust.
Es geht, wie gesagt, um meine Nachfolge.
Und ein paar Stunden später dies:
- Egal, was und worüber du mit wem sprichst: besser kein Wort über mich.
Am nächsten Tag ging ich zur Arbeit wie in Trance. Die Selbstverständlichkeit, mit
der ich fast zwei Jahre lang meinen Dienst bei der A-E-B getan hatte, war dahin.
Ich sollte mich um Hausers Nachfolge bewerben? Und wenn ja, wie war es dazu
gekommen? Hauser hatte doch noch ein paar Berufsjahre vor sich. War er ernsthaft
krank? Hatte er Fehler gemacht? Hatte er am Ende doch echte Feinde? Nichts davon
mochte ich mir vorstellen.
Wochen danach erfuhr ich von einem alten Kollegen die Vorgeschichte. Hauser habe
sich Freiheiten herausgenommen, die man von einem Archivleiter nicht erwartet,
auch nicht als angehendem Ruheständler. Die Verlagsleitung habe das offenbar als
Chance gesehen, sie habe ihm rasches Ausscheiden mit großzügiger Abfindung
angeboten. Viele hätten danach natürlich auf Constanze als Nachfolgerin gewettet.
"Dass du dann ins Gespräch kamst, war eine taktische Meisterleistung von Hauser."
Die Einladung des Verlags kam zwei Wochen später. Auf der Fahrt dorthin
flimmerten die Gedanken. Warum ich? Wer sonst war im Rennen? Vielleicht doch
auch Constanze? Arbeitete sie überhaupt noch im Verlag? Und wenn nicht, wäre sie,
107
eine gute Archivarin, erfahrener als ich, mir weit voraus in IT-Kenntnissen, eine
kluge Ökonomin, nicht trotzdem die Bessere? Andererseits: hatte Hauser mir nicht
immer das Gefühl gegeben, ich sei ihm mindestens so wichtig wie sie, die Cramer?
Auf der Fahrt eine Achterbahn der Gefühle. Angst, Kleinmut, Hochmut, Nervosität,
Stolz, zitternde Knie. Wollte ich die Stelle wirklich? War Hauser überhaupt damit
glücklich gewesen? Du bist noch viel zu jung. Nein, du schaffst das schon. Die
Chance deines Lebens. Nein, es könnten noch bessere kommen. Wollten wir
überhaupt weg von Berlin? Du hast nichts zu verlieren. Sei zuversichtlich. Bleib
gelassen.
Dann das Gespräch. Sie empfingen mich zu dritt, Verlagsleiter, Personalchefin,
Chefredakteur, in der obersten Etage. Ich brachte nur abgebrochene Sätze heraus.
Wollte es mit selbstbewusstem Lächeln gutmachen, auch das misslang. Warum
fragten sie so viel? Warum genügte ihnen nicht, was sie über mich, den früheren
Mitarbeiter, schon wussten? Warum diese bleiernen Mienen? Warum schaute der
Chefredakteur auf die Uhr? Wartete schon der nächste Bewerber? Am Ende dann,
alle Zuversicht war längst dahin, die Frage: Sind Sie an der Position interessiert?
Ich zuckte zusammen. Eine Routinefrage? Eine Ermutigung? Ich gab die dämlichste
aller denkbaren Antworten: „Sie werden bestimmt einen Besseren finden.“ Die Drei
sahen einander kurz an, nickten einander zu, Chefredakteur und Verlagsleiter
schmunzelten. Dann die Personalchefin: „Das glauben wir nicht.“
Ich rang nach Luft. Dann - das sagte man mir später – sah ich mit einem ansteckend
strahlenden Lächeln in die Runde. Die Personalchefin stand auf, dann die beiden
anderen, dann auch ich, dann gaben wir einander die Hand. "Herr Schmidt,…", sagte
die Personalchefin. "Ja?" "Nächste Woche bekommen Sie einen Vertragsentwurf."
Dabei drückte sie meine Hand noch eine Spur fester.
Sechs Wochen danach war ich zurück im Archiv. Es war wie eine Erlösung.
Ich war jetzt der neue Hauser.
108
Was geht wie lange gut?
Auf Hausers Aufzeichnungen stieß ich an meinem zweiten Arbeitstag als
Archivleiter. Noch heute fühlt es sich an, als sei ich damals mit schlafwandlerischer
Sicherheit auf sie zugesteuert, ohne von ihrer Existenz etwas geahnt zu haben. Aber
dieses Gefühl trügt. Es war, auch wenn ich lange nicht daran glauben mochte,
wirklich purer Zufall.
Heute weiß ich, dass ich es Hauser gleich hätte sagen sollen. Damals war ich
unsicher. Die Aufzeichnungen waren so unauffällig im Archiv platziert, als habe er
sie späteren Findern vorbehalten wollen. Würde er also irritiert sein? Würde es ihm
womöglich peinlich sein? Oder egal? Ich fand darauf keine Antwort. Nach ein paar
Tagen stand dann für mich fest: Ich sage es nicht. Ihm nicht und niemand anderem.
Vorerst.
"Versuch nicht, der neue Hauser zu sein." Das war einer von Hausers ersten Sätzen,
als wir uns wiedersahen. Ich hatte ihm Mails geschickt, Nachrichten auf die Mailbox
gesprochen, aber erst Wochen nach meiner Rückkehr ins Archiv kam eine Antwort:
Gratuliere zu allem, schrieb er, und wenn du irgendwann den Kopf wieder freier
hast, sollten wir uns treffen.
Als ich dann wieder vor seiner Wohnungstür stand, war mir, als wären seit dem
letzten Mal nur Tage vergangen. Natürlich fragte er zuerst, wie es im Archiv gehe,
und ich antwortete, ich müsse meine neue Rolle erst noch üben. Dann sagte er, ich
würde vieles neu und anders machen müssen als er. Was denn das Neue sei, fragte
ich, und er antwortete, das maße er sich nicht an zu wissen, wissen müsse ich es nun
selbst. Ich müsse es zumindest immer besser wissen, schränkte er dann ein, und dann
kam dieses: Versuch nicht, der neue Hauser zu sein. Wieder so ein Hauser-Satz zum
Nachdenken. Eine Mahnung, natürlich, und vielleicht eine Warnung, dass man auch
als Archivleiter scheitern könne. Aber es bedeutete auch: Von nun sei ich nicht mehr
der junge Unerfahrene, der sich auf ihn verlasse, ich, Matthias Schmidt, würde nun
ebenso eigene Wege gehen wie er früher. Und dann sagte er: "Du wirst viel mehr
109
kämpfen müssen, als ich es tun musste." Aber ich war noch zu naiv, um wegen
solcher Äußerung besorgt zu sein.
Am Ende des Gesprächs fragte ich, ob er sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem
Verlag nicht bedaure. "Nein" sagte er, "es war eine befreiende Niederlage." Wieder
so ein fordernder Hauser-Satz. Ja, bedeutete es, sein Ausscheiden sei eine Niederlage
gewesen, er habe sich tatsächlich unbeliebt gemacht, aber letztlich sei es eine
Befreiung. "Ich bin ein freierer Mann denn je", sagte er, "und ich kann freier denken
denn je." Und nach einer kurzen Pause: "Und ich tue es."
Er sah mich an, als erwartete er einen Kommentar, aber was hätte ich antworten
sollen?
- Wer, fuhr Hauser dann fort, wenn nicht Pensionäre, ist in diesen Zeiten frei im
Denken? Und wer, wenn nicht Pensionäre, soll in diesen Zeiten Neues denken?
- Politisch, meinst du.
- Ja, natürlich. Den Jüngeren ist die Zeit für freies Denken zu knapp geworden.
- Also die Rentnerrevolution?
Hauser lachte auf, lauter und tatsächlich befreiter, als ich es früher bei ihm erlebt
hatte.
- Darauf war ich noch nicht gekommen. Schöner Gedanke.
Ich ging beschwingt nach Hause. Oder, kam mir unterwegs in den Sinn, zählte er
auch mich zu den Jungen, die sich nicht die Zeit für unabhängiges Denken nehmen?
Zählte er mich also zu der zukunftsblinden Generation Sichtflug, mit der Graf so
verbittert abgerechnet hatte? Und wenn ja, war ich dann nicht wenigstens als Vater
noch nicht einmal zweijähriger Zwillinge vorübergehend entschuldigt? Aber egal.
Viel wichtiger war, dass Hauser nun - nicht mehr als Chef, sondern als Freund und
mit altersweisem Widerspruchsgeist - wieder Mentor für mich würde sein können
Genau so ist es dann gekommen, und so ging es bis weit ins zweite
Jahrhundertviertel hinein. Auch meine Gedanken über diese Zeit wurden von langen
110
Gesprächen mit Hauser geprägt und von spontanen Einfällen, die er mir oft in kurzen
Mails erläuterte.
Ich fange hier an mit einem Gedanken, genauer: einer Frage, die Hauser in diesen
Jahren besonders am Herzen lag. Was geht in der politischen Welt wie lange gut?
Wie lange können welche politischen Regimes sich noch halten? Wie lange können
welche Regeln der Politik noch funktionieren? Wie lange kann die politische
Landkarte bleiben, wie sie ist? Wie stabil ist unser Land, wie stabil ist unser Staat?
Wie stabil ist die Staatsordnung, die wir die demokratische nennen? Wie stabil sind
andere Staatsordnungen? Wie stabil also ist unsere Welt, politisch gesehen? Und
wann werden welche Veränderungen in welchen Teilen der Welt unabwendbar?
Gelegentlich fragte er mich hierzu nach meiner Meinung. Zum Beispiel: Wie lange,
meinst du, kann sich das kommunistische Regime in Nordkorea noch halten, wie
lange das Regime in Kuba, wie lange das in China? Natürlich hatte ich darauf keine
spontanen Antworten parat, und natürlich hatte Hauser selbst in solchen Fällen
zumindest plausible Vermutungen. Wer hätte vor vierzig Jahren gedacht, fragte er,
dass heute immer noch kommunistischen Parteien an der Macht sein würden? Und
wie viel Zeit bleibt ihnen noch?
- Nicht sehr viel, sagte ich.
- Noch zwanzig Jahre? Oder dreißig?
- So viel nicht.
Hauser zögerte einen Moment, dann kam eine ausgefeilte Antwort. Nordkorea könne
man sich wie eine straff organisierte Sekte vorstellen, und man wisse ja, dass Sekten
jahrhundertelang überleben können, wie abstrusen Überzeugungen sie auch anhingen
und welche Entbehrungen sie ihren Mitglieder auch zumuteten, und das selbst in
Zeiten, in denen Sektenmitgliedern fast alle Informationen dieser Welt offen stünden.
Wenn das Regime in Nordkorea sich geschickt genug anstelle, wie die Führung einer
glaubensstarken Sekte eben, dann könne es sich noch jahrzehntelang halten.
Vorausgesetzt, sagte er, es finde sich wieder ein charismatischer Sektenführer.
111
Den Fall Kuba sah er anders. Die Kubaner, meinte er, seien nie eine solche politische
Sekte gewesen und würden es nicht werden. Trotzdem könne sich auch in Kuba die
kommunistische Staatspartei noch lange halten, wenn sie ihre politische Botschaft
dem politischen Bewusstsein der Bevölkerung anpasse. Genau das habe die
kommunistische Partei Chinas in den vergangenen 30 Jahren ja getan, und zwar mit
Erfolg, und wenn es dort vorerst so weitergehe, müsse das für China nicht die
schlechteste Lösung sein. Den Fall Kuba sehe er ähnlich. Natürlich war ich bei
solchen Szenarien ungeduldiger als Hauser, aber ich war zu unsicher, um
Widerspruch zu wagen.
Hausers breitete immer mehr solcher politischen Zukunftsszenarien aus, und kaum
ein Teil der Welt blieb davon ausgenommen. Und immer wieder staunte ich, wie viel
langsamer er kommende politische Entwicklungen einschätzte als ich. Im ersten
Jahrhundertviertel sei doch viel geschehen, wandte ich einmal ein, warum solle es
nicht so weitergehen. Darauf Hauser: Ja, es sei natürlich viel passiert, aber wenn man
genauer hinschaue, dann sei es nicht viel Neues, von neuem Leid einmal abgesehen.
Politik im ersten Jahrhundertviertel, gerade die Politik der etablierten
demokratischen Staaten, habe fast immer versucht, Verhältnisse einzufrieren, so wie
im 20. Jahrhundert beispielsweise der Zypern-Konflikt eingefroren worden sei. Das
sei nicht immer, aber doch ganz überwiegend gelungen, und alles spreche dafür, dass
es so weitergehen, dass die politischen Verhältnisse im kommenden
Jahrhundertquartal sich ähnlich zäh entwickeln würden. Gerade ich, der ich doch
nebenbei auch Historiker sei, müsse doch wissen, dass große politische
Veränderungen erst nach langen Phasen von Stagnation möglich würden und, wie
1989, dann meistens unerwartet kämen, es sei denn, eine totale Erschöpfung durch
Krieg oder Bürgerkrieg hätte den Weg für einen wirklichen politischen Neuanfang
frei gemacht. Einen solchen Erschöpfungszustand, in dem es den Menschen wie
Schuppen von den Augen falle und ihnen klar werde, was und wie viel sich ändern
müsse, sehe er nicht kommen. In Sachen Staatsgrenzen und Staatszugehörigkeit
seien die Dinge zwar ins Wanken gekommen, aber nicht wirklich voran.
112
Und dann: Was meinst du, wie lange es mit Europa, mit der EU, noch gutgeht?
- Hoffentlich noch sehr lange, sagte ich.
- Ich hoffe das nicht.
Er machte eine Pause, als wolle er meine Verblüffung genießen.
Nur Europa, sagte er dann, könnte der Welt ein Beispiel geben, wie gute Politik in
komplizierten Verhältnissen gelingen kann. Im Nahen Osten sei alles noch viel
komplizierter, aber umso wichtiger sei es, dass das Beispiel Europa keine Schwächen
zeige. Das Europa, wie es ist, habe aber große Schwächen, auch seine einzelnen
Staaten. Als Vorbild für den Nahen Osten tauge es daher noch nicht.
Wo war Hauser mit seinen Gedanken gelandet? Bei einem anderen Europa, das aus
anderen Staaten besteht?
- Denkst du jetzt in Utopien?, fragte ich.
- Kommt darauf an, was du darunter verstehst.
- Utopien sind gescheiterte Denkexperimente.
- Die alten Utopien waren es. Wir brauchen endlich bessere.
Dauerkonflikt um Staatsgrenzen
Ich war - da hatte Graf völlig Recht - in einer eher unbesorgten Generation
aufgewachsen. Die meisten von uns meinten tatsächlich, dass die Menschheit
politisch das Schlimmste hinter sich habe, auch ich, auch noch als Mitt- und
Spätzwanziger. Dann kamen die Gespräche mit Hauser. Wenig von dem, worüber
ich mit ihm diskutierte, hat mich so berührt wie seine Erklärungen zum Weltkrieg in
Etappen, dem, wie er ihn manchmal auch nannte, Jahrhundertweltkrieg, den man
auch deswegen einen Weltkrieg nennen muss, weil in ihn nicht nur Staaten mit
umstrittenen Grenzen verwickelt sind. Verwickelt sind auch intervenierende
Großmächte und all die anderen Staaten, die sich gegen oder auch für separatistische
113
Bewegungen in anderen Ländern engagieren, darunter damals Russland, die USA,
einige Golfstaaten, der Iran und europäische NATO-Staaten, und auch die UNO und
alle Carl Bildts dieser Welt. Auch nach meiner Rückkehr aus Berlin haben Hauser
und ich darüber oft diskutiert.
Am bis dahin schlimmsten Schauplatz dieses Krieges, dem Nahen Osten, hatten sich
die Konfliktparteien, keine von ihnen endgültig besiegt, aber alle wirtschaftlich,
militärisch und mental erschöpft, in einen Waffenstillstand gefügt. Hausers Prognose
war, dass der Dritte Weltkrieg nun eine Pause machen werde. Der Grund sei aber
natürlich nicht, dass die Staatsbürger überall in der Welt ihren Frieden mit ihrer
Staatszugehörigkeit gemacht hätten. Der Grund sei, dass die Staaten dieser Welt
entschlossener denn je für die Unveränderlichkeit ihrer Grenzen kämpften. Damit
würden sie aber nur einen Pyrrhussieg erringen.
Hauser benutzte damals mich, seinen Nachfolger, als Zuträger von
Archivinformationen. Früher, als Archivar, erzählte er mir, habe er lange versucht,
sich über die Konflikte um Staatszugehörigkeiten in der Welt auf dem Laufenden zu
halten, über offene, schwelende und latente, nun wolle er diese Konflikte nur noch so
gut wie möglich verstehen lernen. Umso dankbarerer war er, wenn ich ihm aus dem
Archiv Informationen Thema zutrug, die hierfür wichtig sein können. In unseren
Gesprächen streifte er dann immer wieder die Schauplätze realen und potentiellen
Separatismus dieser Welt, Länder also wie China, Indien, Malaysia, Indonesien,
Philippinen, Sri Lanka, Afghanistan, Russland, die gesamte Nahost-Region, den
Südsudan, Algerien, Nigeria und andere afrikanische Länder, und natürlich auch
immer wieder Schottland, Katalonien, Flandern, Südtirol, Estland und auch einige
Balkanstaaten. Selbst dort, so Hauser, seien die Fragen der Staatszugehörigkeit ja
nicht endgültig ausgekämpft.
Man könne sich doch nicht um so viele Krisenherde gleichzeitig sorgen, gab ich
einmal zu bedenken, auch nicht als engagierter Ruheständler, und er gab mir Recht.
Es sei ja aber das Wesen dieses Weltkriegs, dass er an immer anderen Orten
ausbreche oder aufflackere, und wenn die mächtigen Staaten dieser Welt sich immer
114
nur mit dem gerade akutesten Krisenfall befassten, dann sei für diesen Krieg ein
Ende umso weniger absehbar. Zu einem Ende könne er erst kommen, wenn die
Staatengemeinschaft ihn als ein Ganzes verstanden habe. Wenn ihm als Ruheständler
das halbwegs gelinge, dann ja vielleicht auch anderen.
Am meisten besorgt blieb Hauser um die Nahostregion, aber mindestens ebenso
beschäftigte ihn Indien. Dass manche tatsächlich glauben machen wollten, Indien
könne einmal so etwas wie die Schweiz Asiens werden, war für Hauser nicht nur
abwegig, er fand es skandalös. Wer etwas von Geschichte, Kultur und Wirtschaft
verstünde, müsse doch wissen, dass die Schweiz historisch, kulturell und
wirtschaftlich ein sehr besonderer Fall sei, der sich auch bei gutem politischem
Willen nicht auf andere Teile der Welt übertragen lasse. Wer dies ignoriere, der
werde - das wisse ich doch - bei Konflikten um die Staatszugehörigkeit leicht zum
politischen Brandstifter. So polemisch konnte Hauser manchmal sein, aber wenn,
dann hatte er allen Grund dazu.
Ich selbst hatte mich mit Indien bis dahin nur wenig befasst, ich wusste nicht einmal,
dass in Indien etwa 100 verschieden Sprachen gesprochen werden. Ich wusste, dass
Indien ein Vielvölkerstaat ist, aber was das für das politische Bewusstsein bedeutete,
darüber hatte ich nie nachgedacht. Nach Hauser verharrten die vielen Ethnien Indiens
politisch noch immer in einer Art postkolonialer Apathie. Irgendwann aber würden
einige von ihnen sich zu fragen beginnen, ob sie nicht als unabhängige Staaten
besser, freier und selbstbewusster würden leben können. Erst wenn der indische
Subkontinent dies durchlebt habe, könne er in seiner Entwicklung ganz allmählich zu
Europa aufschließen. Ich muss zugeben, dass ich dies damals für eine ziemlich
verwegene Spekulation hielt.
Wo Hauser dagegen Prognosen für kürzere Zeiträume anstellte, für eine, zwei oder
drei Dekaden, erschienen diese mir meistens plausibel, auch die Prognose, dass der
Dritte Weltkriegs für einige Zeit eingefroren sein werde. Auf meine Frage, wie lange
Konflikte um Staatsgrenzen sich einfrieren ließen, antwortete er, dass das vor allem
davon abhänge, wie unzivilisiert Staaten ihre Minderheiten zu behandeln wagten. Er
115
sei aber ziemlich sicher, dass das Dogma der Unverletzlichkeit von Staatsgrenzen
noch ein paar weitere Jahrzehnte das Denken und Handeln der Staatengemeinschaft
bestimmen werde. Aus dieser ideologischen Phalanx werde vorerst kein
einflussreicher Staat ausscheren. Auf lange Sicht werde aber genau das immer mehr
Bürger von ihren Staaten und von der Staatengemeinschaft entfremden, was eben
auch in Gewaltbereitschaft und Terror münden könne. Die Welt werde in Sachen
Separatismus daher weiter den Atem anhalten.
An dieser Stelle brauchte ich eine Denkpause. Wir vertagten uns auf später.
Flüchtlingsströme und territoriale Integrität
Die Flüchtlingsströme aus arabischen und afrikanischen Krisenländern hatten sich
Anfang des zweiten Jahrhundertquartals noch einmal verstärkt. In meiner Einstellung
dazu hatte ich mich nie beirren lassen: Wenn Flüchtlinge ihr Leben aufs Spiel
setzten, um dem Elend ihrer Heimtatländer zu entkommen, dann dürfe Europa sie
nicht abweisen. Die Länder Europas, die wohlhabendsten zuallererst, müssten
großherzig in der Aufnahme von Flüchtlingen sein und ganz generell großzügige
Einwanderungsländer, und zwar auf Dauer. Das Ansinnen, legale und illegale
Zuwanderung mit möglichst lückenlosen Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen
unterbinden zu wollen, entspringe niederen fremdenfeindlichen Instinkten. Ängste
vor Überfremdung und vor dem Verlust nationaler Identität, Solidarität und
Prosperität seien in diesem Zusammenhang unbegründet. Die Zuwanderer aus
Krisenländern trügen, im Gegenteil, zum nationalen Wohlstand bei, und sie
bereicherten die aufnehmenden Länder mit kultureller Vielfalt. Die großzügige
Aufnahme von Flüchtlingsströmen sei also nicht etwa nur moralisch geboten, sie sei
vielmehr in jeder Hinsicht als Chance zu sehen. So oder ähnlich musste man es
sehen, wollte man sich nicht der Nähe zu anrüchigen rechten Populisten verdächtig
machen. So sah ich es, und so sahen es alle, die sich für besonders aufgeklärte und
moralisch gefestigte Demokraten hielten.
116
Natürlich mussten wir, die moralisch Gefestigten, uns vorhalten lassen, dass
Deutschland nicht beliebig viele Flüchtlinge aufnehmen könne, so sehr
Einzelschicksale auch zu Herzen gingen, dass die Politik also gar nicht anders könne,
als Grenzen der Aufnahmebereitschaft zu setzen, notfalls mit staatlichem Zwang.
Noch sahen wir anderen diese Grenzen aber in weiter Ferne.
Es war Hauser, der mir auch in dieser Frage Neues zu bedenken gab. Vor der Not der
Flüchtlinge, sagte er, dürfe man natürlich nicht die Augen verschließen, aber ebenso
wenig vor der Not in den Herkunftsländern. Dort werde die Not noch größer, wenn
immer mehr Flüchtlinge ihre Länder verließen. Die meisten Flüchtlinge seien für ihre
Heimatländer potentielle Leistungsträger, Menschen also, die ihr Land voranbringen
könnten. Moralisch geboten sei es daher, Flüchtlinge nur für möglichst kurze Zeit
aufzunehmen und sie in dieser Zeit auf eine spätere konstruktive Rolle in ihrem
Herkunftsland vorzubereiten. Diesem Gebot sei die Flüchtlingspolitik bisher nicht
gefolgt.
Schon dieser Hinweis half mir, etwas über den Tellerrand der immer gleichen
Flüchtlingsdiskussion hinauszusehen. Viel wichtiger für mich war aber, wie Hauser
mir dann die Augen dafür öffnete, wie die Flüchtlingsdramen mit dem Dogma der
territorialen Integrität zusammenhingen. Natürlich kamen die meisten Flüchtlinge
aus Krisenländern, und natürlich war die Krise dort am schlimmsten, wo Krieg,
Bürgerkrieg und Terror herrschte, und natürlich ging es bei Krieg, Bürgerkrieg und
Terror meistens auch um Fragen der Staatszugehörigkeit und Staatsgrenzen. Es ging
darum, dass Menschen sich ihrem Staat nicht zugehörig fühlten, also einem anderen
Staat angehören wollten, sei es einem neuen oder einem schon bestehenden. Es ging
auch immer noch um die Korrektur von Staatsgrenzen und die Auflösung von
Staaten, die vor langer Zeit von Kolonial- bzw. Siegermächten willkürlich
geschaffen worden waren. Und es ging darum, dass die Staatengemeinschaft,
angeführt von den Staaten des Westens, sich solchen Ansinnen widersetzte, auch mit
militärischer Gewalt, und dass sie sich dabei auch auf das Dogma der territorialen
117
Integrität berief. So war es auch in den Herkunftsländern der meisten Flüchtlinge
dieser Zeit, in Syrien, dem Irak und den gescheiterten Staaten Nordafrikas.
Hauser formulierte es so:
- Die meisten Flüchtlinge, die nach Europa drängen, fliehen vor Problemen, an denen
europäische Staaten Mitschuld tragen. Historische und aktuelle Mitschuld.
- Dann, sagte ich, muss Europa diese Schuld auch abtragen.
- Ja, sagte er, europäische Staaten und mitschuldige.
- Aber wie?, fragte ich. Muss Europa dann nicht noch viel mehr Flüchtlinge
aufnehmen?
Hauser schüttelte den Kopf. Das, sagte er, sei eben zu kurz gedacht, auch moralisch.
Vorrangig sei etwas ganz anderes. Die Staaten des Westens müssten auf die
Herkunftsstaaten der Flüchtlinge mit einer neuen Botschaft zugehen. Mit der
Botschaft: Wir helfen euch, eure Landkarte nach euren Bedürfnissen neu zu ordnen.
Wir helfen euch, in neuen Grenzen funktionsfähige Staaten aufzubauen. Auf der
Grundlage eurer eigenen Kultur. Nur so, meinte er, ließen sich die Flüchtlingsströme
auf Dauer eindämmen.
- Aber wann, fragte ich, werden die Staaten des Westens solche Angebote machen?
- Noch lange nicht, sagte Hauser. Sie wollen es nicht, und noch könnten sie es auch
nicht.
Bis dahin hatte ich Debatten über Flüchtlingsströme aus Krisenstaaten immer
aufmerksam verfolgt, aber danach nicht mehr. Ich ertrug sie nicht mehr. Westliche
Demokratien wehrten Flüchtlingsströme ab, für die sie selbst Verantwortung trugen,
und niemand bekannte sich dazu. Die Debatten hierüber drehten sich im immer
gleichen Kreis. Man versäumte nichts, wenn man sie mied.
118
Kurze Begegnung
An Constanze dachte ich oft, wenn ich im Archiv an ihrem früheren Arbeitsplatz
vorbeikam, und manchmal kamen mir dabei Gedanken, von denen ich meinte, dass
Constanze sie besser hätte denken können als ich. Vielleicht hätte ich mich nie dazu
aufgerafft, ihr ein neues Lebenszeichen zu senden, aber dann kam eines Tages diese
schlichte Mail von ihr. Wir hätten uns ja lange nicht gesehen, schrieb sie, nächste
Woche habe sie einen Termin ganz in der Nähe des Verlags, ob ich sie auf einen Tee
treffen wolle, in ihrem früheren Lieblingsrestaurant am Kaiserkai. Natürlich wollte
ich. Vier Jahre war es her, seit wir uns zuletzt gesehen hatten, und sie würde sich
verändert haben. Wenn es bei irgendjemanden ganz sicher keinen Stillstand gab,
dann bei Constanze.
Wir trafen uns an einem frühen Nachmittag, und wir blieben bis kurz vor Mitternacht
beisammen. Wir beide waren neugierig aufeinander, und wir beide - auch sie, das tat
mir gut - ließen es einander spürten. Als Erstes hätte ich sie fragen mögen, wie sie
meine Berliner Zeit im Archiv erlebt hatte, aber bevor ich mich das zu fragen traute,
lenkte sie das Gespräch ganz von selbst darauf. Sie erzählte, wie Hauser sich in
dieser Zeit immer weniger noch als der nüchterne, neutrale Archivar gegeben habe,
fast so, als habe er unter dieser Rolle lange gelitten.
- Nein, das hat er nicht, sagte ich.
Er habe es aber sichtlich genossen, sagte sie, diese Rolle bald nicht mehr spielen zu
müssen, und vielleicht habe er es sich irgendwann zu sehr anmerken lassen. Und
dann:
- Kann es sein, dass du hast ihm gefehlt hast in dieser Zeit?
- Nein, sagte ich. Aber er hat mir gefehlt.
Jedenfalls sei Hauser ihr gegenüber immer offener geworden, fuhr sie fort, wie er es
vorher wohl mir gegenüber gewesen sei, und als sich sein vorzeitiger Abgang
119
abzeichnete, habe er mit ihr sogar offen darüber gesprochen, wie es mit Archiv denn
weiterginge.
- Über seine Nachfolge?
- Ja, auch darüber.
- Wolltest du nicht seine Nachfolgerin werden? Das hatten viele erwartet. Auch ich.
- Hauser fragte mich einmal, ob ich mir das würde zumuten wollen. Ja, zumuten. So
hat er es gesagt. Das Archiv werde nicht bleiben, was es ist, sagte er. Ein künftiger
Archivleiter werde starke Nerven brauchen, die ich zwar sicherlich hätte, aber ich
müsse sie ja nicht unbedingt im Verlagsarchiv verschleißen.
- Und dann hat er mich als Nachfolger ins Spiel gebracht?
- Er hat für dich gesprochen, weil er dich für den besten hielt.
- Den besten, um in einem Archiv mit ungewisser Zukunft verschlissen zu werden?
- Über die Zukunft des Archivs wusste auch er nichts Genaues. Vielleicht ahnte er
nicht einmal, dass es dem Verlag finanziell schlechter ging.
- Aber nur finanziell, sagte ich.
Constanze schlug die Hände vors Gesicht, dann sah sie mich mitleidig an. Du redest
von etwas, sagte ihr Blick, wovon du keine Ahnung ist, wir sollten besser das Thema
wechseln. Dann winkte sie eine Kellnerin heran und bestellte noch einen Tee.
Danach ließ ich sie erst einmal ihre eigene Geschichte erzählen. Dass sie mit ihrem
Freund eine kleine Unternehmensberatung für Datensicherheit gegründet habe, wo
sie als Frontfrau angefangen habe, was ihr nach den Jahren im Archiv aber
schwergefallen sei, nun sei sie für Werbung, Akquisition und Strategie zuständig, das
sei ja auch leichter wegen der Familie.
- Familie?, fragte ich. Kinder?
- Zwillinge.
120
- Zwillinge? Mir stockte der Atem. Du auch? Ich, wir, stotterte ich, meine Frau und
ich...
- Ihr auch?
- Ja, wir haben auch Zwillinge.
- Unsere sind gerade zwei geworden.
- Unsere sind schon drei.
- Schon drei?, sagte sie. Ja, wir waren etwas spät dran mit Kindern, mein Freund und
ich. Dann lehnte sie sich weit zurück, als wolle sie etwas sagen, das keine Nähe
verträgt, aber es kam nur ein warmherziges Lächeln.
Zwillinge sind zu selten, als dass viele Zwillingseltern andere Zwillingseltern als
Freunde haben könnten, mit denen sie über ihr Leben als Zwillingseltern reden
können. Nun saßen wir, Constanze und ich, Beinahefreunde von früher, hier als
befreundete Zwillingseltern beisammen. Die nächsten Stunden sprachen wir über
nichts anderes, und wir genossen es. Zwillingseltern haben nicht sehr viele freie
Abende im Jahr, und dass wir diesen Abend gemeinsam hatten, nahmen wir als
großes Glück.
Ich hatte mir natürlich vorgenommen, mit Constanze auch über Hausers
Aufzeichnungen zu sprechen, aber dafür blieb wenig Zeit. Erst kurz bevor wir
auseinandergingen, begann ich davon zu erzählen. Ich wünschte mir natürlich, sagte
ich, dass auch sie diese Aufzeichnungen bald lesen werde, und dann fragte ich sie
noch, ob sie es für einen Vertrauensbruch hielte, wenn ich ihr ohne Hausers Wissen
eine Kopie schickte.
- Was immer du tust, sagte sie, du kannst dich auf mich verlassen.
Am nächsten Tag schnürte ich das Paket mit den Aufzeichnungen zusammen, und im
letzten Moment legte ich noch diese kurze Notiz dazu: Letztes Gespräch mit Hauser:
Die Welt wird wegen des Separatismusproblems noch den Atem anhalten. Es bleibt
spannend. Dann brachte ich das Paket zur Post.
121
Scheidungsrecht für Staaten
Ich hatte Hauser gedrängt, unser Gespräch über das Staatsgrenzenproblem
fortzusetzen. Als wir uns wieder in seiner Wohnung trafen, meldete ich Widerspruch
an. Die separatistische Gewalt werde weitergehen, habe er gesagt, aber das, sagte ich,
gelte doch nicht für Europa. Hier seien die Zeiten separatistischen Terrors doch
hoffentlich vorbei. Nordirland, das Baskenland und Südtirol seien längst keine
Regionen des Terrors mehr, das Unabhängigkeitsstreben von Schotten und Katalanen
sei von Anfang an gewaltfrei gewesen, und der Konflikt in der Ostukraine sei
eingefroren. Zumindest in Westeuropa deute nichts auf einen Rückfall in
separatistische Gewalt hin.
Ja, bestätigte Hauser, wenigstens Westeuropa könnte vom Dritten Weltkrieg
verschont bleiben.
Aber dann, erwiderte ich selbstbewusst, könne man doch darauf hoffen, dass auch
der Rest der Welt bald so weit sein werde. Dann tue die Politik doch genau das
Richtige, wenn sie versuche, die Konflikte um die Staatszugehörigkeit erst einmal
einzufrieren. Dann brauche man nur abzuwarten, bis sie ihre kriegerische Brisanz
von allein verloren hätten.
- Aber wie lange wird das dauern?, fragte Hauser. Für wie lange müssten solche
Konflikte eingefroren werden? Hundert Jahre, zweihundert, fünfhundert, tausend?
Das sei doch illusorisch. Der Weg des Friedens könne nur der offene Umgang mit
solchen Konflikten sein, das volle Selbstbestimmungsrecht also über die
Staatszugehörigkeit.
Beinahe ebenso, erinnerte ich mich jetzt, hatte ich selbst schon einmal argumentiert,
in einem Gespräch mit Freunden, und nun brachte Hauser mich wieder auf diese
Gedankenspur. Ein bisschen hätte ich sogar Recht, sagte er dann, solange die bessere
Lösung noch nicht auf dem Tisch liege, bleibe der Politik nicht viel anderes, als Zeit
zu gewinnen. Aber diese Konflikte würden ihre Brisanz nicht von allein verlieren,
auch nicht in Europa. Sie würden, im Gegenteil, immer brisanter werden, wenn das
122
Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit weiter so überheblich verwehrt
werde. Den Katalanen zum Beispiel werde noch immer vorgehalten, sie seien noch
nie unabhängig gewesen, sie hätten schon deswegen keinen Grund, es je zu werden,
und sie dürften es ohnehin nicht, weil dies gegen die spanische Verfassung verstieße.
Mit so dürftigen Argumenten lasse der Freiheitswille von Bürgern sich auf Dauer
nicht unterdrücken.
- Also wird es irgendwann doch auch in Europa wieder Unabhängigkeitskriege
geben?, fragte ich.
Vielleicht keine Kriege, antwortete Hauser, aber ganz sicher heftige Konflikte. Wer
sich Freiheitsrechte erkämpfen wolle, der finde dafür letztlich die zu seiner Zeit und
in seinem Land passenden Mittel. Das würden in Europa sicher andere Mittel sein als
in der arabischen Welt.
- Unabhängigkeitskriege ohne Waffengewalt?, fragte ich.
- Vielleicht ohne Waffengewalt im herkömmlichen Sinn, sagte er. Europa könnte der
Welt zeigen, wie man einigermaßen zivilisiert für die Unabhängigkeit kämpft. Das
wäre dann auch das Zeichen, wie der Dritte Weltkrieg zu bändigen ist.
Nur wenig anderes scheint Hauser in seinen späten Jahren so sehr beschäftigt zu
haben. In seinem Alter müsse er sich allmählich auf das Wesentliche konzentrieren,
sagte er am Ende unseres Gesprächs, und dabei zeigte er auf seine Bücherregale. Bei
meinem ersten Besuch hatten die Bücher sich noch vor den Wänden scheinbar
ungeordnet bis zur Decke gestapelt, nun war Ordnung eingekehrt. Manche Regale
waren halb leer.
Eine private Bibliothek sei ja wie ein Archiv, war Hausers Kommentar dazu, fast
alles darin sei auf lange Sicht Ballast. Er könne den Ballast aber immer besser vom
wirklich Wichtigen unterscheiden, also könne er auch immer mehr Ballast abwerfen.
Seine Bücherregale würden sich nach und nach radikal leeren.
Bis zum nächsten Besuch bei Hauser verging dann fast ein Jahr, aber wieder einmal
war es fast, als führten wir ein Gespräch von gestern fort. Er bat mich herein und
123
zeigte mir mit stolzer Miene das einzige, halb leere Bücherregal, das noch in der
Wohnung stand.
- Meine Wissensschätze, sagte er mit einem hoch zufriedenen, befreiten Lächeln.
Dann bückte er sich zum untersten Regalboden hinunter.
- Und ich habe hier auch ein paar selbstgeschriebene Sachen…
Seine Aufzeichnungen? Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Gleich passiert es,
schoss es mir durch den Kopf, gleich musst du ihm offenbaren, dass du die
Aufzeichnungen längst kennst, gleich musst du erklären, warum du es ihm bisher
verschwiegen hast, gleich musst du beichten, dass du Constanze eine Kopie
geschickt hast, gleich wirst du dich elend fühlen. Aber dann, dachte ich weiter,
könnte ich ihm auch sagen, wie viel seine Aufzeichnungen mir bedeuten und dass es
gut sei, mit ihm über manches, was ich darin gelesen hätte, auch geredet zu haben.
Wenn das gesagt sei, würde alles andere leicht sein.
Hauser griff sich vom untersten Regalboden einen kleinen Karton, öffnete ihn, holte
zwei zusammengeheftete Textseiten heraus und überflog sie kurz.
Ich warf einen kurzen unauffälligen Blick über seine Schulter. Nein, es waren nicht
die Aufzeichnungen, nicht die aus dem Archiv.
- Hier, sagte Hauser, und streckte mir die beiden Textseiten entgegen. Das ist mir vor
Jahren in Sachen Unabhängigkeitsreferendum eingefallen. Kannst es zu Hause mal
lesen. Ist allerdings etwas holprig geschrieben.
Ich nahm mir die Seiten sofort vor, als ich zu Hause angekommen war. Leichte
Lektüre war es nicht, da hatte er Recht. Hauser knüpfte darin an das schottische
Unabhängigkeitsreferendum an, das nun schon fast zwanzig Jahre zurücklag. Ich
gestehe, dass ich den Text mehrere Male lesen musste, um ihn halbwegs zu
verstehen. Er erschien mir damals einfach zu weit ab von der Wirklichkeit. Ich gebe
ihn hier trotzdem unverändert wieder:
124
Warum scheitern Unabhängigkeitsreferenden wie das in Schottland? Warum stecken andere
Unabhängigkeitsbewegungen fest, auch in Europa? Der wichtigste Grund scheint mir dieser
zu sein: Die Unabhängigkeitsfrage lässt sich in einem entwickelten Land nicht mehr sinnvoll
in einer einzigen Ja/Nein-Frage zusammenfassen. Es geht ja darum, wer mit wem in einem
gemeinsamen Staat leben will. Dies ist aber eigentlich ein Bündel von Fragen, die den
Bürgern eigentlich einzeln gestellt werden müssten. Zum Beispiel so:
Mit wem wollt ihr einen gemeinsamen Sozialstaat unterhalten?
Mit wem gemeinsame Streitkräfte?
Mit wem eine gemeinsame Währung?
Mit wem ein gemeinsames Bildungssystem?
Mit wem ein gemeinsames Rechtssystem?
Mit wem einen gemeinsamen staatlichen Kulturbetrieb?
Mit wem gemeinsame Nationalmannschaften?
Mit wem ggf. eine gemeinsame repräsentative Monarchie?
Mit wem ggf. eine gemeinsame Staatskirche?
Mit wem wollt ihr gemeinsam welchen suprastaatlichen Organisationen angehören?
Nur selten würde eine Mehrheit der Bürger auf alle diese Einzelfragen die gleiche Antwort
geben.
Welche dieser Fragen ließen sich dann aber in einem Unabhängigkeitsreferendum sinnvoll
zusammenfassen? In den seltensten Fällen alle. Je höher der politische Entwicklungsstand,
desto weniger.
Wenn aber mehrere dieser Fragen getrennt gestellt werden müssen, sollte man diese dann
zur gleichen Zeit stellen oder besser in größeren zeitlichen Abständen? Auch das ist eine
wichtige Frage, und auch darauf hängt die Antwort von den Umständen ab. Klar ist nur: In
Sachen Staatszugehörigkeit geht es nicht nur um das Wer will mit wem. Es geht auch um
das Wer will was mit wem. Die Bürger können sich zum Beispiel in Sachen Währung,
Verteidigung und Sozialstaat verschiedene Staatsgrenzen wünschen. Wenn sie sich
irgendwann die Freiheit nehmen, hierüber selbst zu entscheiden, wird das die Welt
grundlegend verändern.
Die Frage der Unabhängigkeit als eine einzige Ja/Nein-Frage zu stellen wie damals in
Schottland ist jedenfalls in einer hoch entwickelten politischen Kultur nicht mehr zeitgemäß.
125
Der Separatismus der Zukunft wird daher mit dem des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr
viel gemein haben, zumindest in Europa. Er wird übrigens auch geduldiger sein müssen.
Staatsgrenzen verschiebt man nicht für eine Legislaturperiode, solche Entscheidungen haben
einen viel weiteren Zeithorizont. Umso besser müssen sie vorbereitet sein.
Trotzdem müssen die Bürger sich natürlich auch bei solchen Entscheidungen irren dürfen.
Solche Entscheidungen müssen daher friedlich und möglichst einvernehmlich korrigierbar
sein. Auch hierfür müssen plausible Regeln entwickelt werden. Das wird eine politische
Daueraufgabe der Staatengemeinschaft sein.
Vielleicht kann man es so zusammenfassen: In einer immer komplizierteren Welt muss auch
Separatismus, muss auch die Teilung und Neuzusammensetzung von Staaten immer
professioneller werden. Es müsste hierfür auch spezialisierte Politikberater geben, die bei
der Trennung und Neuzusammensetzung von Staaten professionelle Hilfe leisten.
Irgendwann wird es hierfür sogar ein eigenständiges Forschungs- und Lehrgebiet geben
müssen.
Natürlich wird auch eine hierauf spezialisierte Wissenschaft nicht unfehlbar sein und
natürlich auch deren Anwendung nicht. Bei der Trennung, Neuabgrenzung und
Neuzusammensetzung von Staaten werden Fehler passieren, und daher wird eine solche
Wissenschaft auch eine Wissenschaft von der Wiederzusammenführung von Staaten sein
müssen. So könnte sie sogar zur Königsdisziplin künftiger Politikwissenschaft werden.
Hauser war sich offenbar völlig darüber im Klaren, auf wie wenig Verständnis solche
Prognose zu seiner Zeit stoßen würde. Deswegen hat er noch diese kleine
Verständnishilfe hinzugefügt:
Dass die Teilung eines Staates nichts Verwerfliches ist, sondern etwas ganz Normales, daran
werden die meisten Menschen sich schwer gewöhnen. Es ist nicht nur ein Einschnitt in der
politischen Kulturgeschichte, es wäre auch ein tiefer Einschnitt in der Geschichte des
Völkerrechts.
Hier könnte vielleicht ein Vergleich mit der Geschichte des Ehescheidungsrechts helfen.
Auch die Teilung eines Staates ist ja eine Scheidung, die Scheidung eines Staatsvolkes.
126
Es ist nicht lange her, dass Ehescheidungen noch nach Gesetz und Moral als verwerflich
galten. Einer Scheidung sollte immer auch Schuld vorangegangen sein, und Schuld verdiente
Strafe. Bei der Scheidung von Staatsvölkern herrscht noch immer ähnliches Denken.
In großen Teilen der Welt hat sich das Bewusstsein in Sachen Ehescheidungen zum Glück
gründlich gewandelt. Ehen zwischen unvollkommenen Partnern - also alle Ehen - können
zerrüttet sein, ohne dass eine Schuld feststellbar wäre. Also werden Ehen aufgelöst, ohne
dass nach Schuld gesucht würde.
Sollte für Gemeinschaften von Staatsbürgern nicht das Gleiche gelten? Sollte nicht ein
halbes Jahrhundert nach der Modernisierung des Ehescheidungsrechts endlich ein modernes
Scheidungsrecht für Staatsvölker auf den Weg gebracht werden? Nichts anderes kann doch
richtig sein
Aber auch einem zeitgemäßen Scheidungsrecht für Staatsvölker müsste die Scheidungskultur
zu einem gewissen Grad vorangehen. Nicht aus der Rechts-, sondern auch aus der
Kulturgeschichte der Ehescheidung könnte daher die Staatswissenschaft etwas lernen.
Auch wenn mir diese Notizen Hausers letztlich plausibel erschienen, habe ich mich
damals wenig damit befasst, vielleicht auch deswegen, weil die Konsequenzen erst
spätere Generationen betreffen würden. Vielleicht hätte ich mich hartnäckiger darein
vertieft, wenn ich schon damals von Hausers späteren noch kühneren Gedanken zu
diesem Thema gewusst hätte.
Trotzdem habe ich mir in den Jahren danach oft diese Frage gestellt: Wie viel Dritter
Weltkrieg wäre den Menschen durch ein solches Scheidungsrecht für Staatsvölker in
der jüngeren Vergangenheit erspart geblieben? Und wie gründlich müsste die
Demokratie reformiert werden, damit ein solches Recht überhaupt eine Chance
bekommt? Auch das waren damals natürlich unzeitgemäße Fragen.
Neues Denken in China
Im ersten Jahrhundertquartal hatte es in Deutschland zwei Reformen gegeben, die
deutlich aus dem Politikalltag herausragten. Zu beiden fiel die politische
Entscheidung im Jahr 2011. Die eine dieser Reformen, die so genannte
127
Energiewende, war nicht viel anderes als ein Reflex auf die nukleare
Reaktorkatastrophe in Fukushima. Die andere Reform dagegen war eine originäre
politische Leistung, die dem damaligen Zeitgeist voraus war: die Abschaffung der
Wehrpflicht. Durchgesetzt vom Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg.
Es war die Leistung, die Guttenberg bei vielen in guter Erinnerung gehalten hatte.
Guttenbergs politisches Comeback war perfekt inszeniert. Ein kluger PR- Berater
hatte ihn lange genug vor einer überstürzten Rückkehr in die Politik gewarnt. Zehn
Jahre Auszeit seien zu wenig, war der Rat gewesen, zwanzig Jahre seien besser.
Guttenberg hielt fast 18 Jahre durch. Er hatte sich seine frische jugendliche
Ausstrahlung bewahrt, seine Rhetorik war gereift, und hinzugekommen war eine
Aura von Altersklugheit und Milde. Seine Berater hatten die Hauptzielgruppe für ihn
klar abgesteckt: Frauen ab 30, Männer ab 40, mittlerer bis unterer Bildungstand. Sein
politisches Programm: er selbst. Sein Persönlichkeitsprofil: ein fehlbarer Star, der
sich zu den Fehlern seines Lebens bekennt. In dieser Rolle war er auf der politischen
Bühne konkurrenzlos.
Der zweite Parteitag der Deutschen Demokraten fand an Guttenbergs sechzigstem
Geburtstag statt. Auch das eine perfekte Inszenierung. Die Delegierten lauschten
seiner einstündigen Rede mit angehaltenem Atem. Sein Schlusswort: Wir werden
dafür sorgen, dass Deutschland gegen die Deutschen Demokraten nicht mehr regiert
werden kann. Dann eine Standing Ovation, die längste, hieß es, die es seit 80 Jahren
bei einer Parteiveranstaltung in Deutschland gegeben habe. Die nächsten Umfragen
sahen die Deutschen Demokraten als zweitstärkste Partei. Die SPD und die Grünen
abgeschlagen, die Linke bei 8%, die AfD endgültig von der politischen Bühne
verschwunden.
Ein Jahr vorher hatte alles ganz anders ausgesehen. Die Linke und die Deutschen
Demokraten hatten beide bei 5% gelegen, die Muslimisch Soziale Union bei 4%.
Alle drei für die Altparteien lästige kleine Konkurrenten, alle drei als
Koalitionspartner indiskutabel. Die naheliegende Lösung für die Altparteien: Das
Wahlrecht ändern, aus der 5%-Hürde eine 6%-Hürde machen, um die Macht auf ein
128
Drei-Parteien-zu Kartell beschränken. Genau so geschah es. In den Medien gab es
dafür neben harscher Kritik auch viel Zustimmung. Spätestens nach einem
eventuellen Einzug der MSU in den Bundestag, so hieß es, könnte Deutschland auf
Verhältnisse wie in der Weimarer Republik zusteuern, das Beste für das Land sei
daher ein Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Vorbild. Die Anhebung der
5%-Schwelle auf 6% sei immerhin eine zweitbeste Lösung. Die Antwort der Linken:
Sie fühle sich nicht betroffen, ihr Wahlziel liege ohnehin weit darüber.
Vor der Gesetzesänderung hatten die Altparteien mehrere verfassungsrechtliche
Gutachten bestellt, die die Verfassungskonformität einer 6%-Hürde bestätigten. Die
MSU reichte trotzdem Klage beim Verfassungsgericht ein. Die Medien und die
anderen Parteien nahmen davon - im Nachhinein fast unerklärlich - kaum Notiz.
Das war die Art von Petitessen, die den deutschen Politikbetrieb jener Zeit
ausmachten, und in anderen Ländern des demokratischen Westens war es kaum
anders. Dies allein war noch kein Grund, der Demokratie ihren damaligen Rang als
beste unter den bestehenden Staatsformen abzusprechen. Dass dieser Rang einem
Staat zukommen könnte, der noch immer als zutiefst undemokratisch galt, daran
dachte niemand. Aber mindestens einen Fall lohnte es schon damals genauer
anzuschauen: China.
Hauser hatte es einmal einen Fehler genannt, eine chinesische Bewerberin nicht als
Praktikantin für das Archiv eingestellt zu haben. Zehn Jahre später - Chinas
Bedeutung in der Welt war weiter dramatisch gewachsen -, stand Tian in meinem
Büro. Auch er Chinese, auch er wollte ein Praktikum machen, auch er war Historiker
und obendrein Informatiker, und auch er arbeitete an seiner Dissertation. Wenn es
zehn Jahre vorher ein Fehler gewesen war, einen chinesischen Bewerber abgelehnt
zu haben, musste es jetzt nicht umso mehr gelten?
Es war nicht so, dass der erste Eindruck von Tian mich überzeugt hätte. Außerdem
hatten manche Leute im Verlag gegen Chinesen Vorbehalte. Chinesen seien
potentielle Spione, so pauschal dachten immer noch einige, auch in der
129
Verlagsleitung. Bei uns im Verlag gebe es Informationen, die wir um keinen Preis in
China verbreitet wissen wollten, und es könne ja sein, dass ein Bewerber aus China
auf Spionage in Verlagsarchiven angesetzt sei. Sogar mir leuchtete das erst einmal
ein. Aber was hätte Hauser dazu gesagt?
Am Ende gab ein einziger Satz den Ausschlag. Wie lange er denn bei uns würde
bleiben wollen, fragte ich Tian.
- Solange Sie wollen, sagte er.
In dem Moment war klar: Ich wollte ihn.
Der Verlagsleitung erklärte ich, wir dürften vor einem Praktikanten doch keine Angst
haben, nur weil er Chinese sei. Außerdem sei der Verlag immer mehr auf
Verbindungen nach China angewiesen, auf Kontakte zu klugen Köpfen dort, zu
politischen Organisationen und auch zu Verlagen, und so etwas baue man am besten
ganz von unten auf, auch durch Einstellung von Leuten, die in China für uns später
einmal wichtig werden könnten. Das überzeugte schließlich.
Ich hatte nie vorher Chinesen näher kennengelernt, also war ich nicht frei von
Vorurteilen. Chinesen, dachte ich, seien von hölzerner Höflichkeit, eher unnahbar,
von, wenn überhaupt, sehr eigenem, für uns unzugänglichem Humor, Ironie sei ihnen
fremd, Europäern gegenüber gäben sie sich verschlossen, und man wisse nicht recht,
was davon spontan, was anerzogen und was durch Indoktrinierung zu erklären sei.
Nicht viel anders gab sich dann Tian.
Er arbeitete sich rasch ein. Fragen stellte er selten. Manchmal ertappte ich mich
dabei, dass mich genau das misstrauisch machte. Oder, dachte ich dann, traute er sich
nur nicht zu fragen? Wartete er darauf, dass erst einmal ich Interesse an ihm zeigte?
War ich es also, der die Fragen stellen sollte? Als ich dann verstanden hatte, dass es
so war, als ich ihn mit eigenen Fragen aus der Reserve lockte, kamen wir uns
schließlich näher. Wann immer nun von der Redaktion Anfragen zu China kamen,
auch zu politisch sensiblen Themen, zu chinesischen Dissidenten, regimekritischen
Demonstrationen, korrupten Parteikadern, Menschenrechtsverletzungen, Gängelung
130
der Presse, Todesstrafe, rebellierenden Minderheiten oder Rüstungsausgaben, suchte
ich nun das Gespräch mit Tian. Keiner dieser Fragen wich er aus.
Natürlich wollte ich genauer wissen, was für einer dieser Tian war. Ein Dissident,
dessen war ich sicher, konnte er nicht sein. Ein chinesischer Regimekritiker im
Archiv einer bekannten deutschen Zeitschrift - so etwas wusste das chinesische
Regime immer noch zu verhindern. Aber was für einer war er dann? Ein dem
Regime blind Ergebener? Dafür war er zu klug. Ein Parteimitglied? Ihn danach zu
fragen erschien mir zu indiskret. Ein unpolitischer Geist? Unwahrscheinlich bei
einem Historiker.
In dieser Zeit erschien im SPIEGEL ein Kurzbericht unseres China-Korrespondenten
mit dem Titel: Wieder Demonstrationen in Hongkong. Viele chinesische Dissidenten
unter Hausarrest. Am Morgen des Erscheinungstags platzierte ich diesen Artikel
auffällig auf meinem Schreibtisch, dann rief ich Tian zu mir.
- Hier, sagte ich, als er vor mir saß, und drehte den Artikel zu ihm hin. Neues aus
Hongkong. Du hast es sicher verfolgt.
Ja, sagte er nur. Sein Blick streifte den Artikel flüchtig, dann sah er für einen
Moment verlegen zu Boden, hob den Kopf und sah mich mit festem Blick an, nun
ganz ohne Verlegenheit.
- Eure Staatspartei greift gegen Dissidenten ziemlich hart durch.
- Die Polizei tut es, sagte er, nicht die Partei.
Natürlich eine Ausflucht, dachte ich. Wie einstudiert.
- Gibt die Partei nicht vor, wie die Polizei mit Dissidenten umgeht? Und wie euer
Geheimdienst mit ihnen umgeht?
Ich erschrak. Hatte ich ihn damit provoziert? Hatte ich zu viel riskiert? War die
Chance auf ein offenes Gespräch über eine heikle Frage schon vertan?
Tian deute nur ein Kopfschütteln an.
131
- Darüber weiß ich nicht so gut Bescheid.
Seine Stimme klang ganz und gar gelassen, ganz und gar aufrichtig. War also all
meine Vorsicht grundlos gewesen? Würde ich mit Tian doch ganz normal reden,
vielleicht sogar streiten können, fast wie mit Kollegen aus westlichen Ländern?
- Du weißt aber doch Bescheid über die Aufgabe eures Geheimdiensts. Er überwacht
im Auftrag der Partei die Gesellschaft. Er will genau wissen, wer wo regimekritisch
denkt und redet. Dafür muss er die Augen und Ohren fast überall haben. Muss nicht
jeder in China damit rechnen, dass Geheimdienstler ihn beobachten?
Tian nahm sich mit der Antwort viel Zeit. Dann sagte er ganz ruhig:
- Ja, unser Geheimdienst arbeitet noch viel mit alten Methoden. Viele seiner
Mitarbeiter können nicht anders. Aber er stellt sich sehr rasch um.
- Auf die digitale Überwachung?
- Ja. Amerika ist uns dabei allerdings noch immer weit voraus. Bei uns
kommunizieren noch nicht alle Bürger elektronisch. Aber das ist natürlich das Ziel.
- Um die ganze Bevölkerung elektronisch überwachen zu können?
- Amerika ist darin für uns Vorbild.
Ich wich seinem Blick aus. Wo hatte er das gelernt? Wo hatte er gelernt, verfängliche
Fragen so routiniert zu parieren, wie ein in Talkshows gestählter, von
Rhetoriktrainern geschliffener westlicher Politiker? Was für einer war er also? Doch
ein Agent? Musste ich andere vor ihm warnen? Nein, sagte ich mir, sei nicht
hysterisch, eine routinierte Antwort begründet noch keinen Verdacht. Aber was hatte
er gemeint, als er "wir" und "uns" sagte, von "unserem" Vorbild Amerika sprach.
Wir, war das China oder war es womöglich doch der Geheimdienst? Oder die Partei?
Unsere Blicke trafen sich wieder.
- Ja, sagte er, vorerst ist es so.
132
Vorerst. Vorerst eifert China in der digitalen Überwachung Amerika nach. Und
dann? Wird China Amerika darin überholen? Wird es einen totalen elektronischen
Überwachungsstaat schaffen?
- Aber die Entwicklung wird natürlich weitergehen, sagte er dann.
Ich nickte. Was hätte ich erwidern können? Natürlich wird die Entwicklung
weitergehen, gerade in China. Wohin?, hätte ich noch fragen können, aber er hätte
natürlich - so gut kannte ich ihn inzwischen -, geantwortet, dass auch er das nicht
wisse.
Am nächsten Morgen bat ich ihn wieder in mein Büro. Dass Chinas Geheimdienst
nur dem Vorbild Amerika folge, das wollte ich nicht widerspruchslos hinnehmen.
Es könne ja sein, sagte ich, dass chinesische und amerikanische Geheimdienste mit
immer ähnlicheren Methoden arbeiten, aber in einem Einparteienregime spiele ein
Geheimdienst doch eine ganz andere Rolle. In der Demokratie diene der
Geheimdienst der Aufklärung, im Einparteiensystem, also in China, diene er der
Unterdrückung.
Ich biss mir auf die Zunge. Du provozierst ihn nicht, hatte ich mir vorgenommen,
aber nun war es heraus. War er gekränkt? War er enttäuscht, beleidigt, zornig? Die
Fassung würde er nicht verlieren, das war mir klar. Aber das Vertrauen?
- Vielleicht hast du zum Teil Recht, begann er,…
Hatte ich mich verhört? Ich hätte Recht, dass in China Unterdrückung herrscht?
Nein, Dissident ist er nicht, dessen war ich nun sicher. Was aber dann?
…aber Unterdrückung würde ich es nicht nennen.
- Sondern?
- Stabilisierung. China ist noch nicht ganz so stabil wie einige Demokratien im
Westen.
- Aber hat China solche Methoden der Stabilisierung wirklich nötig?
133
- Stell dir vor, sagte er, was passieren würde, wenn es das, was du Unterdrückung
nennst, in China ab sofort nicht mehr gäbe. Bliebe es in China dann friedlich? Gäbe
es dann sofort eine Demokratie, wie ihr sie habt? Würden die Chinesen das
überhaupt wollen?
- Da hoffe ich doch, sagte ich.
- Es gibt viele Staaten, die ihre politischen Stabilisierungsmaßnahmen zu früh
aufgegeben haben. Die zu früh versucht haben, im westlichen Sinn demokratisch zu
werden. Mit furchtbaren Folgen.
- Du glaubst also, dass eure so genannte Stabilisierung etwas Gutes ist? Auch all das,
was euer Geheimdienst tut?
- Im Prinzip ist es so.
- Und wie lange soll es noch so weitergehen?
- Nicht für immer. Das wissen die meisten inzwischen, auch in der Partei.
Nicht für immer, das war mir wieder zu schwammig und zu routiniert. Aber jetzt war
mir wenigstens klar, dass ich ihn nicht schonen musste, dass ich ihm auch
Widerspruch und Streit zumuten konnte.
- Vielleicht vierzig Jahre?, fragte ich. Ist China in vierzig Jahren darüber hinweg?
- Kein Land der Welt hat sich in den letzten vierzig Jahren so stark entwickelt und
verändert wie China. Das wird auch in nächsten vierzig Jahren so sein.
Wieder so eine glatte Antwort. Ich setzte nach:
- Ist China in vierzig Jahren eine westliche Demokratie?
- Das kommt darauf an, was in vierzig Jahren aus der westlichen Demokratie
geworden ist.
Dabei reckte er den Hals, neigte den Kopf etwas nach hinten und sah mich leicht von
oben herab an. Dann sagte er:
134
- Macht das Beste aus eurer Demokratie. Dann wird man sehen.
So ging unser erster ernster Dialog aus. So saß er vor mir, Tian, sechs Jahre jünger
als ich, und er argumentierte müheloser und schlagfertiger als ich, so mühelos wie
routinierte westliche Politiker. Aber war es wirklich nur bessere Rhetorik? Oder hatte
er womöglich auch die besseren Argumente? Gab es eine chinesische Dialektik, die
dem westlichen Denken überlegen war?
Tian machte sich über die Schattenseiten des chinesischen Regimes keine Illusionen,
er beschönigte nichts, und doch sah er China ganz anders als wir. Natürlich war auch
ich überzeugt, dass China endlich westlicher werden müsse, natürlich drängte ich
ihm dies immer wieder auf, aber beeindruckt hat es ihn nie. Er gab mir dabei immer
das Gefühl, dass ich meiner Sache viel zu sicher sei.
Auch an einen anderen kurzen Wortwechsel hierüber erinnere ich mich noch gut. Ich
sagte, in China müsse, das sehe er doch sicher auch so, die Zeit bald reif sein für den
Übergang zu einem Mehrparteiensystem.
- Das ist nicht unsere Lösung, sagte er.
- Du meinst, es ist noch nicht eure Lösung?
- So weit will ich nicht vorausdenken. So weit voraus kann niemand denken.
Wieder so ein argumentativer K.o. Was hätte ich darauf erwidern können? Ich hatte
eine ausweichende Antwort erwartet oder eine dogmatische, und dann entwaffnete er
mich mit Bescheidenheit. So weit könne er nicht vorausdenken, so weit könne
niemand vorausdenken, auch ich nicht, also müsse auch ich bescheidener sein, müsse
zugeben, dass auch ich für Chinas langfristige Zukunft nicht die Lösung kenne. So,
mit nur einem Satz, hatte er die Rollen zurechtgerückt: Er war der bescheidene, ich
der allzu selbstsichere, der westlich-überhebliche Dialogpartner, der sich
menschenunmögliches Wissen anmaßte.
Wie weitsichtig Tian in politischen Dingen dachte, ging mir trotzdem erst sehr viel
später auf. Enge Freunde wurden wir in dieser Zeit, in dem einen Jahr, das er im
135
Archiv verbrachte, noch nicht. Nie wären wir auf die Idee gekommen, wir sollten
einmal private Zeit miteinander verbringen. Aber am Ende wussten wir beide, ohne
dass es hätte gesagt werden müssen, dass wir einander nicht verlieren wollten.
Kurz bevor Tians Zeit im Archiv zu Ende ging, erschien im SPIEGEL ein Essay
unseres China-Korrespondenten über Chinas politische Entwicklungsperspektiven.
Fast nichts von diesem Essay hätte vor Tians Argumenten Bestand gehabt. Wie aber
wäre ein solcher Essay, fragte ich mich damals, von jemandem geschrieben worden,
der sich mit Tian ernsthaft auseinandergesetzt hätte? Um mir das zu beantworten,
habe ich damals einen solchen anderen Essay selbst entworfen, den ich Archivarseele, die ich noch immer bin - bis heute aufbewahrt habe. Ich war
überrascht, wie wenig ich daran ändern musste, um ihn an dieser Stelle einfügen zu
können.
Etwas stimmt nicht im westlichen Denken über China. Auf den ersten Blick ist das
Interesse an der politischen Entwicklung Chinas groß, und trotzdem sind die
Kommentare zu China im Westen erstaunlich gleichförmig. Dafür kann es nur eine
Erklärung geben: Es fehlt am Vorstellungsvermögen für Chinas Besonderheiten.
Der Westen hat jahrzehntelang Chinas rasante Wirtschaftsentwicklung ungläubig
bestaunt. Als dann klar wurde, dass dies kein Strohfeuer war, gegen Ende des 20.
Jahrhunderts, wurde der Westen mit Chinas politischer Entwicklung immer
ungeduldiger. Nach dem Kollaps fast aller anderen kommunistischen Regime sollte
das chinesische nun bald folgen. China mit seiner Einparteienherrschaft und mit
seiner großenteils immer noch staatlich gelenkten Wirtschaft sei doch, so die im
Westen herrschende Meinung, ein offensichtlicher Anachronismus, die
Überlebensjahre des Regimes müssten also gezählt sein. Jede noch so kleine
Protestkundgebung und jede öffentliche Aktion von Dissidenten schien dies zu
untermauern.
136
Anfang des Jahrhunderts, In den zehner Jahren und zu Anfang der zwanziger, schien
die Ungeduld mit China sich beinahe erschöpft zu haben, aber sie kehrte zurück. Wie
konnte es denn sein, fragte man sich nun wieder, dass die demnächst größte
Volkswirtschaft und bald auch größte Militärmacht der Welt noch immer nicht den
Verlockungen der westlichen Demokratie nachgab. Wie konnte es sein, dass das
bevölkerungsreichste Land der Welt trotz seines enorm gewachsenen Wohlstands
noch immer an seiner rückständigen Staatsordnung festhielt – der große weiße Fleck
auf der Weltkarte der Demokratie.
Natürlich gab es dafür Erklärungsversuche. China hatte mit seinen Reformen ein
Wirtschaftswachstum entfacht, das in der Welt Seinesgleichen suchte. Die große
Mehrheit der Chinesen war damit erst einmal zufriedengestellt. Nur ganz wenige
Chinesen stellten sich überhaupt die Frage, ob es ihnen in einer Demokratie nach
westlichem Muster besser ginge, und noch viel weniger antworteten darauf mit Ja.
Die meisten Chinesen schienen ihr politisches System also der westlichen Demokratie
vorzuziehen. Dagegen wünschte sich in demokratisch regierten Ländern niemand ein
politisches System wie das chinesische. Wie war dieser Widerspruch zu erklären? Lag
es einfach daran, dass die meisten Chinesen über die westliche Demokratie zu wenig
wussten? So wollte man es im Westen natürlich gern sehen.
Dass es so einfach nicht war, davon zeugte schon Chinas verblüffende
Wirtschaftsentwicklung. Einige westliche Ökonomen sind überzeugt, dass Chinas
Regime jahrzehntelang eine bessere Wirtschaftspolitik gemacht hatte, als
demokratische Regierungen es seiner Stelle vermutlich getan hätten. Was, wenn
diese Ökonomen Recht haben? Wäre das für Chinesen nicht schon Grund genug, ihr
politisches System für das bessere zu halten? Ihr Einparteiensystem für besser als
das westliche Mehrparteiensystem?
Es ist wohl Zeit, sich im Westen ernsthaft diese Frage zu stellen: Wie viel schlechter
ist ein Einparteiensystem als ein Zwei-, Drei- oder Vielparteiensystem? Die richtige
137
Antwort könnte eine böse Überraschung sein. Der Unterschied zwischen einem
Einparteiensystem und einem Mehrparteiensystem ist nämlich geringer, als wir
denken, und welches System das bessere ist, das kommt auf die Umstände an.
Könnte es sogar sein, dass für das China unserer Zeit das Einparteiensystem
tatsächlich das bessere ist? Und womöglich nicht nur für China?
Die großen Nachteile von Einparteiensystemen liegen auf der Hand: Mangel an
Wahlmöglichkeiten für die Bürger, Mangel an politischem Wettbewerb,
Privilegierung von Parteimitgliedern und Diskriminierung von Parteikritikern,
allenfalls formale Unabhängigkeit der Justiz. Aber um wie viel besser ist all dies im
Mehrparteiensystem?
Die Antwort ist ganz einfach: Der Unterschied zwischen Ein- und
Mehrparteiensystem ist natürlich umso geringer, je ähnlicher im
Mehrparteiensystem die konkurrierenden Parteien sind. Wer aber wollte noch
bestreiten, dass in westlichen Demokratien die Parteien - zumindest die wählbaren einander immer ähnlicher geworden sind, von der politischen Rhetorik einmal
abgesehen? Und dass sich daher im Mehrparteiensystem die praktische Politik durch
Wahlen nur noch geringfügig ändern lässt?
Sicher, auch davon gibt es Ausnahmen, aber im Regelfall ist es so. Was ändert sich
im Leben von Amerikanern, wenn die politische Mehrheit von den Demokraten auf
die Republikaner übergeht und umgekehrt? Was hängt für Deutsche davon ab, ob
Christ- oder Sozialdemokraten oder Grüne die meisten Stimmen bekommen? Was
ändert sich für Briten, wenn Tories und Labour einander ablösen? Die allseits
bekannte Antwort ist: wenig. Dementsprechend wenig wäre daher für die Bürger
Chinas mit dem Übergang auf ein Mehrparteiensystem noch gewonnen.
Das mag so erscheinen, wird man im Westen einwenden, aber verglichen mit der
chinesischen Einheitspartei ist das westliche Parteienwesen noch immer ein Hort der
Vielfalt und der Wahlfreiheit. Aber wie ist dann zu erklären, dass China sich seit der
138
Mao-Ära so grundlegend gewandelt hat, und zwar auch im politischen Denken? Ich
solle, sagte mir Anfang der dreißiger Jahre ein kluger Chinese, ein Parteimitglied
wohlgemerkt, doch einmal den politischen Wandel Chinas in dieser Zeit mit dem
Wandel der westlichen Demokratien vergleichen. Die westlichen Demokratien
hätten sich in dieser Zeit kaum verändert. China dagegen habe sich enorm
gewandelt, und bei diesem Entwicklungstempo werde es den Westen bald auch
politisch überholen, wirtschaftlich und militärisch ja sowieso. Dann stellte er einen
nüchternen Vergleich an: Am Ende des ersten Jahrhundertquartals habe China sich
in seiner politischen Zivilisierung noch mit demokratischen Ländern wie Thailand
verglichen, und solchen Ländern habe es sich damals schon überlegen gefühlt.
Inzwischen seien die Ziele aber viel höher gesteckt. Mittlerweile sehe man sich in der
politischen Kultur mit dem Westen auf Augenhöhe.
Es ist höchste Zeit, sich im Westen hiermit ernsthaft auseinanderzusetzen.
Zumindest ist es Zeit für die Frage, ob China sich in unserem Jahrhundert mit einem
Mehrparteiensystem wirklich besser entwickelt hätte als mit seinem
Einparteiensystem. Das Ja auf diese Frage bleibt einem doch im Halse stecken.
Und könnte es sogar sein, dass ein Einparteien- gegenüber einem
Mehrparteiensystem nicht nur für China Vorteile hat? Einen zumindest hat es, und
der wiegt schwer: Das Einparteiensystem ist professioneller. Wo es nur eine Partei
gibt, können politische Kader und Amts- und Mandatsträger sich langfristiger,
ungestörter und damit wirksamer professionalisieren und spezialisieren. Das
politische Personal ist dadurch zumindest tendenziell erfahrener, höher spezialisiert
und damit fachlich kompetenter als in Demokratien. Diesen systemischen Vorteil
haben Einparteienregimes früher kaum genutzt, aber das chinesische tut es. Es hat
viel konsequenter als andere Regimes darauf reagiert, dass erfolgreiche Politik
immer mehr Professionalisierung und Spezialisierung erfordert. Konsequenter, als
westliche Demokratien es könnten.
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Könnte also das Einparteiensystem für das heutige China tatsächlich die denkbar
beste Staatsform sein? Wäre ein Übergang zum westlichen Demokratiemodell für
China womöglich doch ein Rückschritt? Das scheint in China weiter die herrschende
Meinung zu bleiben. Je mehr man sich in diese Frage vertieft, desto mehr
Verständnis hat man dafür.
So weit mein kurzer Text aus den frühen dreißiger Jahren. Damit war natürlich nicht
gemeint, die westlichen Demokratien sollten sich irgendwann in Richtung des
chinesischen Systems reformieren. Das lag mir damals völlig fern. Aber ob die
Überlegenheit der westlichen Demokratie womöglich nur noch hauchdünn war, viel
geringer jedenfalls, als man es sich im Westen eingestand, das war schon damals eine
berechtigte Frage.
Zu diesem Text hatte ich später einen kurzen Nachtrag verfasst, der aus heutiger
Sicht fast Selbstverständliches beschreibt: dass wir uns von unserer Demokratie kein
treffendes Bild machen konnten, solange wir uns ein falsches Bild von China
machten.
Die politischen Vordenker Chinas dachten in politischen Systemfragen viel
pragmatischer, als man im Westen annahm. Sie stellen sich praktische Fragen wie
diese: Welchen Entwicklungsländern ist es mit demokratischen
Mehrparteiensystemen besser gegangen als uns? Indien etwa? Pakistan? Ägypten?
Hatten nicht, als sie wirtschaftlich auf unserem heutigen Entwicklungsstand waren,
Japan und Südkorea de facto auch Einparteiensysteme? Und sind die Japaner heute
mit ihrem Mehrparteiensystem wirklich zufrieden? Ginge es uns Chinesen wirklich
besser, wenn unsere politischen Kader von Politikern westlicher Art abgelöst
würden? Die klügsten Köpfe Chinas scheinen darauf mit einem klaren Nein
geantwortet zu haben.
Der Westen denkt natürlich anders. Er bleibt dabei, dass der politische
Systemwechsel Chinas überfällig sei. Man sollte Chinas Einparteienregime aber nicht
140
auf eine Stufe mit den Autokratien dieser Welt stellen. Es ist keine Militärdiktatur, es
ist kein populistisches Regime, und es ist nicht die Herrschaft einer
Gesellschaftsschicht, einer Ethnie, einer Religion, einer Konfession oder einer
Ideologie. Chinas Staatspartei hat sich vielmehr zu einer fast unideologischen
Staatsmanagementorganisation gewandelt. Trotzdem ist sie immer noch eine
Massenorganisation, also in der Bevölkerung verwurzelt. Damit ist das chinesische
Einparteiensystem ein historischer Sonderfall. Man könnte es sogar einen Glücksfall
nennen. Es muss zu seinem Überleben viel weniger an niedere Instinkte der Bürger
appellieren als populistische Autokraten, vielleicht sogar weniger als demokratische
Parteien und Politiker. Wäre es ein Glück gewesen, wenn China den Übergang zu
einer herkömmlichen Demokratie versucht hätte? Dagegen spricht schon, dass Teile
Chinas dann Schauplätze des schleichenden Dritten Weltkriegs hätten werden
können.
Natürlich ist auch das chinesische Einparteienregime kein System für die Ewigkeit, so
wenig wie die westliche Mehrparteiendemokratie. Irgendwann werden Chinas
Bürger sensibler für dessen Schwächen werden. Es strahlt technokratische Kälte aus,
und es bietet dabei nicht einmal den bescheidenen Unterhaltungswert
demokratischer Wahlen und Mehrheitswechsel. Früher oder später werden die
Bürger sich daher fragen, zu was dieses System denn diene außer wirtschaftlichem
Wachstum, und sie werden darauf keine Antwort bekommen.
Noch lässt sich dies - ich nenne es ein Sinndefizit - aber durch gutes technokratisches
Staatmanagement kompensieren. Noch schafft auch die Aussicht, bald Bürger einer
weltweit führenden militärischen Supermacht zu sein und zum Wohlstand Japans
und Westeuropas aufzuschließen, Regimetreue. Schon um diese Aussicht nicht zu
gefährden, würden die allermeisten Chinesen das Risiko eines Systemwechsels
scheuen.
141
Dem Westen macht der Aufstieg Chinas natürlich immer noch Angst. Die NATOStaaten fürchten, China werde mit seiner militärischen Übermacht noch weniger
zivilisiert umgehen, als sie selbst es bisher getan haben. Aber auch das ist altes
Denken. Nicht nur militärisch, auch in der politischen Zivilisierung dürfte vom
Vorsprung des Westens gegenüber China nicht mehr viel übrig sein.
Dieser Text ist nun fast vierzig Jahre alt, und ich muss mir selbst das Kompliment
machen, dass er noch immer nicht verstaubt klingt. Hauser hatte mir einmal gesagt,
eine halbwegs wahrhaftige Geschichte unseres Jahrhunderts ließe sich nicht aus
SPIEGEL-Artikeln zusammensetzen, eine wahrhaftigere Geschichte würde die
Geschichte der Artikel sein, die sich niemand zu schreiben oder zu veröffentlichen
getraut hat. Als ich ihm später einmal diesen Text über China zu lesen gab, meinte
er, so ähnlich stelle er sich solche Artikel vor. Ich nahm es als ein höfliches
Kompliment.
Diesen Text habe ich damals - nach langem Zögern - auch Tian gemailt. Als Antwort
schickte er eine winzige Computeranimation: ein kopfnickendes Strichmännchen.
Eine Jahrhundertpartei?
Würden die veröffentlichten SPIEGEL-Artikel für die spätere Geschichtsschreibung
wirklich so wenig wert sein, wie Hauser es unterstellte? Überzeugt war ich davon
noch nicht. Bei einem unserer immer seltener werdenden Treffen hakte ich nach. Der
SPIEGEL mache doch Qualitätsjournalismus, wandte ich ein, und selbst wenn der
SPIEGEL für die spätere Jahrhundertgeschichtsschreibung keine unentbehrliche
Quelle sei, dann aber doch der deutsche Qualitätsjournalismus als ganzer.
Nein, beharrte Hauser, er sei nicht einmal sicher, ob es in diesen Zeiten überhaupt
wirklichen Qualitätsjournalismus gebe. Qualitätsjournalismus gedeihe am besten
dort, wo es Qualitätspolitik gebe, und eine solche könne er nicht erkennen.
142
- Wieso das?, fragte ich. Gerade wenn die Politik versage, sei doch
Qualitätsjournalismus gefragt, und zu mancher Sternstunde des Journalismus sei es ja
gerade in der Auseinandersetzung mit schlechter Politik gekommen.
Hauser nickte kurz.
- Aber gerade das ist ja das Elend unserer Zeit, sagte er dann, dass die demokratische
Politik dafür in Deutschland noch nicht schlecht genug ist. Sie erzeugt Lethargie, sie
erzeugt Gleichgültigkeit, sie erzeugt Langeweile, aber sie ist immer noch nicht
schlecht genug für kreative Empörung.
Ich hätte den Gedanken so nicht formuliert, aber ich dachte sofort, dass Hauser
wieder einmal Recht hatte. Wenn nicht schon lange vorher, dann traf dieser Gedanke
zumindest jetzt den Nerv der Zeit, der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Die Welt
war weiter in Unordnung, der gesamte Nahe Osten immer noch ein Pulverfass mit
umstrittenen Staatsgrenzen, die Populisten in Europa und Amerika weiter auf dem
Vormarsch, ein Land wie Nigeria existierte nur noch auf dem Papier, Somalia,
Libyen und andere afrikanische Länder waren noch immer gesetzlose Regionen, in
Indien kam es in immer kürzeren Abständen zu gewaltsamem Aufruhr, China
unterdrückte wieder aufflammenden Separatismus mit alter Härte, um die Ostukraine
wurde so heftig gestritten wie je, Kosovo und Bosnien-Herzegowina waren de facto
noch immer Protektorate, in den Pariser Immigrantenvorstädten brach in immer
kürzeren Abständen Gewalt aus, der Kulturkampf in Amerika zwischen Liberalen
und Ultrakonservativen wurde immer unversöhnlicher, Immigranten wurden in
Amerika und anderen westlichen Staaten offener denn je angefeindet, die
Europäische Union drohte wieder einmal auseinanderzubrechen, die separatistischen
Bewegungen in Schottland, Katalonien und in osteuropäischen Ländern wurden
immer stärker, die Beteiligung an demokratischen Wahlen erreichte ein neues
Allzeittief, und in fast allen wohlhabenden Ländern hatte sich die Ungleichheit der
Einkommens- und Vermögensverteilung weiter zugespitzt. Trotzdem fehlte es an,
wie Hauser es nannte, kreativer Empörung, gerade in Deutschland.
143
Auch die sich seit Ende zwanziger Jahre in Deutschland und Europa ausbreitende
Altersarmut änderte daran vorerst nichts. Nach sechzig Jahren verfehlter Familienund Bevölkerungspolitik war das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre angehoben
worden, die durchschnittliche gesetzliche Rente lag weit unter 40% des vorherigen
Nettolohns, und immer mehr Rentner waren auf staatliche Grundsicherung
angewiesen. Auch der Anteil der Erwerbstätigen, die von ihrem Arbeitseinkommen
nicht leben konnten, war weiter stark gewachsen. Zugleich hatte, so schien es, die
Steuer- und Abgabenbelastung der Erwerbstätigen das politisch durchsetzbare
Höchstmaß erreicht, Armut ließ sich also durch mehr Umverteilung nicht weiter
lindern. Deutschland und Staaten in vergleichbarer Lage waren dadurch ökonomisch
erheblich geschwächt, damit ging auch ihr politischer Einfluss weiter zurück, und
auch innenpolitisch war ihre Lage instabiler geworden.
Politischer Sprengstoff wurde daraus aber noch nicht. Die Gewichte der politischen
Parteien hatten sich massiv verschoben, aber ansonsten herrschte eine angesichts der
Umstände schwer erklärliche Stabilität. Guttenbergs Deutsche Demokraten
erreichten bei Wahlen stabile 20%, die Christdemokraten regierten abwechselnd mit
der SPD und den Grünen als Koalitionspartnern, die Wahlbeteiligung hatte sich bei
zunächst 55% stabilisiert.
Missfelders politische Karriere steuerte in dieser Zeit unaufhaltsam auf höchste
Ämter zu. Ernsthafte Konkurrenten, die ihm seinen Führungsanspruch bei den
Christdemokraten hätten streitig machen können, gab es in seiner Generation nicht.
Der alte Guttenberg und der junge Mesäcker waren die dominierenden Figuren der
deutschen Parteienlandschaft. Ihre politischen Differenzen waren alles andere als
unüberbrückbar, aber ihre Wähler, das wussten beide, hätten ihnen eine
Zusammenarbeit nicht verziehen. Guttenberg hatte sich mit seiner Altersrolle als Star
der politischen Opposition abgefunden.
Dann kam, was in den Medien als eines der wichtigsten Urteile der letzten
Jahrzehnte kommentiert wurde, aber damit in seiner politischen Bedeutung nicht
annähernd erfasst war: Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Wahlrecht.
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Die Verfassungsrichter folgten dem Antrag der Muslimisch Sozialen Union auf
ganzer Linie. Nicht nur die 6%-Schwelle für Bundes- und Landtagswahlen wurde für
verfassungswidrig erklärt. Wie das Verfassungsgericht schon 2014 Klein- und
Kleinstparteien den Zugang zum Europaparlament geöffnet hatte, so tat es das
Gleiche nun für den Bundestag. In Deutschland, so die Begründung, gebe es
mittlerweile auch kleine gesellschaftliche Gruppen mit fundamental eigenständigen
Interessen, die aus der parlamentarischen Willensbildung nicht ferngehalten werden
dürften, und die deutschen Muslime gehörten dazu.
Die großen politischen Parteien waren vom Urteil natürlich tief getroffen. Die
Unionsparteien und die SPD kündigten an, sie würden die Kandidaten für das
Verfassungsrichteramt in Zukunft viel kritischer überprüfen. Offenen Protest gegen
das Urteil wagten die Parteien aber nicht. Auch in den Medien wurde das Urteil eher
neutral aufgenommen. Allein der SPIEGEL polemisierte: Verfassungsgericht legt die
Axt an die deutsche Demokratie. Hausers Kommentar dazu: Ja, aber es hat die Axt an
einen morschen Baum angelegt.
Bei der anschließenden Bundestagswahl 2037 stieg die Wahlbeteiligung auf
mittlerweile fast sensationelle 59%. Die MSU kam auf Anhieb auf 4,9%, größtenteils
zulasten der SPD. Die einzige Regierungskoalition, die sich danach ohne Bruch von
Wahlversprechen noch bilden ließ, war die Koalition aus CDU und Grünen.
Die ganz und gar unscheinbare Nachricht, die kurz nach dem Wahlrechtsurteil des
Verfassungsgerichts in einigen deutschen Zeitungen zu lesen war, hätte ich
übersehen, wenn Hauser mich nicht bei unserem nächsten Treffen darauf
aufmerksam gemacht hätte: Die Gründung der Neokraten. Genau genommen waren
Die Neokraten nicht einmal eine Partei. Genau genommen waren sie ein politischer
Verein, dessen Name an eine Partei denken ließ.
Auch Hauser sprach die Gründung der Neokraten nur beiläufig an. Schau hier, sagte
er und reichte mir den Vierzeiler der Süddeutschen Zeitung herüber, das könnte
145
interessant werden. Und nach einer kurzen Denkpause: Manchmal verbergen die
wichtigsten politischen Ereignisse sich in einem Vierzeiler.
Ich wartete, ob noch eine Erklärung folgen würde, aber er faltete das Blatt nur
wortlos zusammen. Ich fragte - für mich noch heute unerklärlich - nicht nach. Später
sollte Hauser die Gründung der Neokraten als das wichtigste politische Ereignis der
ersten Jahrhunderthälfte bezeichnen.
Das digitale Hiroshima
Auch wenn Hauser Separatismus für vollständig legitim hielt, fragte er sich doch
manchmal, ob in ihm nicht auch das Böse schlummere. Auch ein Hauser konnte sich
eben in Widersprüche verwickeln. Dass das Böse sich weniger im Separatismus
Bahn bricht als gerade im Kampf gegen denselben, diese Einsicht verdankte ich
keinem anderen als Hauser, und es gab nichts, das sie widerlegt hätte. Natürlich
ziehen separatistische Bewegungen oft auch gewaltbereite Kräfte an, aber wie die
Geschichte des Separatismus immer wieder zeigt, ist die Gewaltbereitschaft auf der
Gegenseite keineswegs geringer. Das Böse lauert eben überall, auch in der
politischen Normalität, von der der Separatismus ein Teil ist.
Vielleicht hatte Hausers Sorge um das Böse im Separatismus aber noch einen ganz
anderen Grund. Er wusste, dass Staaten für neue Arten von Gewalt und Zerstörung
anfällig geworden waren, auch durch Separatisten. Zuerst wusste ich damit noch
wenig anzufangen.
Die neue Verwundbarkeit von Staaten hatte für Hauser mit den Anschlägen auf das
World Trade Center im September 2001 begonnen. Nie vorher, so sah auch er es,
hatten so wenige Menschen mit so geringen Mitteln so viel Angst schüren und
Staaten so verunsichern können. Hauser meinte, dass auch Separatisten sich früher
oder später der jeweils neuesten Formen von Terror bedienen würden und dass der
Welt daher eine lange Ära immer neuer Terrorängste bevorstehe. Dann erinnerte ich
146
ihn daran, dass die Aufgabe künftiger Politik ja sein müsse, den Separatisten das
Motiv für Terror und Erpressung zu nehmen.
Dass unsere alten Vorstellungen von der Verwundbarkeit von Staaten zumindest
ergänzungsbedürftig waren, war eigentlich schon zu Beginn des Jahrhunderts klar.
Schon damals war absehbar, dass man für Anschläge wie den auf das World Trade
Center bald kein Flugzeug mehr würde entführen müssen, dass dafür demnächst
bewaffnete Drohnen genügen würden und dass bald auch kleine
Terrororganisationen sich solche neuen Waffen würden beschaffen können.
Geheimdienste - Belege dafür fand ich später auch im Archiv - hatten aber natürlich
schon viel weiter gedacht.
Mit neuen Verwundbarkeiten hatte ich es bald auch selbst zu tun. Dass auch unser
Archiv verwundbar, dass es vor digitaler Ausspähung nicht vollkommen sicher sein
konnte und nicht einmal vor Zerstörung von Daten und Programmen, das wussten
wir natürlich, aber die Gefahr erschien uns noch immer ziemlich abstrakt. Vielleicht
hätte ich es als guter Archivleiter besser wissen müssen, vielleicht hätte ein anderer
an meiner Stelle, vielleicht eine wie Constanze, es besser durchschaut. Ich hatte aber
nicht die geringste Ahnung, was gegen solche Verwundbarkeit zu tun sei, und unsere
IT-Spezialisten glaubten offenbar, alles im Griff zu haben. Niemand warnte mich,
niemand mahnte mich, also tat ich nichts. Dann kam der große Hacker-Angriff.
Warum ausgerechnet auf unser Archiv? Natürlich archivierten wir politisch Brisantes
und Kompromittierendes, vieles also, womit Staaten, Organisationen, Parteien,
Unternehmen, Politiker und Prominente verwundbar waren. Also gab es viele, die
solche Daten am liebsten aus der Welt hätten, aber eben auch manche, die sie ans
Licht der Öffentlichkeit bringen wollten. Wer davon hinter dem Angriff auf unser
Archiv stand, wissen wir bis heute nicht. Wir meinen aber zu wissen, dass der
Angriff von einer kleinen Zahl hoch begabter Hacker ausgeführt wurde. Sie müssen
potente Geldgeber gehabt haben, aber die eigentlichen Täter waren offenbar ganz
wenige.
147
Wir hatten Glück. Hätten die Täter nicht einen kleinen vermeidbaren Fehler gemacht,
hätten sie die Daten unseres Archivs vor aller Welt ausbreiten können. Es wäre ein
Fiasko für den Verlag gewesen, eine Bloßstellung zahlloser Persönlichkeiten und
vieler noch angesehener Institutionen. Natürlich wollte der Verlag den Vorfall um
jeden Preis geheim halten, aber es war ein Wettlauf mit der Zeit. Wir verloren ihn.
Nach einer Woche wusste die ganze Welt: Das SPIEGEL-Archiv ist ausspähbar.
Was konnten wir tun? Keiner hatte eine Strategie, wir vom Archiv nicht, die
Redaktion nicht, die Verlagsleitung, der ganze Verlag nicht. Sitzungen Tag und
Nacht, Vorwürfe, Gegenvorwürfe, Vorschläge, Gegenvorschläge, einer
dilettantischer als der andere, dann nur noch Erschöpfung. Würde das Vertrauen in
uns dahin sein? Würde niemand uns mehr geben wollen, was unser Blatt erst
lesenswert machte: vertrauliche Informationen? War das der Untergang?
Eine Zeitlang geschah gar nichts. Dann brach eine Lawine von Datenlöschanträgen
über das Archiv herein, von überallher, von Regierungen, Parteien, Verbänden,
Unternehmen, von Agenten prominenter Personen aller Sparten und Klassen und
auch von älteren Politikern natürlich, die sich um ihr Bild in der Geschichte sorgten.
Ja, unser Archiv wusste viel, sehr viel sogar, aber hier zeigte sich: Sie überschätzen
uns maßlos.
Wir fühlten uns immerhin geschmeichelt. Hätten wir uns denn kleiner machen sollen,
als die Welt uns sah? Keiner bekam die Antwort: Wir haben nichts über Sie. Jeder
bekam die Antwort: Sofern wir etwas über Sie haben, bringen wir es in die höchste
Sicherheitsstufe. Viele ließen trotzdem nicht locker. Viele stellten Löschantrage in
immer neuen Angelegenheiten, viele wollten Daten gelöscht haben, die wir nicht
hatten und von deren Existenz wir uns nie hätten träumen lassen. Auch all diese
Löschanträge archivierten wir natürlich, und damit bereicherten wir unser Archiv.
Nach ein paar Monaten ebbte die Flut der Löschanträge endlich ab. Was blieb, waren
die Ängste. Könnte Hackern demnächst gelingen, was diesmal nur fast gelungen
war?
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Vorsorgliche Löschanträge überrollten danach auch andere Zeitungsarchive,
Internetportale, soziale Netzwerke, Behörden, Schulen, Universitäten, Unternehmen
und sonstige Organisationen. Dann kam der Ruf nach weiterer Strafverschärfung für
Hacker. Aber dann war es fast so schnell vorüber, wie es gekommen war. Die
Öffentlichkeit ließ sich von Schlimmerem ablenken, von Dingen wie dem neuen
Terror im Nahen Osten und in Indien und dem scheinbar ausweglosen Ausgang der
Bundestagswahl. Keine Rede mehr vom drohenden Ende aller Datensicherheit, keine
Rede davon, dass Medien, Regierungen und Historiker künftig von den Hackern
dieser Welt mit gestohlenen Informationen überschüttet würden und Wahres von
Falschem immer schwerer zu trennen sei. Wenn aber unser digitales Archiv von
einem so kleinen Team fast gekapert worden war, was alles würden dann größere
Teams anrichten können? Auch das trat in den Hintergrund.
In den Jahren danach ließ der Verlag mich - "auch Archivare müssen ja mal raus" –
mehrere Reisen zu Archiven anderer Verlage machen. Bei allen großen Verlagen
waren Cyberabwehr und Datensicherheit zum Spitzenthema geworden, fast alle
hatten ihre digitale Abwehr ähnlich aufgerüstet wie wir, aber sicher fühlten sie sich
trotzdem nicht. Erst als ich ein paar hochkarätige Symposien über Hackerangriffe
besucht hatte, wurde mir klar, wie weit Regierungen und staatliche Institutionen,
Parteien und ihre Stiftungen, Ministerien, Kanzleramt, Geheimdienste, große
Nichtregierungsorganisationen und die meisten Großunternehmen ihre
Hackerabwehr schon ausgebaut hatten. Manche bauten dafür große eigenständige
Antiterroreinheiten auf. Aber fast alle waren auch schon dabei, ihre Datenbestände
zu bereinigen. Weil eben Shreddern nicht mehr helfe. "Was wir nicht mehr haben,
kann uns niemand stehlen", war eine der neuen Devisen.
Natürlich hatte ich schon seit meiner Studentenzeit die sporadischen Meldungen über
Cyberattacken gegen Unternehmen, Kanzler, Präsidenten, Ministerien,
Fernsehsender, Medienkonzerne und andere Organisationen beiläufig verfolgt, aber
ich hatte dies als ein normales kriminelles Hintergrundgeschehen genommen. Nun
erst begriff ich, wie weit der globale digitale Rüstungswettlauf schon
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vorangeschritten war, mit Beteiligung von Staaten und von kommerziellen,
kriminellen, politischen und privaten Organisationen.
Die Cyberabwehr war noch immer Sache hochprofessioneller Spezialisten, von deren
Tätigkeit sich kaum irgendjemand anderer ein Bild machte. Auch ich hatte noch
keinen Gedanken daran verschwendet, dass daraus einmal eine veritable digitale
Rüstungsindustrie werden würde. Aber schon auf den nächsten Symposien, an denen
ich teilnahm, war die Rede von datensichernder Landesverteidigung. Dabei fiel mir
wieder einmal eine Bemerkung von Hauser ein: Alle größeren Streitkräfte dieser
Welt könnten nicht nur Verteidigung, sondern auch Angriff, also seien fast alle
Verteidigungsministerien dieser Welt potentielle Angriffsministerien. Da wurde auch
mir endgültig klar, was beim digitalen Rüstungswettlauf auf dem Spiel stand. Die
Angreifer sind natürlich nicht nur Hacker, ob kriminelle, gekaufte oder
Überzeugungstäter, es sind auch Staaten, und Staaten greifen nicht nur Unternehmen,
sie greifen auch Staaten an. Hacker sind digitale Terroristen, Staaten würden digitale
Kriege führen. Hacker würden im schlimmsten Fall ein digitales 9/11 anrichten,
Staaten ein digitales Hiroshima.
Zusammen mit Hauser rätselte ich darüber, welche Staaten zuerst zu solchen Tätern
werden würden oder schon geworden waren. Gerade als Archivare hätten wir es aber
längst besser wissen können. Wir hätten schon vor vielen Jahren im eigenen Archiv
herausfinden können, dass das amerikanische Militär schon im Irak-Krieg
systematische Cyberangriffe auf fremde Kommunikationssysteme ausgeführt hatte,
und Hauser hätte sich erinnern können, dass die Vereinigten Staaten 2007 iranische
Atomanlagen sabotiert und vorübergehend lahmgelegt hatten. Wir hätten auch
herausfinden können, dass die Vereinigten Staaten schon Anfang des Jahrhunderts
begonnen hatten, eine machtvolle Abteilung für Finanzkriegführung aufzubauen, und
dass andere Staaten ihnen gefolgt waren. Es gab also längst Staaten, die die Geldund Finanzwirtschaft anderer Staaten massiv sabotieren und großenteils lahmlegen
konnten, und auch dieses Finanzkriegs-Know-how ließ sich natürlich für andere
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Cyberangriffe weiterentwickeln. Angriffe auf Verlage und Verlagsarchive waren ein
Randgeschehen.
Der Verlag vervielfachte in den folgenden Jahren den Aufwand für digitale Abwehr,
und danach glaubte ich, das Archiv sei nun so gut wie unangreifbar geworden. Ich
hatte daher das Werbeblatt für ein weiteres Seminar über Hackerabwehr schon
wegwerfen wollen, als mein Blick noch auf den Namen des Veranstalters fiel: H. &
C. Consulting Henrichs und Cramer. In kleiner Schrift darunter: Rolf Heinrichs,
Constanze Cramer.
Constanze Cramer? Natürlich, das konnte niemand anders sein als sie, als die
Constanze, die ich schon lange nicht mehr gesehen und schon lange hatte
wiedersehen wollen. Jetzt musste ich, um sie wiederzusehen, nur meine Anmeldung
zum Seminar abschicken.
Das Seminar fand in Berlin statt. Für die Seminarteilnehmer waren Zimmer in einem
kleinen Hotel am Alexanderplatz gebucht, und dort waren wir - auf meine
Anmeldung hatte Constanze sofort mit einer kurzen Mail geantwortet - für den
frühen Abend vor dem ersten Seminartag verabredet.
Als wir uns dann in der Hotellobby gegenüberstanden, erschrak ich. Wie sie in den
sieben Jahren seit unserem letzten Treffen gealtert war! Hätte ich nur flüchtig
hingesehen, hätte ich sie nicht wiedererkannt. Einen Moment lang schien es, als
musterte auch sie Altersspuren in meinem Gesicht, aber dann war da nur ein
herzliches Willkommenlächeln.
- Matthias, sagte sie, endlich sehen wir uns wieder.
Wir setzten uns an einen kleinen Tisch vor der Hotelbar und sahen einander
sekundenlang wortlos an.
- Wir zwei von der Generation Sichtflug, sagte sie dann mit einem amüsierten
Grinsen. Sind wird das eigentlich noch immer?
Ich zögerte.
151
- Ja, was sonst, gab sie dann selbst die Antwort. Wir haben an Lebenserfahrung
gewonnen, aber viel klüger geworden sind wir vielleicht nicht.
Wie konnte sie wissen, ob und wie viel ich über die Jahre klüger geworden war?
Aber hatte sie nicht, dachte ich dann, an sich selbst, an ihre eigene Klugheit, schon
früher einen höheren Anspruch gehabt als ich? Meinte sie nur, dass wir beide
weniger klug waren, als es eigentlich nottäte?
- Ja, sagte ich schließlich, wir sind beide keine Hausers. Hauser hat seine private Zeit
mit Denken verbracht, wir mit unseren Zwillingen. Das ist der Unterschied.
Sie stutzte. Dann beugte sich wortlos zu mir herüber, fast als wollte sie mir für diese
Erklärung um den Hals fallen.
Am nächsten Morgen saß mir eine andere Constanze gegenüber. Jetzt war sie die
souveräne Seminarleiterin, ein paar Jahre verjüngt, makellos geschminkt, perfekte
Frisur, elegant gekleidet, sachlich im Tonfall, kein privates Wort mehr. Stattdessen
fing sie selbst vom Hackerangriff auf das Archiv an, und dann kam das Gespräch fast
ohne mein Zutun auf das digitale Wettrüsten. Constanze war genau im Bilde.
In ihrem Consulting- und Seminargeschäft, erklärte sie, würden immer mehr Fragen
zum digitalen Wettrüsten gestellt, darauf müsse sie Antworten parat haben. Und dann
weiter in fast dozierendem Tonfall: Das digitale Wettrüsten sei ein Wettlauf, bei dem
niemand genau wisse, wer gerade in Führung liege. Deswegen könne sich niemand je
ganz sicher fühlen, Staaten nicht, internationale Organisationen nicht, Unternehmen
nicht, Verlage nicht und natürlich auch nicht deren Archive.
Dieses Wettrüsten, fuhr sie fort, werde dem atomaren Wettrüsten immer ähnlicher.
Hackerangriffe könnten, das wisse ich natürlich, umso mehr Schaden anrichten, je
abhängiger die Opfer von elektronisch gespeicherten Daten seien. Noch könnten an
diesen Daten nur paar Dutzend Staaten und Unternehmen Schäden von kriegerischer
Dimension anrichten, aber es würden immer mehr, und jederzeit könnten neue
Schurkenstaaten mit kriegstauglichen Cyberwaffen dazukommen.
152
Dabei werde die digitale Rüstungsindustrie natürlich immer mehr dubiose, käufliche
und böswillige Gestalten anlocken, die irgendwann bereit seien, von der digitalen
Verteidigung in den digitalen Angriff überzuwechseln, und selbst mafiöse
Organisationen würden die weltweit hochbegabtesten Hacker mit Stargagen zu
ködern versuchen. Die Welt wisse ja längst, was alles durch Cybersabotage
lahmgelegt werden könne, vom Geldverkehr, Flugverkehr, der Telekommunikation,
der Energieversorgung, von Atomkraftwerken, Aktienbörsen, der Wasserversorgung
und der Verkehrslenkung über militärische Systeme bis hin zu Flugzeugen,
Operationssälen, elektronisch gesteuerten Prothesen und Fütterungsanlagen in der
Nutztierhaltung. Hilflose Ingenieure, Kaufleute, Banker, Ärzte, Militärs und viele
andere, auch Privatleute natürlich, würden handlungsunfähig vor schwarzen
Bildschirmen sitzen, im schlimmsten Fall natürlich alle zugleich. Hoch entwickelte
Länder würden vorübergehend auf Lebensweisen zurückgeworfen, die die Jüngeren
dort nie gekannt haben und nicht mehr beherrschten. Vergleichsweise, sagte
Constanze, seien selbst die bösesten Cyberwaffen ja zivilisierte Waffen, sie ließen
die meisten ihrer Opfer immerhin leben, aber sie machten sie hilflos.
Wie man sich denn davor in Zukunft schützen könne, fragte ich.
Ihre Antwort: Wir werden immer verwundbarer. Jedes Jahr, jedes Jahrzehnt etwas
mehr.
- Wer ist wir?, fragte ich. Die Bürger, der Staat, die Wirtschaft?
- Friseure und Yogalehrer natürlich weniger, sagte sie mit einem sarkastischen
Lächeln. Und dann: Der hoch entwickelte Staat ist am stärksten gefährdet, aber er ist
natürlich auch die größte Gefahr.
Was später als das digitale Hiroshima bezeichnet wurde, kam genau fünf Jahre
danach. Dass schon seit Längerem nicht nur die USA, China, Russland, Indien und
Großbritannien, sondern mindestens ein Dutzend weiterer Staaten andere Staaten mit
einem Cyberangriff wirtschaftlich und militärisch lähmen konnten, war längst ein
offenes Geheimnis gewesen. Aber würde je ein Staat einen solchen Angriff wagen?
153
Würde überhaupt je ein Staat ein plausibles Motiv dafür haben? Nein, war lange die
gängige zuversichtliche Antwort gewesen, aber sie war eben falsch. Die richtige
Antwort war: Wie die USA im August 1945 in Hiroshima das atomare Exempel
statuiert hatten, würden sie irgendwann in diesem Jahrhundert einen exemplarischen
digitalen Blitzkrieg führen. Eines ihrer Motive: sich noch einmal ihrer
Weltmachtrolle zu vergewissern.
Zuerst traf es Nordkorea, kurz danach das unberechenbar gewordene Katar, das mehr
als zwei Jahrzehnte lang islamistische Terrororganisationen und Schurkenstaaten
finanziell unterstützt hatte. Nach diesen beiden Attacken hatte endgültig der kalte
Cyberkrieg begonnen. Wie siebzig Jahre vorher in den atomaren schlitterte die Welt
nun in den digitalen Overkill. Und wie der vorige kalte Krieg eine Zeit geistiger und
moralischer Erstarrung gewesen war, so auch diesmal.
Können wir heute, zu Beginn des letzten Jahrhundertviertels, auf die Geschichte
unseres kalten Krieges schon so distanziert zurückblicken, wie man Anfang des
Jahrhunderts auf die Geschichte des kalten Atomkriegs zurückblickte? Natürlich
nicht. Der erste Atomwaffeneinsatz war zumindest ein heilsames Inferno gewesen,
das die Menschheit vor sich selbst hat erschrecken lassen. Das digitale Hiroshima
war weder ein solches Inferno noch ein heilsamer Schock. Es traf mit Nordkorea
einen rückständigen Staat, der die vorübergehende digitale Hilflosigkeit
vergleichsweise leicht verkraftete.
Noch immer sind im kalten Cyberkrieg die Beteiligten für nichts reif, das wenigstens
einem Atomwaffensperrvertrag gleichkäme. Noch ist nicht einmal verwunden, wie
wenig der Cyber-Blitzkrieg gegen Nordkorea bewirkt hat. Natürlich hatten die USA
sich nicht träumen lassen, dass die Bürger Nordkoreas nach diesem Angriff enger
denn je zusammenrücken würden, dass das Regime danach freiere Wahlen denn je
veranstalten und dabei einen klaren Sieg erringen würde, dass die Angegriffenen sich
danach als stolze Opfer feiern würden und der erfolgreiche Angreifer, die USA, am
Ende blamiert sein würde, dass das ebenfalls angegriffene Katar sich mit Hilfe
Chinas von dem Angriff rasch erholen und beide sich danach zu umso erbitterteren
154
Gegnern der USA wandeln würden. Nichts davon hatten die USA geahnt. Sie hatten
seit dem Zweiten Weltkrieg viele echte oder vermeintliche Feinde nutzlos bekriegt,
aber offenbar nichts daraus gelernt.
Immerhin Eines war nach diesen ersten Akten von Cyberkrieg erreicht: Den USA
und anderen digitalen Weltmächten dämmerte langsam: Verwundbar sind alle, aber
am verwundbarsten sind wir selbst. Wir sind dem vordigitalen Leben gründlicher als
alle anderen entwöhnt, also würden die Zerstörungen eines Cyberkriegs uns hilfloser
machen als alle anderen. Also sind wir es, die sich am allermeisten vor einem
solchen Krieg fürchten müssen.
Als ich am Ende des Seminars mit Constanze darüber sprach, welche Veränderungen
des zweiten Jahrhundertquartals wir am wenigsten vorausgeahnt haben, waren wir
uns schnell einig. Es war die neue Verwundbarkeit. Und einig waren wir uns auch
darüber, dass diese Verwundbarkeit bleiben würde. Sie würde immer wieder
verdrängt werden, aber sie würde so wenig verschwinden wie die Atomwaffen und
die atomare Bedrohung. Die Menschheit würde sich damit so gut es irgend geht
arrangieren müssen.
Constanze hatte zu dieser Zeit aber auch ganz andere Bedrohungsszenarien vor
Augen. Eines der bedrohlichsten Szenarien sei, dass Staaten immer abhängiger von
anderen Staaten würden, die über Monopole für weltweit immer knapper werdende
Energieträger und Rohstoffe, für Metalle oder seltene Erden oder auch früher
unerschöpflich geglaubten Stoffe wie Wasser, Sand und Holz verfügten. Die Frage
werde daher sein, wie die Menschheit mit all diesen neuen Verwundbarkeiten,
diesem neuen gegenseitigen Bedrohungs- und Erpressungspotential von Staaten
umgehen werde. Sie fürchte, sagte Constanze, die Menschheit schlittere in diese neue
Zeit so unvorbereitet hinein wie im 20. Jahrhundert in die Ära der Weltkriege und
der Atomwaffen. Auch in ihrer Consultingpraxis sei sie nicht auf höher entwickeltes
Bewusstsein gestoßen, allenfalls auf höher entwickelte Ängste.
155
Dann nannte sie ein Beispiel, das auch mich erschütterte. Cyberwaffen könnten
künftig von Staaten genutzt werden, um von anderen Staaten Entschädigungen für
vielerlei früher erlittenes Unrecht zu erpressen. Dabei gehe es nicht nur um
Reparationen. Vorstellbar sei zum Beispiel, dass den bisherigen Industrie- und
Wohlstandsstaaten eines Tages vorgerechnet werde, was sie mit ihren maßlosen
klimaschädigenden Immissionen und mit ihrem maßlosen Ressourcenverbrauch
anderen Nationen an Wohlstandschancen genommen hätten. Würden diese Nationen
ihr Drohpotential im kalten Cyberkrieg ausschöpfen, dann werde die Welt in den
schlimmsten bisher denkbaren kalten Krieg schlittern.
Ich hatte keinen Grund zu widersprechen, ich konnte nicht einmal kluge Fragen dazu
stellen. Aus reiner Verlegenheit fragte ich dann, was Hauser wohl dazu sagen würde,
und auch darauf hatte Constanze eine Antwort. Hauser, sagte sie, würde fragen, ob
die Demokratie uns hilft, diese Herausforderungen zu bewältigen. Wo denn die
demokratischen Politiker seien, würde er fragen, wo die demokratischen
Regierungen, die demokratischen Parteien und die internationalen Organisationen,
die solchen neuen Herausforderungen gewachsen sind.
- Und er würde sagen, dass er sie nirgendwo sehe?
- Ja, und dass Wahlen daran nichts ändern.
- Weil demokratische Parteien und demokratische Staaten damit systematisch
überfordert sind?
- Matthias, sagte Constanze, mit wem außer mit dir kann man solche Gedanken so zu
Ende denken?
Ich war etwas verlegen. War der Gedanke für sie hiermit zu Ende gedacht? Oder war
dies wirklich als Frage gemeint? Sollte ich sagen: Mit dir? Oder: Danke für das
Kompliment? Nein, beides nicht, dachte ich dann, und genau dabei fiel mir die einzig
richtige Antwort ein:
- Mit Tian, sagte ich.
156
Nun war ich es, der das Gespräch weiterführte. Ich erzählte ihr über meine Zeit mit
Tian und darüber, wie er über die Demokratie dachte. Dass Demokratien mit einem
Problem wie dem kalten Cyberkrieg überfordert sein mögen, aber, wenn Tian Recht
habe, das chinesische Regime eher nicht.
- Vielleicht, sagte ich, ist es China, das in der Befriedung des kalten Cyberkriegs
einmal die führende Rolle spielen wird.
- Glaubst du das wirklich?, fragte sie ungläubig.
Ich erschrak. Hatte ich diesen Anschein erweckte? Ja, so hatte es wohl geklungen.
Ich hatte einen von Tians Gedanken so selbstverständlich vorgebracht, als sei er mein
eigener. Und ich schämte mich dessen nicht. Ich war sogar ein bisschen stolz darauf.
- Dass auch hierfür die Lösung aus China kommen wird, sagte ich noch
selbstbewusster, das dürfen wir nicht ausschließen.
Flächengewinne der Demokratie
Lässt sich der Fortschritt der politischen Zivilisierung auf der politischen Landkarte
darstellen? Kann man diesen Fortschritt nicht einfach mit der Ausbreitung der
Demokratie gleichsetzen, ihn also an den Veränderungen auf der Weltkarte der
Demokratie ablesen?
So einfach ist es natürlich nicht. Schon über die Frage, was man als Demokratie
gelten lässt und was nicht, welche Staaten also im politischen Geschichtsatlas als
Demokratien auszuweisen wären, gehen die Meinungen weit auseinander. Sind
Staaten, in denen die demokratischen Verfahren praktiziert werden, in denen aber
trotzdem Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit missachtet
werden, Demokratien? Gehören Staaten, deren Wähler die Macht in unzivilisierte
Hände gelegt haben, auf die Weltkarte der Demokratie? Natürlich gehören sie dahin,
aber viele wollen dies trotzdem noch immer anders sehen. Viele wollen eine
Demokratie nur dann als Demokratie gelten lassen, wenn der demokratische Prozess
in zivilisierte Politik mündet. Damit wollen sie den Demokratiebegriff schützen, aber
157
sie erschweren damit zugleich die Auseinandersetzung mit den Schwächen der
Demokratie.
Zählt man zu den Demokratien aber alle Staaten, die demokratische Verfahren
praktizieren, dann zeigt ein Geschichtsatlas der Demokratie dies: Die Demokratie hat
sich bis in die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts hinein über den allergrößten Teil der
Welt ausgebreitet, den größten Teil Afrikas und einen Teil der arabischen Welt
eingeschlossen. Die einzige wirklich große Ausnahme war zur Mitte des
Jahrhunderts noch China. Viel demokratischer konnte die Welt insofern zu dieser
Zeit nicht mehr werden.
Aber selbst China ist, so hatte schon Tian argumentiert, kein eindeutiger Fall. Für
Tian war China eine Demokratie besonderer Art. In China herrsche zwar - de facto
zumindest - die kommunistische Partei, China sei also ein Einparteienregime, aber
die Partei repräsentiere dort das Volk. Er wisse natürlich, dass das früher und noch
bis die jüngste Zeit anders gewesen sei, aber mittlerweile werde fast jeder Chinese,
der es wolle, in die Staatspartei aufgenommen, und dort könne er politischen Einfluss
nehmen. In einigen westlichen Demokratien müsse man sich, um wählen zu können,
als Wähler registrieren lassen. Der Eintritt in die chinesische Staatspartei sei nicht
mehr viel anderes als eine solche Registrierung.
Ich wandte ein, in China seien nicht einmal zehn Prozent der erwachsenen Bürger
Parteimitglieder, das chinesische System sei insofern die Herrschaft dieser
Minderheit. Aber auch das ließ Tian nicht als Argument gelten. Auch in westlichen
Demokratien, sagte er, befassten sich allenfalls zehn Prozent der erwachsenen Bürger
halbwegs gründlich mit politischen Sachfragen, und Politik würde doch eher besser
als schlechter, wenn nur diese zehn Prozent über sie bestimmten. Dazu fiel mir kein
schlüssiges Gegenargument ein.
Bei einem späteren Treffen habe ich auch darüber mit Hauser gesprochen. Sein
spontaner Kommentar war:
- Kluger Kopf, dieser Tian.
158
Hauser war eben immer noch für Überraschungen gut. Natürlich hatte ich von ihm
etwas anderes erwartet. Vielleicht ein mitleidiges: Chinesen sind eben immer noch
keine Demokraten. Oder ein sachliches: China ist eben noch nicht reif für die
Demokratie. Stattdessen sagte er:
- Über diesen Tian würde ich gern mehr wissen.
Dann erzählte ich ihm, dass Tian das Einparteiensystem mit fast dem gleichen
Argument gerechtfertigt hatte, das er, Hauser, mir vor langer Zeit einmal vorgehalten
hatte. Wie Tian nämlich argumentiert hatte, dass die Politik im Mehrparteiensystem
der Politik im Einparteiensystem immer ähnlicher werde, da ja im
Mehrparteiensystem die Unterschiede zwischen den Parteien immer geringer
würden; dass daher in vielen demokratisch gewählten Parlamenten - trotz allen
verbalen Streits - die Meinungsvielfalt kaum größer sei als in der kommunistischen
Partei Chinas; dass insofern das westliche System und das chinesische sich weit
angenähert hätten, und zwar beiderseits, auch wenn man sich das im Westen nicht
eingestehe.
Hauser verfiel darauf in ein längeres Schweigen.
- So, sagte ich schließlich, scheinen Chinesen noch immer zu denken, auch die
klügeren unter ihnen.
Wieder keine Antwort.
- Tian, sagte ich, findet also das chinesische Einparteiensystem fast so gut wie unsere
parlamentarische Demokratie. Gewagte These.
- Nein, nein, sagte Hauser. Nein, gewagt ist es ganz und gar nicht. Es nur falsch
formuliert.
- Wie würdest du es denn formulieren?
- Ich würde sagen: Unser Mehrparteiensystem ist fast so schlecht wie das chinesische
Einparteiensystem.
159
Ich sah ihn wortlos an. Er schien es zu genießen, erwiderte meinen Blick und
wartete. Dann sagte er:
- Ja, das hätte auch ich bis vor Kurzem nicht so formuliert, aber man wird ja auch als
alter Mann noch klüger.
Unser Mehrparteiensystem ist fast so schlecht wie das chinesische
Einparteiensystem. Dieser Satz hallt in meiner Erinnerung noch immer nach.
Als wir dann auseinandergingen, sagte Hauser noch:
- Lass den Kontakt zu diesem Tian nicht abreißen.
Aber zurück zur Ausbreitung der Demokratie. War in den vierziger Jahren unseres
Jahrhunderts nicht doch Wirklichkeit geworden, was fünfzig Jahre vorher als Ende
der Geschichte bezeichnet worden war? War mit diesem Zustand die Geschichte der
politischen Zivilisierung nicht so gut wie beendet? Würden die Staatsbürger dieser
Welt sich nicht bald zurücklehnen können im Wissen: Ab jetzt wird das gleiche
politische Spiel mit den gleichen Regeln für immer weitergespielt? Ja, es gab noch
immer gescheiterte Demokratien, noch immer waren in demokratischen Staaten
Staatsgrenzen und Fragen der Staatszugehörigkeit gewaltsam umkämpft, und noch
immer gab es demokratische Staatsführungen, die mit Terrororganisationen
kooperierten, noch immer stieß legitimer Separatismus auch in Demokratien auf
staatliche Repression, noch immer herrschte in den meisten demokratischen Staaten
extreme soziale Ungleichheit, noch immer gab es in vielen Demokratien
wiederkehrende Perioden von Massenarbeitslosigkeit, noch immer gab es unter
demokratischen Regierungen Staatspleiten, noch immer genossen Bürger
demokratisch regierter Staaten großenteils nur elementarste Bildung, noch immer
gab es in Demokratien Drogenkriege und noch immer waren viele demokratische
Staatsapparate von Korruption und von organisierter Kriminalität durchsetzt. Noch
immer konnte man sich also eine viel bessere Welt wünschen als die bestehende
demokratische. Aber waren nicht zumindest die Spielregeln, nach denen die Welt
weiter zu verbessern wäre, zu Ende entwickelt? Konnte man sich, wenn man
160
realistisch war, als Staatsbürger überhaupt Größeres wünschen, als
Parlamentsabgeordnete und politische Amtsträger mitwählen zu dürfen?
Nein, eigentlich nicht, im Großen und Ganzen wenigstens, so dachte auch ich
damals. Natürlich waren die Möglichkeiten der direkten Demokratie, der
Volksentscheide über politische Sachfragen also, nicht ausgeschöpft, aber ob etwas
mehr direkte Demokratie die Politik wirklich besser machen würde, das wusste
niemand genau. Ob es Besseres geben könnte als die bestehende Demokratie, die so
genannte repräsentative also, die eine Parteiendemokratie ist, erschien insofern
höchst zweifelhaft.
Hauser hatte über die Demokratie einmal gesagt, sie sei in die Fläche gewachsen,
aber nicht in die Tiefe. Darüber, wie eine vertiefte Demokratie aussehen könnte,
hatte er nichts gesagt außer, dass wir uns davon dringend ein Vorstellung machen
müssten.
Er hatte natürlich Recht. Wie konnten wir uns auch mit der Demokratie, wie sie ist,
abfinden, wo doch immer noch junge Demokratien tragisch scheiterten, wo die
politische Zivilisierung in den meisten Demokratien kaum vorankam und Bürger in
vielen demokratischen Staaten wieder Sympathien für die Autokratie entwickelten?
Musste der Westen nicht wenigstens diesen Staaten, früheren Kolonien zum Teil,
eine für sie geeignetere Staatsform finden helfen?
Nichts davon war geschehen, und nichts davon zeichnete sich ab. Die meisten
Demokratisierungsversuche in der arabisch-muslimischen Welt hatten in einem
zivilisatorischen Fiasko geendet. Innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen hätten hier
hundertmal demokratische Wahlen abgehalten werden können, ohne dass damit
innerstaatlicher Frieden gestiftet worden wäre. Kein Wunder also, dass so viele
Bürger dieser Region immer noch so wenig Hoffnung in die herkömmliche
Demokratie setzten. Worauf sonst aber hätten sich dort politische Hoffnungen
gründen lassen? Dass irgendein weiser arabischer Staatsgründer die Weltbühne
betreten und Wegweisungen geben würde, die der Westen nicht zu geben in der Lage
161
war? Das erwartete niemand. Kein Wunder also auch, dass die über Staatsgrenzen
zerstrittene arabische Welt die Neuordnung mit den gleichen Mitteln versuchte wie
früher Europa: mit erbittertem Krieg.
Nirgendwo war in dieser Zeit klarer zu erkennen, wie wenig Demokratie und die
Aussicht darauf Menschen vor Politikversagen schützten. Trotzdem blieb die
westliche demokratische Welt weiter darauf fixiert, die Flächengewinne der
Demokratie abzusichern und zu vollenden. Konzepte, die auf, wie Hauser es nannte,
eine Vertiefung der Demokratie abzielten, waren nicht gefragt, und die neu
gegründeten Neokraten, die als einzige im Sinne einer gründlich vertieften
Demokratie argumentierten, machten immer noch kaum von sich reden. Daran
änderte auch der desolate innere Zustand vieler etablierter Demokratien nichts und
auch nicht die Tatsache, dass Anfang der vierziger Jahre die Wahlbeteiligung in fast
allen etablierten Demokratien auf neue historische Tiefstände sank.
Einen neuen Tiefststand erreichte auch das Niveau demokratischer Wahlkämpfe.
Deutschland hatte immer noch das Glück, dass mit Guttenbergs Deutschen
Demokraten eine vergleichsweise zivilisierte Partei das rechtspopulistische
Wählerpotential einfing. Wer die Deutschen Demokraten zur Gefahr für die
Demokratie aufbauschte, der konnte dabei nur verlieren. Im Wahlkampf 2041
nahmen die Altparteien sich daher die Muslimisch Soziale Union als Feindbild vor,
und in ihrem verzweifelten Kampf um Aufmerksamkeit überboten sie sich dabei
gegenseitig in polemischer Rhetorik. Es war das bis dahin unwürdigste
Wahlkampfspektakel in der Geschichte der Bundesrepublik.
Wankendes Vorbild Europa
Früher hatte ich nie das Gefühl gehabt, als Archivar irgendwie anders zu sein als
andere. Hätte mir - ein Beispiel nur - jemand gesagt, Archivare seien nicht gerade
unterhaltsam, hätte ich geantwortet, dass wir uns manchmal als Kleinkunstbühne
fühlten, die Archivwissen für die Redaktion aufführt. Aber die Archivarbeit hatte
sich natürlich gewandelt, sie war noch nüchterner und sachlicher geworden als
162
immer schon. Niemand, der - wie ich früher - eigentlich Redakteur werden wollte,
wäre noch auf die Idee gekommen, sich im Archiv zu bewerben. Aber ich mochte die
Menschen, die zu uns kommen wollten. Wer waren denn auch die anderen, die uns
Archivare für Langweiler hielten? Für mich waren es Menschen, die ihr Leben zu
rastlos, zu gewollt und oft auch gekünstelt inszenierten, als Show, als Abenteuer oder
auch als Talkshow. Im Archiv brauchten wir solche Leute nicht. Dann doch lieber
Langweiler.
Nicht das Übliche, dachte ich, und nicht, was wir brauchen, als ich die Bewerbung
eines Klaus Mittermaier durchblätterte. Studium der Romanistik abgebrochen,
diverse Praktika, kurzfristige Aushilfsjobs, zurzeit ohne Beschäftigung. Auf dem
Foto die Haare zu einem kurzen Zopf gebunden, Fünftagebart, zerknittertes Hemd,
Wolljacke. Gerade gut genug für eine Bewerbung als Kurierfahrer, dachte ich.
Auffällig nur die Augen. Der Blick etwas gelangweilt, aber hintersinnig. Vielleicht
war es das, was mich noch einmal hinschauen und einen zweiten Blick auf den
Lebenslauf werfen ließ. Da sah ich: Ein Praktikum bei H. & C. Consulting. In
Constanzes Firma. Vor zwei Monaten.
Dann das Bewerbungsgespräch. Seine Fettleibigkeit gut unter lockerer Kleidung
verborgen, etwas linkisch in seinen Bewegungen, aber keine Spur von Unsicherheit.
Und dann die Stimme. Ein melodischer, auch im leisen Tonfall raumfüllender Klang.
Der kurze Bart verbarg nicht ein angedeutetes Dauerlächeln, von dem man nicht
wissen konnte, ob nicht auch eine Spur Herablassung darin lag.
- Ich soll sie übrigens von Constanze Cramer grüßen. Ist ja eine enge Freundin von
Ihnen. Das war einer seiner ersten Sätze.
Constanze eine enge Freundin? Studienbekanntschaften, Ex-Kollegen, die einander
respektierten und mochten, das waren wir, aber viel mehr doch nicht. Nun stand hier
dieser Büroassistentenbewerber, dieser Klaus Mittermaier, und erklärte mir, dass sie
meine enge Freundin war.
163
Als ich dann weiterfragte, kamen diese scheinbar perfekten, routinierten Antworten,
mit einer Selbstverständlichkeit vorgetragen wie nach einem langen
Bewerbungstraining, makellos und immer mit diesem verdeckten Mona-LisaLächeln. Wäre sein Aussehen nicht gewesen, hätte ich gedacht: ein gepflegter
Bildungsbürger.
"Danke für Ihren Besuch. Wir melden uns dann bei Ihnen." So knapp und sachlich
beendete ich das Gespräch. Überzeugt hatte er mich nicht. Aber wie Millionen der
Neugier auf das Geheimnis der Mona Lisa nachgeben, gab ich der Neugier auf
diesen Mann nach. Zuerst schickte ich eine Mail an Constanze: Ob sie sich einen
Klaus Mittermeier, den sie wohl kenne, als Archivmitarbeiter vorstellen könne. Zwei
Tage lang ließ sie mich bangen, dann kam das erlösende: Wenn du Mut hast, dann
nimm ihn.
Wenn. Also doch eine Bedingung. Wie mutig war ich? Wie viel konnte und wollte
ich als Archivleiter noch riskieren? Nein, großen Mut hatte ich nicht, aber die
Neugier war umso stärker.
Der Personalchefin erklärte ich es schließlich so: Das Archiv drohe langsam zu
überaltern, auch im Archiv sollten wir uns dringend mit jungen Leuten verstärken,
nicht unbedingt solchen, die so dächten wie die meisten anderen, aber solchen, die
wüssten, wie die meisten Jüngeren dächten, und so einer scheine dieser Klaus
Mittermaier zu sein.
Mittermaier - ich nenne ihn ab jetzt Klaus - war nicht auf Jobsuche gewesen, um
irgendwo lange zu bleiben, erst recht nicht in irgendeinem Archiv. Aber er blieb.
Vielleicht hätte man ihn nirgendwo sonst lange ertragen, schon wegen seiner kleinen
launigen Marotten. Im Archiv trug er meistens - "Empfehlung meines Orthopäden" Sandalen, aber manchmal tänzelte er auch barfuß summend und fast schwebend über
die Büroflure. Ich hielt, solange ich konnte, eine schützende Hand über ihn.
Klaus war ein Sonderling, aber seine Lieblingsrolle war die des gespielten NichtSonderlings. Wann immer jemand ein gängiges Vorurteil unkritisch wiedergab,
164
stimmte er eilfertig zu, manchmal beiläufig, manchmal emphatisch, immer in einem
Tonfall, der jeden Zweifel zu ersticken schien, aber mit einer abgrundtiefen
unterschwelligen Ironie. So konnte er noch die dürftigsten, ja absurdesten Argumente
in täuschendem Wohlklang vortragen:
- Nein, Parteien überzeugen mich nicht, aber zum Wählen braucht man ja keine
Überzeugung.
- Ja, die Kriege der NATO-Staaten haben die Welt verbessert.
- Ja, für richtige Überzeugungen dürfen auch Glaubenskriege geführt werden.
- Ja, ohne Euro auf Dauer kein Wohlstand. Die Schweiz und Norwegen werden noch
ihr blaues Wunder erleben.
- Ja, mit Spekulation lässt sich genug Geld verdienen, produziert werden muss nicht
mehr.
Selten war er um solche Antworten verlegen, am allerwenigsten zum Thema Europa.
Der noch glühende oder auch der schon skeptische Europäer, das waren seine
Paraderollen. Er beherrschte alle europapolitischen Denkschablonen und deren
entlarvende Übertreibung. "Ja, ohne die EU hätte es auf deutschem Boden doch
längst wieder Krieg gegeben - kurze Pause - Kriege gegeben." Solchen Sätzen ließ
er, die Verblüffung des anderen genießend, ein dezent überlegenes Lächeln folgen.
Von überragender Intelligenz war er nicht, aber er war ein begnadeter Bloßsteller,
ohne jeden Anspruch, es besser zu wissen.
Schon in den dreißiger Jahren war von dem glühenden Europäertum, das die
Entwicklung der EU lange getragen hatte, nichts mehr zu spüren. Die Briten hatten
sich von solchem Europäertum von Anfang an am wenigsten anstecken lassen, aber
auch ihre Einstellung zur EU wurde immer distanzierter. Das zeigten auch die
mittlerweile zwei Referenden über den Verbleib in der EU, den die Europaskeptiker
der britischen Regierung abgetrotzt hatten. Auch das zweite Referendum ergab eine
denkbar knappe Mehrheit für den Verbleib, aber zu erklären war dies - ähnlich wie
seinerzeit beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum - nur durch die
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ängsteschürende Propaganda der Regierung und der etablierten Parteien. Auch nach
diesen Referenden blieben die britischen EU-Skeptiker die gefühlte Mehrheit. Das
Argument, dass in Europa die beiden Länder mit dem höchsten Wohlstand und der
höchsten Bürgerzufriedenheit nicht der EU angehörten, war den EU-Skeptikern für
den Wahlkampf zu spät eingefallen.
Die EU hatte unterdessen weitere Staaten aufgenommen, zuerst Serbien, dann
Montenegro und Mazedonien, danach Albanien, und für die Ukraine und Moldawien
hatten Aufnahmeverhandlungen begonnen. Die Türkei, Armenien und Georgien
sollten in einer weiteren Runde folgen. Schon vorher hatte eine langfristige Analyse
gezeigt, dass bei Europawahlen die Wahlbeteiligung tendenziell umso geringer
wurde, je größer die Zahl der Mitgliedsstaaten geworden war. Sie lag inzwischen bei
nur noch 30%.
Populistische Parteien, die meisten europaskeptisch, stellten im Europaparlament ein
Drittel, Klein- und Kleinstparteien etwa ein Viertel der Abgeordneten. Berechenbare
Mehrheitsverhältnisse gab es nicht, die meisten Abstimmungen gerieten zur Lotterie,
Ministerrat und Regierungschefs trafen sich in immer kürzeren Abständen zu
Krisensitzungen, und Entscheidungen, die der Zustimmung des Europaparlaments
bedurften, wurden kaum noch getroffen. Europa verwaltete seinen Status quo.
Die Politiker fühlten sich mit dieser EU weiterhin wohl, aber immer weniger Bürger
taten es. Umfragen zeigten, dass die Bürger vieler europäischer Regionen nicht mehr
EU-Bürger wären, wenn sie die Wahl hätten. Diese Wahl hatten sie aber nicht.
Genauer gesagt, die Politiker gaben sie ihnen nicht.
Oder doch? Gab es einen Trick, der das scheinbar Aussichtslose doch ermöglichen
könnte? Konnte man sich zum Beispiel aus Europa hinauswerfen lassen? Es waren
die Schotten gewesen, deren gescheitertes Unabhängigkeitsreferendum diese
Möglichkeit hatte aufscheinen lassen. Gründet ihr euren eigenen Staat, so war den
Schotten gedroht worden, dann seid ihr nicht mehr Mitglied der EU, und ihr werdet
es vielleicht nie mehr werden können. Die Schotten konnten damals noch nicht das
166
Positive darin sehen und ließen sich von dieser Drohung einschüchtern. Aber die
Saat separatistischer Neigungen, die auch den Ausstieg aus der EU suchten, reifte
weiter heran.
Separatistisches Streben nach staatlicher Eigenständigkeit kann auf kühlem Kalkül
beruhen. Es kann darauf beruhen, dass Bürger einer wohlhabenden Region ihren
Wohlstand nicht mehr mit Bürgern ärmerer Nachbarregionen teilen wollen. Aus
solchem ökonomischen Kalkül entstehen aber keine Massenbewegungen, die den
mühevollen Weg zur staatlichen Unabhängigkeit durchstehen würden.
Separatistische Massenbewegungen müssen von Emotionen getragen sein. Ihnen
geht es immer auch um Bedürfnisse nach politischer Identifikation. Im Europa der
EU entstehen solche Bewegungen dort, wo weder der Nationalstaat noch das
politische Europa diese Identifikation mehr schaffen.
In Katalonien zum Beispiel. Spanier zu sein war für die meisten Katalanen eher Last
als Lust, und die Zugehörigkeit zu Europa kompensierte dies nicht. Spanien legte
dem katalanischen Unabhängigkeitsstreben immer neue Steine in den Weg, und es
verschanzte sich dabei weiter hinter der Verfassung. Und weil all dies mit
ausdrücklicher Billigung der EU-Partner geschah, wendeten die Katalanen sich mit
ihren Aktionen schließlich direkt gegen Europa. Die Konsequenz war irgendwann
unvermeidlich: Der Wahlboykott bei den Europawahlen.
Ein kluger Schachzug war dies, klüger natürlich und von einer breiteren Mehrheit
getragen als alle denkbaren militanten Aktionen. Wir Katalanen wollen nichts
anderes als damals die russischsprachigen Ukrainer auf der Krim, war eines ihrer
Argumente, aber wir wollen es ganz aus eigener Kraft. Wer ins EU-Parlament
gewählt würde, war für die Katalanen sowieso unwichtig, so unwichtig wie für die
allermeisten Europäer, also würden sie sich mit einem Boykott der Europawahl nicht
schaden. Dieser Wahlboykott, das wussten die Katalanen natürlich, würde politisch
erst einmal wenig bewirken, aber er würde ein starker symbolischer Akt sein. Er
würde die Gegner der katalanischen Unabhängigkeit moralisch weiter in die
Defensive drängen.
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Es gibt wohl wenige Ereignisse, die das Denken über Europa in unserem Jahrhundert
stärker verändert haben. Bei der darauf folgenden Europawahl schlossen sich die
Schotten und in letzter Minute auch die Flamen dem Boykott an. Das Ergebnis
übertraf die Erwartungen. In Schottland, Katalonien und Flandern lag die
Wahlbeteiligung unter 20 %. Aber das war erst der Anfang. Den Europawahlen 2043
blieben nicht nur Separatisten demonstrativ fern, in ganz Frankreich, in ganz
Deutschland und auch in anderen Ländern sank die Wahlbeteiligung auf unter 25%.
Die Medien überschlugen sich in alarmistischen Kommentaren. Kann dieses EUParlament noch für die Bürger sprechen? Darf es überhaupt noch Entscheidungen
treffen? Ganz Europa wartete darauf, dass ein Ruck durch die Institutionen der EU
gehen würde, aber konkrete Vorstellungen von diesem Ruck schien es nicht zu
geben. Dann, ein paar Jahre nach der Desasterwahl, kam das, was eine Zeitlang der
Zweite Europäische Frühling genannt wurde.
Dieser Frühling kam nicht spontan, er war ein politisches Artefakt. Es begann mit der
fast zwei Jahre langen Imagekampagne für Europa, finanziert, wie sich später
herausstellte, aus zweckentfremdeten Mitteln des EU-Haushalts und nationaler
Regierungen und aus Spenden großer europäischer Industrie- und
Handelsunternehmen und Banken. Die Kampagne wurde konzipiert von den besten
und teuersten Werbeagenturen Europas, und sie wurde unterstützt von Prominenten
aus dem Showbusiness und dem Sport, von einigen Schriftstellern und Intellektuellen
und von Durchschnittsbürgern, die sich in Interviews als begeistere EU-Anhänger
präsentierten. Die etablierten Parteien hatten dabei natürlich im Hintergrund die
Fäden gezogen, und nun spielten sie das Spiel auch in vorderster Front mit. Sie
ließen Eigenwerbung von denselben Agenturen und ihn ähnlichem Stil konzipieren
wie die EU selbst.
Es war eine Werbekampagne, wie man sie in der Politik noch nicht erlebt hatte, eine
neue Mischung der Stile, humorvoll und doch seriös, populistisch und doch
anspruchsvoll, konkret und doch nebulös, vulgär und einen Hauch elitär, bescheiden
und doch selbstbewusst. Einer der Slogans: Wir trauen Ihnen vieles zu. Sie uns
168
auch?, darunter: Ihre EU-Kommission, dazu perfekt inszenierte Gruppenbilder
strahlender Kommissare, einige mit ihren Kindern, vor einer ehrfurchtheischenden
Landschaft oder städtischen Silhouette. Jeder Slogan, jedes Plakat, jedes Interview
spielte gekonnt auf solch verschiedenen Ebenen. Ein gefundenes Fressen natürlich
für Klaus, der auf den Fluren unseres Archivs Kollegen unvermittelt ansprach: Hey.
Ich trau' dir viel zu. Dann wartete er, die Sekunde der Verblüffung für eine
gnadenlos auffordernde Geste nutzend, bis der Kollege es herausbrachte: Ich dir
auch.
Die Kampagne funktionierte. Bei der nächsten Europawahl stieg zumindest in
einigen Ländern die Wahlbeteiligung deutlich an. Wieder überschlugen sich die
Medien. Europa blüht auf / Abgesang auf die EU abgesagt / Ohrfeige für die
Europa-Nörgler, und so weiter. Ich selbst kenne viele, die sich von der Kampagne
anstecken und zum Wählen mitreißen ließen. Und ich bekenne hier: Ich war einer
von ihnen. Und ich nehme es mir heute noch übel. Andererseits: Hätte es
irgendetwas verändert, wenn es diesen Anstieg der Wahlbeteiligung nicht gegeben
hätte? Sehr unwahrscheinlich.
Diese Kampagne hatte aber auch eine ungewollte Nebenwirkung: Sie trieb natürlich
auch manche Europaskeptiker wieder an die Wahlurnen. Europaskeptische
Populisten gewannen erstmals weit mehr als ein Drittel der Stimmen. Das
verschlimmerte noch die Entscheidungsschwäche der EU-Organe, aber die Politik
blieb dieselbe. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten machten weiter, als wäre nichts
geschehen. Der Europäische Frühling war fast so schnell vorbei, wie er gekommen
war.
Auch die dritte große Finanzkrise des Euro-Raums in den frühen vierziger Jahren
änderte daran nichts. Fast zwanzig Jahre lang war die Wirtschaft in den EuroLändern einigermaßen stabil geblieben, und die Staatsverschuldung war nicht weiter
ausgeufert. Aber nun brach wieder eine Krise aus wie Anfang des Jahrhunderts, eine
Bankenkrise also, eine Staatsverschuldungskrise, eine Konjunkturkrise und in Teilen
Europas dramatische Krisen einzelner Wirtschaftszweige. Auch diesmal waren die
169
südeuropäischen Staaten, wo sich die Jugend-Massenarbeitslosigkeit der vorherigen
Krise gerade erst zurückgebildet hatte, am schlimmsten getroffen. Aber auch diese
neue Krise nahmen die allermeisten Bürger noch mit erstaunlichem Gleichmut hin.
Ich hatte es zuerst anders erwartet, aber dann hatte ich das Glück, auch darüber mit
Constanze reden zu können.
Constanze erklärte es mir so: Die Wirtschafts- und Währungskrisen unseres
Jahrhunderts seien nicht weniger schlimm als frühere, aber Regierungen und
Zentralbanken hätten gelernt, sie zeitlich zu strecken. Gestreckt und damit quasi
verdünnt würde so auch die Empörung der Bürger. Zwischen Wirtschaftskrisen und
politischen Krisen gebe es daher keinen so engen Zusammenhang, wie es früher
vielleicht der Fall gewesen sei.
Es klang zu einfach, als dass es mich auf Anhieb überzeugte, aber je länger ich
darüber nachdachte, desto mehr leuchtete es mir ein. Und es erklärte nicht nur die
politische Folgenlosigkeit der jüngeren Wirtschaftskrisen. Könnte es nicht, dachte
ich, fast ein politisches Prinzip unseres Jahrhunderts sein? Früher hatten Krisen die
Bereitschaft geweckt, sich auf Neues einzulassen, in unserem Jahrhundert gibt es nur
noch schleichende Krisen, nach denen alles bleibt, wie es war. Wir leben nicht nur
im Jahrhundert schleichender Wirtschaftskrisen und eines schleichenden Weltkriegs.
Alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen unserer Zeit werden so weit
gestreckt, dass sie der politischen Phantasie keine zündenden Impulse mehr geben.
Könnte demnach das Drama dieses Jahrhunderts darin bestehen, dass es - zumindest
in der westlichen Welt - zu Dramen nicht mehr fähig ist? Ich wurde mir immer
sicherer: Kaum etwas hilft besser als diese Formel, unser Jahrhundert zu verstehen.
Zu dieser Formel passt natürlich, dass die erste Jahrhunderthälfte zu Ende ging, ohne
dass europapolitisch irgendein altes Dogma in Frage gestellt, geschweige denn über
Bord geworfen worden wäre, also auch ohne Antwort auf die Frage, wie weit die EU
sich noch erweitern sollte oder ob sie es - ohne Autorisierung durch die Bürger - mit
der Erweiterung schon viel zu weit getrieben hatte. Auch die weiter zunehmende
Stärker europaskeptischer Populisten hatte noch nicht das Zeug zum Drama. Man
170
hätte annehmen können, dass Populisten und Separatisten in Europa einen
politischen Schulterschluss versuchen würden, aber auch dazu kam es nicht. Dafür
waren den Separatisten die politischen Botschaften der Populisten zu anrüchig und
zu diffus, den Populisten die separatistischen Forderungen zu konkret. Stabile
politische Mehrheiten jenseits der etablierten Parteien zeichneten sich nicht ab. Das
politische Europa hatte es sich in seiner Sackgasse bequem gemacht. Der
europäische Separatismus brodelte unter der Decke alter politischer Dogmen und
Interessen, und der schleichende Dritte Weltkrieg fand woanders statt. Aber wie
lange konnte das noch gutgehen?
Ich gebe zu, dass auch ich lange dem rat- und tatenlosen Zeitgeist verfallen war. Was
gab es auch zu erwarten? Was zu befürchten? Wo keimten Veränderungen auf?
Wohin hätte man seine Antennen richten, wo hätte man Neuem auf die Spur
kommen können? Auch im Archiv hatten wir nicht das Gefühl, eine für Deutschland
und den Westen irgendwie spannende Epoche zu dokumentieren.
Vielleicht hätte ich diese Zeit anders erlebt, wenn ich wenigstens bis zur
Jahrhundertmitte noch so intensive Gespräche mit Hauser hätte führen können wie
vorher. Hauser blieb auch als gealterter Pensionär ein wacher Geist, aber er
beobachtete nicht mehr mit der früheren Unerbittlichkeit und Schärfe. Er blieb
dankbar, wenn ich ihn besuchte, aber die Zeit, in der er Fragen stellte, die es einem
wie Schuppen von den Augen fallen ließ, diese Zeit war nun vorbei.
Eine von Hausers späten tiefsinnigen Fragen war diese gewesen: Ob man nicht
irgendwann einmal werde fragen müssen, was aus Europa würde, wenn man mit der
europäischen Einigung noch einmal ganz von vorn anfangen könnte, unbelastet von
alten Dogmen. Auch er wisse natürlich nicht genau, was dann geschehen würde, aber
ganz sicher sei, dass dann etwas ganz anderes entstehen würde als das, was ist.
Sicher gebe es Errungenschaften, die niemand aufs Spiel setzen wolle, aber für die
Bürger stünden die alt gewordenen europäischen Institutionen nicht unter
Denkmalschutz. Auch politische Institutionen hätten so etwas wie eine natürliche
Lebensdauer und er, Hauser, sei überzeugt, dass das politische Europa über seine
171
natürliche Lebenserwartung schon weit hinaus sei. Viel konkreter hat Hauser sich
dazu nicht ausgelassen, aber Eines stand für ihn fest: Irgendwann werde mit dem
Aufbau eines politischen Europa noch einmal von vorn begonnen werden.
Ich war gerade mit solchen Gedanken zur Zukunft Europas beschäftigt, als eine Mail
von Tian auf meinem Handy erschien. Tian? Ich sah ungläubig auf das Display.
Wirklich Tian, mit dem ich über fünfzehn Jahre lang keinen Kontakt gehabt hatte?
Ja, er war es wirklich. Er schickte nur ein paar nüchterne kurze Sätze, kein Wort über
damals, kein Wort über die fünfzehn Jahre seit unserem letzten Kontakt, nur dies:
Bin gerade auf einem Kongress in Boston. Melde mich wieder. Herzlich. Tian.
Auch Hauser hatte sich früher gefragt, was aus diesem Tian wohl einmal werden
würde, und er war tief enttäuscht, dass der Kontakt zu ihm abgebrochen war. Nun
von Tian dieser Zweizeiler. Immerhin: Melde mich wieder. Meine ersten Gedanken:
Was würde er mir zu sagen haben? Welches Leben führt er heute, welche Arbeit
macht er, wie denkt er, was weiß er über sein Land, das wir nicht wissen? Und wenn,
würde er darüber reden können? Würde er es wollen? Fühlt er sich als freier Bürger?
Denkt er politisch inzwischen wie wir, wie westliche Demokraten? So ging es mir
eine halbe Nacht durch den Kopf.
Am nächsten Tag war mir klar: Meine Phantasie war mit mir durchgegangen. Tian
war immer noch Chinese, China war immer noch China, es war noch immer ein
Einparteienstaat, und China war noch immer Tians Heimat. Eine Abrechnung mit
dem chinesischen System, das Bekennerschreiben eines Dissidenten im westlichen
Geist, so etwas würde von ihm natürlich nicht kommen, und auch nichts darüber, ob,
wie und wo sich in China möglicherweise Umbrüche anbahnten. Nichts von all dem,
was man sich im Westen schon immer von vertraulichen Kontakten zu Chinesen
voreilig erhofft hatte. Andererseits war Tian nicht irgendwer. Etwas würde er zu
sagen haben. Mehr als viele Grüße aus Boston. Aber was?
Am Tag darauf dann die zweite Mail. Ein langer, sorgfältig formulierter Text. Mailt
man so in China?, fragte ich mich. Aber viel anders waren auch die Mails nicht
172
gewesen, die er früher im Archiv verschickt hatte. Altmodisch, dachte ich, aber
bewahrenswert. Ich war erleichtert.
Lieber Matthias,
deine letzte Nachricht habe ich vor 15 Jahren bekommen, und ich habe sie nie
beantwortet. Nimmst du meine Entschuldigung dafür an? Ich hatte immer gehofft,
wir würden bald wieder miteinander reden können, ganz unter uns. Das ist besser als
mailen.
Ich durfte jetzt zu einem Sinologenkongress in Boston reisen, und ich halte hier einen
kleinen Vortrag über das chinesische Gesundheitswesen. Das ist eigentlich nicht
meine Spezialität, aber ich wurde dafür ausgesucht.
Erinnerst du dich noch an deine Frage "Was geht wie lange gut"? Wenn es um
politische Regimes und Dogmen gehe, sagtest du, dann müsse man sich immer
fragen, wie lange es damit noch gutgehe.
Ich arbeite jetzt an einem Institut, das sich mit europäischer Politik beschäftigt.
Genauer gesagt, mit der Zukunft Europas. Manche sind hier um Europa sehr
besorgt. Sie glauben, dass die europäischen Institutionen nicht mehr lange stabil
bleiben. Einige Kollegen meinen, dass die europäische Union in ein paar
Jahrzehnten zerfallen wird. Wenn aber nicht einmal mehr das demokratische Europa
stabil bleibt, sagen sie, dann hätte das Folgen für die Stabilität der ganzen Welt,
vielleicht auch für China. Deswegen beschäftigen wir uns an unserem Institut jetzt
sehr intensiv mit Europa.
Darüber würde ich gern mit dir reden. Soll unser Institut dich einmal nach China
einladen? In drei oder vier Jahren sind wir hoffentlich so weit, dass wir dir die
richtigen Fragen stellen könnten.
Vielleicht könnten wir uns auch vorher einmal treffen, nur wir zwei. Übernächstes
Jahr darf ich vielleicht wieder nach Europa reisen.
Herzlich
Tian.
173
Eine Mail in chinesischem Geist, dachte ich, und das wir nicht negativ gemeint. Die
Mail hatte eine sorgfältig formulierte Antwort verdient, das wusste ich, aber ich war
gerade in Eile. Ich schickte Tian nach wenigen Minuten nur diese kurze Antwort:
Sehr gern zu zweit. Wann? Wo?
Herzlich, Matthias.
Ein Fehler natürlich. Ich hätte warten sollen. Ich hätte später antworten sollen, erst
wenn ich Zeit haben würde für eine ausführliche Mail, wie er sie sicher erwartete.
Ein Gebot der Höflichkeit. Ich hätte mich nicht hinreißen lassen dürfen zu diesem
hektischen, lapidaren, auf jede Höflichkeitsfloskel verzichtenden, eben typisch
europäischen Zweizeiler. Von Tian kam keine Antwort.
Aber diese eine Mail von ihm war schon aufregend genug. Ein Institut in China
stellte also Prognosen zu Europa für die kommenden Jahrzehnte an. Ausgerechnet in
China. Wurde irgendwo und von irgendwem in Europa versucht, für Europa so weit
vorauszudenken? Womöglich nirgendwo, dachte ich, und von niemandem, von
Politikern ohnehin nicht und auch nicht von Wissenschaftlern. Wer in Europa würde
schon ein Institut beauftragen, Prognosen zum Zerfall der Europäischen Union
anzustellen?
Ganz anders also in China? Ausgerechnet in dem Land mit der rückständigen
Einparteienherrschaft und dem, wie wir es im Westen noch immer sahen,
rückständigen Bewusstsein, ausgerechnet dort machte man sich über Europa viel
weiterreichende Gedanken als in Europa selbst? War China gerade dabei, Europa
und den gesamten Westen in seiner politischen Voraussicht zu überholen? Oder hatte
es das längst getan? Plante es für eine Zukunft, an die der Westen noch kaum zu
denken wagte? Wappnete man sich dort für Probleme und Aufgaben, die man im
Westen noch immer nicht ernst nahm? Nichts anderes ließ sich aus Tians Mail doch
herauslesen.
Ich dachte daran, wie Tian, den ich früher so klug, so vertraut und doch auch etwas
rätselhaft erlebt hatte, sich in den mehr als fünfzehn Jahren entwickelt haben musste.
174
Und je länger ich daran dachte, desto glaubhafter erschien es mir: Ja, dieser Tian ist
einer von denen, die, wenn sie es denn dürfen und sollen, weit über ihre Zeit und den
Zeitgeist hinausdenken können, den Zeitgeist des eigenen Landes und anderer Teile
der Welt. Und dieser Tian schickt mir nun eine solche Mail, fast als spreche er damit
für ganz China. War dieses China mit seinem rückständigen Einparteienregime, das
noch nicht einmal eine offene Gesellschaft im westlichen Sinne geworden war, war
dieses China womöglich zukunftsfähiger als der demokratische Westen? Ja, dachte
ich, warum eigentlich nicht. Diese eine Mail von Tian hatte mir die Augen dafür
geöffnet. Hatte die politische Kultur des Westens ihre führende Rolle in der Welt
schon verspielt?
Am Tag danach meinte ich mich an eine frühere Äußerung von Tian zu erinnern, die
ich damals nicht sehr ernst genommen hatte. Das chinesische Einparteienregime sei
noch nicht liberal, hatte er gesagt, es sei vielleicht auch immer noch korrupter als
manche westliche Demokratie, aber es sei mittlerweile sehr professionell geworden
und auch weitsichtig. Was hatte er damit gemeint? Wahrscheinlich doch dies: Dass
der Denkhorizont chinesischer Politik nicht von Legislaturperioden geprägt ist, dass
deswegen viele Politiker in China langfristiger dächten als Politiker in westlichen
Demokratien und dass sie andere, nämlich Leute wie Tian, noch langfristiger
vorausdenken ließen.
Als ich seine Mail noch einmal Wort für Wort durchlas, formte sich dieser Gedanke
immer klarer in meinem Kopf: Würde es mit dem chinesischen Regime vielleicht
doch noch viel länger gutgehen, als man es im Westen annahm? Vielleicht sogar
länger als mit der EU? Oder noch kühner gedacht: womöglich länger als mit den
westlichen Demokratien? Welches politische System in welchem Teil der Welt wird
also am längsten überleben? Noch in der Minute davor hätte ich keine Sekunde
gezögert: Jede Wette auf die westliche Demokratie, jede Wette auf Europa. Nun
wusste ich: Es ist völlig offen.
175
Das Elend der Parteien
Wie konnte ich ernsthaft gedacht haben, das chinesische Einparteienregime könnte
länger überleben als die westliche Demokratie? Wie hatte diese eine Mail von Tian,
meinem früheren Praktikanten, mich dazu anstiften können? War Tian mir in seinem
politischen Denken so weit voraus? Dachten er und dachten Kollegen an seinem
Institut mittlerweile vorausschauender, als selbst die nachdenklichsten und
kritischsten Geister im Westen es taten? Ich versuchte mich an frühere kurze
Gespräche mit Tian zu erinnern, in denen es um die westliche Parteiendemokratie
ging. Hatte er womöglich schon damals, in seiner Praktikantenzeit, ähnliche
Gedanken gehabt, und hatte ich sie nur nicht beachtet, weil Tian, so hellwach und
hoch interessiert er immer wirkte, sich doch mit eigenen Meinungen immer
zurückhielt und, wenn er denn Meinungen äußerte, sie oft mit seiner Gestik und
Mimik im selben Moment zurückzunehmen schien? Weil er nie Meinungen anderer
offen in Frage stellte, sondern allenfalls durch verhaltenes Schweigen? Aber dann
erinnerte ich mich, dass Tian damals zumindest einmal eine sehr direkte und fast
indiskrete Frage gestellt hatte:
- Sind viele von euren Redakteuren in einer politische Partei?
Es klang, als hätte er lange darauf gewartet, diese Frage stellen zu können, so
überstürzt kam sie heraus.
Ich sah ihn überrascht an.
- Manchmal hat man den Eindruck, setzte er nach.
Was sollte ich antworten? Dass ein politischer Redakteur gewisse Informationen am
ehesten von einem Parteifreund bekommt, und dass der eine oder andere schon
deswegen Parteimitlied sei? Aber warum wollte Tian es überhaupt wissen? Warum
so dringend, dass er dieses eine Mal so direkt zu fragen wagte?
- Darüber wird hier nicht gesprochen, sagte ich. Das ist Privatsache.
- Du weißt es nicht?
176
- Nein.
Er sah mich ungläubig an.
- Die meisten sind in keiner Partei, sagte ich schließlich.
Er nickte kurz, dann wandte er den Blick ab, als müsse er nachdenken.
- In China, sagte er dann, beobachten wir die Parteien genau, auch die deutschen.
- Wer ist "wir"?, fragte ich.
Er druckste verlegen.
- Wen meinst du mit "wir"?
Wieder keine Antwort.
- Bist du Parteimitglied?, fragte ich dann kurz entschlossen. Die Frage, die ich ihm
natürlich schon lange hätte stellen mögen.
- Ja, sagte er schließlich. Ich bin in der Partei, aber nicht aktiv.
Er sagte es entspannt und ganz und gar glaubwürdig. Ein passives Parteimitglied,
einer der dazugehört, der Bescheid wissen will, aber nicht politisch aktiv sein will.
Das passte.
Von da an gingen Tian und ich vertrauter miteinander um. Tian hatte zum ersten Mal
etwas über sich offenbart, und wir hatten ein Thema, zu dem wir beide mehr
voneinander wissen wollten.
Wir haben danach nie mehr als ein paar Sätze über politische Parteien ausgetauscht,
aber wie Tian über Parteien dachte, das kann ich hier trotzdem in einem kurzen
fiktiven Dialog zusammenfassen, den wir, dessen bin ich heute ganz sicher, so oder
ähnlich hätten führen können, wenn ich die Chance dazu beherzt genug ergriffen
hätte.
- Was weiß man denn in China über die deutschen Parteien?
177
- Dass sie immer weniger Mitglieder haben. Dass es bei euch keine Volksparteien
mehr gibt. Unsere Partei ist darüber sehr besorgt.
- Chinas kommunistische Partei macht sich Sorgen über den Mitgliederschwund
deutscher Parteien?
- Ja. Wir sehen, dass es bei euch die klügsten Köpfe nicht mehr in die Parteien
zieht. Für eine Parteiendemokratie ist das schlimm. Ihr werdet von Parteien regiert,
denen es an klugen Köpfen fehlt.
- Selbst wenn es so wäre: Unsere Parteiendemokratie funktioniert immer noch
besser als euer Einparteiensystem.
- Wirklich? Bei uns sind die meisten klugen Köpfe noch immer in der Partei.
- Noch? Kluge Köpfe wie du sind bei euch noch Parteimitglieder? Was meintest du
mit "noch"?
- Wenn die klügsten Köpfe nicht mehr in der Partei sind, dann kann ein
Einparteiensystem sehr gefährlich werden. Darüber denkt man in China ernsthaft
nach.
- Kluge Köpfe in der Partei denken darüber nach?
- Ja.
- Solange die klugen Köpfe noch in der Partei sind. Und was, wenn sie es
irgendwann nicht mehr sind?
- Das muss eben verhindert werden.
- Und wenn das nicht gelingt?
- Ich glaube, dass es gelingt. Aber wenn es nicht gelänge, dann könnte das System
nicht so bleiben, wie es ist.
- Dann kommt in China die westliche Demokratie? Dann bekommt ihre ein
Parteiensystem wie unseres?
- Mit Parteien, denen es an klugen Köpfen fehlt? Das hoffentlich nicht.
178
Wenn Tian und ich diesen Dialog in genau diesen Worten geführt hätten, hätte ich
dann schon viel früher so kritisch über unsere Demokratie gedacht wie heute? Nicht
unbedingt. Etwas hätte sich in mir gesträubt, diesen Gedanken ganz zu Ende zu
denken. Den Gedanken, in China seien die klügsten Köpfen noch Parteimitglieder, in
den westlichen Demokratien nicht mehr. Bedeutete das nicht, dass China den Westen
schließlich auch in der politischen Vernunft überholen würde? Als
Einparteienregime? Damals für mich noch undenkbar.
Heute weiß ich, dass Tian uns betriebsblind gewordenen Demokraten des Westens
damals in seiner Parteienkritik weit voraus war. Wir würden es heute nur anders
formulieren. Wenn wir heute sagen, die Klugheit der Köpfe in den Parteien habe mit
den wachsenden Anforderungen nicht Schritt gehalten, dann klingt es etwas
harmloser. Aber ein vernichtendes Urteil über den demokratischen Parteienstaat ist
es trotzdem. Es fällt umso vernichtender aus, als mit dem Aufstieg populistischer
Parteien die Durchschnittsklugheit im Parteienwesen noch weiter gesunken ist.
Die Klügeren und Nachdenklicheren unter den Bürgern wurden dessen natürlich
zuerst gewahr. Die absehbare Folge davon war, dass die Wahlbeteiligung, die bis
dahin in bildungsfernen Schichten am niedrigsten gewesen war, allmählich auch
unter Bildungsbürgern stark zurückging. Wählen und Nichtwählen tauschten so in
der politischen Werteskala nach und nach die Plätze. Hatte es früher geheißen, die
Nichtwähler machten es sich zu einfach, wurde eben dies nun immer häufiger den
Wählern nachgesagt. Dies hatte bei den Europawahlen begonnen, nun galt es auch
bei nationalen Parlamentswahlen. Es war noch nicht die herrschende Meinung, aber
es waren längst nicht mehr nur Kabarettisten und Karikaturisten, die das Thema
ausweideten, auch immer mehr Kommentatoren und Moderatoren legten die Scheu
davor ab. Bei uns im Archiv war es natürlich kein anderer als Klaus, der mit den
Wählern seine Scherze trieb. Nach einer Wahl erschien er im Archiv mit einem
bemalten Pappschild, darauf ein Selbstporträt mit zerknirschter, schuldbewusster
Miene, darunter in großer nervöser Handschrift: Ich habe gewählt. Dass auch das
"Bekennerschreiben" eines Wählers Klaus M., das als Leserbrief im SPIEGEL
179
veröffentlicht wurde, von keinem anderen als "unserem" Klaus sein konnte, war bald
ein offenes Geheimnis.
Natürlich gab es danach auch in der Wahlbeteiligung weiterhin ein Auf und Ab.
Neue Populisten konnten immer wieder auch neue Wählerschichten gewinnen und
damit die Wahlbeteiligung vorübergehend steigern. 2041 lag sie in Deutschland
wieder über 50%, aber der nachfolgende Absturz war umso tiefer. Nach der Wahl
2049 war dann zum ersten Mal auch in den etablierten Medien ganz unverhohlen von
einer Krise der Demokratie die Rede. Es war auch das Jahr, in dem in unserer
Redaktion ganz ernsthaft über die moralische Wahlpflicht diskutiert wurde. Dann
erschien diese unsägliche Kolumne, die allen Ernstes die Einführung einer
gesetzlichen Wahlpflicht forderte. Ein gefundenes Fressen natürlich für alle
Satiriker: "Politikverdrossenheit ab jetzt verboten."
Der Niedergang der Parteiendemokratie verlief, wie wir heute wissen, in
Deutschland noch vergleichsweise glimpflich. In Italien kollabierte das
Parteiensystem in den vierziger Jahren ein weiteres Mal, wieder waren es neue
Populisten, blutige politische Laien, die die Wirren dieser Zeit am besten für sich zu
nutzen wussten, und wieder wurde das Niveau der Politik und die durchschnittliche
Kompetenz von Politikern dadurch weiter gedrückt. Das altbekannte Spiel setzte sich
mit neuen Darstellern fort, wie zum Beweis, dass die Lehren der Geschichte im
demokratischen Parteienstaat nichts fruchten. Auch in Amerika ergriffen in dieser
Zeit neue Populisten die Chance, sich im Parteiensystem festzubeißen, auch dort ließ
dies die Wahlbeteiligung zwischenzeitlich ansteigen, aber auch dort nur, um einen
umso tieferen Absturz folgen zu lassen.
Deutschland war in Sachen Populismus bis dahin einen fast moderaten Sonderweg
gegangen, und dies setzte sich fort. Die Deutschen Demokraten, noch immer geführt
von Guttenberg, der mit altersmildem Charme seiner populistischen Botschaft
generationenübergreifende Wirkung verlieh, gehörten unter den demokratischen
Populisten dieser Welt zu den vergleichsweise vernünftigsten. "Eure Populisten
möchten wir haben", so hatte ein italienischer Journalist es in einem Interview einem
180
unserer Redakteure gesagt, und dieses Zitat machte in ganz Europa die Runde, auch
als Titelgeschichte des SPIEGEL.
Guttenberg hatte bei den Deutschen Demokraten in der Tat Erstaunliches vollbracht.
Sein Gespür für politische Stimmungslagen war legendär, und er hatte es mit
zunehmendem Alter weiter perfektioniert. Wie er als junger Verteidigungsminister
eine fast noch unterschwellige Meinungsströmung genutzt hatte, um in einem
politischen Coup die Abschaffung der Wehrpflicht durchzusetzen, verstand er es
jetzt, heranreifende Themen frühzeitig für die Deutschen Demokraten zu besetzen.
So verknüpfte er die Themen Volksentscheid und Einwanderung listig zu einem
programmatischen Angebot. Bürger entscheiden über Einwanderung, das war der
Slogan, auf den die anderen Parteien nur mit fast hilflosem Gestammel reagieren
konnten. Und es war nicht nur ein Slogan. Guttenberg verlieh ihm mit konkreten
Forderungen Substanz. Volksentscheide über Migrantenquoten sollten regelmäßig
stattfinden, in Abständen von fünf bis zehn Jahren. Die Partei empfahl dazu
Quotenkorridore für Bürger europäischer und außereuropäischer Länder und für
Religionsgemeinschaften. Für Muslime wurde eine Quote von 6% - 8% der
Bevölkerung genannt. Der Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern, der die
Einhaltung der Migrantenquoten regeln sollte, war im Parteiprogramm der
Deutschen Demokraten ausformuliert. Dass dieser Staatsvertrag mit EU-Recht
unvereinbar war, wusste jeder. Auch dies war natürlich eine gekonnte politische List.
Damit gewann Guttenberg viele weitere Europaskeptiker für sich, ohne sich selbst
als Europaskeptiker ausgeben zu müssen.
Dass Guttenberg trotzdem nicht zu den Populisten gehörte, die ihr politisches Profil
an den niederen Instinkten ihrer Anhängerschaft ausrichteten, zeigte sich im Umgang
mit der Muslimisch Sozialen Union. Schon die Gründung der MSU hatte er
ausdrücklich begrüßt, und später hatte er mehrfach die politische Rolle der MSU in
der deutschen Demokratie gewürdigt. Auch andere demokratische Parteien,
argumentierte er, hätten Extremisten in ihren Reihen gehabt und erst recht unter ihren
Wählern, besonders in ihren Anfängen, das habe auch die MSU in ihren Reihen nicht
181
verhindern können. Guttenberg äußerte sogar Verständnis dafür, dass viele Muslime
sich als Mobbingopfer des Westens und der neueren Weltgeschichte fühlten. Er
räumte ein, dass der Islam eine missbrauchsträchtige Religion sein, aber missbraucht
worden seien im Lauf der Geschichte doch auch das Christentum und die
Demokratie. Damit brach Guttenberg eine deutschlandweite Debatte los, in der er ein gutes Vierteljahrhundert nach der Debatte über die Putin- und Russlandversteher
- von den Altparteien und den Medien als Terroristenversteher verleumdet wurde.
Seine politischen Gegner glaubten, dass Guttenberg damit auch in seiner eigenen
Anhängerschaft seinen Ruf verspielte, aber sie täuschten sich gründlich. Guttenbergs
Anhänger brauchten nur etwas Zeit, um ihm auch in diesen Gedanken zu folgen.
Danach war er unangefochtener denn je. Die Zeit der alten, von den Altparteien noch
immer gepflegten politischen Eindeutigkeiten war eben endgültig vorbei, und
Guttenberg hatte auch dafür das weitaus beste Gespür gehabt.
In der Einwanderungsdebatte klammerten die Altparteien sich derweil noch immer
an das Argument, von hohen Migrantenquoten profitiere Deutschland auch
ökonomisch, aber auch dies parierte Guttenberg bravourös. Das
Einwanderungsproblem sei nicht in ökonomischen Kategorien zu diskutieren,
predigte er, sondern ausschließlich in kulturellen. Deutschland solle um solche
Migranten werben, die sein kulturelles - das Wort zivilisatorisch mied er - Niveau
höben, aber ausschließlich um solche. Die konkrete Forderung: Einwanderer sollten
keinen Sprach-, keinen Bildungs- und keinen beruflichen Qualifikationsnachweis
erbringen, sondern einen kulturellen. Der hintersinnige Slogan dazu: Wir wollen
keine Migranten, die wir integrieren müssen, wir wollen Migranten, von denen wir
lernen können.
Darauf abgestimmt war auch seine Argumentation in der Familienpolitik: Für eine
Geburtenrate, die das Überleben des Landes auch ohne massive Einwanderung
sichere, sei kein Preis zu hoch. Diesen Preis müssten die fortpflanzungsunwilligen
Nicht-Eltern den Kindern und Eltern eben zahlen, wie hoch er auch sei. Guttenberg
182
wusste natürlich, dass er damit keine politischen Mehrheiten erringen, aber eine
große Minderheit umso stärker an sich binden konnte.
Guttenberg hatte damit immerhin erreicht, dass nun über Einwanderungs-,
Bevölkerungs- und Familienpolitik in anderem Geist und anderer Sprache als bisher
gesprochen wurde, in einer klareren und offeneren Sprache vor allem, und dass damit
natürlich auch anders gedacht wurde. Damit hatte Guttenberg den Deutschen
Demokraten einen politischen Status verschafft, der ihn einen weiteren politischen
Coup riskieren ließ: den Verzicht auf öffentliche Parteinahme zu allen anderen
Themen. Aus Inkompetenz, sagten ihre politischen Gegner. Aus Bescheidenheit,
sagten sie selbst. Aus realistischer Selbstbeschränkung, so sagten es immer mehr
politische Kommentatoren. So wie Hauser sah es damals keiner: als ein
Schlüsselereignis in der Geschichte der politischen Parteien.
Ich fragte mich schon damals, was geschehen würde, wäre Guttenberg zwanzig Jahre
jünger gewesen. Nicht weniger als ein politischer Erdrutsch, dessen bin ich heute fast
sicher. Aber auch wenn er jünger wirkte, als er war, waren seine aktiven Tage doch
gezählt, und in Einem waren die Deutschen Demokraten eben doch eine
populistische Partei wie alle anderen: Sie standen und fielen mit ihrem Anführer.
Guttenberg war eine der prägenden politischen Figuren der dreißiger und vierziger
Jahre, aber er hatte eben doch nur eine Nebenrolle. Er war vor allem der große
Koalitionsverhinderer. Mit den von ihm geführten Deutschen Demokraten wollte ebenso wie mit der MSU - keine der Altparteien koalieren. Aber jede
Regierungsbeteiligung, jedes Ministeramt hätte Guttenberg ohnehin nur an Glanz
verlieren lassen.
Der große Profiteur dieser erstarrten Parteienkonstellation war Martin Mesäcker. Die
christlichen Unionsparteien waren fast durchgehend stärkste politische Kraft
geblieben, immer wieder fiel ihnen daher die Regierungsbildung zu, und immer
wieder war es Mesäcker, meine flüchtige Arbeitsbekanntschaft von der A-E-BStiftung, dem die Kanzlerschaft angetragen wurde. Aufdrängen musste er sich nicht.
183
Er war weit und breit der Einzige, der neben einem Oppositionsführer Guttenberg
rhetorisch und charismatisch keine allzu traurige Figur abgab. Intellektuell waren er
und Guttenberg etwa auf Augenhöhe.
Nie wurden in Mesäckers Zeit die Unionsparteien von mehr als einem Siebtel der
Wahlberechtigten gewählt. Trotzdem gelang es ihm, eine Ära zu prägen wie nur
wenige Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ära Adenauer, die kurze Ära
Brandt, dann die Ära Kohl, die Ära Merkel, und nun, nach einer wechselhaften
Übergangszeit, die Ära Mesäcker. Er war das politische Gesicht mindestens einer
Generation, auch, wie Constanze es in einem ihrer fatalistischen Momente sagen
sollte, unserer Generation, der unverbesserlichen Generation Sichtflug, von der auch
er ein Teil war. Geprägt hat er aber natürlich vor allem das politische Bewusstsein
der Folgegeneration. 17 Jahre Kanzlerschaft Mesäcker, davon 16 Jahre in
wechselnden Koalitionen, ein knappes Jahr in einer von den Deutschen Demokraten
tolerierten Minderheitsregierung, die Guttenberg später als den größten Fehler seiner
politischen Karriere bezeichnen sollte. Für zwei Schüler- und Studentengenerationen
war Mesäcker die Inkarnation des Politischen, routiniert, rhetorisch souverän und
nicht unsympathisch, vor allem aber taktisch gewieft. Die Hinterlassenschaft seiner
Ära: 17 Jahre Regieren ohne Risiko. Wie fast alle seine Vorgänger hatte Mesäcker
sich in Erfüllung seines Amtseides ganz darauf konzentriert, unmittelbaren Schaden
vom Deutschen Volk abzuwenden. Dass eines Tages der größte politische Schaden
darin liegen könnte, sich auf solche Art Schadensbegrenzung konzentriert zu haben,
kam natürlich einem Mesäcker nie in den Sinn.
Auch Hauser kannte natürlich meine Geringschätzung für Mesäcker, und natürlich
war auch er alles andere als Mesäcker-Fan. Aber auch in Sachen Mesäcker bewahrte
er mich schließlich vor einer zu einfachen Sicht der Dinge. Er verstehe durchaus
meine Geringschätzung, erklärte er, aber man müsse sich doch auch fragen, welche
andere Person an Mesäckers Stelle, als Kanzlerin oder Kanzler, man denn wesentlich
höher achten würde.
- Fällt dir spontan jemand ein?, fragte er.
184
Ich zögerte.
- Spontan also nicht.
- Notfalls Guttenberg, sagte ich.
- Notfalls. Das wären also schon zwei der besten?
Er wartete meine Antwort nicht ab. Das sei eben genau das Problem, dass wir nur die
Mesäckers und Guttenbergs hätten und deren mindere Pendants aus den anderen
Parteien. Und solchen Leuten, fuhr er fort, sollten wir als Wähler die Politik
anvertrauen? Nicht eine bestimmte politische Aufgabe, sondern die Politik
schlechthin und damit den Staat? Das sei vielleicht die große politische Illusion
unserer Zeit, dass es überhaupt Menschen gebe, die einer solchen Aufgabe noch
gewachsen seien. Wir müssten im Rückblick doch erkennen, dass wir es immer
weniger, vielleicht sogar nie, mit wirklichen Bundeskanzlern zu tun gehabt hätten,
sondern eher mit Kanzlerdarstellern, die der Öffentlichkeit vortäuschten, sie wüssten
über alles Bescheid, worüber sie redeten und entschieden. Auch Mesäcker sei ein
solcher Kanzlerdarsteller und als solcher nicht schlechter als alle anderen, egal aus
welcher Partei.
Ich widersprach nicht, aber meine Einstellung zu Mesäcker änderte sich erst sehr viel
später. Erst in seinen letzten Amtsjahren mischte sich in meine Geringschätzung
auch etwas Mitgefühl.
Ich will hier nicht das ganze Panorama des demokratischen Parteienwesens im 21.
Jahrhundert ausbreiten, aber ein paar wichtige Entwicklungslinien der Zeit vor der
Jahrhundertmitte will ich doch erwähnen. Die Gründungsmythen der alten Parteien
waren zu dieser Zeit ausnahmslos zerronnen. Labour war keine Arbeiterpartei mehr,
die christlichen Demokraten keine Christenpartei, die Sozialdemokraten fanden für
ihre sozialen Grundsätze und die Liberalen für ihre Liberalität keine zeitgemäßen
Begriffe mehr, und konservativ waren auf ihre Weise fast alle geworden. Die Namen
der alten Parteien hatten jegliche Aussagekraft verloren, und deren Politikangebote
waren de facto zu Personalangeboten geschrumpft. Die etablierten Parteien waren
185
bestenfalls noch biedere Staatsverwalter mit aufgesetzter programmatischer
Rhetorik. Damit aber unterschieden sie sich immer weniger noch von den
populistischen Parteien.
Anfang des Jahrhunderts hatte es in den meisten Ländern noch als selbstverständlich
gegolten, dass die Parteienlandschaft aus einem stabilen Block etablierter Altparteien
und einer schillernden Szene kurzlebiger populistischer Parteien bestand, zu der
damals Phänomene wie Le Pens Front National, Beppe Grillos Fünf-SterneBewegung in Italien, Die deutsche Piratenpartei, die Alternative für Deutschland, die
Partij voor de Vrijheid, Podemos in Spanien und die europakritische United
Kingdom Independence Party gehörten. Der Niedergang der Altparteien ließ den
Wählern dann spätestens in den vierziger Jahren nur noch die Wahl zwischen Pest
und Cholera, zwischen ausgemergelten Altparteien und opportunistischen Populisten.
Keine der wählbaren Parteien stand mehr für nachhaltige Kompetenz in der
Bewältigung langfristiger Aufgaben, und dies in einer Zeit, in der Politik es immer
mehr mit langfristigen Aufgaben zu tun bekam: Umweltpolitik, Energiepolitik,
Friedenssicherung, Migrationspolitik, Sozialpolitik, Bevölkerungspolitik,
Geldpolitik, Finanzpolitik, Entwicklung des Rechtssystems, Weiterentwicklung
internationaler und und suprastaatlicher Institutionen, Neubestimmung von
Staatsgrenzen und anderem.
Der große politische Stimmungseinbruch der späten vierziger Jahre hätte daher
niemanden überraschen sollen. Parteien, Regierungen und der Parteienstaat wurden
mit immer bissigerer Häme überzogen, von kritischen Medien und vereinzelt sogar
im Staatsfernsehen, und politische Inkompetenz wurde gelegentlich schon von
johlenden Massen auf den Straßen, mit Massenhupkonzerten organisierter Autocorsi
und im Internet in hämischen Massenshitstorms angeprangert. So geschehen nach
einem fünfmaligen Scheitern des Europaparlaments an der Wahl eines
Parlamentspräsidenten und nach dem Auseinanderbrechen frisch gebildeter
Regierungskoalitionen in einem halben Dutzend EU-Staaten. Wer seinen
186
demokratischen Parteienstaat nicht mehr respektieren konnte, wollte sich wenigstens
noch über ihn amüsieren.
Ich war nie Mitglied einer politischen Partei, aber in meiner Arbeit bei der
parteinahen Stiftung in den zwanziger Jahren war ich dem Parteienwesen eine
Zeitlang doch sehr nahe gewesen. Damals war ich noch nicht so weit, die Kompetenz
demokratischer Parteien so grundsätzlich in Frage zu stellen, wie ich es in den
vierziger Jahren zu tun begann. Damals hielt ich es noch für völlig normal, dass
Parteien vorgaben, das Ganze der Politik zu beherrschen. Nichts lag mir ferner als
die Frage, ob in Parteien hierfür denn genug Kompetenz versammelt sei. Welche
maßlose Selbstüberschätzung und welche Blindheit für die Größe der Aufgabe in
diesem Anspruch lag, darüber begann ich - von Hauser angestiftet - erst viel später
ernsthaft nachzudenken.
Natürlich habe ich mich dabei nicht zu einem Anhänger von Einparteiensystemen
gewandelt. Tians Argumente hatten mich überzeugt, dass Chinas Einparteienregime
für China eine bessere Lösung sein könnte als die westliche Parteiendemokratie, aber
es gab natürlich Gegenbeispiele. Kuba war unter der Einparteienherrschaft der
Castros und ihrer Nachfolger wirtschaftlich und intellektuell dahingesiecht, und noch
weitaus schlimmer war es Nordkorea ergangen. Ich weiß natürlich, was Tian dazu
gesagt hätte. Es gebe doch auch Länder, hätte er gesagt, die von demokratischen
Mehrparteienregimen ruiniert würden. Es komme also auf die Umstände und auf die
menschlichen Akteure an. China habe eben das Glück gehabt, dass seine Führung
dynastisches und dogmatisches Denken schneller und gründlicher überwunden habe
als andere Einparteienregime. Oder Tian hätte, wie er es später tatsächlich einmal tat,
den Vergleich mit der römischen Kurie gezogen: Die Minen um ihren
Generalsekretär versammelter kommunistischer Politbüromitglieder hätten ihn früher
oft an die Minen um den Papst versammelter Kurienkardinäle erinnert. Das sei
Geschichte. Im Vatikan seien diese Bilder die gleichen wie immer und sie stünden
für das gleiche Denken wie immer. In China seien die Bilder inzwischen andere, und
187
sie stünden vor allem für ein anderes Denken. Auch darin zeige sich die
Wandlungsfähigkeit von Chinas Einparteienregime.
Aber was halfen solche Überlegungen im Umgang mit dem schwächelnden
westlichen Mehrparteiensystem? Und was halfen auch die Gedankenspiele einiger
westlicher Intellektueller, die noch immer darüber sinnierten, dass die direkte
Demokratie, wie sie in hellenischen Stadtstaaten vor zweieinhalbtausend Jahren
praktiziert worden war, der modernen Demokratie konzeptionell überlegen sei?
Diese klassische Demokratie war ein gutes Modell für kleine Stadtstaaten mit den
politischen Anforderungen der damaligen Zeit, aber mehr nicht. Wir leben in einer
Zeit schleichender politischer Langzeitkatastrophen in einem leistungsschwachen
demokratischen Parteienstaat mit einem zerbröselnden Parteiensystem. An wen und
gegen wen konnten wir uns wenden, um eine bessere Politik zu bekommen? Steckten
wir in einer Falle, die wir noch nicht einmal verstanden hatten?
Ähnlich hatte Hauser es mir früher nahegelegt, aber meine Gedanken hierzu drehten
sich jetzt im Kreis. Die Demokratie als Falle? Der Gedanke war eine
Herausforderung, aber wozu führte er? Ich konnte diesen unfertigen Gedanken nicht
für mich behalten. Ich machte Klaus vorsichtige Andeutungen dazu, und ich fragte
Constanze, was sie mit dem Gedanken anfange könne. Klaus zeichnete - auch das
konnte er - eine wunderbar witzige Karikatur von der über gutgelaunten Bürgern
zuschnappenden "Demokratiefalle", und von Constanze kam erst einmal nur das
Kompliment: interessanter Gedanke. Aber dann tauschten wir nach und nach kurze
Mails aus, aus denen sich langsam ein zusammenhängendes Argument bildete. Es
war Constanze, die es schließlich so zusammenfasste:
Wandeln politische Regime sich von allein, wenn die Zeit es erfordert? Die Lehre der
Geschichte ist natürlich eine andere. Wo hätte ein politisches Regime sich je aus
höherer Einsicht selbst abgeschafft und selbst ein zeitgemäßes Nachfolgeregime
installiert? Für solche Regimewechsel bedarf es der Rebellion.
188
Über Jahrhunderte hat sich der Gedanke etabliert, dass Rebellionen dazu dienen,
autokratische Regime jeglicher Art, seien es Diktaturen, Monarchien oder
kommunistische Regime, zu überwinden und zur Demokratie überzuleiten. Wozu
sonst sollten Rebellionen noch dienen?
Was aber, wenn sich irgendwann herausstellt, dass auch das, was wir Demokratie
nennen, nicht mehr zeitgemäß ist? Sollten die Bürger dann rebellieren? Und wenn
ja, gegen wen? Gegen von ihnen selbst gewählte Regierungen? Das könnten sie
natürlich tun, aber was anderes könnten sie damit bewirken als Neuwahlen - die
dann aller Voraussicht nach wiederum nur überforderte Regierungen
hervorbrächten?
Genau dies ist die Falle, in der wir als Demokratiebürger stecken. Wir könnten
immer nur gegen von uns selbst gewählte Regierungen rebellieren, aber dies würde
wieder von uns selbst gewählte Regierungen ähnlicher Art hervorbringen. Statt offen
zu rebellieren, warten wir daher geduldig bis zur nächsten regulären Wahl. Was
immer wir also tun: Wir festigen damit eine Demokratie, die ihrer Zeit nicht mehr
gewachsen ist. Wir sind gefangen in einem System, das sich selbsttätig reproduziert.
Aber so kann und wird es nicht bleiben. Wir Bürger könnten im späten 21.
Jahrhundert ein erstes Zeichen setzen, das darüber hinausweist. Wir könnten uns
Wahlen, die immer wieder überforderte Regierungen hervorbringen, systematisch
verweigern. Die Botschaft des Nichtwählens wäre dann: Wir werden erst dann
wieder wählen, wenn wir mit unserer Stimme Größeres bewirken können, bis hin zu
einem Regimewechsel. Je weniger von uns noch zur Wahl gingen, desto
eindringlicher wäre diese Botschaft.
So hat Constanze es - fast im Hauserschen Stil - auf den Punkt gebracht. Sie hatte
schon früher einige Male Gedanken, an die Hauser oder auch ich uns mühsam
herangetastet hatten, in eigene Worte gefasst, und dann stand solcher Gedanke
plötzlich mit unerwarteter Selbstverständlichkeit im Raum. Schon dass sie unsere
Demokratie als Regime bezeichnete, war ein erhellender Bruch mit unserem
189
politischen Sprachgebrauch. Natürlich, es war nicht die Zeit für offene Rebellion,
aber würde das ewig so bleiben? Noch einige Prozente weniger Wahlbeteiligung und
irgendein einschneidendes Ereignis, für das uns noch das Vorstellungsvermögen
fehlte, und die Zeit für große Veränderungen wäre nah.
Hundertjahrfeiern
Eine Zeitung muss mit der Zeit gehen, sie muss sich verändern können, das kann
kein vernünftiger Mensch bestreiten. Auch der SPIEGEL hatte in seiner Geschichte
kleine Metamorphosen erlebt, nicht nur die Aufteilung in Print- und Onlinemagazin.
In den frühen vierziger Jahren lagen dann neue große Veränderungen in der Luft, das
spürten wir alle. Untrügliche Vorboten waren Streitigkeiten im Management und der
Redaktionsleitung. Unsere zwei Chefredakteure hatten einige Jahre ziemlich gut
zusammengearbeitet, scheinbar unbehelligt von Verlagsleitung und Eigentümern,
nun aber herrschte offener Kampf. Die angespannte Stimmung war überall zu spüren,
auch im Archiv. Das sichtbarste Konfliktsymptom war der Streit um Kiesewetter,
einen unseren beiden Chefredakteure. Kiesewetter war ein großer Themenfinder,
aber auch ein streitbarer und meinungsstarker. Der Konflikt war ihm lieber als der
Kompromiss, gerade bei politischen Themen. Am Ende stritt nicht nur Kiesewetter
gegen andere im Verlag, man stritt im Verlag über Kiesewetter. Die Verlagsleitung
gegen ihn, eine Eigentümerfraktion für ihn, Kiesewetter gegen den anderen
Chefredakteur, die meisten Redakteure gegen Kiesewetter, viele für ihn, die
Eigentümer- und Redaktionsfraktionen gegeneinander. Nur das Archiv konnte sich
aus den Kämpfen noch heraushalten.
Es gab noch andere umkämpfte Personalien, aber auch dahinter steckte Streit um die
Sache. Beide Chefredakteure, so schien es zuerst, waren Verlegenheitslösungen,
Kompromisse, auf die sich Eigentümer und Verlagsleitung mühsam hatten einigen
können. Beide kamen aus der eigenen Redaktion, beide hatten als Redakteure solide
und unspektakulär gearbeitet, aber bei manchen Menschen erwachen eben in
190
Führungspositionen schlummernde Neigungen. Zum Beispiel ein starker
Führungswille oder eine persönliche Mission. Bei Kiesewetter war es die Mission.
Der SPIEGEL, meinte Kiesewetter, sei eine solide Zeitschrift, aber nicht mehr als
das, über die Auflagenverluste der letzten dreißig Jahre dürfe man sich nicht
wundern. Was nottue, sei eine Rückbesinnung auf Zeiten, in denen der SPIEGEL ein
Leitmedium gewesen sei, ein unverwechselbares sogar, und zur Unverwechselbarkeit
gehöre nun einmal Meinungsstärke. Auch Meinungsstärke schütze nicht unbedingt
vor weiterem Auflagenverlust, aber sie schaffe eine umso treuere Leserschaft, auf die
der Verlag langfristig bauen könne. Nur so könne der SPIEGEL überleben.
Für die Verlagsleitung und die Mehrheit der Eigentümer war das Ketzerei. Der
SPIEGEL heiße nicht umsonst SPIEGEL, insistierten sie, sein Name sei auch
Programm. Der SPIEGEL solle ein Spiegel des Zeitgeschehens sein, alles andere sei
Anmaßung. Die Welt mit einer politischen Zeitschrift verändern zu wollen, wie
Kiesewetter es sich womöglich vorstelle, das sei veraltetes Denken. Er meine nicht,
hielt Kiesewetter dagegen, dass der SPIEGEL die Welt verändern solle, aber dass
man in manchem doch auch anders denken könnte, als es gerade Mode sei, und das
zu zeigen sollte eine Aufgabe des SPIEGEL sein. Nur wenn der SPIEGEL echte
Kontroversen anstoße, werde er in aller Munde sein, nur dann würden die Menschen
auf den SPIEGEL wieder wirklich neugierig werden, nur dann könne er zu alter
Stärke zurückfinden. Den späten Guttenberg beispielsweise mehr als ein Jahrzehnt
lang immer nur als ausländerfeindlichen Terroristenversteher abgetan zu haben, sei
zu simpel gewesen, in manchem habe Guttenberg sich doch zu einem ernst zu
nehmenden Querdenker entwickelt. Auch die Auseinandersetzung mit der
Muslimisch Sozialen Union, mit der Frage vor allem, ob die MSU eine Bereicherung
der deutschen Demokratie sei oder nur eine muslimische Spielart billigen
Populismus, sei im SPIEGEL viel zu oberflächlich geblieben. Viel schlimmer noch:
In den großen Fragen von Frieden und Freiheit habe der SPIEGEL sich stur an
Verfassung und Völkerrecht geklammert, auch da, wo Verfassung und Völkerrecht
offensichtlich im 20. Jahrhundert steckengeblieben seien. Und eine so neuartige und
191
originelle Erscheinung auf der politischen Bühne wie die Neokraten sei dem
SPIEGEL nicht einmal eine Erwähnung wert gewesen. Es war ein klassischer Streit
ums redaktionelle Prinzip, wie er schon in vielen großen Redaktionen und Verlagen
ausgetragen worden war.
Dieser Streit war unausweichlich, aber Mitte der vierziger Jahre kam er höchst
ungelegen. Der SPIEGEL war 1947 gegründet worden, für 2047 stand die
Hundertjahrfeier an. 100 Jahre SPIEGEL, das waren 100 Jahre deutsche
Pressegeschichte, und da der SPIEGEL lange der prominenteste journalistische
Begleiter deutscher Politik gewesen war, waren es auch 100 Jahre deutsche
Demokratiegeschichte. Die Vorbereitung der Feierlichkeiten begann zweieinhalb
Jahre vorher. Kanzler Mesäcker würde kommen, das war klar, die
Bundespräsidentin, eine gute Hundertschaft sonstiger höchster deutscher
Politprominenz und höchste politische Prominenz natürlich auch aus viele anderen
Ländern, dazu führende Literaten und Wissenschaftler, die für den SPIEGEL
geschrieben und ihm Interviews gegeben hatten, und Kultur-, Medien- und
Sportprominenz, über die der SPIEGEL berichtet hatte. Mit möglichst niemandem
sollte die Redaktion es sich daher in dieser Zeit verscherzen. 100 Jahre SPIEGEL,
das sollte ein Fest ohne Misstöne sein. Der SPIEGEL sollte sich als Jubilar in der
eigenen Geschichte sonnen und das von ihm gespiegelte Deutschland mit ihm.
Eigentümerfraktionen, Verlagsleitung, Redaktion und Redaktionsleitung verordneten
sich nach zähen Gesprächen einen langen Waffenstillstand.
"100 Jahre SPIEGEL" wurde eine große Inszenierung. Natürlich wurde dabei mit
dem Blick in die Vergangenheit gefeiert, und die vergangenen hundert Jahre wurden
dabei weichgezeichnet. Man wollte Erfolgsgeschichten hören, und man bekam sie.
Es war eine hoch professionelle, spektakuläre und doch harmonische Veranstaltung,
und die Stimmung war so gut, dass dieser eine bitterböse Coup fast nur gutgelauntes
Schmunzeln auslöste: Mehrere Male tauchte bei den Feiern eine beklemmende
menschliche Gestalt in ominöser Verkleidung auf. Ein schwergewichtiger
graubärtiger Greis mit schütterem Haar, fahlem Gesicht, schleppendem Gang,
192
gestützt auf einen Rollator, wie todgeweiht. Auf Brust und Rücken ein weißes
Pappschild. Die Aufschrift: Ich und der SPIEGEL, geb. 1947. Darunter: Gleich viel
hinter uns, gleich viel vor uns.
Als ich zum ersten Mal an der Gestalt vorbeiging, ahnte ich nichts, beim zweiten Mal
kam ein Verdacht auf, beim dritten Mal wusste ich: Es ist Klaus. Kein perfektes
Inkognito, aber kaum jemand schaute genau hin. Er hatte sich Aufsehen gewünscht,
er hatte fast Kopf und Kragen riskiert, aber sein Coup verpuffte in der Feststimmung.
Der SPIEGEL als ausgemergelter Greis, diese Anspielung kam nicht an. Dass Klaus
ein glühender Kiesewetter-Fan war, offenbarte er mir erst später.
Für den zweiten Tag der Jubiläumsfeier hatte der SPIEGEL frühere Mitarbeiter aus
aller Welt eingeladen. Man wollte sich als Weltunternehmen präsentieren, und dafür
brauchte man Gesichter aus aller Welt. Auch aus China kam eine kleine, vierköpfige
Delegation. Einer der vier war Tian.
Dass Tian an diesem Tag nach Hamburg kommen würde, hatte ich erst wenige Tage
vorher erfahren. Die Genehmigung für seine Teilnahme, erklärte er mir später, hätten
die Behörden buchstäblich in letzter Minute erteilt. Natürlich hatten wir uns dann
verabredet. Nach der Veranstaltung hatten wir einen ganzen Tag für uns, und dazu
hatte ich auch Constanze eingeladen. So wurde wahr, was viele Jahre ein vager
Wunsch von mir gewesen war: ein Treffen mit Constanze und Tian und ein
gemeinsamer Besuch von uns Dreien bei Hauser.
Auf den ersten Blick erkannte ich Tian kaum wieder. Wir hatten uns zu lange nicht
gesehen. Er war fülliger geworden, sein Haar war im Stirnbereich schütter, und er
trug eine markante Brille. Aber schon nach wenigen Sätzen sprachen wir miteinander
fast wir früher. Wir mussten nicht anfangen, wo wir vor vielen Jahren zu diskutieren
aufgehört hatten, wir beide ahnten, wo der andere in seinem Denken inzwischen
angekommen sein könnte, er mit seinen sechsundvierzig Jahren, ich mit meinen
einundfünfzig. Constanze sagte fast nichts, sie hörte aufmerksam zu, als wolle sie
193
kein Wort verpassen. Beinahe rührend sei es gewesen zwischen Tian und mir, sagte
sie später, und für sie ein großer Gewinn.
Tian wollte mit mir auch ausführlich über den SPIEGEL sprechen. Er sei gerade für
einige Jahre ans Medieninstitut der Partei delegiert worden, in führender Stellung,
wie er mit verlegenem Stolz erklärte, und an diesem Institut würden Konzepte für die
Zukunft der chinesischen Presse entwickelt. China, das sei sicher, brauche eine neue
Art von Nachrichtenmagazin, und das Institut habe sich in der Welt nach Vorbildern
umgeschaut. Er selbst habe den SPIEGEL ins Gespräch gebracht, der stehe jetzt ganz
oben auf der Favoritenliste, und dazu gebe es sogar schon ein positives Signal von
der Parteiführung.
- Etwa ein chinesischer SPIEGEL als Parteiorgan?, fragte ich.
Nein, sagte Tian, das natürlich nicht, es solle ein unabhängiges Nachrichtenmagazin
sein, ähnlich wie der SPIEGEL eben, und es werde ganz ähnlich berichten dürfen
wie der der SPIEGEL und auch ebenso kritisch. China nehme es mit der
Pressefreiheit ernst.
Das, erwiderte ich, sei aber noch keine Pressefreiheit wie uns. Bei uns könne die
Presse, wenn sie wolle, natürlich viel kritischer berichten als derzeit der SPIEGEL.
Vielleicht werde der SPIEGEL das bald auch selbst tun.
- In China sind wir erst einmal zufrieden, sagte Tian, wenn wir einen chinesischen
SPIEGEL bekommen wie euren jetzigen. Was aus dem SPIEGEL in Deutschland
einmal würde, das werde man in China dann in Ruhe beobachten.
Ich wusste, dass Hauser seit Längerem ein ziemlich zurückgezogenes Leben führte.
Mit dem Besuch von uns Dreien, Constanze, Tian und mir, wollte ich ihm einen
Dienst erweisen. Er sei, auch wenn er zurückgezogen lebe, alles andere als ein
einsamer alter Mann, hatte er mir einmal gesagt, seine Gedanken seien treue
Begleiter, die ihn vor dem Gefühl des Alleinseins bestens schützten. Aber Constanze,
das wusste ich, würde er gern wiedersehen, und über Tian hatte ich ihm zu viel
erzählt, als dass er sich nicht auch auf seinen Besuch freuen würde. So saßen wir
194
dann am nächsten Vormittag zu viert in Hausers Wohnzimmer. Es begann ein wenig
steif. Tian hörte uns drei anderen eine Zeitlang stumm zu. Dann fing Hauser an, Tian
Fragen über China zu stellen. Fragen, die andere bei einer ersten Begegnung sich
nicht zu fragen getraut hätten, aber Hauser stellte sie auf so entwaffnend offene Art,
dass Tian sofort Vertrauen fasste.
Hauser hörte Tians Antworten mit höflicher Aufmerksamkeit zu. Dann, nach einer
kurzen Bemerkung zum deutschen Parteienwesen, brachte er das Gespräch wie
beiläufig auf Chinas kommunistische Partei. Irgendwann werde die Partei ihre Rolle
in Staat und Gesellschaft sicher noch einmal überdenken müssen.
- Ja, das stimmt, wir selbst machen uns Sorgen um die Partei, sagte Tian.
Ein Satz, der Hauser so fühlbar die Ohren spitzen ließ, dass Constanze und ich
einander erstaunt ansahen.
- Unsere Partei, fuhr Tian fort, wird euren Parteien immer ähnlicher.
- Wie denn das?, fragte Hauser.
- Unsere Partei hat immer weniger Mitglieder, und sie gewinnt zu wenig kluge
Köpfe.
Hauser senkte kurz den Blick, sichtlich verblüfft, dann sah er mich an, dann
Constanze, dann, fast hörbar nachdenkend, schwieg er, dann dieser Satz:
- Dann hat China jetzt wohl die Nachteile des Mehrparteien- und des
Einparteiensystems vereint.
Ich war irritiert. Hausers Tonfall war leicht herausfordernd gewesen, unzumutbar
herausfordernd, glaubte ich, für Tian. Aber auch im hohen Alter hatte Hauser in
manchem noch immer das sicherere Gespür. Tian sah ihn lange mit hellwacher,
verständnisvoller, beinahe herzlicher Miene an. Schließlich sagte er:
- Genau das ist unsere Sorge. Das können wir natürlich nicht zulassen.
Von dem Moment an war es, als wären die beiden längst vertraute Gesprächspartner.
195
Natürlich, sagte Hauser, dass die Partei in China ebenso hinter den Anforderungen
der Zeit zurückbleibe wie das Parteienwesen bei uns, das dürfe nicht sein. Aber wie
man denn in China eine solche Entwicklung aufhalten wolle, die auch die westlichen
Demokratien bisher nicht aufhalten konnten.
Tian holte mit seiner Antwort weit aus. Chinas kommunistische Partei habe fast zwei
Generationen gebraucht, um sich vom Maoismus zu lösen und eine moderne
Staatsverwaltungspartei zu werden. In den kommenden zwei Generationen werde
China noch einmal einen ähnlich weiten Weg zurücklegen müssen, vielleicht sogar
einen noch viel weiteren. Noch gebe es in der Partei genug Menschen, die sich
darüber im Klaren seien. Deswegen lasse die Partei nach Anregungen für ihre eigene
Veränderung suchen.
- Wir beobachten auch, sagte er dann, wo sich bei euch Neues entwickelt. Wir
beobachten zum Beispiel eure Neokraten.
Ich warf Constanze und Hauser erstaunte Blicke zu. Neokratische Gedanken in
China? Nichts hätte mich mehr überrascht. Mit den Neokraten hatte auch ich mich
bisher kaum befasst. Ausgerechnet in China schauten Leute wie Tian viel genauer
hin?
Hauser zeigte keine Spur von Überraschung. Er sah Tian an und lächelte.
- Alle Achtung, sagte er. Ich wünschte, ich wäre noch jung genug, um zu erleben,
was ihr in China daraus macht.
Nach der Hundertjahrfeier des SPIEGEL lebten die Streitigkeiten im Verlag wieder
auf, aber weniger heftig, als alle es erwartet hatten. Zumindest wurde weniger Streit
in die Öffentlichkeit getragen. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass bei manchen
die Gedanken schon zur nächsten großen Hundertjahrfeier vorauseilten: Hundert
Jahre Grundgesetz. Mai 2049.
Eigentümer und Verlagsleitung wollten den SPIEGEL 2049 noch einmal auf großer
Bühne gefeiert sehen, dieses Mal als das Medium, das die Normen des
Grundgesetzes hundert Jahre lang unbeirrt hochgehalten habe. Die Planungen für ein
196
Sonderheft in Millionenauflage begannen schon Ende 2047, die Planungen für
Veranstaltungen im Verlagshaus und im Kongresszentrum kurze Zeit später. Das
Veranstaltungsprogramm des SPIEGEL, so der Plan, sollte alle anderen Feiern zum
Verfassungsjubiläum überragen. Zuerst wagte niemand dagegen offenen
Widerspruch. Nur Kiesewetter, das sprach sich langsam herum, war dagegen.
Natürlich machte er sich damit noch mehr Feinde. Er habe zu wenig dafür getan,
warf die Verlagsleitung ihm später vor, Deutschland mit SPIEGEL-Artikeln auf das
Verfassungsjubiläum einzustimmen. Kiesewetter sah die Rolle des SPIEGEL ganz
anders, aber vorerst hielt er still. In Gedanken war ich auf seiner Seite.
Das Verfassungsjubiläum war natürlich alles andere als ein Jahrhundertereignis, es
war eben nur ein Gedenktag. Der Grund, warum hier trotzdem davon die Rede sein
muss, ist Klaus. Bei der Hauptveranstaltung im Verlagshaus versuchte er wieder
einen großen Auftritt. Wieder inkognito. Wieder in der Verkleidung als
Hundertjähriger, wieder als aschfahler Sterbenskranker, wieder mit Rollator, wieder
mit einem umgehängten Pappschild. Darauf in großer Schrift: Gleich alt, gleich
stark: ich und das Grundgesetz.
Dieses Mal hielt sein Inkognito nicht. Ein aufmerksamer Redakteur erkannte ihn.
Kurz darauf wurde Klaus von Ordnungskräften aus dem Verlagshaus gedrängt.
Am nächsten Tag wurde ich von der Verlagsleitung vorgeladen. Was für Mitarbeiter
ich denn im Archiv beschäftigte. Welche Personalpolitik ich denn in all den Jahren
betrieben hätte und warum ich einen Mann wie Klaus nicht viel früher durchschaut
hätte. Was ich zu tun gedächte, um solche personellen Fehlgriffe in Zukunft zu
vermeiden. Und schließlich: Klaus sei fristlos entlassen. Dann drückten sie mir das
Kündigungsschreiben in die Hand. Ich überflog es kurz und nickte nur. Eine
ordentliche Abfindung bei sofortigem Ausscheiden. Ein Angebot, das einer wie
Klaus nicht ablehnen würde. Immerhin hatte er einen starken Abgang gehabt. Er war
unser Farbtupfer im manchmal etwas grauen Archivalltag gewesen. Einer von denen,
die mir die Gewissheit gaben, dass Archivarbeit lebensnah war. Noch wusste ich
197
nicht, wie vieles er vor mir verborgen hatte, aber ich vermisste ihn vom nächsten Tag
an.
Sinnstiftungsversuche
100 Jahre Verfassung, das bedeutete auch hundert Jahre Verfassungsschutz, und wen
der Verfassungsschutz damals schon als vermeintliche Feinde von Freiheit und
Demokratie ins Visier genommen hatte, das ahnte zu diesem Zeitpunkt selbst beim
SPIEGEL noch niemand.
Während also der SPIEGEL seelenruhig die Verfassung und sich selbst feierte,
dokumentierten wir im Archiv weiter so seelenloses Zeitgeschehen wie die aktuellen
Episoden des Dritten Weltkriegs in Afrika und die schwelende Krise des
Parteienwesens in Deutschland. Die MSU war mittlerweile zu einer der
mitgliederstärksten Parteien des Landes gewachsen, aber auch zu einer der
zerstrittensten. Türken und Nichttürken in der Partei bekämpften einander
unerbittlich, und nichttürkische Gruppen kämpften ebenso unerbittlich
gegeneinander. 2048 dann der große Finanzskandal, aufgedeckt vom
Verfassungsschutz. Die Partei finanzierte sich zu 80% mit verdeckten Spenden aus
muslimischen Ländern, zwei Drittel davon aus der Türkei, der Rest größtenteils aus
Saudi-Arabien und Katar. Dabei hatten innerparteilichen Fraktionen ihre je eigenen
Geldgeber. Der Verfassungsschutz rechnete daher mit einem baldigen
Auseinanderbrechen der Partei. Aber noch geschah nichts.
Die Abgeordneten der MSU hatten keinen erkennbaren Einfluss auf Regierung und
Gesetzgebung. Insofern nützte die MSU bis dahin niemandem, aber sie richtete auch
keinen Schaden an. Trotzdem war sie natürlich für viele ein rotes Tuch. Allein der
Stil der innerparteilichen Machtkämpfe machte vielen Angst, und der Finanzskandal
tat ein Übriges. Parteien und überwiegend auch die Medien rieten trotzdem zur
Gelassenheit. Die MSU werde nach ihren unvermeidlichen Flegeljahren früher oder
später eine Partei wie jede andere werden. Andere hielten sie bereits für eine fast
normale Partei, eine ganz normal zerstrittene, die sich nur noch die Streitroutine der
198
anderen Parteien aneignen müsse. Manche dagegen wollten die MSU noch immer
vom Verfassungsgericht verbieten lassen. Einige wenige sahen es noch
grundsätzlicher: Die MSU sei offensichtlich nicht regierungsfähig, daher brauche
Deutschland endlich ein Parteiengesetz, dass offenkundig nicht regierungsfähige
Parteien von Parlamentswahlen ausschließe. Ein Parteiengesetz, das dies nicht tue,
verletze Grundrechte, sei also verfassungswidrig und müsse vom Verfassungsgericht
für nichtig erklärt werden.
Für kurze Zeit wurde hierüber auch in den Medien debattiert, und dabei wurde die
Frage der Regierungsfähigkeit grundsätzlicher gestellt. Regierungsfähigkeit müsse
man nicht nur von Parteien verlangen, argumentierten einige, sondern natürlich auch
von Politikern. In einem Land wie Deutschland seien für zahllose, auch
vergleichsweise einfache berufliche Tätigkeiten Befähigungsnachweise erforderlich,
aber das Land regieren dürfe jeder. Das Grundgesetz verbiete das zwar nicht, aber ob
es mit dem Geist des Grundgesetzes vereinbar sei, diese Frage dürfe man doch
einmal stellen.
Das Ansinnen, Regierungsfähigkeit justitiabel zu machen, war natürlich nicht nur
formaljuristisch unschlüssig, sondern auch hoffnungslos naiv. Regierungsfähigkeit
ist keine Eigenschaft, über die Gerichte objektiv entscheiden könnten. So sah auch
ich zuerst diese Initiative. Bis ein Archivmitarbeiter mir den Text der
Verfassungsbeschwerde gegen das Parteiengesetz auf den Tisch legte. Lies mal,
sagte er, es ist clever gemacht.
Ich überflog den Text flüchtig, sah mir dann die Namen der Kläger an. Ein knappes
Dutzend, einige bekannte Namen dabei, ausnahmslos alte Herren. Drei davon mit
Professorentitel. Einer von ihnen: Graf. Unser alter Professor Graf!
Wenn Graf unterschrieben hat, dachte ich sofort, dann muss etwas daran sein, dann
kann die Klage nicht ganz so naiv sein, wie es schien, und dann ist sie womöglich
auch zulässig. Und genau so war es. Die ganze Klageschrift war eine hintersinnige
List. Das Kalkül der Kläger: Wenn die Klage zugelassen wird, dann haben wir schon
199
gewonnen. Dann wird die Klage zwar abgewiesen, aber es wird dafür eine
Begründung geben. Und auf nichts anderes als diese Begründung hatten die Kläger
es abgesehen.
Graf erlebte den Fortgang des Verfahrens nicht mehr, aber es wurde für mich so
etwas wie Grafs Vermächtnis. Die Klage wurde - eine großzügige Rechtsauslegung
der Richter - tatsächlich zugelassen, und sie wurde wie erwartet abgewiesen. Aber
die Urteilsbegründung wäre für Graf, hätte er sie noch erlebt, ein stiller Triumph
gewesen. Regierungsfähigkeit, so das Gericht, sei zwar objektiv schwer zu fassen,
aber die Klage sei nicht schon deswegen abzuweisen, weil Regierungsfähigkeit ein
unbestimmter Begriff sei. Die Kläger hätten dazu durchaus Überlegenswertes
vorgetragen, auch wenn sich daraus ergebe, dass keine der im Parlament vertretenen
Parteien regierungsfähig sei. Abzuweisen sei die Klage aus anderen Gründen.
Parlamente sollten die gesellschaftliche Realität abbilden, daher hätten auch Parteien
wie die MSU zu Recht im Bundestag ihren Platz. Dass zu Wahlen nur
regierungsfähige Parteien zuzulassen seien, ergebe sich dagegen weder aus dem
Buchstaben noch dem Geist des Grundgesetzes.
Auf eine solche Feststellung hatten Graf und seine Mitstreiter es angelegt: Selbst
wenn keine der ins Parlament gewählten Parteien regierungsfähig sei, entspreche das
dem Geist des Grundgesetzes.
Man konnte, ja man musste dies auch so verstehen: Mit dem Grundgesetz und dem
Parteiengesetz sind der politischen Inkompetenz in Parlament und Regierung Tür
und Tor geöffnet. Genau das war es, was Graf schwarz auf weiß haben wollte. Auch
Hauser zeigte sich von dem Urteil natürlich tief beeindruckt. Er nannte es einen
Offenbarungseid der Parteiendemokratie.
Was geht wie lange gut? So hatte Hauser immer wieder die Frage nach der
Lebenserwartung von Staaten, von politische Regimes, politischen Ideologien und
am Ende sogar von Religionen gestellt. Der Grundgedanke ist fast banal: Wenn
200
Menschen sich an etwas gewöhnt haben, halten sie möglichst lange daran fest, auch
an ihren Überzeugungen, an ihrer Macht, ihren Aufgaben, ihrem Wohlstand, ihren
Vorbildern, ihren Identifikationsfiguren, ihrem Glauben. Trotzdem kommt bei all
dem irgendwann doch die Zeit des schmerzlichen Wandels. Dabei sind wir es oft
selbst, die liebgewonnenen Gewohnheiten den Boden entziehen. Wir stellen als
Bürger Anforderungen, denen alte Regimes, alte Vorbilder, alte
Identifikationsfiguren und alte Dogmen nicht mehr gewachsen sind. Oder wir
verlangen nach Produkten, die mit der gewohnten Art von Arbeit nicht mehr
produzierbar sind. Oder wir verändern die Welt mit neuen Bedürfnissen, um
irgendwann erschrocken festzustellen, dass die so veränderte Welt nicht mehr zu
unseren alten religiösen Überzeugungen passt. In all solchen Fällen kann es so, wie
es war, nicht mehr lange gutgehen.
Seit ich Hausers Nachfolger geworden war, waren inzwischen mehr als zwanzig
Jahre vergangen. Am Abend vor seinem 81. Geburtstag hatte er eine kurze Mail
verschickt, mit der er den "wohlmeinenden Glückwünschen meiner lieben Freunde
zuvorkommen" wollte. "Ich habe mir schon im Namen von euch allen ganz herzlich
gratuliert. Dafür danke ich euch". Hauser in seinem neunten Lebensjahrzehnt in
Höchstform. Er hatte sich mit allem Floskelhaften, auch mit allen üblichen
Glückwunschritualen, immer schwergetan, und nun fand er dafür klarere Worte denn
je.
Aber war ich nicht einer der wenigen, über deren realen Glückwunsch er sich
dennoch freuen würde? Zwei Tage danach, als mir die rituelle Glückwunschpflicht
abgelaufen schien, rief ich ihn an. Ich brauchte, sagte ich, ganz dringend den
altersweisen Rat eines über Achtzigjährigen, und ich wisse nicht, wer sonst mir
solchen Rat geben könnte.
Am nächsten Tag trafen wir uns in seiner Wohnung. Zum ersten Mal fiel mir auf,
dass die Jahre auch in seinem Gesicht tiefe Spuren hinterlassen hatten. Die Augen
hatten sich weiter in ihre Höhlen zurückgezogen, und von der leichten Aura der
201
Unsterblichkeit, die er früher für mich immer ausgestrahlt hatte, war nichts
geblieben. Ich war irritiert, und ich verbarg es nicht.
- Du bist auch nicht gerade jünger geworden, sagte er.
Ja, dachte ich, natürlich. Ich war eben noch in einem Alter, in dem man viel mehr an
das Altern der Älteren denkt als an das eigene.
- Es tut ja nicht weh, sagte er, im Gegenteil. Man soll sich beim Altern zusehen und
seinen Frieden damit machen.
Damit waren wir fast schon beim Thema, über das ich mit ihm hatte reden wollen.
Vergänglichkeit. Was geht wie lange gut? Was hat wie lange Bestand?
Ich glaubte, sagte ich, auch der Verlag sei in den letzten Jahren gealtert, vielleicht
schneller denn je. Man könne nicht wissen, wie lange es mit dem Verlag noch
gutgehe, auch er wisse es natürlich nicht, aber vielleicht könne er meinen Gedanken
darüber doch auf die Sprünge helfen.
Hauser sprach langsam und zögernd, aber am Ende war es genau wie früher. Ich
erzählte ihm von den kleinen und großen Konflikten, von Kiesewetter und seiner
schwierigen Lage, von den Gerüchten über Investoren, die den Verlag übernehmen
wollten, und natürlich vom Streit über das Archiv. Dass die Verlagsleitung das
Budget des Archivs Jahr für Jahr schmälere und dass so die Qualität des Archivs
nicht zu halten sei. Und dass, viel schlimmer noch, neuerdings die Redaktion sich
das Archiv einverleiben wolle. Das Archiv diene der Redaktion, so argumentierte
u.a. der zweite Chefredakteur, niemand wisse besser als die Redaktion selbst, wie
dies zu geschehen habe, und die Redaktion wisse daher auch am besten, wo und wie
das Archiv Kosten sparen könne. Die Ausbildung ausländischer Praktikanten z.B. sei
ein Luxus, den ein Verlagsarchiv sich in der heutigen Zeit kaum noch leisten könne,
damit könne man anfangen.
Dann erzählte ich ihm, dass ich gerade ein halbes Jahr vorher ausländische
Praktikanten aus Schweden, England, Norwegen und Marokko eingestellt hatte.
202
- War das womöglich schon ein entscheidender Fehler?, fragte ich.
Nein, meinte Hauser, ein Fehler müsse das nicht gewesen sein, ich könne der
Verlagsleitung doch zeigen, dass man von ausländischen Praktikanten auch lernen
könne, viel sogar, und dass sie manchmal sogar für die Themenfindung der
Redaktion nützlich sein könnten.
- Fällt dir ein Beispiel ein?, fragte ich.
Hauser überlegte nur kurz, dann kam - immer noch der alte Hauser eben - dies:
- Du hast also Praktikanten aus Schweden, Dänemark, Norwegen und Marokko?
- Ja, unter anderem.
- Alles Monarchien. Wenn das Zufall ist, dann ein glücklicher. Lass deine
Praktikanten Material über die Monarchie in ihren Heimatländern sammeln. Dann
schlägst du der Redaktion eine große Geschichte über Sinn und Unsinn der
Monarchie mitten im 21. Jahrhundert vor, Schwerpunkt repräsentative Monarchie in
Europa. So zeigst du, dass ein unabhängiges Archiv sein Geld wert ist, und du zeigst,
was deine ausländischen Praktikanten wert sind. Gebt euch nicht auf.
Natürlich eine grandiose Idee. Die Zukunft der Monarchie, das würde mindestens ein
Thema für eine große Titelgeschichte sein, vielleicht sogar für eine große
Artikelserie. Mit Titeln wie "Glanz und Elend der Windsors", mit kritischen Porträts
der gekrönten Häupter Europas, von Felipe über William, Hakon und Victoria bis zu
Frederik. Dazu der Vergleich mit einer Monarchie, in der der Monarch noch Macht
über Staat und Volk hat wie in Marokko. Schließlich die Frage: Was wäre, wenn die
Monarchie und die Monarchen verschwänden? Nach einer solchen Story würde die
Redaktion das Schicksal der Monarchien mit kritischen Artikeln weiter begleiten, ein
ergiebiges Thema für Jahrzehnte.
- Ja, sagte ich zu Hauser, der Sache werde ich nachgehen. Und natürlich werde ich
für die Unabhängigkeit des Archivs kämpfen.
203
Ein paar Wochen später setzte ich mich mit meinen Praktikanten aus
monarchistischen Ländern zusammen und mit einem Engländer und einer Spanierin,
zwei altgedienten Kollegen vom Archiv. Ich stellte ihnen die Aufgaben so: Was weiß
unser Archiv über die Monarchie in eurer Heimat? Was sollte unser Archiv über
diese Monarchien noch wissen? Wie findet ihr es heraus? Mit welchen Methoden?
Aus welchen Quellen?
Wir entwickelten rasch eine Strategie, angefangen mit Methodenfragen. Aber dann
fingen wir ganz von selbst an, unsere Meinungen über die Monarchie auszutauschen.
Für die Spanierin und den Engländer war sie ein lächerlicher Anachronismus, für den
Norweger und die Dänin "der Stoff, der unser Land zusammenhält". Aber wir
wollten es nicht einfach bei diesem Dissens belassen. Wir beschlossen, ihn zu
dokumentieren. Wir wollen eine umfassende Dokumentation über die Monarchie im
21. Jahrhundert erstellen, dazu gehörte auch eine Dokumentation ihrer Akzeptanz,
und zu dieser Akzeptanz konnten wir uns auch uns selbst befragen. Aber dafür
mussten wir uns erst einmal über unsere eigene Meinung im Klaren sein.
Nach einigen Wochen waren wir so weit, dass ich den anderen präzisere Fragen
stellen konnte. Ich fing so an:
- Wie hoch wäre die Wahlbeteiligung, wenn die Bürger über die Beibehaltung der
Monarchie abstimmen könnten?
Sehr hoch, meinten alle.
- Wie wäre die Wahlbeteiligung, wenn die Bürger den Monarchen selbst wählen
könnten?
Antwort wieder, auch beim Engländer und bei der Spanierin, unseren beiden
Monarchieverächtern: sehr hoch,
So fing es an, und ich ahnte schon, dass wir damit etwas Unabsehbares angestoßen
hatten.
204
Wir waren uns rasch darüber einig, warum bei Abstimmungen über die Monarchie
und über Monarchen so viel mehr Bürger teilnehmen würden als bei normalen
Wahlen. Weil hierbei die Bürger genau wüssten, was sie mit ihrer Stimme bewirken.
Sie wüssten: Es geht nicht um schwer durchschaubare Politik, es geht um Gefühle,
um Zu- und Abneigung, um Orientierung, um Identifikation. Die Monarchin bzw.
der Monarch ist eine Identifikationsfigur. Es geht also darum, dass es in einer immer
komplizierteren Welt noch etwas Einfaches, Übersichtliches geben soll, das dennoch
alle angeht. Politisch mag eine repräsentative Monarchie nur Zierrat sein, aber
sinnlos ist sie nicht. Im Gegenteil.
Ich fragte, ob das denn nicht ein Widerspruch sei: Die repräsentative Monarchie als
Zierrat zu erkennen, aber sie dennoch so ernst zu nehmen.
Eine Antwort war: Wenn wir die Politiker nicht mehr ernst nehmen können, dann
wollen wir wenigstens noch unsere Monarchen ernst nehmen.
So tastete ich mich mit meinen Fragen langsam weiter voran.
Als Nächstes:
- Verstehen eure Monarchen etwas von Politik?
Darauf alle außer dem Marokkaner: Nein.
- Sehen eure Landsleute das auch so?
- Ja.
- Trotzdem sind eure Monarchen immer noch Staatsoberhäupter. Macht das noch
Sinn?
Darüber hatte noch keiner ernsthaft nachgedacht.
Bei unserem nächsten Treffen wagte ich schließlich diese Frage:
- Wäre es nicht besser, wenn eure Monarchen gar nichts mehr der Politik zu tun
hätten? Wenn sie z.B. nur noch Aufgaben in der Kultur und im Sport hätten und
vielleicht als Zeremonienmeister kollektiven Gendenkens?
205
Die meisten in der Runde waren verblüfft. Aber dann nahm der Schwede als erster
den Gedanken auf. Ganz verkehrt sei das wohl nicht, sagte er. Die schwedische
Königin im Parlament, das sei im Grunde eine Peinlichkeit.
Dann die Spanierin: An den Gedanken müsse man sich erst einmal gewöhnen, aber
irgendwie sei er logisch.
Dann die Dänin: Für Dänemark könne er sich das nicht vorstellen. Der Glanz der
Monarchie strahle immer noch auf den gesamten Staat ab, auf Parlament und
Regierung und damit auch auf die Parteien. Daher brauchten Parteien und Politiker
weiterhin die Monarchie.
Dann der Engländer: Wenn von der Monarchie noch Glanz auf die Politiker
abstrahle, dann sei das unverdienter Glanz. Die Trennung von Staat und Monarchie
sei ehrlicher, und es sei höchste Zeit dafür.
- Aber wann könnte sie Wirklichkeit werden?, fragte ich.
Darauf die Dänin und der Norweger: in zwei bis drei Generationen.
Der Engländer und die Spanierin: Darüber sollten wir in zwanzig Jahren nochmal
reden.
Zumindest nachdenken könnten wir darüber aber schon jetzt, sagte ich bei einem
nächsten Treffen. Stellt euch vor, Politik und Monarchie würden endgültig
entkoppelt. Die Monarchie wäre nur noch ein Identifikationsangebot an die Bürger,
finanziert durch eine eigene Steuer. Würde dann der Respekt vor den Monarchen
nicht sogar wachsen? Und könnten sich für eine solche ganz und gar unpolitische
Monarchie nicht sogar vormalige Antimonarchisten begeistern?
Keiner in der Runde widersprach. Ich war nicht sicher, ob es wirklich
stillschweigende Zustimmung war. Ich wartete eine Weile, dann wagte ich die
entscheidende Frage:
- Und wenn es eine solche Art Monarchie gäbe, würden die Bürger sich dann nicht
irgendwann wünschen, ungeliebte Monarchen abwählen zu können?
206
Wieder kein Kommentar, nur einige ratlose Blicke. Dann fing der Engländer an zu
nicken. Dann die Spanierin. Dann der Schwede. Schließlich nickten sie alle, ein
stummes, klares Ja von allen, außer vom Marokkaner.
- Dann wäre die Monarchie, sagte ich, zugleich entpolitisiert und demokratisiert.
Der Marokkaner sah mich fassungslos an. Die anderen warteten ab, sahen einander
fragend an, dann kam, vom Engländer zuerst, wieder ein zögerndes Nicken.
Dann sagte der Engländer:
- Wenn wir eine solche Monarchie hätten, eine unpolitische Wahlmonarchie, würde
man uns darum nicht sogar beneiden?
Neid auf die Monarchie? Auf eine repräsentative Wahlmonarchie? Ein kurzes
Erstaunen bei allen, dann ein zufriedenes Schweigen. Ihre Monarchien, das wussten
sie, wurden in anderen Teilen der Welt schon seit Längerem belächelt, und nun ließ
sich der Spieß womöglich umdrehen. Ihre belächelten Monarchien ließen sich
womöglich in Gebilde umwandeln, um die die Welt sie beneiden würde. In
sinnstiftenden demokratischen Zierrat. Ein wohltuender Gedanke
Was hatten wir da angestoßen? Wo waren wir in unserer kleinen Runde gelandet?
Ganz und gar nicht, wie ich zu Anfang erwartet hatte, im Konsens, dass die
repräsentative Monarchie ein überflüssiger Anachronismus sei. Einig waren wir, dass
nur noch wenige Erbmonarchen das Identifikationsbedürfnis der Bürger besser
erfüllen, als gewählte Politiker es an ihrer Stelle täten. Eine Lösung des Problems:
die repräsentative Wahlmonarchie.
Wir überlegten, welchen Monarchen wohl als ersten die Abwahl drohen würde. Die
meisten von uns tippten auf Felipe, William und Viktoria. Das waren nur
Gedankenspiele, aber sie machten zumindest Spaß. Und auch darüber waren wir uns
schnell einig: Wahlmonarchie sollte Spaß machen. Umso ernster, sagte der
Engländer, würden die Bürger dann die eigentliche Politik nehmen.
207
Allein wegen dieser klugen Bemerkung hatte sich die ganze Mühe für mich schon
gelohnt.
Aber waren all solche Gedanken nicht doch utopisch? War es realistisch, dass eine
Demokratie sich je eine solche Wahlmonarchie schaffen würde? Hatte nicht
zumindest die Dänin damit Recht, dass Parteien und Politiker das in seinem Land
verhindern würden? Und war damit dann nicht auch in anderen Ländern zu rechnen?
Auf absehbare Zeit schon, auch darin waren wir uns einig, aber selbst das brachte
uns nicht vom Thema ab. In den folgenden Monaten steuerte jeder ein
Stimmungsbild zur Monarchie in seinem Land bei, darunter viele kleine Beiträge u.a.
aus Onlineforen, Blogs und kleinen Lokal-, Schüler- und Studentenpublikationen.
Ich stellte daraus einen, wie ich meinte, aufsehenerregenden Auszug für die
Redaktion zusammen, mit der Frage, ob hier möglicherweise ein großes Thema
heranwachse.
Einige Wochen danach stand im SPIEGEL eine kurze Notiz mit der Überschrift:
Antimonarchisten in Europa im Aufwind? Es war ein Versuchsballon, mehr nicht.
Niemand griff das Thema auf, nicht einmal in Leserbriefen. Für die Chefredaktion
das Signal: Kein Leserinteresse. Damit war das Thema für viele Jahre erledigt.
Erst ein Vierteljahrhundert später erschien dann die große SPIEGEL-Titelgeschichte
über Sinn und Unsinn der repräsentativen Monarchie. Ich hatte gehofft, sie würde
den Titel bekommen, den ich damals in unserem kleinen Kreis vorgeschlagen hatte:
Gewählte Sinnstifter - Neuerfindung der repräsentativen Monarchie?. Aber andere
hatten dazu natürlich ihre eigenen Ideen.
Kleine Staatsreparaturen
Als die erste Jahrhunderthälfte zu Ende ging, hatte ich fast zwanzig Jahre als
Archivleiter hinter mir, und natürlich hatte diese Zeit mich geprägt. Andere mögen in
dieser Zeit ein aufregenderes Leben gehabt haben, aber meines war ausgefüllt. Ich
bin - das Archivardasein macht es einem leicht - ein Familienmensch geworden, und
208
das allein ist ein großes Glück. Vielleicht hatte ich zu Anfang erwartet, dass sich in
unserem Archiv ein erbauliches und aufregendes Vierteljahrhundert widerspiegeln
wird, aber es kam anders. Enttäuscht war ich darüber nicht. Dieses
Vierteljahrhundert aus der Perspektive eines Archivars beobachten zu können hat für
vieles entschädigt.
Im Lauf der Zeit habe auch ich mir angewöhnt, Einfälle und Gedanken zum
Zeitgeschehen zu notieren, wenn auch nicht so gründlich, so präzise und so kühn wie
Hauser. Auch ich wollte mir ein Bild davon machen, wie sich das Bewusstsein
unserer Epoche entwickelt und das Bewusstsein meiner Generation, der Generation
Sichtflug. Ich habe den schleichenden Dritten Weltkrieg beobachtet und ihn zu
verstehen versucht, und ich habe über die Beschränkungen der Demokratie
nachgedacht. Die Demokratie löst nicht die Probleme unseres Jahrhunderts, das war
der eine Schlüsselgedanke, zu dem Hauser mich angestiftet hatte. Die Generation
Sichtflug fand sich damit ab, das war der zweite. Der dritte: Das politische
Bewusstsein der Welt steckte fest in den Dogmen des zwanzigsten und früherer
Jahrhunderte. Der vierte schließlich: Die Demokratie hilft nicht, ein
fortgeschritteneres Bewusstsein zu formen, sie tut das Gegenteil. Aber schon diese
Gedanken, so einfach und klar sie auch erschienen, gaben mir manchmal das Gefühl,
die Bodenhaftung zu verlieren.
In der letzten Woche der ersten Jahrhunderthälfte lud Hauser mich in seine Wohnung
ein. Er würde wissen wollen, glaubte ich, was ich Neues über den Verlag wisse, über
die internen Intrigen und über den drohenden Eigentümerwechsel, über den in den
Medien spekuliert worden war. Aber kein Wort darüber. Es ging ihm um frühere
Themen. Er wollte sich, so schien es mir, vergewissern, dass ich nichts von dem
vergessen hatte, worüber wir früher so ausgiebig diskutiert hatten.
- Erinnerst du dich, begann er, wie wir vor zwanzig Jahren darüber sprachen, dass
noch zivilisatorische Entgleisungen bevorstünden? Damals wolltest du nichts davon
wissen. So pessimistisch wolltest du nicht sein.
209
- Ich war noch ziemlich jung.
- Und heute?, fragte er. Glaubst du heute, dass es zivilisatorische Entgleisungen
geben wird?
Ich sah etwas verlegen zu Boden. Ich wusste, dass es eine rhetorische Frage war, auf
die er selbst würde antworten wollen.
- Ich fürchte es, sagte ich in unbestimmten Tonfall.
Dann breitete Hauser noch einmal das ganze Szenario der Gefährdungen aus, der die
globale Zivilisation noch immer ausgesetzt war. Dass die Welt immer noch von
dreierlei Arten politischer Kultur beherrscht sei, von archaischen,
fundamentalistischen und veralteten demokratischen. Dass die Epoche der
Religionskriege, der blutigen ethnischen Konflikte und auch der Kriege und
Bürgerkriege um Staatsgrenzen und Staatszugehörigkeiten auch jetzt, zur Mitte
unseres Jahrhunderts, noch längst nicht beendet sei. Dass im zwanzigsten
Jahrhundert der Schock der Weltkriege und das Erschrecken über das atomare
Zerstörungspotential die politische Zivilisierung vorangebracht hätten, dass diese
seither aber stagniere. Dass zugleich immer neue menschengemachte Gefährdungen
entstanden seien und weiter entstünden wie Umweltbelastungen und
Ressourcenverknappungen, und dass all das eigentlich zivilisiertere Weltmächte
denn je erfordere, die aber nirgendwo zu erkennen seien.
Sorgen müsse man sich auch darum, dass die Bevölkerung in den weniger
zivilisierten Teilen der Welt immer noch viel schneller wachse als in den
zivilisierteren - ein Land wie Nigeria habe inzwischen mehr Einwohner als die
USA -, was die Welt als ganze natürlich in der Zivilisierung herunterziehe. Und zu
denken gebe doch auch, dass die politisch vergleichsweise zivilisierten, also die
westlichen Länder mehr Flüchtlinge, legale und illegale, aus weniger zivilisierten
Ländern aufnähmen denn je, wodurch sie sich immer mehr rückständiges politisches
Denken ins Land holten, auch fundamentalistisches und archaisches. Auch dies
210
schwäche die Fähigkeit der westlichen Welt, Vorbild in der politischen Zivilisierung
zu sein, und das bedeute für die Welt als ganze natürlich nichts Gutes.
Bis hierhin hatte Hauser mich mit festem Blick angesehen, eindringlich fast, als
fürchte er, ich würde seinen Gedanken nicht folgen. Jetzt lehnte er sich entspannt
zurück und sprach leiser, als würde sein Gegenüber ihm ohnehin nicht ganz folgen.
Er wüsste gern, sagte er, wie Historiker im 22. Jahrhundert über unsere Epoche
schreiben würden. Als Optimist müsse man hoffen, dass in hundert Jahren auf die
politische Zivilisierung von heute zurückgeblickt werden wird, wie wir heute auf die
Zivilisation des frühen Mittelalters zurückblicken. Er würde alles dafür geben, das in
Gedanken vorwegnehmen zu können.
Natürlich wusste Hauser, dass auch er mit seinem geübten Blick ins Weite nicht ein
Jahrhundert vorausdenken konnte. Von seinem Realitätssinn hatte er nichts
eingebüßt. Noch immer beobachtete er genau, wie sich das politische Bewusstsein
veränderte, und er machte sich darüber weniger Illusionen denn je. Eine seiner
Feststellungen war: Es werde mindestens eine weitere politikmüde Generation
geben, die nur zur Wahl gehen werde, wenn dies gerade besonderen
Unterhaltungswert habe. Es könne sogar sein, dass meine Generation im Vergleich
zur nachfolgenden als relativ engagiert gelten werde.
Als wir uns dann nach all dem schließlich an der Tür verabschiedeten, sagte er:
- Ich hoffe, ich habe dir nicht zu viel zugemutet.
- Ich wünschte, du hättest in manchem Unrecht, sagte ich, aber ich wüsste nicht, wo.
Am nächsten Tag lud ich mich bei Hauser zu einer Fortsetzung des Gesprächs ein.
Auch wenn all das, so begann ich, was er vom Vortrag gesagt hatte, richtig sei, seien
in westlichen Demokratien grundlegende Reformen doch nicht völlig
ausgeschlossen. Wo er denn das größte Veränderungspotential sehe.
- Natürlich in den angelsächsischen Ländern, sagte er mit einem süßsauren Lächeln.
Natürlich im Versuch, den Staat als Unternehmen zu führen.
211
Damit meinte er die damals so genannte neue Privatisierung, den ideologischen
Favoriten dieser Jahre. Dass der Staat, wie er ist, mit seinen Aufgaben irgendwie
überfordert ist, das war schon in vielen westlichen Ländern in aller Munde, und
natürlich wurde erst einmal versucht, die Schlussfolgerungen daraus nicht ausufern
zu lassen. In den USA und Großbritannien folgerte man: Wo gewählte Politiker
überfordert sind, sollen Manager deren Arbeit tun. Immerhin wurde nun auch
erstmals systematisch nach Überforderungssymptomen bei Politikern gesucht. Die
Ergebnisse waren erschütternd, aber sie wurden der Öffentlichkeit nur
häppchenweise vermittelt.
Ich muss zugeben, dass auch mir das Konzept der neuen Privatisierung nicht
abwegig erschien. Müllabfuhr, Gefängnisse, Brief- und Paketbeförderung,
Telekommunikation und vieles mehr, was einstmals in staatlicher Hand gewesen
war, waren in den meisten Ländern längst privatisiert, und kaum jemand wollte dies
noch rückgängig machen. Warum nicht konsequent in diese Richtung weitergehen?
Warum nicht Staatsmanagementorganisationen - so genannten SMOs - für viel
umfassendere staatliche Aufgaben schaffen? Warum nicht kommunale
Staatsmanagementorganisationen schaffen, so genannte KSMOs, die ganze
Kommunen verwalten? Warum nicht regionale Staatsmanagementorganisationen, die
Landkreise, Länder, Provinzen, Departments oder Grafschaften verwalten? Und
schließlich: Warum nicht auch nationale Staatsmanagementorganisationen schaffen,
die den Staat auf der nationalen Ebene verwalten - im Auftrag gewählter Politiker
oder auch im direkten Auftrag der Bürger? Und warum sollte es nicht international
und global tätige SMOs geben, die in einen internationalen Wettbewerb um
Staatsmanagementaufträge treten? Warum sollten z.B. die Sarden, wenn sie sich im
italienischen Staat schlecht verwalten fühlen, nicht eine Schweizer
Staatsmanagementorganisation mit der Verwaltung Sardiniens betrauen können?
Ähnliche Ideen waren in Sardinien schon Anfang des Jahrhunderts einmal
aufgekommen.
212
Die Grundidee war gewöhnungsbedürftig, aber unplausibel war sie nicht. Es ist im
Zweifel besser, den Staat in die Hände hoch professioneller Staatsmanager zu geben
als in die Hände von Laienorganisationen, wie politische Parteien es nun einmal sind.
Trotzdem wurde die Idee zu Anfang natürlich - sogar in Teilen der angelsächsischen
Welt - als skurril abgetan. Aber in dem Maße, wie auch reale demokratische Politik,
die realen Parteien und die realen Politiker den Bürgern immer skurriler erschienen,
gewann das Konzept der SMOs an Zustimmung. Zuerst nur unter Wissenschaftlern,
aber dann auch zunehmend bei Bürgern. Niemand sah in den SMOs Heilsbringer,
aber viele trauten ihnen zu, ihre Sache wenigstens etwas besser zu machen als
Parteien und Parteipolitiker.
Ich diskutierte diese Idee mit Hauser später noch mehrere Male, und ich war erstaunt,
wie viel Respekt er ihr schließlich doch entgegenbrachte. Sie zeige zumindest, sagte
er, dass Veränderungen am politischen System denkbar sind, an die noch vor zehn
Jahren kaum jemand zu denken wagte.
- Aber sind das Verzweiflungsakte, fragte ich, oder Wegweiser in die Zukunft der
Demokratie?
- Wegweiser zu einer Notlösung, sagte er. Immerhin.
Zu Hause versuchte ich, den Gedanken ein Stück weiterzuspinnen. Würden
Staatsmanagementorganisationen irgendwann als Interimsverwalter die Geschäfte
abgewirtschafteter und abgewählter Königshäuser übernehmen können? Kein
wirklich wichtiger Gedanke, sagte ich mir, aber auch kein unvernünftiger. Viel
wichtiger, dachte ich dann, könnte dieser sein: Würden künftige global tätige
Staatsmanagementorganisationen vorübergehend so genannte gescheiterte Staaten
oder Teile davon verwalten können? Ein noch sehr unfertiger Gedanke damals, aber
einer, so schien mir, der weitergedacht werden könnte.
213
2050 – 2074 Globale Erschöpfung
Mächtige Senioren
Dass die Rentner irgendwann rebellisch würden, war seit Ende der dreißiger Jahre
absehbar gewesen. Überraschend war für mich nur, dass es so spät kam. 2052
gründete eine Senioreninitiative in Berlin die neue Partei Interessengemeinschaft
Senioren - Partei der reiferen Jahrgänge. Kurzform: IG SENIOREN.
Der Name war klug gewählt. Die IG SENIOREN wollte nicht eine Partei des Alters
sein, sondern der Reife. Und sie wollte eine Partei der Reiferen sein, also derer, die
sich etwas reifer fühlten als andere. Und vielleicht sollte auch dies im Parteinamen
anklingen: Die IG SENIOREN fühle sich reifer als die, von denen sie regiert wurden.
Auch ich als später Mittfünfziger fühlte mich angesprochen. Zu Anfang war ich
unsicher. Ich betrachtete mich im Spiegel und fragte mich, ob ich wirklich in das
Gesicht eines Mannes der reiferen Jahrgänge schaute. Blitzte da nicht doch noch ein
Rest jugendlicher Verwegenheit auf? Und hatten nicht schon zwei gleichaltrige
Freunde, Segler der eine, Biker der andere, über die IG SENIOREN herablassende
Bemerkungen gemacht? Ja, beides traf zu. Aber ich hatte schon länger darüber
gegrübelt, wie lange mein Arbeitsleben wohl noch dauern würde, und ich hatte mein
Einkommen im Fall eines unfreiwilligen Ruhestands überschlagen. Das Ergebnis war
ernüchternd. Ich würde im Alter deutlich ärmer sein, als ich es mir früher erhofft
hatte. Danach war auch mir klar: Die Senioren in Deutschland hatten guten Grund,
ihre politischen Interessen zu bündeln. Und die reiferen Jahrgänge machten 40% der
Bevölkerung aus. Nicht alle davon würden die IG SENIOREN wählen, aber deren
Wählerpotential wurde auf 15% bis 25% geschätzt.
Parteigründungen gelingen immer noch am ehesten dann, wenn sie ein
Empörungspotential aufgreifen. So war es auch hier. Zwei Ereignisse hatten das
Empörungspotential der Älteren wachsen lassen. Das eine war die Ankündigung der
Unionsparteien, dass das Rentenalter demnächst auf 72 Jahre angehoben werden
214
müsse. Das andere Ereignis war eine von den Deutschen Arbeitgeberverbänden
beauftragte Studie zur Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer.
Ein Ergebnis der Studie war, dass Siebzigjährige im Durchschnitt 40% weniger
leistungsfähig seien als 50-jährige. In manchen Berufen sei der Abstand zwar
niedriger, in anderen dagegen noch höher. Fast alle Älteren, so die Studie,
beanspruchten aber trotzdem das gleiche Arbeitsentgelt wie die jüngeren Kollegen.
Das Fazit der Arbeitgeber: Die meisten Älteren seien überbezahlt, und es würden
immer mehr. Das aber könnten viele Unternehmen sich nicht mehr leisten, es
untergrabe ihre Wettbewerbsfähigkeit. In Sachen Beschäftigung älterer Arbeitskräfte
dürfe die Politik daher nicht zu viel erwarten, es sei denn, die Alten übten massiven
Lohnverzicht.
Die Studie empörte natürlich fast alle älteren Arbeitskräfte, und die Empörung zog
sich durch fast alle Medien. Von Gefälligkeitsgutachten war die Rede, von der
Korrumpierbarkeit von Wirtschaftswissenschaftlern und von einer Kriegserklärung
der Unternehmen gegen ältere Arbeitnehmer. Damit war schon klar: Wenn die IG
SENIOREN es einigermaßen geschickt anstellte, dann würde sie bald fest in der
deutschen Politik etabliert sein. Dann aber wäre die deutsche Parteienlandschaft
endgültig hoffnungslos zersplittert. Dann wäre endgültig das Ende der relativen
politischen Stabilität gekommen, von der Deutschland lange profitiert hatte.
Einige Monate nach Gründung der IG SENIOREN fragte ich Constanze, was sie
davon halte.
Verständnis habe sie ja für die Empörung, sagte sie, aber jetzt helfe das nichts mehr,
jetzt ereile die Generationen Sichtflug ihr Schicksal. Geholfen hätte es nur, wenn die
Rentner von heute sich schon vor 40 oder 50 Jahren politisch engagiert hätten, vor
allem natürlich bevölkerungspolitisch. Nun aber sei dies eines der Probleme, die die
Politik ein halbes Jahrhundert lang verschlafen habe.
Dann fragte ich sie noch, was sie von dem Gutachten der Arbeitgeber halte. Ob die
Leistungsfähigkeit im Alter wirklich so zurückgehe.
215
- Es ist bitter, sagte sie, aber es ist so.
Wie sie das denn wissen könne, fragte ich. Ob sie dafür Belege habe.
Das nicht, sagte sie, aber es entspreche ihrer Erfahrung.
Etwas in mir sperrte sich gegen diese Gedanken, die Constanze mir in so knappen
Worten vorgehalten hatte. Musste ich mich wirklich auch damit noch befassen?
Hauser, Tian, nun auch Constanze - hatten sie mich nicht in ein Gedankendickicht
verstrickt, das mir langsam den Atem nahm? War nicht alles viel zu kompliziert
geworden? Hatte ich mich hoffnungslos verzettelt? Und schließlich kam mir noch in
den Sinn: Müssten die meisten Politiker es nicht ganz ähnlich empfinden?
Zum Glück war es ein lauwarmer Sommerabend. Ich ging ich auf den Balkon, legte
mich auf den Liegestuhl, schloss die Augen und ließ mich von den letzten Strahlen
der untergehenden Abendsonne wärmen. Aber auch das half nicht. Nach wenigen
Minuten waren meine Gedanken wieder bei dem Gespräch mit Constanze, und ich
fing an, in mich hineinzuhorchen. Wie viel von meiner Leistungsfähigkeit hatte ich
als später Mittfünfziger schon eingebüßt? Wie viel würde ich noch einbüßen, wenn
ich weitere 15 Jahre als Archivleiter arbeitete? Könnte ich die gleiche Arbeit in 15
Jahren überhaupt noch tun? Und würde ich es wollen? Und würde der Verlag es
wollen? Oder würde der Verlag schon bald einen Jüngeren an meine Stelle setzen
wollen, der den Zenit seiner Leistungsfähigkeit noch vor sich hat?
Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht. Eine Stunde später, kein Sonnenstrahl
erreichte mehr meinen Balkon, weckte mich die beginnende Abendkühle. Ich
meinem Kopf spürte ich nur Leere, und es tat mir gut.
Neue Hoffnungsträger
Zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte gab es unscheinbare Ereignisse, die den
Keim des Neuen in sich trugen.
216
Dass in der Politik vorausschauender und kühner gehandelt werden müsse denn je,
das war kein neuer Gedanke, aber neu war, dass einige Wenige sich ganz diesem
Gedanken verschrieben. Eine Handvoll Menschen nur, die noch nicht einmal große
Ideen hatten, aber jeder von ihnen ragte auf seine Weise heraus, in Tatkraft oder in
Reichtum oder in beidem.
Auch dass Reiche oder Superreiche Stiftungen gründen, um sich als politische
Wohltäter darzustellen, war nichts Neues. Davon gab es schon in der ersten
Jahrhunderthälfte vermutlich mehr als in der gesamten vorherigen
Menschheitsgeschichte. Stifter verfolgen dabei aber nicht nur uneigennützige Ziele.
Viele versammeln in ihren Stiftungen politische, kulturelle und wissenschaftliche
Prominenz, deren Glanz und Renommee auf sie abstrahlen soll. So kommen in
solchen Stiftungen üblicherweise die üblichen Verdächtigen zusammen, zu einem
nicht geringen Teil ehemalige hohe Amtsträger, in ihren Meinungen leicht
berechenbare Persönlichkeiten also, denen sich dort für ihre vorhersehbaren
Meinungen noch einmal ein Forum bietet. Bei den Stiftern und anderen engagierten
Reichen, von denen hier die Rede sein soll, war es ganz anders. Sie hatten ganz
anderes im Sinn, als bestehenden Stiftungen noch eine gleichartige hinzuzufügen.
Die große Zeit des Katalanen Xavi Puig waren die dreißiger Jahre gewesen. Puig, ein
exzentrischer Modedesigner, geboren 1992, hatte als junger Mann in Barcelona ein
kleines Modeunternehmen gegründet, hatte in den zwanziger Jahren mit seiner Mode
wie kaum ein anderer den Nerv der Zeit getroffen und in den Dreißigern den
zweitgrößten Mode-Onlinehandel der spanisch- und portugiesischsprachigen Welt
aufgebaut. 2048 verkaufte er sein Unternehmen an die von den Samwer-Brüdern
gegründete deutsche Zalando. Nun war er hundertfacher Multimillionär im
vorzeitigen Ruhestand.
Puig hatte sich um Politik in seinem Leben wenig gekümmert. Er war Pazifist,
ansonsten interessierte ihn nur Eines wirklich: Die Unabhängigkeit Kataloniens.
Diesem Ziel vor allem wollte er für den Rest seines Lebens dienen, er wusste nur
nicht, wie. Also zweigte er von seinem Reichtum erst einmal ein paar Millionen für
217
eine neue Stiftung ab. Ihr Name: Fundació per a la Independència Política. Das
Weitere, hoffte Puig, würde sich dann schnell ergeben.
In der ersten Märzwoche 2051 veranstaltete die Stiftung ihr erstes offenes Seminar.
Das Thema: Unabhängigkeitsbewegungen in Europa vom 19. Jahrhundert bis heute.
Dass bei diesem Seminar auch der junge Kanadier Robert Yang auftauchte, war einer
jener Zufälle, über die Historiker später einmal schreiben, dass sie die Welt hätten
verändern können.
Robert Yang war studierter Anthropologe, Anfang dreißig, finanziell unabhängig.
Ein geborener Aktivist. Einer, der nur wenige Sätze brauchte, um Menschen zu
überzeugen, dass er Wichtiges zu sagen habe. Einer, der andere mit seiner
Begeisterung mitreißen konnte. Ein grandioses Talent auch als Politiker, aber dafür,
hieß es, habe er sein Talent nicht verschwenden wollen.
In einem seiner ersten veröffentlichten Artikel hatte Yang sich mit der Geschichte
des Club of Rome befasst. Dieser habe im vorigen Jahrhundert viel für die
öffentliche Bewusstseinsentwicklung getan, das verdiene allerhöchsten Respekt, aber
man müsse auch eingestehen, dass er die politische Praxis kaum beeinflusst habe.
Die Welt sähe anders und besser aus, wenn die Politik auf den Club of Rome gehört
hätte, aber das habe sie nicht getan. Eigentlich habe der Club of Rome sich das von
vornherein denken können.
In seiner Wirkungslosigkeit sei der Club of Rome nämlich, so Yang, ein Beispiel von
vielen, genauer gesagt, ein Beispiel für fast alle anderen. Die letzten hundert Jahre
hätten gezeigt, wie erschütternd wenig vergleichbare zivilgesellschaftliche Initiativen
für die politische Praxis bewirkt hätten. In solchen Organisationen halte man viele
Reden zum Fenster hinaus und schreibe unendlich viele engagierte Texte, aber wer
höre dabei eigentlich zu? Wenn politische Entscheider überhaupt auf solche
Initiativen hörten, dann täten sie es nur pro forma. Die Welt brauche daher keinen
neuen Club of Rome und auch keine neuen Initiativen wie Attac, Occupy und
ähnliche. Zivilgesellschaftliches Engagement müsse ganz neu gedacht werden.
218
Seine Schlussfolgerung war bestechend, aber vorerst auch abstrakt. Immer noch und
immer wieder würden moralisch zwingende politische Forderungen - an oberster
Stelle sah er den Klimaschutz - auch von demokratischen Regierungen, Parlamenten
und Parteien zumindest grob vernachlässigt. Das zeige, dass diese Adressaten
Jahrhundertaufgaben wie dem Klimaschutz generell nicht gewachsen seien,
moralisch oder fachlich oder in beidem nicht. Daher müsse man sich überlegen, ob
man sich an diese Adressaten überhaupt noch wenden solle.
Nein, war Yangs Antwort, man müsse viel grundsätzlicher ansetzen. Man müsse erst
einmal dafür kämpfen, dass kompetentere politische Adressaten geschaffen werden,
und das heiße: für einen Wandel der politischen Ordnung. Dies würde zwar ein
langwieriger Kampf sein, aber wenigstens einer, der Wirkung verspricht. Auf dieses
Ziel, auf eine grundlegende Reform des Staates also, sollte zivilgesellschaftliches
Engagement daher vorrangig gerichtet sein.
Mit dieser anspruchsvollen Botschaft begann Yang seine Mission. Er gab ihr einen
kühnen Namen: World Upgrade.
Musste nicht, wer seiner Mission einen solchen Namen gibt, größenwahnsinnig sein?
So dachten zu Anfang viele, aber Yang strahlte alles andere als Größenwahn aus.
Fast jeder andere wäre wohl mit einem Projekt wie World Upgrade belächelt
worden. Yang nicht.
Yang war nicht nur ein begnadeter Aktivist, er war auch ein begnadeter Stratege. Er
wusste, dass hinter fast jedem politischen Engagement eine Ideologie lauerte. Wer
eine zivilgesellschaftliche Organisation zu schnell aufbaue, war sein Credo, der
versammele um sich einen Flickenteppich politischer Vorurteile. Daher legte er sich
strenge Regeln auf. Zwei der wichtigsten: Lass die Organisation langsam wachsen.
Und: Rede vorerst nie vor mehr als zehn Personen und nur ausnahmsweise vor
Leuten, die älter sind als du selbst. Erstaunlich, wie lange er sich daran hielt.
Yang war gelernter Umwelt- und Klimaaktivist, aber nun hatte er eine kompliziertere
Botschaft. Unsere alten politischen Adressaten hören uns nicht zu, also brauchen wir
219
neue - diese Botschaft riss die Zuhörer auch aus Yangs Mund nicht gerade von den
Stühlen. Zu oft konnte er auch Fragen hierzu nicht überzeugend beantworten, zu oft
waren Zuhörer seiner kleinen Seminare enttäuscht. So war es ihm gerade wieder in
London ergangen.
Was dann geschah, beschrieb Yang 15 Jahre später in seiner mit viel Selbstironie
geschriebenen frühen Autobiographie "Mal eben die Welt verändern" so:
Nach dem Seminar in London, im Hotel, stieß er zufällig auf die Website von Puigs
Stiftung. Fundació per a la Independència Política, Stiftung für politische
Unabhängigkeit, das klang vielversprechend. Für politische Selbstbestimmung hatte
Yang sich schon lange interessiert. Aber verschlossen, überlegte er jetzt, die
politischen Entscheider nicht auch hiervor die Augen? Verweigerten sie sich nicht
auch dem zivilgesellschaftlichen Engagement für politische Unabhängigkeit? Hatten
seine Word Upgrade und die Fundació per a la Independència Política es also
letztlich mit dem gleichen Problem zu tun? Würden sie einander daher nicht sinnvoll
ergänzen und stärken können?
Auf der Website von Puigs Stiftung war für den Abend das Seminar über
europäische Unabhängigkeitsbewegungen angekündigt. Eine Gelegenheit, dachte
Yang sofort, die er sich nicht entgehen lassen dürfe. Sein nächstes Reiseziel war
Paris, nun buchte er kurz entschlossen um für einen Zwischenstopp in Barcelona.
Vom Flughafen El Prat fuhr er direkt zum Seminargebäude der Stiftung.
- Ist Xavi Puig hier?, fragte er ohne Umschweife, als er kurz vor Seminarbeginn
eintraf. So machte er es überall. Er war keiner, der sich hintanstellte, keiner, der sich
in zweiter Reihe einordnete. Kontakte knüpfte er immer auf höchster
Entscheidungsebene.
- Ja, war die Antwort, warten Sie, er wird gleich hier sein.
Yang hatte sich auf das Gespräch mit Puig minutiös vorbereitet. Gleich nach der
Begrüßung lobte er die Zielsetzung von Puigs Stiftung. Er selbst sei vor allem
220
Umwelt- und Klimaschutzaktivist, aber die Website der Stiftung habe ihm die Augen
für ein ganz anderes Themenfeld geöffnet.
Dann, nach diesem einleitenden Lob, forderte er Puig schon heraus. Er frage sich
allerdings, fuhr er fort, ob eine Bewegung, die Unabhängigkeitsbewegungen
unterstütze, nicht auch eine Gefahr sei. Eine solche Bewegung trage womöglich dazu
bei, Grenzkonflikte zu schüren, und Grenzkonflikte seien im Lauf der Geschichte
selten friedlich verlaufen.
Das wisse er natürlich, antworte Puig seelenruhig, aber gerade das sei doch ein
schlimmes Politikversagen. Seine Stiftung solle helfen, den Gründen für dieses
Versagen auf die Spur zu kommen. Wenn das gelinge, dann würden sich
Grenzkonflikte leichter friedlich lösen lassen.
- Ganz hervorragend!, fiel ihm Yang dann ins Wort. Genau das hatte ich mir von
Ihnen erhofft.
Dabei sah er Puig mit festem Blick in die Augen und reichte ihm die Hand. Ein
Händedruck, wie um Freundschaften zu besiegeln.
Yang nahm Puigs überraschten Blick auf. Er müsse das natürlich erklären, fuhr er
dann fort. Zwischen zwei großen globalen Anliegen, seinem und Puigs, Klimaschutz
und politischer Unabhängigkeit, sehe er eine elementare Gemeinsamkeit, und er sehe
sogar, dass die Klimaschutz- und Unabhängigkeitsbewegungen global
zusammenwachsen könnten. Beide Anliegen prallten an ihren politischen
Adressaten, an den Regierungen und Parlamenten dieser Welt, fast folgenlos ab. Die
Adressaten, die diese Anliegen in Politik umsetzen, müssten daher erst noch
geschaffen werden. Daher müssten Unabhängigkeits- und Klimaschutzbewegungen,
müssten also sie beide, Puig und er, mit dem Engagement ganz unten anfangen, bei
politischen Systemfragen.
Von da an duzte er Puig:
- Xavi, aus deiner Stiftung kann etwas ganz Großes werden. Lass uns
zusammenarbeiten.
221
Puig winkte ab. Als Systemveränderer fühle er sich bisher nicht, dafür sei er auch
schon zu alt. Dass ein so großes Ziel erreicht werde, werde er ohnehin nicht mehr
erleben.
Darauf Yang:
- Kommt es denn darauf an? Wer Großes bewegen will, muss auch über die eigene
Lebenszeit hinausdenken.
Puig fand noch einige anerkennte Worte, lobte Yang für seine mutige Zielsetzung
und dankte ihm für sein Kommen.
- Wir bleiben in Kontakt, konnte Yang noch sagen, und ihm dabei seine Visitenkarte
von World Upgrade zustecken.
Yang verließ das Seminar vorzeitig - am nächsten Morgen musste er den ersten Flug
nach Paris erreichen - und ließ sich in sein kleines Hotel nahe dem Parc Güell fahren.
Als er in die Hotellobby eintrat, klingelte sein Handy.
Puigs Stimme. Ob Yang so spät am Abend noch etwas Zeit für ihn habe.
Natürlich, sagte Yang. Soviel du willst.
Eine Viertelstunde später trafen sie sich in der Hotelbar. Dabei strahlte der alte Puig
Yang so energiegeladen an, dass alle Müdigkeit sofort verflog.
Puig war ein Mann von südländischer Redseligkeit. Ganz anders Yang. Er war ein
guter Redner, aber auch ein begnadeter Zuhörer. Er wusste genau, wann stilles
Zuhören am besten half, wann das Reden, wann das Fragenstellen. Gezielt fragen,
dann gut zuhören, so machte er auch jetzt:
- Vom Modeunternehmer zum Kämpfer für politische Unabhängigkeit, das ist
wirklich eine großartige Lebensgeschichte. Wie kam es dazu?
Genau das Thema, dem Puig am wenigsten widerstehen konnte.
Eigentlich, begann er, habe er Modedesigner werden wollen, besser gesagt,
Modeschöpfer, nicht irgendeiner, sondern ein großer, ein katalanischer, also ein
222
großer katalanischer Modeschöpfer. Er habe den Menschen mit seiner Mode etwas
geben wollen, das sie stolz macht, etwas, mit dem sie ihr Lebensgefühl ausdrücken
können, ihre Individualität, ihre Zugehörigkeit zu ähnlich gestimmten Menschen,
mit dem sie sich aber auch von anderen abgrenzen könnten. Diese Bedürfnisse, sagte
er, spielten eine immer größere Rolle, weil die Welt ansonsten immer anonymer und
gleichförmiger werde. Wirklich gute Mode helfe, diesen Bedürfnissen auf
vergnügliche Art nachzukommen.
Als Modedesigner sei er dann aber leider nicht gut genug gewesen. Gut sei er schon
gewesen, aber es habe einfach zu viele gegeben, die noch besser waren. Wenn er
gute Mode schon nicht kreieren könne, habe er sich dann gesagt, dann wolle er
wenigstens mit ihr handeln. Eine zweitbeste Lösung, wenn auch weit ab von seinen
früheren Lebensträumen. Seinen großen Lebenstraum habe er sich also nicht erfüllt,
aber immerhin ein Milliardenvermögen gesammelt, und nun wolle er das tun, was
andere reiche Unternehmer auch getan hätten: sich mit seinem Geld einen anderen
Traum erfüllen.
Yang wundere sich vielleicht, fuhr er fort, wie er, Puig, von der Mode auf die
politische Unabhängigkeit gekommen sei, aber je älter er geworden sei, desto
wichtiger sei ihm die Frage der Unabhängigkeit geworden. Und irgendwann habe er
dann auch verstanden, wie viel Unabhängigkeitsbewegungen und Mode miteinander
gemein hätten.
Dabei sah er Yang an, wie um sich dessen Verblüffung zu vergewissern.
- Das musst du mir genauer erklären, sagte Yang.
Mode, sagte Puig, sei, wie gesagt, eben nicht etwas rein Individuelles, mit Mode
drückten Menschen auch Zugehörigkeiten und Abgrenzungen aus. Mode verbinde
Menschen, aber sie unterscheide sie auch. Und genau darum gehe es auch bei
Unabhängigkeitsbewegungen, auch der katalanischen. Es gebe ein
Zusammengehörigkeitsgefühl der Katalanen, wozu auch das Gefühl gehöre, keine
223
Spanier zu sein oder wenn, dann anders als die eigentlichen Spanier. Die Katalanen
wünschten sich, dass dies auch in der Politik seinen Ausdruck finde.
Dieses Bedürfnis der Katalanen, sagte er dann, - er nannte es ein Bedürfnis nach
Identifikation - sei überhaupt nichts Aggressives, es sei im Gegenteil etwas ganz und
gar Friedliches, aber dieses Bedürfnis nicht ausleben zu dürfen schüre nun einmal
Unmut, und anderswo in der Welt sei ja zu beobachten, wie leicht solcher Unmut
aggressiv werden kann. Sein Traum sei, dass Staatsbürger Zusammengehörigkeit und
Abgrenzung künftig überall auf der Welt so harmlos und friedlich ausleben könnten,
wie Menschen es mit der Mode täten. Dann würde der Staat im besten Fall wie ein
Verein Gleichgesinnter, in dem niemand gegen seinen Willen Mitglied ist. Dann
könnten alle Bürger sagen: Hier ist das Staatsoberhaupt, die politische
Identifikationsfigur, die Armee, die Währung, der Sozialstaat, die wir uns ausgesucht
haben.
Yang schloss kurz die Augen und nahm sich eine Denkpause. Dass Mode und
politische Unabhängigkeit sich so zusammendenken ließen, verblüffte sogar ihn, aber
unsympathisch war ihm der Gedanke nicht.
- Aber, fragte er dann - und dabei sah er Puig mit hellwachem Blick an -, welche
Rolle spielt bei all dem das Geld?
Puig schmunzelte.
- Eine immer größere, sagte er. Für große politische Veränderungen war früher
meistens Gewalt nötig. Heute versuchen wir es ohne Gewalt. Stattdessen ist aber
immer mehr Geld nötig. Dir wird es nicht anders gehen.
Puig legte seine Hände flach auf die Knie und sah Yang schweigend an, als habe er
gesagt, was er ihm an diesem Abend hatte sagen wollen. Dann stand er auf und
reichte Yang beide Hände zu einem herzlichen Abschied.
Über Puigs "Dir wird es nicht anders gehen" grübelte Yang noch auf dem Weiterflug
nach Paris. Dass Katalanen, Schotten, Flamen und andere Europäer wohl kaum zu
den Waffen greifen würden, um ihr politische Unabhängigkeit zu erkämpfen, das war
224
klar, aber über die Rolle des Geldes in politischen Veränderungsprozessen hatte er
noch kaum nachgedacht. Natürlich, auch das wusste er, hatten die
Veränderungsverweigerer es im Zweifel leichter. Sie konnten den Staatsapparat für
sich einspannen, sie beherrschten die Regierungen und Parlamente, sie beeinflussten
die Medien und sogar Verfassungsgerichte. Wer Veränderungen wollte, der musste
dem etwas Wirkungsvolles entgegensetzen. Aber was? Puig schien überzeugt, dass
das ohne Einsatz von viel Geld unmöglich war. War also Yangs eigene globale
Initiative schon aus Geldmangel aussichtslos? So aussichtslos wie die zahllosen
kleinen und großen zivilgesellschaftlichen Initiativen, denen Yang sich bis dahin
konzeptionell überlegen fühlte?
Mit Zweifeln solcher Art plagte ein Yang sich nicht lange. Noch vor der Landung in
Paris kam ihm der Gedanke: War Puigs Bemerkung vielleicht ein verstecktes
Angebot? Meinte er: Wenn du, Yang, irgendwann merkst, dass du ohne viel Geld mit
deiner globalen Initiative nicht vorankommst, dann melde dich? Ausschließen
mochte Yang das nicht. Aber wie sollte er es anstellen? Würde er einfach Puig bitten,
eine Millionensumme auf das Konto von Global Upgrade zu zahlen? Nein, wusste er,
so einfach durfte er es sich nicht machen. Puig, dem Ex-Unternehmer, würde er ein
Konzept präsentieren müssen, kein theoretisches, sondern ein Handlungskonzept.
Eines, das sich nicht in Protest erschöpft.
Schon nach wenigen Tagen hatte Yang einen ersten Aktionsplan ersonnen. Aber
Ungeduld zeigen, überlegte er, das würde jetzt der größte Fehler sein. Puig würde
nach ihrem Treffen erst einmal seine Gedanken sortieren müssen, und vielleicht
würde er noch Fragen haben. Yang entschied sich abzuwarten.
Nach ein paar Wochen schickte Puig ihm diese Mail:
Lieber Robert,
ich brauchte Zeit, über deine Ideen nachzudenken. Inzwischen frage ich mich, warum
ich nicht schon selbst darauf gekommen war. Ja, wir brauchen für unsere Anliegen auch in der Frage der politischen Unabhängigkeit - neue politische Adressaten.
225
Besseres also als Regierungen, Parlamente und Parteien, wie wir sie bisher haben.
Das ist - ich scheue den Begriff noch immer - die Systemfrage. Bin aber sehr
gespannt, was aus diesem Gedanken noch wird.
Einige Tage später mailte Yang zurück: Der katalanischen
Unabhängigkeitsbewegung würde es sicher helfen, wenn das politische
Unabhängigkeitsstreben weltweit mehr Anerkennung fände. Ob es nicht
überlegenswert sei, dass auch Puigs Stiftung global tätig werde, dann natürlich mit
einem englischen Nahmen, als Foundation for Political Self-Determination. Mit
Konkreterem, schloss Yang, melde er sich später.
Yang traute seinen Augen nicht, als er schon nach wenigen Tagen Puigs Antwort
bekam:
- Einverstanden mit Foundation for Political Self-Determination. Du musst es aber
selbst auf den Weg bringen. Geld steht bereit.
Ganz, das war Yang klar, hatte er Puig damit noch nicht für sich gewonnen. Er
schickte erst einmal - aus Peking, er sei gerade unter Zeitdruck - eine kurze
Dankesmail, die das Gefühl der Verbundenheit stärkte.
Das Konkretere, zu dem er Puig auf später vertröstet hatte, konnte auch ein Yang
nicht über Nacht zu Ende denken, dafür hatte er sich mit den Problemen der
politischen Unabhängigkeit noch zu wenig befasst. Er brauchte Monate, bis er
schließlich darauf stieß, dass schon für die Referenden über politische
Unabhängigkeit neue Konzepte gebraucht würden. Unabhängigkeitsbewegungen, das
verstand er jetzt, mussten auch ohne Mithilfe des Staates Referenden über die
Unabhängigkeit abhalten können, wann immer sie wollten. Und dies würde natürlich
am leichtesten mit Online-Referenden möglich sein.
Für solche neuartigen Online-Referenden würden, wenn sie mindestens so genau und
mindestens so fälschungssicher sein sollten wie herkömmliche Wahlen, ein neues
Verfahren und eine neuartige Software zu entwickeln sein. Yang wusste, dass für
solche Softwareentwicklungen indische Firmen die günstigsten und vielleicht auch
226
die besten sein würden, und zwei solche Firmen kannte er. Eine davon gehörte
Prabas, einem Studienfreund aus Standford. Er nahm sofort mit beiden Firmen
Kontakt auf. Schon ein paar Wochen später wusste er, dass eine erste Testversion
mindestens zwei Millionen Dollar kosten würde.
Wäre Puig, überlegte er, nicht mit dem Vorschlag zu begeistern, Katalonien zur
Testregion für eine solche neue Software zu machen? Ja, so schien alles
zusammenzupassen. Er schickte Puig dazu eine lange Mail. Und wieder antwortete
Puig sehr rasch: Für die Gründung der Foundation for Political Self-Determination
stelle er eine Million Dollar, für die Entwicklung der Referendums-Software weitere
zwei Millionen bereit. Das sei ein knappes Tausendstel seines Vermögens, und so
viel sei ihm der Versuch allemal wert.
Zwei plus eine Millionen! Ein paar hunderttausend hatte Yang für sein Global
Upgrade Projekt bisher eingesetzt, und nun plötzlich die Aussicht auf so viel Geld.
Seine Gedanken überschlugen sich. Was würde jetzt alles machbar sein? Aber er
wusste auch: Er musste kühlen Kopf bewahren.
Auch Puig war eigentlich ein kühler Kopf, aber in ihm steckte immer noch viel
unternehmerische Ungeduld. In einer Mail an Yang schrieb er:
- Glaubst du, dass politische Unabhängigkeitsbewegungen bald eine
Selbstverständlichkeit werden könnten?
Yangs knappe Antwort: Ja. Aber für dich als früheren Unternehmer und mich als
früheren Anthropologen bedeutet bald vielleicht nicht das Gleiche.
Rentnerrevolution?
Menschen altern in Schüben. Es gibt diese Momente, wo man in den Spiegel schaut
und bemerkt, dass man plötzlich älter geworden ist, dass plötzlich Falten sind, wo nie
welche gewesen waren, und graue Haare, wo man sie nie gesehen hatte. Aber es
geschieht auch, dass man Freunde gleichen Alters trifft und denkt: Mein Gott, sind
227
die alt geworden, und dass man sich danach selbst im Spiegel anschaut und denkt:
Wie viel älter als ich sehen die aus, die Gleichaltrigen, die Freunde von früher.
Mein Gott, wie ist sie gealtert, das war auch mein erster Gedanke, als ich Constanze
nach einigen Jahren wiedersah. Wenn ich früher Hauser getroffen hatte, war es für
mich immer eine Bestätigung meines Jungseins gewesen, aber das Jüngersein fühlte
sich in seiner Gegenwart immer auch an wie Unreife. Und Constanze? War sie seit
unserer letzten Begegnung wirklich viel schneller gealtert als ich, und wenn, war sie
mir dann auch in Reife weiter enteilt? Ich sah noch einmal genauer hin. Mein Gott,
wie gereift sie aussah!
Aber wie unreif war es von mir gewesen, etwas anderes zu erwarten. Wir waren ja
wirklich alt. Sie war dem Rentenalter noch einige Jahre näher als ich, aber auch ich
war nicht mehr weit davon entfernt. Plötzlich kam mir die Erinnerung an ein
Gespräch mit Hauser, in dem er über die Freiheit des Denkens im Ruhestandsalter
gesprochen hatte. Wer, wenn nicht Pensionäre, ist in diesen Zeiten frei im Denken?,
so ähnlich hatte er es gesagt. Und weiter: Wer, wenn nicht Pensionäre, soll in diesen
Zeiten Neues denken?
Dann hatte ich gefragt, ob er etwa an eine Rentnerrevolution denke, und er hatte
geantwortet, dass das ein schöner, ein konstruktiver Gedanke sei.
Und nun waren wir, Constanze und ich, fast genau in dem Alter, in dem Hauser die
Gendankenfreiheit des Alters gepriesen und die Rentnerrevolution einen
konstruktiven Gedanken genannt hatte. Ich musterte Constanze erneut. Ja, sie strahlte
eine Reife aus fast wie Hauser damals.
Und ich? War ich auch nur im Entferntesten in eine solche, eine hausersche Rolle
hineingewachsen? Nein, dachte ich dann, das bist du nicht, und nein, du kannst es
nicht. Aber dann auch: Sollte ich es vielleicht, in aller Bescheidenheit, doch noch
versuchen? Würde Hauser das nicht sogar hoffen?
Constanze und ich saßen im Restaurant des kleinen Hotels in Charlottenburg, in
dessen Nachbarschaft ich in meinen jungen Berliner Jahren gewohnt hatte. Ich ließ
228
sie erzählen. Wie ihr Leben sich in den letzten Jahren verändert hatte, wie für ihre
Firma die Konkurrenz immer erdrückender geworden, wie ihre Beratungen immer
weniger gefragt gewesen seien und danach auch ihre Seminare, und wie schließlich
ihr Mann an Parkinson erkrankt sei.
- Nein, keine Panik, auch kein Mitleid, sagte sie dann harsch, als sie meinen
bestürzten Gesichtsausdruck sah. Mitleid sei das Letzte, was auch ihr Mann sich
wünsche, mit seiner Krankheit gehe er souverän um, ja geradezu bravourös.
Ihr Blick sagte mir, dass sie darauf keine Antwort wolle. Sie hielt kurz inne, dann
erzählte sie, dass sie seit einigen Jahren nur noch als Coach für Führungskräfte aus
Wirtschaft und Wissenschaft arbeite.
Wie das denn gehe, fragte ich, wie man so schnell einen solchen Sprung vom
Seminargeschäft zum Coaching schaffe.
Ihre Antwort: Das sei eine Frage der Willenskraft.
Dabei horchte ich auf ihre Stimme. Solange ich sie kannte, war die Stimme ihre
große und vielleicht einzige Schwäche gewesen. Nun klang sie anders. Noch immer
unverwechselbar, aber nun passte die Stimme zu ihrem gealterten Gesicht. Immer
noch markant, auch immer noch etwas aufreizend, aber mit einem Klang, der auch an
Altersmilde denken ließ.
Sie musterte mich, als läse sie meine Gedanken.
- Ja, sagte sie dann, ein halbes Jahr Stimmentraining. Leicht war es nicht.
Wir sahen einander eine Weile mit vertrautem Schmunzeln an, dann erzählte sie
weiter, von ihren Klienten, von deren inneren Einsamkeit, der viele nicht gewachsen
seien, vom gegenseitigen Mobbing in Führungsetagen, vom Mobbing durch
Untergebene, von der Angreifbarkeit der meisten Führungsentscheidungen und vom
Balanceakte zwischen Entscheiden- und Sich-absichern-Müssen.
- Und die Wissenschaft?, fragte ich. Bei deinen Klienten aus der Wissenschaft ist es
sicher anders.
229
Anders schon, sagte sie, aber auch anders, als man es von außen vermute. Dann
erzählte sie vom sich ausbreitenden Burnout im vermeintlich beschaulichen
Elfenbeinturm der Wissenschaft, von der gegenseitigen Sprachlosigkeit zwischen
wissenschaftlichen Glaubensrichtungen und vom üblichen Leidensweg in der
wissenschaftlichen Politikberatung, der meistens vom Stolz auf das Gefragtsein über
die Einsicht in die eigene Wirkungslosigkeit letztlich zur Resignation führe.
Aber irgendwann, sagte ich, komme doch auch für ihre Klienten aus Wirtschaft und
Wissenschaft das, was Hauser die Gedankenfreiheit des Alters nannte. Ob das nicht
Hoffnung mache. Ob da nicht ein großes Potential an Kreativität und auch ein großes
Hoffnungs- und Sinnpotential lägen, auch wenn diese nur selten genutzt würden. Ob
nicht gerade die von ihren Pflichten befreiten Führungskräfte aus Wirtschaft und
Wissenschaft offen für das Neue seien und sogar Neuem den Weg bereiten könnten.
Das, sagte Constanze, wisse sie nicht, aber noch falle diese Vorstellung ihr schwer.
Als wir uns am nächsten Morgen zum Frühstück trafen, brachte ich das Gespräch
dann noch einmal auf die Freiheit des Denkens im Alter, und ich erzählte ich ihr, wie
Hauser dreißig Jahre vorher den Gedanken einer Rentnerrevolution gestreift hatte.
- Rentnerrevolution? Sie sah mit einem befreiten Lächeln an. Ja, ein schöner
Gedanke. Meinte er es ernst?
- Es kam spontan, aber ein bisschen ernst war es ihm.
Sie sah mich mit ihrem selbstbewussten, einschüchternden Constanze-Cramer-Blick
an, fast wie damals.
- Dann wären wir jetzt dran, oder?, fragte sie in herausforderndem Tonfall. Müssen
wir jetzt das Neue denken?
- Ausgerechnet, sagte ich.
Constanze schloss für einen Moment die Augen, dann wechselte sie in einen sehr
sachlichen Tonfall.
230
Auf jeden Fall, sagte sie, wachse den Älteren in unserer alternden Gesellschaft
immer mehr politische Verantwortung zu, schon weil sie die Mehrheit seien. Wenn
diese Mehrheit kaum Neues zu denken wage, dann sei es kein Wunder, wenn die
Jungen politisch resignierten.
Ob sie denn meine, fragte ich, dass sich an der politischen Gleichgültigkeit der
Jüngeren nichts ändern lasse.
- Wie denn?, fragte sie. Die Jüngeren sehen das politische Übergewicht der Älteren,
sie ahnen die Überforderung der Politiker, und außerdem spüren sie ihre eigene
Überforderung als Bürger. Was bleibt ihnen also, als abzuwarten, wie lange alles
noch einigermaßen gutgeht?
- Ist das wirklich dein Rat an die Jüngeren? Wäre das auch dein Rat an deine
Zwillinge?
Nein, sagte sie, aber noch wisse sie keinen besseren Rat.
Später habe ich mich gefragt, wie anders dieses Gespräch wohl verlaufen wäre, wenn
wir damals schon gewusst hätten, dass ein junger tatkräftiger Kanadier in der Welt
unterwegs war, um eine globale Bewegung für politische Systemreformen
aufzubauen, und dass ein schwerreicher Katalane ein Vermögen für die
Weiterentwicklung politischer Unabhängigkeitsbewegungen gestiftet hatte.
Gefreut hätte es uns sicher, aber allein deswegen hätten wir die Zukunft noch nicht
viel rosiger gesehen.
Das Yang-Konzept
Robert Yang hatte seiner World Upgrade einen großen Namen gegeben, aber er tat
dennoch alles, um sie erst einmal klein zu halten. Als er mit Puig in Kontakt kam,
hatte die Bewegung kaum mehr als 100 registrierte Mitglieder in fünf Ländern. Yang
wollte keine Mitläufer, er wollte Leute, die begeistert sind und ihre Begeisterung
weitertragen. Er war überzeugt: Wenn die Bewegung fokussiert bleiben wolle, dürfe
231
ihre Mitgliederzahl sich jedes Jahr höchstens verdoppeln. Sein Ziel: in sechs Jahren
etwa 6000 engagierte Mitglieder sammeln. Danach werde die Bewegung sich ganz
von selbst ausbreiten, oder sie werde untergehen.
Yang - das unterschied ihn von den meisten politischen Aktivisten - war nicht nur ein
großes Organisationstalent, er erwies sich bald auch als Finanzstratege. Puigs
Millionen waren ein Anfang, aber brauchte eine Bewegung wie World Upgrade nicht
noch viel mehr Geld? Und verdiente sie es nicht? War sie nicht etwas viel Größeres
und Wichtigeres als die vielen kleinen Start-up-Unternehmen der Internetbranche,
die von superreichen Geldgebern mit Millionen überschüttet worden waren?
Natürlich war sie es, daran glaubte Yang, und er würde ihr alles nötige Geld
beschaffen.
Yang hatte in Stanford studiert. Einer seiner Professoren lehrte dort über die
anthropologischen Grundlagen von Staatsverfassungen. Wie wichtig Erkenntnisse
über die Natur des Menschen für das Verständnis von Staatsverfassungen sind, damit
befasste man sich damals nur in kleinsten akademischen Zirkeln. In den Seminaren
hierüber trafen sich nur wenige Studenten. Hier lernte Yang, der angehende
Anthropologe, Claude Halsdorf kennen, einen Jurastudenten aus Luxemburg, der
sich auf Völkerrecht spezialisierte.
Yang und Halsdorf wurden enge Freunde. Halsdorf arbeitete nach seinem JuraAbschluss zuerst beim Europäischen Gerichtshof, dann für die Europäische
Kommission, dann wechselte er zu einer Großkanzlei in London, zu deren Klienten
auch große Kapitalanleger gehörten. Nach nur zwei Jahren, kurz nach seinem 34.
Geburtstag, machte Halsdorf sich dann selbstständig. Er meinte, genug Kontakte zu
Großanlegern geknüpft zu haben, und auf diesen Kontakten wollte er seine eigene
Kanzlei aufbauen.
Halsdorfs war ein Mann von eigensinnigem und doch wohltuend unscheinbarem
Auftreten. Hager, blass, mittelgroß, kräftiges langes, leicht gewelltes Haar, DreiTage-Bart, krawattenlos, schwacher Händedruck. Ein gefragter Vortragsredner wäre
232
nie aus ihm geworden, aber umso gefragter war er als Ratgeber in kleiner Runde.
Wenn es, wie meistens bei ihm, um sehr große Geldsummen ging, verlangte er
Stargagen wie Prominente für Vorträge in großen Sälen. Er sprach mit leiser,
angenehm weicher, aber auch dünner Stimme, die zu Millionen- und
Milliardenbeträgen nicht zu passen schien, aber auch im Flüsterton verlieh er seinem
Rat großes Gewicht. Eingeweihte nannte ihn bald den Milliardärflüsterer.
Im Umgang mit den Egomanen, die seine Milliardäre fast allesamt waren, war seine
Unscheinbarkeit ein großer Vorteil. Seine Klienten spürten: Da ist einer so
willensstark wie wir, aber er stiehlt uns nicht das bisschen Show, zu dem wir selbst
fähig sind. Und wir können ihm vertrauen. Er ist clever, aber vor seiner Cleverness
müssen wir nicht auf der Hut sein. Er spürt Ideen und Konzepte auf, und er legt sie
uns zu Füßen.
Dass sein Freund Halsdorf sich einen Ruf als Milliardärflüsterer erworben hatte,
davon erfuhr bald auch Yang. Puigs Millionen für die Software für
Unabhängigkeitsreferenden, das hatte sich inzwischen herausgestellt, würden nicht
annähernd reichen. Sie würden reichen für eine Demo-Version für ein
Probereferendum, aber das war Yang natürlich zu wenig. Also dachte er über neue
Geldquellen nach. Puigs Millionen hatten geholfen, aber eine globale Bewegung
könnte irgendwann auch Milliarden brauchen. Was lag also näher als ein Kontakt zu
Halsdorf?
Yang und Halsdorf trafen sich dann in London, in einem kleinen Konferenzraum am
Flughafen Heathrow. Beide waren auf der Durchreise, ihnen blieben nur wenige
gemeinsame Stunden, aber es war ein herzliches Wiedersehen. Yang erzählte über
die Entwicklung von World Upgrade und davon, wie Puig ihm schon nach der ersten
Begegnung ein paar Millionen Sponsorengeld angeboten hatte. Danach schob er
Halsdorf den Vorentwurf einer Weltbroschüre über World Upgrade hin.
- Schau's dir mal an. Für einen Juristen vielleicht etwas zu kühn, aber so ähnlich soll
es werden.
233
Halsdorf blätterte die Seiten kurz durch, fing dann an zu lesen, stellte wenige kurze
Fragen, dann legte er die Blätter wieder vor sich auf den Tisch.
- Noch kühner, als ich es von dir erwartet hatte. Hoch interessant.
Ob Halsdorf sich vorstellen könne, fragte Yang, dass ein europäischer Milliardär sich
dafür interessieren würde, als Sponsor. Aber im selben Moment hob er die Hände,
wie erschrocken über sich selbst, als wolle er die Frage zurücknehmen. Nein, sagte er
dann hastig, so direkt meine er das nicht, aber einen zweiten Puig könne das Projekt
trotzdem gut gebrauchen.
- Ich verstehe, sagte Halsdorf.
Dann lehnte er sich für eine Denkpause zurück. Dann, nach langem Überlegen, fragte
er Yang, ob es nicht in den USA und Kanada genug Milliardäre gebe.
Einen zweiten Puig vermute er in Amerika aber nicht, antwortete Yang.
Halsdorf lehnte sich wieder weit zurück, dann nahm er den Prospektentwurf wieder
auf und las ihn noch mehrmals sorgfältig durch. Dann sagte er:
- Für europäische Milliardäre passt es so nicht. Dafür müssten wir es gründlich
überarbeiten.
Dann zog er einen Filzstift aus der Jackentasche.
- Darf ich?, fragte er.
Er setzte sich neben Yang und fing an, mit dem Filzstift Streichungen, Anmerkungen
und Korrekturen zu machen. Dann holte auch Yang einen Stift heraus, und auch er
beugte sich über den Entwurf, der bald von Anfang bis Ende mit Markierungen, mit
Frage- und Ausrufezeichen, mit Kommentaren und Ergänzungen übersät war. In
weniger als einer halben Stunde entwarfen die beiden eine völlig neue Broschüre.
Noch eine halbe Stunde später gab Halsdorf seine Zusage. Ja, er werde mit einigen
Superreichen in Europa über Yangs Projekt sprechen.
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Garantieren könne er natürlich für nichts, sagte er, es kämen ohnehin nicht viele
Superreiche dafür in Frage. Die gealterten Milliardäre des frühen Internetzeitalters
seien an Innovationen nicht mehr besonders interessiert, schon gar nicht an
politischen, aber bei einigen Wenigen sei es vielleicht einen Versuch wert, vielleicht
sogar bei den beiden noch lebenden Samwer-Brüdern.
Zu dieser Zeit wusste ich von World Upgrade, von Yang und Puig und Halsdorf noch
immer nichts. Hätte ich etwas gewusst, hätte ich natürlich sofort mit Hauser darüber
reden wollen. Zwischen Yangs und Hausers Gedanken gab es schon auf den ersten
Blick Gemeinsamkeiten, und erstaunliche Gemeinsamkeiten gab es, wie ich später
herausfand, auch mit den Ideen der Neokraten. Verfolgten also diese immer noch
winzig kleine deutsche Organisation und Yangs World Upgrade ganz ähnliche Ziele?
Und war diesen beiden damals noch unscheinbaren Initiativen womöglich gemein,
dass ihre Bedeutung erst sehr viel später erkannt werden würde? Uninformiert wie
ich war, konnte ich mir damals noch nicht einmal diese Frage stellen.
Noch mehr Ideologiefreiheit
Schon wenige Wochen nach unserem Gespräch über die Gedankenfreiheit des Alters
mailte Constanze mir:
- Bin nächste Woche wieder kurz in Hamburg. Können wir uns treffen?
Constanze, die Vielbeschäftigte, dachte ich, ihre Zeit wird knapp sein. Ich schlug ein
Treffen in der Mittagszeit vor, in der Nähe des Verlagsgebäudes.
Ihre Antwort: Gern, sagte sie, aber etwas mehr Zeit als für ein Geschäftsessen sollten
wir uns schon nehmen.
Es war ein warmer Herbsttag, wir saßen am Wasser in den Elbarkaden der Hafen
City, und Constanze begann in aller Ruhe zu erzählen. Von der sich langsam
verschlimmernden Krankheit ihres Mannes, vom langsamen Sterben ihrer
gemeinsamen Firma und von der kleineren und vorsichtshalber barrierefreien
Wohnung, in die sie umgezogen seien. Und dann auch von der gewonnen freien Zeit,
235
die sie nun sinnbringend nutzen wolle. Sie habe jahrelang Führungskräfte beraten,
nun denke sie darüber nach, wo sonst ihr Rat noch nützlich sein könnte.
- Im Verlag, sagte ich spontan, wäre guter Rat dringend nötig.
Ich biss mir auf die Zunge. Mit den Problemen des SPIEGEL hatte ich sie nicht
belästigen wollen. Aber sie sah mich sofort mit hellwachem Blick an, als hätte sie
genau darauf gewartet.
- Ich weiß, dass es dem SPIEGEL nicht gutgeht.
- So heißt es, sagte ich. Die Bilanzen sollen miserabel sein, aber wer kann das schon
genau nachprüfen?
- Ich kann es, sagte sie. Ich kann eine Verlagsbilanz lesen. Gib mal dein Tablet.
Sie suchte ein paar Minuten im Internet, dann sagte sie: Hier, der Geschäftsbericht.
Dann vertiefte sie sich wortlos in das Zahlenwerk. Schließlich sagte sie:
- Dem Verlag geht es wirklich schlecht. Er muss sich selbst sanieren, oder ein
anderer wird es tun.
- Irgendein Investor?
- Ja. Und dann wird nichts bleiben, wie es war, auch das Archiv nicht.
Wir hätten im Archiv aber schon sehr viel verändert, sagte ich, wir hätten in den
letzten zwanzig Jahren ein Drittel des Personals eingespart, aber das beeindruckte sie
nicht. Jeder Unternehmensberater, antwortete sie, werde uns vorrechnen, dass es mit
noch weniger Personal ginge und auch mit weniger Inhalt.
Man dürfe, sagte ich, aber doch nicht nur ans Sparen denken. Die Zeitschrift lebe
doch zuallererst von ihrer Qualität.
- Investoren gehen immer an die Grenzen des Möglichen, erwiderte sie, auch in
Sachen Qualität. Einen Schöngeist wie Hauser als Archivleiter könne sich heute kein
Verlag mehr leisten.
236
Was hätte ich antworten sollen? Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander
her. Schließlich sagte ich:
- Aber du bist nicht gekommen, um mit mir über die Zukunft des Verlags zu
sprechen.
- Wenn ich an den Verlag denke, sagte sie, dann denke ich immer auch an Hauser.
Und daran, dass es Leute wie Hauser auch in Zukunft geben muss, nicht in Archiven,
aber anderswo.
- Es gibt ihn ja noch.
- Aber wie lange noch? Und wer soll dann dafür sorgen, dass seine Gedanken nicht
untergehen? Und wer könnte versuchen, seine Gedanken weiterzudenken? Darüber
habe ich viel nachgedacht.
Sie sah mich mit fast verlegener Miene an.
- Könnten wir es vielleicht versuchen?, fragte sie dann. Zu alt sind wir dafür noch
nicht.
Sie sah mich auffordernd an, aber ich brachte kein Wort heraus. Constanze und ich in
der Rolle des altersweisen pensionierten Hauser? Nein, dachte ich, ich würde es nicht
können, natürlich nicht, und daher würde ich es auch nicht wollen. Und selbst wenn,
für wen würden wir es tun? Würde uns jemand ernst nehmen, wie wir Hauser ernst
genommen hatten?
- Wir werden schon Leute finden, sagte Constanze, die sich dafür interessieren. Du
hältst deine Kontakte, ich halte meine. Und jeder von uns kümmert sich um das,
wovon er genug versteht. Ich erst einmal um Ökonomisches.
Überzeugt war ich nicht. Hausers Gedankenflügen hatte ich oft nur mühsam folgen
können, und nun sollte ich seine Gedanken weiterdenken können? Undenkbar. Aber
dann hörte ich mich sagen:
- Einen Versuch wäre es vielleicht wert.
237
Constanzes lächelte zufrieden.
- Aber dann machst du den Anfang, sagte ich. Zum Beispiel über Ökonomie im
Sinne Hausers?
- Einverstanden, sagte sie. Ich schicke dir bald einen kleinen Text.
Es dauerte bis nach dem Jahreswechsel, bis ich Post von ihr bekam mit einem Text
zur Wirtschaft in unserem Jahrhundert. Keine leichte Kost für ökonomische Laien
wie mich, aber er soll hier trotzdem seinen Platz haben:
Wie Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert funktionieren könnte
Niemand versteht die Wirtschaft, zumindest nicht die ganze. Eine neue Erkenntnis ist
das nicht, aber sie wird noch immer zu wenig beachtet.
Alle wünschen sich eine innovative, immer produktivere Wirtschaft. Eine solche
Wirtschaft braucht Wettbewerb. Wettbewerb zwingt Menschen und Unternehmen,
ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Er zwingt sie, an die Grenzen des
Beherrschbaren zu gehen, aber zwingt sie auch, an diesen Grenzen Halt zu machen.
Wer diese Balance nicht findet, geht in der Wirtschaft irgendwann unter.
Unternehmen beispielsweise, die zu passiv sind oder zu innovativ. Dieser Balanceakt
hört nie auf. Insofern ist eine dynamische Wirtschaft in einer produktiven
Dauerkrise.
Das hat natürlich auch Folgen für die Wirtschaftspolitik. Je dynamischer und
innovativer eine Wirtschaft ist, desto schwerer ist sie auch für Wirtschaftspolitiker zu
durchschauen. Desto mehr wird auch die Wirtschaftspolitik zu einem Balanceakt.
Desto größer ist für Wirtschaftspolitiker das Risiko, zur Lenkung der Wirtschaft zu
wenig tun oder zu viel oder das Falsche.
Man könnte meinen, für die Lenkung einer immer komplizierteren Wirtschaft müssten
eben immer kompliziertere Regeln geschaffen werden. Aber je komplizierteren
Regeln die Wirtschaftspolitik folgt, desto schwerer ist sie beherrschbar und desto
fehleranfälliger wird sie.
238
Die Wirtschaftspolitik unserer Zeit muss also versuchen, das zunehmend
Unbeherrschbare und Unbegreifliche nach beherrschbaren und begreiflichen Regeln
zu lenken. Die große Gefahr ist, dass Zentralbanken und Wirtschaftspolitiker sich
und ihre Regeln überschätzen. Verantwortungsvolle Geld- und Wirtschaftspolitik
muss sich daher immer auf hinreichend einfache Regeln stützen. Auch wenn solche
einfachen Regeln gelegentlich zu Fehlern führen, dürfen sie nicht durch
kompliziertere neue Regeln ersetzt werden. Dann müssen vielmehr neue einfache
Regeln her, die weniger fehleranfällig sind.
Wie zum Beispiel hält man die Inflation im Zaum, ohne dabei die Wirtschaft in
Krisen zu stürzen? Wie vermeidet man Deflation und Stagnation, ohne Inflation zu
schüren? Wie lässt sich die Konjunktur stabilisieren, ohne damit den Keim für die
nächste Krise zu legen? Wie stabil lässt sich die Konjunktur auf Dauer überhaupt
halten? Nach welchen einfachen Regeln ist bei all dem vorzugehen? Um wie viel
komplizierter, wie viel schwerer beherrschbar wird Wirtschaftspolitik zum Beispiel,
wenn ein Währungsgebiet erweitert wird? Wann und wo wurden mit der Ausweitung
der Euro-Zone die Grenzen der Beherrschbarkeit überschritten?
Es scheint immer noch, als würden Regierungen und Zentralbanken sich diese
Fragen nicht ernsthaft genug stellen, als würden sie nach neuen Regeln, die zugleich
einfach und gut sind, noch immer nicht ernsthaft suchen. Sie wursteln weiter jenseits
der Grenzen der Beherrschbarkeit. Die Folgen: u.a. die zwei großen Finanzmarktund Währungskrisen in der ersten Jahrhunderthälfte und jahrzehntelange
Massenarbeitslosigkeit in europäischen Krisenstaaten.
Aber lassen sich all diese Probleme nicht doch damit erklären, dass Politiker den
weisen Rat von Wirtschaftstheoretikern in den Wind schlagen? Hätte nicht z.B. eine
bei den renommiertesten Theoretikern der Ökonomie gesammelte Weisheit
ausgereicht, um die Wirtschaftspolitik auf einen besseren Weg zu bringen? Leider
nicht.
239
Müssen wir uns dann mit ähnlichen Krisen auf unabsehbare Zeit abfinden? Sind die
menschlichen Möglichkeiten in der Wirtschaftspolitik erschöpft?
Nein, auch das nicht. Wäre die Wirtschaftspolitik nur halb so kreativ wie die
Wirtschaft selbst, dann ginge es uns allen besser. Viel hinreichend Einfaches ist in
der Wirtschaftspolitik noch nie erprobt oder, obwohl denkbar, noch nicht einmal
gedacht worden.
PS: Ich weiß, wie abstrakt das in dieser Kürze klingt, gerade für ökonomische Laien,
und wie plakativ für andere. Aber ich hoffe, es macht wenigstens neugierig.
Nicht für dich - du weißt es längst -, aber für andere werde ich trotzdem noch dies
hinzufügen müssen:
Die Wirtschaft sorgt nicht von selbst für gerechte Verteilung von Wohlstand, im
Gegenteil. Auf dem Arbeitsmarkt sind in den letzten hundert Jahren Niedrigstlöhne
und Spitzengehälter immer weiter auseinandergedriftet, und damit ist auch das
Vermögen immer ungleicher verteilt. Daher fordern viele noch immer eine andere
Wirtschaft, eine mit weniger Markt, weniger Wettbewerb, weniger Kapitalismus. Das
ist ein großes Missverständnis. Keine Art von Wirtschaft schafft von sich aus
Wohlstand und Gerechtigkeit für alle. Die Wirtschaft schafft ungerechten Wohlstand,
und für dessen gerechte Verteilung kann nur der Staat sorgen. Er tut es aber nicht.
Wir brauchen also keine andere Wirtschaft, was wir brauchen, ist ein anderer Staat.
Es wäre schon ein großer Fortschritt, wenn darüber nicht mehr gestritten werden
müsste. Wenn Einigkeit darüber herrschte, dass der große Versager unserer Zeit
nicht die Wirtschaft ist, also auch nicht der so genannte Kapitalismus. Der große
Versager ist der Staat.
Hätte ich damals schon von Yang gewusst, wäre mir natürlich gleich der Gedanke
gekommen: Yang und Constanze wären sich hierüber rasch einig. Und Constanze, so
alt sie auch ist, ließe sich ebenso rasch für Yangs Bewegung gewinnen.
240
Wenige Tage, nachdem Constanzes Brief gekommen war, rief Hauser an. Er hielt
sich nicht mit Vorreden auf, als hätten wir gerade erst miteinander gesprochen. Es
ging um seine alten Aufzeichnungen. Er glaube, sagte er, irgendwo im Archiv stehe
davon noch ein Exemplar, und wenn, dann solle ich es vernichten. Dieser Text sei
überholt. Er werde demnächst versuchen, seine Aufzeichnungen zu überarbeiten und
zu ergänzen.
- Versprochen?, fragte er dann.
- Ja, sagte ich, wenn das Exemplar noch da ist.
Wann er die Neufassung schaffe, sagte er dann, und ob, das wisse er nicht, aber er
wolle es versuchen, um in seinem letzten Lebensabschnitt mit sich im Reinen zu
sein.
Wir sollten uns demnächst wieder einmal treffen, sagte er dann noch. Er werde sich
melden, wenn die Sonne wieder höher stehe. Im Frühjahr.
Die Krise der Archive
In den Jahren nach der Jahrhundertmitte herrschte im Archiv eine ungewohnte Ruhe.
Es war beileibe keine ereignisarme Zeit, aber es schien, als sei den Redakteuren das
ungeduldige Wissenwollen ausgetrieben. Oberflächlich war alles wie vorher, waren
Anfragen ans Archiv brandeilig wie immer, gaben sich die Redakteure fordernd wie
immer, und doch war es, als breite sich langsam eine nüchterne Routine aus. Es
waren in der Tat Jahre, in denen auch die Welt in eine unaufgeregte Routine zu
verfallen schien und die SPIEGEL-Leser mit ihr. Natürlich versuchte die Redaktion
immer wieder, wenigstens kleine politische Aufreger zu produzieren, aber meistens
wirkten sie gekünstelt.
Als Archivar kann man solche Zeiten anders erleben, wenigstens dann, wenn man
sich den Hauserschen Blick ins Weite bewahrt. Für mich war es trotz allem fast eine
241
aufregende Zeit. Je mehr Routine sich in der Archivarbeit breitmachte, je
unaufgeregter das Tagesgeschäft war, desto freier war der Kopf für Gedanken, die
über das Tagesgeschäft hinausgingen. Von den großen Problemen der vergangenen
Jahrzehnte war keines wirklich gelöst, das Krisengeschehen der Welt legte nur eine
kurze Pause ein. Der Dritte Weltkrieg war abgeebbt, aber könnte er sich danach nicht
als Jahrhundertkrieg fortsetzen?
Im Archiv arbeitete seit Kurzem Tilman, ein Büroassistent, der Klaus in vielem
ähnlich war. Schon als er sich vorstellte, dachte ich: So einer täte dem Archiv gut,
ein lustiger Krauskopf mit funkelnden Augen und eulenspiegelhafter Mimik. Es war
Tilman, der dann im Archiv die etwas gedämpfte Stimmung dieser Jahre gelegentlich
auffrischte, sei es mit seinen entlarvenden Bemerkungen, mit seiner clownesken
Gestik oder mit kleinen gekonnten Selbstinszenierungen. Eines Tages schwebte er
mit einem dünnen wallenden Umgang durch das Archiv, dessen Berührung man im
Vorbeigehen kaum vermeiden konnte.
- Wozu das?“, fragte ich.
- Der Mantel der Geschichte, sagte er.
Und als ich ihn ratlos ansah:
- Oder die Illusion davon.
So viel Zeitgeist, so viel Trübnis, so viel Trost in so wenigen Worten. Genau dafür
hatten wir Tilman, dafür brauchten wir ihn. Nach solchen Szenen war es, als trügen
wir alle im Archiv ein unsichtbares Lächeln im Gesicht.
Je ereignisärmer die Zeit, desto mehr Fragen stellt man sich. Fragen zum Sinn des
eigenen Tuns. Zum Sinn und zur Bedeutung des Archivs. Zu seiner Vergangenheit
und seiner Zukunft. Wie hatte sich das Archiv in den letzten Jahrzehnten verändert?
Welche Veränderungen standen bevor? Welche Bedeutung würde das Archiv in zehn
oder zwanzig Jahren noch haben? Würde es, wenn die Redaktion immer kurzatmiger
agiert, als ruhender Gegenpol immer wichtiger? Oder würde es immer weniger
gefragt sein? Würde die Redaktion sich immer weniger noch bemühen, ihre Beiträge
242
auf archivarisches Wissen zu gründen? Würde auch im SPIEGEL die tagesaktuelle
Leserresonanz immer mehr Gewicht bekommen, auf Kosten der Seriosität, der
archivarischen Fundierung?
Ich weiß natürlich, dass auch die Geschichte unseres Blattes keine Geschichte
lupenreiner Seriosität ist. Wie Hauser es einmal sagte: Ein Archiv sammelt Material
nicht nur über Menschen und Organisationen, sondern auch gegen sie. Schon früher
wurde vom Archiv nicht nur solide Faktenarbeit erwartet, sondern auch Beihilfe zu
Verdächtigungen, Verunglimpfungen, Bloßstellungen und zum politischen Rufmord.
Das Archiv musste helfen, journalistische Aufreger zu konstruieren, Skandale zu
unterfüttern, Empörung zu schüren. Archivare könnten sich kaum dagegen wehren,
hatte Hauser gesagt, in diesem Sinne als Mittäter eingespannt zu werden, was
allerdings in den letzten Jahrzehnten weniger geschehen sei als vor seiner Zeit. Er
erzählte von den Haudegen der Redaktion im späten 20. Jahrhundert, die stolz auf
sich waren, wenn sie politische Gesinnungsgegner zur Strecke gebracht oder es
zumindest versucht hatten, mit welchen Mitteln auch immer. Sehr viel besser, sagte
er, sei es aber auch im ersten Jahrhundertviertel nicht gewesen, als gegen so genannte
Putinversteher, Separatistenversteher, Islamistenversteher, Terroristenversteher und
andere journalistischer Kleinkrieg geführt wurde, wofür auch im Archiv
Rückendeckung angefordert wurde. Ich solle mich in Acht nehmen, sagte er dann,
auch im Umgang mit Archiven habe es nur kleine zivilisatorische Fortschritte
gegeben, auch im Journalismus sei das Eis der Zivilisierung noch immer dünn, und je
mehr die Verlage wirtschaftlich unter Druck gerieten, desto brüchiger werde es.
Es wäre natürlich naiv oder vermessen, einen Zusammenhang zwischen dem
politischen Weltgeschehen und dem Geschehen im Verlag zu vermuten, aber genau
dieses Gefühl hatten viele von uns. Es war, als nutzte der Verlag die Atempause der
Weltgeschichte, um seine eigene Geschichte aufzumischen.
Dass der ältere unserer beiden Chefredakteur bald gehen würde, wussten wir alle.
Zwei zehrende Jahrzehnte im Amt hatten ihn erschöpft. Ein jüngerer musste her, die
Gerüchteküche quoll über mit Namen von Kandidaten, alle zwischen Anfang vierzig
243
und Anfang fünfzig. Dann der große Coup. Der neue Mann war ein alter. Berenberg.
Ausgerechnet Berenberg. Redaktionsmitglied seit fünfundzwanzig Jahren. Der
Mann, der sich als Jungredakteur mit Polemik gegen Querdenker aller Art
hervorgetan hatte, gegen Separatistenversteher, Demokratieskeptiker und andere. Der
dann, als der Gegenwind stärker wurde, als Mitläufer in der Redaktion abgetaucht
war, als Spezialist für unauffällige Themen. Nun war er ganz oben. Nicht weil er sich
geändert hätte, sondern weil die Zeiten sich geändert hatten. Nun erntete er den Lohn
für seine lange Unauffälligkeit. Nun hatte er es den wenigen noch übrigen
Querdenkern von damals gezeigt: Eure Zeit ist vorbei, meine Zeit ist gekommen.
Alle wussten, dass auch Kiesewetters Zeit nun bald vorbei sein würde. Ein
Querdenker wie er in der Chefredaktion, das war schon jetzt gefühlte Vergangenheit.
Wer aber hatte diese Entscheidung getroffen? Wer waren Berenbergs Unterstützer?
Die Mehrheit der Redakteure? Damals noch unwahrscheinlich. Die Verlagsleitung?
Schwer vorstellbar. Was also war Berenbergs Ernennung vorausgegangen? Wovon
war sie die Folge? Oder war sie eher ein Vorbote? Wer sprach in diesen Zeiten
eigentlich für die Eigentümer?
Wir waren ein paar Jahre vorher Aktiengesellschaft geworden, und nun stand bei der
Familie des Gründers ein Generationenwechsel an. Keiner der Erben war noch auf
Einfluss im Verlag aus. Aber nichts würde sich verbessern, das wussten alle, wenn
die zerstrittene nächste Generation das Erbe antreten würde. Wurde schon über den
Verkauf verhandelt? Gab es Interessenten, die das Blatt nach einem
Führungswechsel ganz würden übernehmen wollen? Lauter Gerüchte.
Sechs Monate später der nächste Coup. Die Entlassung des Verlagsleiters. Wir hatten
uns nicht unbedingt gemocht, der Verlagsleiter und ich, aber wir hatten Respekt
voreinander, menschlichen und auch Respekt vor der Arbeit des anderen. Ich wusste:
Ein Archiv wie unseres gedeiht nur in einem gut geleiteten Verlag. Er wusste:
Journalismus auf unserem Niveau braucht ein gutes Archiv. Wir beide sahen uns als
Teile des großen und guten Ganzen.
244
Weitere fünf Monate später der Paukenschlag. Der Verkauf. Der neue Hauptaktionär
ein globaler Investor. Eine neu geformte amerikanisch-chinesische Medienholding.
Deren Hauptaktionäre: Amazon und eine Tochtergesellschaft von Alibaba. Dass an
dieser Tochtergesellschaft von Alibaba der chinesische Staat eine Sperrminorität
besaß, erfuhr ich erst viele Jahre später.
Die Aktienmehrheit hatte die Medienholding damit noch nicht, aber sie hatte die
Macht im Verlag, und einen kleinen Teil der Macht hatte damit auch China. Der
SPIEGEL würde nun ein anderes Blatt werden, das war klar, mit Ablegern in vielen
Sprachen, vielleicht eine Art Welt-Zeitschrift. Aber besser würde er nicht werden,
wenigstens nicht in meinem und unserem Sinne. Oder waren „wir“ inzwischen eine
Generation nostalgischer Träumer, die sich den neuen Sachzwängen des
Zeitschriftenwesens störrisch verweigerten?
Der neue Verlagsleiter gab sich zurückhaltend. Er wolle das Unternehmen erst
einmal gründlich kennenlernen, natürlich vor allem die Menschen im Unternehmen,
verkündete er bescheiden, und so gewann er Sympathien.
Nach drei Monaten bat er mich zum Einzelgespräch. Die neuen Anteilseigner,
begann er, wünschten sich natürlich ein weiterhin erfolgreiches Unternehmen. Kurze
Pause. Und ein wachsendes, fuhr er mit ruhiger Stimme und bedeutungsschwerer
Miene fort. Daher stehe natürlich alles auf dem Prüfstand. Wieder eine Pause. Dann:
Wir hoffen dabei auf Ihre Unterstützung.
Ich schrumpfte auf meinem Stuhl zusammen. Wenigstens war er ehrlich. Routiniert,
bedrohlich, aber ehrlich.
- Den SPIEGEL, fuhr er fort, gibt es seit über hundert Jahren. Die Frage ist, ob er
immer mit der Zeit gegangen ist. Diese Frage, das wissen Sie, müssen wir uns in
allem stellen, was wir tun. Es ist eine Überlebensfrage.
Er rückte seine Brille zurecht und sah mich mit entwaffnend offenem Blick an.
- Wenn wir uns darüber einig sind, dann werden wir gut zusammenarbeiten.
245
So weit das Vorgespräch. Zwei Wochen später trafen wir uns wieder. Diesmal kam
er, eine Geste immerhin, zu mir ins Büro. Er habe sich die Zahlen genauer
angesehen, begann er. Und dann:
- Ich will nicht lange drumherum reden. Ich glaube auch, es überrascht Sie nicht. Das
Archiv des SPIEGEL ist zu groß und zu teuer. Es ist personell überbesetzt.
Es dauerte eine lange Schrecksekunde, bis ich antworten konnte.
- Meinen Sie das wirklich?, stammelte ich.
Wie viel zu teuer, sagte er, das wisse er noch nicht genau, aber im Verhältnis zur
Redaktion sei das Archiv auf jeden Fall überdimensioniert. Deutlich größer als bei
vergleichbaren Zeitschriften, das habe er gründlich recherchiert. Vieles von dem, was
das Archiv dokumentiere, sei demnach entbehrlich. Einen endgültigen Plan habe er
nicht, aber man müsse mit einer Verkleinerung um mindestens ein Viertel anfangen.
Danach sehe man weiter. Dann sagte er:
- Den genauen Plan dafür machen Sie, und Sie führen natürlich auch die Gespräche
mit den Mitarbeitern. Je früher, desto besser.
- Überflüssig ist hier keiner, erwiderte ich hastig. Alle dienen hier der
journalistischen Qualität.
Er sah mich einen Moment lang prüfend an, als überlege er, ob ich noch Schonung
brauchte. Dann hob er den Kopf. Nein, bedeutete es, schonen wolle er mich nicht.
- Die Zeiten haben sich eben geändert. Die Frage nach der Qualität eines Blattes
muss man heute nüchterner stellen als noch vor zehn Jahren. Nüchterner, das heißt
vor allem: aus der Sicht der Leser. Wir können nicht in eine Qualität investieren, von
der die Leser wenig merken. Vom Beitrag des Archivs zur Qualität des Blattes
merken die Leser so gut wie nichts.
- Woher wissen Sie das denn?
246
- Das ist die Meinung in unserer Investorengruppe. Wir wissen auch, dass der Inhalt
des Archivs sich zunehmend mit dem von Online-Quellen überschneidet, die
jedermann zugänglich sind. Das haben wir anderswo untersucht.
- Bei uns bisher nur zu einem kleinen Teil, sagte ich.
- Es wird auf jeden Fall immer mehr.
- Aber das zu bekommen, sagte ich, was nicht schon bei Wikipedia und sonstwo zu
lesen ist, wird immer schwerer. Dafür brauchen wir nicht weniger Leute, sondern
eher mehr.
- Streiten wir uns nicht über Kleinigkeiten, sagte er. Wir müssen uns über die
Richtung einig sein. Denken Sie darüber nach.
Er erhob sich.
- Die fetten Jahre sind nun einmal vorbei.
Dann verließ er den Raum mit selbstbewusster Siegermiene. An der Tür drehte er
sich noch einmal um.
- Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Hier ein kurzes Memo der neuen Anteilseigner
für unsere Führungskräfte. Lesen Sie es in Ruhe durch.
Ich blieb erschöpft sitzen. Dann nahm ich mir einen Textmarker, begann zu lesen
und markierte dabei diese Stellen:
- Wir wollen nicht elitär sein.
- Wir maßen uns nicht an, die Leser zu formen, wir formen das Blatt nach den
Wünschen der Leser.
- Wir wollen noch mehr Leser erreichen. Wenn nötig, mit neuen Inhalten, neuem Stil.
- Wir wollen unsere Kosten senken und unsere Kapazitäten besser auslasten.
- Wir helfen den Publikationen unserer Unternehmensgruppe in anderen Teilen der
Welt, aber wir lernen auch von ihnen.
- Wir nutzen die globalen Synergien der Unternehmensgruppe.
247
Ja, es war endgültig klar: Die alten Zeiten, gut oder schlecht, fett oder mager, sie
waren vorbei.
Ich verließ das Büro mit starr geradeaus gerichtetem Blick. Niemand sollte mir in die
Augen sehen, niemand meine Stimmung spüren. In der Eingangshalle sah ich dann
von Weitem Kiesewetter, und ich schaute kurz zu ihm hin. Auch er mit starrem
Blick, auch er wollte niemandem in die Augen sehen, aber für eine Sekunde trafen
sich dann doch unsere Blicke. Diese eine Sekunde genügte.
Abschied von Hauser
Politischer Qualitätsjournalismus setze genau genommen Qualitätspolitik voraus,
hatte Hauser einmal gesagt. Ich hatte diese Bemerkung nicht sehr ernst genommen,
aber nun begann ich sie besser zu verstehen.
Qualitätsjournalismus, das waren für Hauser nicht nur gut geschriebene, gut
gemeinte und engagierte Artikel. Es war nicht nur das Anschreiben gegen
offenkundige politische Versager und Schurken. Es war auch nicht das aufmerksame
skeptische Begleiten mittelmäßiger Politik. Zu wirklich hoher Qualität, meinte
Hauser, werde der politische Journalismus erst herausgefordert, wenn die Politik
hohe Maßstäbe setze, mindestens aber hohe Ziele verfolge. Eine solche Politik hatte
unsere Generation nicht erlebt, und sie war nicht absehbar. Dass der SPIEGEL von
globalen Investoren übernommen wurde, deren Qualitätsansprüche sich am globalen
Mittelmaß orientierten, war in solchen Zeiten nur folgerichtig. Um das, was nach der
Mitte der fünfziger Jahre in der Welt geschah, journalistisch zu begleiten, reichte
Mittelmäßigkeit vollkommen aus.
Die Weltgeschichte hatte in den frühen fünfziger Jahren eine kurze Verschnaufpause
eingelegt, danach lebten die verdrängten politischen Probleme dieser Welt sämtlich
wieder auf, manche davon intensiver denn je. Der - nun zumindest in den Medien
immer offener als solcher benannte - schleichende Dritte Weltkrieg, dessen
Hauptschauplatz in den vierziger Jahren Nordafrika gewesen war und der dort u.a.
248
zum Zerfall Nigerias geführt hatte, hatte seine Brennpunkte nun in Asien. In Indien
verging kein Jahr ohne gewaltsame Konflikte mit ethnischen und religiösen
Minderheiten. Auch Iran, Myanmar, Indonesien, die Philippinen, Pakistan, Malaysia,
Afghanistan und andere asiatische Staaten waren Schauplätze heftiger
innerstaatlicher Konflikte. China hielt seine aufrührerischen Minderheiten mit
Beschwichtigungsrhetorik, aber in der Sache so unnachgiebig wie je in Schach.
Zugleich unterstützte es militante chinesische Minderheiten in anderen ostasiatischen
Staaten.
Eine ganz ähnliche Politik betrieb Russland, wenn auch mit martialischerer Rhetorik.
Noch immer verstanden russische Politiker nicht, dass ihr Land aus seiner inneren
Krise nur herausfinden würde, wenn es sich von erdrückendem Ballast befreite wie
den immer noch viel zu hohen Militärausgaben und womöglich auch von aufsässigen
Minderheiten. Statt dessen ging Russland mit rücksichtsloser Waffengewalt gegen
neue separatistische Bewegungen im Süden des Landes vor, und zugleich schürte es
neue separatistische Neigungen bei den zehn Millionen Russen bzw. deren
Nachkommen, die bei der Auflösung der Sowjetunion ungewollt zu Bürgern
nichtrussischer Staaten geworden waren. Diesen Menschen, so die russische
Regierung, sei Unrecht angetan worden, das nun, nach mehr als einem halben
Jahrhundert, endlich korrigiert werden müsse. Die westliche Welt reagierte hierauf
wieder mit militärischen Drohgebärden. Dass es aber auch in dieser Frage letztlich
um verwehrte politische Selbstbestimmung ging, war unter westlichen Politikern
immer noch ein Tabu.
Auch in der arabischen Welt war keiner der schwelenden Konflikte wirklich gelöst.
Die von dort ausgehenden terroristischen Aktivitäten lebten mit neuer Intensität auf,
und der so genannte Krieg gegen den Terror, den der Westen schon in den dreißiger
Jahren fast gewonnen geglaubt hatte, wurde mit nie dagewesener Intensität
weitergeführt. Angespannte innerstaatliche Ruhe konnten in der arabischen Welt
weiterhin nur die autokratischen Regimes sicherstellen, die sich auf eine so
einschüchternde Militärmacht stützten wie Ägypten, Saudi-Arabien oder Algerien. In
249
Europa führten in dieser Zeit die Spannungen in den Migrantengettos zu den bisher
schwersten gewalttätigen Auseinandersetzungen. Selbst in seriösen Medien war
immer häufiger von Bürgerkriegszuständen die Rede.
In den USA war das auffälligste politische Ereignis dieser Zeit das
Auseinanderbrechen der Partei der Republikaner. Der radikalkonservative
populistische Flügel hatte sich weiter radikalisiert und innerparteilich eine knappe
Mehrheit erlangt. Nach heftigen innerparteilichen Machtkämpfen spalteten sich die
Radikalkonservativen schließlich als eigenständige Partei ab, als Neue Republikaner.
Neue und alte Republikaner waren aber machtbewusst genug, um nur in den
Wahlkreisen Kandidaten gegeneinander aufzustellen, in denen sie ohnehin
chancenlos waren. Der Wahlkampf zu den Kongresswahlen 2058 wurde dann eine
der schmutzigsten Schlammschlachten der amerikanischen Demokratiegeschichte.
Trotzdem einigten Neue und alte Republikaner sich nach der Wahl auf gemeinsame
Mehrheiten gegen die Demokraten in beiden Kongresskammern. Bei den
nachfolgenden Kongress- und Präsidentschaftswahlen 2060 war die Wahlbeteiligung
die mit Abstand niedrigste der US-Geschichte.
Im Europa der EU war die politische Stimmung nicht besser. Bei den Wahlen zum
Europaparlament lag die Wahlbeteiligung 2059 bei 34% und 2064 bei 33%. Nach
dem frühen Austritt Griechenlands zeichneten sich nun auch in Italien und
Großbritannien erstmals parlamentarische Mehrheiten für einen EU-Austritt ab. In
anderen EU-Ländern, darunter Deutschland, die Niederlande, Österreich und
abermals Großbritannien, forderten starke Bürgerbewegungen Volksabstimmungen
über die EU-Mitgliedschaft. Sie beriefen sich darauf, dass die EU nie das Recht der
Bürger auf Selbstbestimmung über ihre EU-Zugehörigkeit formell anerkannt habe
und damit die Bürger in ihren Freiheiten fundamental einschränke.
Die politische Zusammenarbeit der EU-Staaten war auf Gebieten wie der
Außenpolitik nie viel mehr als ein Ritual gewesen war, nun bestand sie nur noch auf
dem Papier. Um europäischen Prinzipien und Interessen mehr politisches Gewicht zu
verleihen, hatten daher Deutschland, Frankreich, die Beneluxländer und die
250
skandinavischen Länder Kooperationsverfahren geschaffen, die mit denen der EU
offen konkurrierten.
Die politische Parteienlandschaft war in Deutschland konturloser geworden denn je.
Die Muslimisch Soziale Union hatte sich nach erbitterten internen, auch von ihren
ausländischen Geldgebern angetriebenen Machtkämpfen ihrer radikalsten Flügel
entledigt, ihre Wahlergebnisse hatten sich danach bei 6% stabilisiert. Die etablierten
Altparteien hatten sich Guttenbergs Deutschen Demokraten, die zwischenzeitlich zur
zweitstärksten Partei aufgestiegen waren, rhetorisch immer mehr angenähert und
damit deren weiteren Aufstieg gebremst.
Auf dem Parteitag der Deutschen Demokraten im Frühjahr 1956, wenige Monate vor
seinem Tod, hielt Guttenberg seine letzte große innerparteiliche Rede. Darin warb er
um Verständnis für Menschen, die in der politischen Zivilisierung noch
vergleichsweise rückständig seien. Deren Empfindlichkeiten, deren
Minderwertigkeitsgefühl und deren Fremdsein in der westlichen Welt seien
Tatsachen, die man annehmen müsse. Man dürfe diesen Menschen nicht belehrend
und mit Überlegenheitsgefühl, man müsse ihnen empathisch begegnen und auf deren
Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen. Trotzdem bleibe er gegenüber jeglicher
Zuwanderung weiterhin skeptisch. Der Grund hierfür liege aber nicht bei den
Migranten, er liege bei den Deutschen selbst. Denn je mehr zivilisatorisch
rückständige Migranten ins Land kämen, desto mehr Deutsche meinten, auch sie
dürften sich in der Anstrengung des Zivilisiertseins gelegentlich Pausen gönnen.
Solche Zuwanderung mache daher aus einem potentiellen Vorbildstaat einen
mittelmäßigen Staat wie viele andere. Sein Resümee: Deutschland ist nicht reif für
die Immigration.
Damit meinte Guttenberg nicht viel anderes als mit seiner früheren Aussage,
Deutschland brauche Immigranten, von denen es lernen könne. Die Formulierung
aber, dass Deutschland nicht reif sei, verprellte einen Großteil seiner Parteifreunde
und seiner Wähler. Bei den folgenden Wahlen blieb der Stimmenanteil der
Deutschen Demokraten unter 20%.
251
Eine Folge hiervon war, dass sich noch mehr Wahlberechtigte vom Politikbetrieb
abwandten. Bei der Bundestagswahl 2057 sank die Wahlbeteiligung auf ein neues
Allzeittief von unter 39%. Die Unionsparteien erhielten 25%, die SPD 19%, die
Deutschen Demokraten 18%, die Grünen 15%, die Linke und die MSU je 6%,
sonstige Parteien 11% der abgegebenen Stimmen. Neben den von den Parteien strikt
ausgeschlossenen Koalitionsmöglichkeiten waren nur noch Notkoalitionen möglich.
Schließlich einigten sich SPD, Grüne und die Muslimisch Soziale Union auf eine von
den Linken tolerierte Minderheitskoalition, die nur zwei Jahre lang hielt und mit der
Ausschreibung von Neuwahlen endete. Bei diesen Wahlen sank, im Herbst 2059, die
Wahlbeteiligung weiter auf nunmehr 37%. Das Wahlergebnis verschob sich dabei
geringfügig zugunsten der Unionsparteien. Die danach gebildete Koalition hätte noch
zwei Jahre vorher als Sensation gegolten: Die Unionsparteien mit den Deutschen
Demokraten und den Grünen.
Zu dieser Zeit gab es in fast keiner der alten westlichen Demokratien mehr eine
Regierungspartei bzw. -koalition, die von mehr als einem Fünftel der
Wahlberechtigten gewählt worden wäre. Regierungen und Parlamente konnten sich
daher nur noch schwer des Verwurfs erwehren, sie seien nicht demokratisch
legitimiert. Sie wehrten sich schließlich immer häufiger mit dem Argument, die
Wähler seien eine kompetente Minderheit, die von Politik mehr verstehe als die
Nichtwähler. Also sei es im Interesse aller, wenn diese Minderheit über die
Zusammensetzung von Parlamenten bestimme. Dieses Argument war aber von der
Realität längst überholt. Das Nichtwählen war bei Bildungsbürgern längst ebenso
verbreitet wie in bildungsfernen Schichten.
Vielleicht hätte sich in dieser Zeit politisch mehr verändern können, wenn vorher
neue Parteien und Bewegungen die politische Bühne betreten hätten. Aber die
Neokraten traten 2057 und 2059 nicht zur Wahl an. Und Yangs Bewegung hatte in
Deutschland zu dieser Zeit noch nicht einmal 1000 Mitglieder gewonnen.
Mitten in diesem trüben politischen Szenario, im Januar 2058, kam die Nachricht
von Hausers Tod. Mein erster Gedanke war: Eine gute Zeit, diese Welt zu verlassen.
252
Früh genug auch, um den Niedergang des Archivs nicht mitzuerleben, den Hauser
vorausgeahnt hatte. Vielleicht hatte er es so entschieden. Er hatte die politische Welt
bis zuletzt mit hellwachem Geist beobachtet, und sie würde ihm nicht den Gefallen
tun, sich noch zu seinen Lebzeiten in besserer Verfassung zu zeigen.
Tiefe Trauer empfand ich über Hausers Tod nicht. Er hatte mich oft mit Gedanken
bedrängt und manchmal auch überfordert, die ich als Last empfand, wie sehr er damit
auch Recht hatte, und ich hatte mich dabei immer in seinem Schatten gefühlt. Sein
Tod hatte daher, dazu bekenne ich mich, für mich auch etwas Befreiendes. Trotzdem
hatte er mir in einer Welt, in der es geistige Heimat nirgendwo mehr zu geben schien,
doch so etwas wie geistiges Heimatgefühl gegeben.
Bei der Todesnachricht kam mir natürlich auch gleich das letzte Gespräch in den
Sinn, das wir miteinander geführt hatten. Es war - wieder einmal - um die Frage
gegangen, ob es mit der menschlichen Zivilisierung weiter bergab gehe und ob er in
dieser Hinsicht immer noch Fatalist sei. Eigentlich schon, sagte er, dazu stehe er,
aber man dürfe auch die kleinen Hoffnungsschimmer nicht übersehen. Ein kleiner
Hoffnungsschimmer sei für ihn das Gespräch gewesen, das wir, er und ich, mit Tian
geführt hatten. Wenn einer wie Tian in China kein absoluter Einzelgänger sei, dann
könnte die kommende Talsohle der menschlichen Zivilisierung, von China
ausgehend, bald durchschritten sein. Ich fragte, was er unter bald verstehe. Vielleicht
schon in der übernächsten Generation, sagte er, vielleicht schon um die
Jahrhundertwende.
Zwei Tage nach Hausers Tod erschien eine kurze Notiz im SPIEGEL, fünf knappe
sachliche Zeilen. Hauser sei ein Meister des Details gewesen, ein Mann mit dem
Fleiß einer Biene und dem Gedächtnis eines Elefanten. Das war nicht verkehrt,
unterschlug aber natürlich Wichtigeres. Aber es gab in der Redaktion offenbar
niemanden, der über dieses Wichtigere schreiben konnte und schreiben durfte.
In der Woche darauf war die Trauerfeier. Hauser hatte sie nicht gewollt, aber der
Vertrauteste seiner Verwandten, ein Neffe, hatte es schließlich doch anders
253
entschieden. Wir machten diese Feier nicht für Hauser, sagte er, wir machten sie für
uns und für andere, die sich von ihm verabschieden wollten. Auch deren Wunsch
zähle nun, und das sei gewiss auch in seines Onkels Sinn.
Die Trauerfeier fand in Hamburg in der Kapelle des stimmungsvollen Nienstedtener
Friedhofs statt, auf dem Hausers Geschwister begraben waren. Die Kapelle war
knapp zur Hälfte besetzt. Ich war verspätet, kam erst hinein, als der Neffe seine kurze
Ansprache gerade begonnen hatte. Hausers Asche sei anonym verstreut worden, wie
er es sich gewünscht habe, wir kämen hier zusammen, um unsere Trauer um ihn für
einen Moment zu teilen und gemeinsam die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Viel
mehr sagte er nicht. Ich hörte kaum zu. Was wäre, dachte ich, wenn Hauser hier in
einem Sarg dabei wäre? Was wäre, wenn er dort dem Reden und Denken der
Trauernden zuhörte? Wie wäre es, wenn er seinen eigenen Nachruf aus dem Sarg
heraus vortrüge? Skurrile Gedanken, aber ich konnte sie nicht unterdrücken.
Ich war als letzter in die Kapelle gekommen und wollte als erster gehen. Als ich
mich schon dem Ausgang zuwandte, legte sich von hinten eine Hand auf meine
Schulter.
- Geh nicht weg. Wir haben auf dich gewartet.
Constanzes Stimme! Ich drehte mich abrupt um. Wir schauten einander wortlos in
die Augen. Wie traurig sie ist, dachte ich, wie alt sie ist, und dann, wie schön sie ist.
Keine Tränen, bei ihr nicht und bei mir nicht, und wir wussten voneinander, warum.
Mit Hauser war alles gut. Wir umarmten wir uns kurz, dann zog sie mich beiseite.
- Bitte, bleib hier stehen.
Die Trauergäste zogen an uns vorbei, einige bekannte Gesichter, einige wenige
nickten mir zu. Dann kam Klaus. Klaus, der Schelm des Archivs, den ich erst nach
Hausers Zeit eingestellt hatte, der also Hauser gar nicht begegnet war. Klaus streckte
mir wortlos die Hand entgegen, sah mir in die Augen, als müsse zwischen uns nichts
gesagt werden, ging weiter. Dann Tilman. Er zwinkerte mir im Vorbeigehen zu, ich
nickte, dann erst sah ich unter seinem halboffenen dunklen Wintermantel ein dünnes
254
Gewand, das mir bekannt vorkam. Es war der "Mantel der Geschichte", mit dem er
an einem unserer Archivalltage ein kurzes Glanzlicht gesetzt hatte. Ich wollte
zurückzwinkern, aber er war schon vorbei.
Dann kam Kiesewetter auf mich zu. Er blieb stehen, drückte meine Hand.
- Ich weiß, sagte er, wie schwer es für dich ist. Aber gönnen wir Hauser das Glück,
im rechten Moment gegangen zu sein.
- Ja, sagte ich.
- Ein großes Glück für mich war, den SPIEGEL rechtzeitig verlassen zu müssen. Ich
wünsche dir ähnliches Glück.
Dann erst ließ er, meinem überraschten Blick ausweichend, meine Hand los und
verschwand.
Ich war noch wie benommen Kiesewetters Worten, als ich plötzlich in ein fremdes
starres Gesicht sah, ein asiatisches. Dann versuchte das Gesicht ein kurzes Lächeln.
Tian!
War er aus China gekommen, um mit uns um Hauser zu trauern? Wir sahen einander
eine Weile wortlos an.
Im selben Moment tat Constanze einen Schritt auf Tian zu, fasste ihn am Arm, drehte
sich zu mir und sagte:
- Wir sind beide deinetwegen hier. Weil wir wissen, was Hauser dir bedeutet hat.
Tians Rückflug ging schon am nächsten Morgen, und natürlich nutzten wir den Tag
und die halbe Nacht für lange Gespräche zu dritt. Genauer gesagt, zu viert, denn mir
war, als sei Hauser leibhaftig dabei, so wie damals, als Tian und ich ihn in seiner
Wohnung besuchten. Constanze muss es gespürt haben. Spätestens jetzt, sagte sie
mit Blick zu mir, werde uns kein Hauser mehr denken helfen, aber spätestens jetzt
sollten wir es auch ohne Hilfe schaffen. Mit diesem treffenden Satz war die bleierne
Stimmung schon fast verflogen, und wir konnten nun fast ohne Trauergefühle
weiterreden.
255
Ich war gerade mit meinen Gedanken in die Vergangenheit getaucht, in die
zwanziger Jahre, meine ersten Jahre mit Hauser. Mitte der Zwanziger hatte Hauser
vorausgesagt, dass die zurückliegenden drei Jahrzehnte seit dem Zusammenbruch
des Sozialismus als eine Zeit der Stagnation in die Geschichte eingehen würden.
Hatten wir nicht aber mittlerweile siebzig Jahre Stagnation hinter uns? Ich fragte
Constanze, ob sie meine, dass Hauser es zuletzt so gesehen habe.
- Ja, sagte sie, wenn nicht noch schlimmer.
- Im Westen, meint ihr, mischte Tian sich hastig ein. Siebzig Jahre Stillstand im
Westen.
Constanze war für einen Moment verblüfft, aber dann nickte sie stumm. Natürlich
war es ein richtiger Einwand. Dass China sich viel rascher verändert hatte als der
Westen, das hatte Tian mir und auch Hauser schon früher erklärt. Aber ich hatte
kürzlich Fernsehbilder vom chinesischen Volkskongress gesehen und mich dabei
gefragt, wie ein Volk eine politische Führung noch ernst nehmen kann, die sich noch
immer in solch seelenlos erstarrtem Ritual präsentiert.
Ja, antwortete ich, ich meinte vor allem den Westen, aber wenn ich Bilder des
Volkskongresses sähe, dann erscheine China mir zumindest in seinen Ritualen noch
viel starrer.
Darauf gab Tian wieder einmal eine Antwort, die man sich im Westen noch immer
nicht von einem Chinesen erträumte:
- Den Volkskongress dürft ihr im Westen nicht mehr so ernst nehmen. Er ist eher
eine Formsache.
- Und soll er das etwa bleiben?, fragte Constanze.
- Nein, sagte Tian, natürlich nicht. Unsere Soziologen sagen, dass unsere Bürger sich
in der nächsten oder spätestens übernächsten Generation mit einem Volkskongress,
wie er heute ist, nicht mehr abfinden werden. Die Partei hat deswegen ein Institut für
Staatsorganisation eingerichtet, das sich mit dem Problem befasst. Dort weiß man,
256
wovon der Volkskongress mit seinen starren Ritualen ablenken soll: Dass seine
Mitglieder über Dinge abstimmen, von denen sie nur ausnahmsweise etwas
verstehen. Das ist in euren Parlamenten ja ganz ähnlich.
Das war der Tian, über den ich früher so oft gestaunt hatte. Constanze traute ihren
Ohren nicht. Natürlich hatte ich ihr schon viel über Tian erzählt, aber auf so etwas
war sie nicht gefasst. Die nächsten Stunden hörte ich nur zu, wie Constanze Tian mit
Fragen überschüttete und sich von seinen chinesischen Weisheiten fesseln ließ. Am
Flughafen war es dann ein herzlicher Abschied unter drei engsten Freunden. Als wir
Tian einen letzten Gruß zugewinkt hatten, sah Constanze ihm mit beglücktem
Lächeln nach.
- In China, sagte sie dann, gibt es offenbar Menschen, die weiter vorausdenken als
bei uns.
- Und die Partei gibt den Auftrag für solches Denken. Kaum zu glauben.
- Vielleicht ist es am Ende wirklich China, sagte Constanze, das den ersten Schritt
aus der weltweiten Stagnation wagt. Ist doch ein kleiner Hoffnungsschimmer.
In den Tagen nach Constanzes Abreise fand ich keine Ruhe. Hausers Tod, die
Trauerfeier mit den wenigen kurzen Begegnungen, die Gespräche mit Constanze und
Tian und die Abschiede von beiden, all das hatte mich aufgewühlt. Ich fand nicht
zurück in den Arbeitsalltag, sehnte mich nach einem ruhigen Wochenende. Am
Samstagmorgen schlief ich lange. Als ich aufstand, lag schon die Frankfurter
Allgemeine Zeitung auf unserem Küchentisch. Ich blätterte sie flüchtig durch. In den
Tagen davor hatte ich in den Todesanzeigen nachgesehen, ob Hauser noch einmal
darin vorkam, aber nichts gefunden. Jetzt fiel mein Blick wie zufällig auf eine
Anzeige im Kleinstformat.
Wir trauern um Jan Hauser, einen Gleichgesinnten und Förderer,
der noch im hohen Alter Neues zu denken wagte.
Die Neokraten
257
Mir stockte der Atem. Hauser ein Gleichgesinnter, ein Förderer der Neokraten? War
ich überrascht? Nein, es passte ja zu ihm. War ich bestürzt? Ja, er hätte es mir sagen
können. Oder nein, er wird wohl seine Gründe gehabt haben. Und nannten die
Neokraten Hauser wirklich zu Recht ihren Förderer und Gleichgesinnten?
Am nächsten Tag war in unserem Briefkasten ein großer Umschlag, darauf ein Zettel
mit einem kurzen handschriftlichen Gruß von Hausers Neffen: Mein Onkel hat
verfügt, dass ich Ihnen dies zusende. In dem Umschlag: Die Satzung der Neokraten.
Von Yang und seiner Bewegung wusste ich zu dieser Zeit noch immer nichts.
Ringen um Rohstoffe
In der Sendung von Hausers Neffen war wirklich nur die Satzung der Neokraten,
nichts über deren Ziele und Programm. Aber schon die Satzung war spannend genug.
Anders als alles, was ich von Vereinen und politischen Parteien bisher kannte.
Die Neokraten waren 2040 von nur zehn Personen gegründet worden. Die Satzung
schrieb vor, dass die Mitgliederzahl jährlich um höchstens ein Drittel und auf
höchstens 2000 Personen steigen durfte. Mitglieder politischer Parteien waren von
der Mitgliedschaft ausgeschlossen. Beides, wie es hieß, Im Interesse einer
Konzentration auf die gesetzten Ziele. Es hieß nicht, Mitglieder anderer politischer
Parteien seien ausgeschlossen, sondern schlicht Mitglieder politischer Parteien.
Demnach verstanden die Neokraten sich nicht als Partei. Ich hatte gemeint, sie
wollten zumindest eine Partei werden, aber sie wollten offenbar zugleich etwas
anderes sein.
Dass die Mitgliederzahl der Neokraten so kontrolliert wachsen sollte, ließ mich an
einen Ausspruch Hausers denken, wonach bisher noch jede neu gegründete Partei
von Ideologen, Egomanen, Heißspornen und von beleidigten Überläufern aus
anderen Parteien geentert worden sei, wie überlegt und seriös ihre Gründer auch ans
Werk gegangen seien. Es hätte mich natürlich auch an Yang denken lassen, wenn ich
genug über ihn gewusst hätte. Auch Yang hatte seiner Bewegung langsames
258
Wachstum verordnet. Sie solle sich nicht verzetteln, sie solle hoch professionell
werden und sie solle es bleiben, so hatte er es vorgegeben. Stattdessen dachte ich an
Tian, der mir erklärt hatte, wie schwer der Weg zur Professionalität auch für die
kommunistische Partei Chinas noch sein werde. Für Tian, Yang und die Neokraten
hatte demnach politische Professionalität einen ähnlich hohen Rang. Mit dieser Frage
hatte ich mich noch immer viel zu wenig befasst.
Aber auch in der Zeit danach fand ich dazu nicht die Zeit und den Willen. Zu vieles
lenkte mich ab, auch die neuen Turbulenzen des Zeitgeschehens. Im Frühjahr 2057
ließ Israels Angriff auf Gaza und die Grenzgebiete seiner östlichen Nachbarn die
Welt den Atem anhalten. Dies wird der letzte nicht-nukleare Nahostkrieg sein, darin
war die Welt sich einig, danach käme die Apokalypse. Dies konnte man als
Beruhigung nehmen, wenn man annahm, dass die politisch Verantwortlichen vor der
Apokalypse zurückschrecken würden. Aber zumindest die so genannten Märkte
waren alles andere als beruhigt. Das erste Zeichen der Unruhe war das Beben auf den
Rohstoffterminmärkten, dann kam die Explosion der Rohstoffpreise, dann der
Absturz der Aktienkurse. Dann kam die weltweite Rezession
Plötzlich beherrschten Themen die Öffentlichkeit, die bis dahin nicht mehr als ein
mahnendes Hintergrundgeräusch des politischen Alltags gewesen waren. Es waren
Bedrohungsszenarien, für die Constanze mir schon zwanzig Jahre vorher die Augen
hatte öffnen wollen.
- Wie lange noch reichen welche Rohstoffe und welche Energieträger?
- Wie lange reicht die Kohle?
- Wie lange das Gas?
- Wie lange das Uran?
- Wie lange welche Metallvorkommen?
- Welche Teile der Welt würden durch die neuen Knappheiten um wie viel ärmer
werden, wer würden die Nutznießer sein?
- Wie viele Menschen würden mit nachwachsenden Rohstoffen und Energieträgern
versorgt werden können, wenn die Pro-Kopf-Verbräuche weiter stiegen?
259
- Welchen vorübergehenden Ausfall von Ölfördermengen könnte die Welt
ökonomisch verkraften, welchen Ausfall beim Gas?
- Welche Teile der Welt können sich wie lange noch selbst mit Wasser versorgen?
- Wie würde eine weltweite Verteilung knapp gewordenen Wassers gelingen, auf
welchen Versorgungswegen und mit welchen Transportmitteln, und welche neuen
Sicherheitsrisiken ergaben sich daraus?
- Und dann die große globale Frage: Würde die Welt mit den neuen Knappheiten
friedlich umgehen können, oder würde es gewaltsame Verteilungskonflikte um
Energieträger und Rohstoffe geben?
Nichts davon war neu. Geschrieben und geredet worden war darüber seit fast 100
Jahren, aber es hatte immer viel zu weit in der Zukunft gelegen, um als politischer
Ernstfall zu gelten. Immer wieder hatte es geheißen, wichtige Rohstoffe und
Energieträger würden nur noch ein paar Jahrzehnte reichen, aber immer wieder
waren neue Vorkommen entdeckt und war damit die Bedrohung weiter in die
Zukunft verschoben worden. Auch jetzt war die Bedrohung noch so weit weg, dass
die wenigsten Menschen zu Lebzeiten betroffen sein würden. Alle seriösen Forscher
aber sagten voraus, dass die neuen Knappheiten spätestens das Leben der nächsten
Generation zum Schlechteren verändern würden. Und fast alle seriösen Forscher
waren sich auch darin einig, dass eine halbwegs glimpfliche Umsteuerung auf ein
Leben mit diesen Knappheiten, grundlegende Veränderungen also der
Lebensgewohnheiten, der Infra- und der Siedlungsstrukturen, der Bautechnik und
vieler anderer Technikbereiche, mindestens zwei Generationen in Anspruch nehmen
würde. Selbst wenn die Umsteuerung sofort begänne, würde sie für kommende
Generationen tiefe Einschnitte mit sich bringen.
Auch der SPIEGEL nahm das Thema wieder auf und widmete ihm zwei große
Titelgeschichten. Das erste Titelbild zeigte einen auf eine schützende Höhle
zueilenden, die Hände schützend über den Kopf haltenden fellbekleideten Menschen,
über dem sich Menschheitsbedrohungen wie Rohstoffknappheit,
Unabhängigkeitskriege, Verarmung und Niedergang der Demokratie als Blitze
260
entluden. Im darauf folgenden Artikel wurde der neueste Forschungsstand zur
zeitlichen Reichweite der wichtigsten Rohstoffe zusammengefasst: weniger als
zwanzig Jahre u.a. für Gold, Silber, Diamant, Chrom, Zink, Zinn, Nickel und Kupfer,
weniger als vierzig Jahre u.a. für Erdgas und Erdöl.
In demselben Heft des SPIEGEL erschien ein großer Artikel über die sich immer
weiter ausbreitende Resistenz von Krankheitserregern gegen Antibiotika, über die
dadurch weltweit ansteigende Sterblichkeit vor allem bei Kindern und darüber, wie
auch dieses Problem mindestens ein halbes Jahrhundert lang politisch vernachlässigt
worden war. All dies ließ mich wieder einmal an Grafs Bemerkung über die
Generation Sichtflug denken. Hatte Graf schon damals diese Szenarien vor Augen
gehabt? Wenn nicht, war ihm zumindest klar gewesen, dass politisches Denken und
Handeln in unserem Jahrhundert viel vorausschauender zu sein hatte, als wir es uns
damals vorstellen konnten.
Mit der zunehmenden Knappheit von Rohstoffen und Energieträgern werde natürlich
auch die Abhängigkeit von deren Förderstaaten immer größer werden, auch darüber
wurde in dieser Zeit viel diskutiert. Macht- und Verteilungskämpfe, wie es sie früher
zwischen den OPEC-Staaten und dem Rest der Welt gegeben hatte, würden nicht
mehr nur um Öl ausgetragen, sondern um immer mehr knappe Rohstoffe, und sie
würden an Häufigkeit und Schärfe zunehmen. Und natürlich bergen solche Konflikte
auch Kriegsrisiken. Militärisch überlegene Staaten lassen sich leicht zum Krieg
gegen Staaten verleiten, von deren Monopolmacht sie sich bedroht fühlen, das hatte
die Welt schon oft erlebt. Nun schien die Gefahr von Kriegen zur Sicherung der
Rohstoffversorgung größer zu werden denn je, sei es Wirtschaftskriegen,
Cyberkriegen oder konventionellen Kriegen.
Ein Thema in den Zukunftsszenarien dieser Jahre waren auch die so genannten
seltenen Erden, in vielen Produkten der Hochtechnologie unersetzliche Rohstoffe.
Auf diese Stoffe hatte ausgerechnet China, der mittlerweile militärisch und
wirtschaftlich mit Abstand mächtigste Staat der Welt, schon seit Jahrzehnten fast ein
Weltmonopol. Ich bat Tian dazu um einen Kommentar, und wenigstens von ihm kam
261
in all dem weltweiten Alarmismus ein beruhigender Gedanke. Es sei richtig, erkläre
er mir, dass China ein Weltmonopol auf einige seltene Erden habe, aber darüber
möge ich mir keine Sorgen machen. China sei zugleich abhängig von
Weltmonopolen anderer Staaten, und gegenseitige Abhängigkeit stimme Staaten
selten kriegerisch, sie könne sogar befrieden.
Ich war erst einmal beruhigt, aber einen vollends unerschütterlichen Friedenswillen
unterstellte ich der chinesischen Führung noch weniger als den weniger großen
Großmächten dieser Welt. Außerdem gab es unter den Weltmonopolisten natürlich
nicht nur gegenseitige Abhängigkeiten. Die meisten Abhängigkeiten waren einseitig,
und zumindest diese schaffen politisch gefährliche Motive. Insofern trägt jede
Eindämmung ökonomischer Abhängigkeiten zur Friedenssicherung bei. Daran
schien mir auch Tians Argument nichts zu ändern.
Mit diesen Gedanken war ich noch immer beschäftigt, als ich zum ersten Mal von
Robert Yang und seiner Global-Upgrade-Bewegung erfuhr. Ich weiß nicht, wie ich
sie so lange hatte übersehen können. Dass ich auf solche Neuigkeiten erst durch eine
Notiz im SPIEGEL aufmerksam wurde, kam höchst selten vor, aber hier war es so.
Natürlich habe ich sofort über Global Upgrade recherchiert, und dabei stieß ich rasch
auf Aufregendes. Zum Aufregendsten gehörte dies: Dass in einer globalisierten Welt
Bodenschätze nicht mehr den Staaten gehören dürften, deren Territorium sich
zufällig über diesen Schätzen befinde. Die Bodenschätze, die von der ganzen
Menschheit genutzt werden, müssten der Menschheit als ganzer gehören, auch wenn
Staaten sie auf ihrem eigenen Staatsgebiet selbst förderten. Es bedürfe daher einer
Welt-Charta, nach der Eigentumsrechte an Bodenschätzen vergeben würden.
Eine solche Charta könne nur von einer Pro-Kopf-Verteilung der Bodenschätze
ausgehen, wobei es allerdings nicht nur um die Köpfe der Lebenden gehen dürfe. Die
künftigen Generationen hätten ein gleiches Recht auf die erschöpflichen Ressourcen
dieser Welt. Eine Konsequenz daraus sei, dass die Eigentumsrechte an Rohstoffen
künftig von einer Welt-Agentur zu verwalten seien. Die Einnahmen dieser Agentur
262
dürften nicht verkonsumiert, sondern sie müssten in Nachhaltigkeitsprojekte
investiert werden.
So weit hatte Yang, der als Klimaaktivist begonnen hatte, seine politischen Ideen bis
dahin schon vorangetrieben. Wer wirklich Großes bewegen will, hatte er zu Puig
gesagt, müsse über die eigene Lebenszeit hinausdenken, und dem war er
offensichtlich treu geblieben.
Yang nannte dies die Agenda 2100. Eine Name, mit dem ich mich sofort verbunden
fühlte. Kurz vorher noch hatte mich wieder das schlechte Gewissen geplagt, eben
doch zur Generation Sichtflug zu gehören, die nie weit genug in die Zukunft gedacht
hatte. Hier nun lud jemand dazu ein, an einer Agenda 2100 mitzuwirken. Würde ich
dabei etwas von dem nachholen können, was ich im bisherigen Leben versäumt
hatte?
In einem von Global Upgrade verbreiteten Aufsatz wurde es konkreter. Eine
Organisation wie die UNO, hieß es dort, könne eine Agenda 2100 nicht umsetzen.
Von einer UNO und ähnlichen Organisationen dürfe man nicht erwarten, dass sie
weitsichtiger und weiser agierten als ihre Mitgliedstaaten. Eine weitsichtigere und
klügere Weltorganisation als die UNO werde es daher erst geben, wenn es
weitsichtigere und weisere Staaten gebe. Also müsse die Erneuerung der globalen
Ressourcenpolitik ganz unten anfangen, bei einer systemischen Erneuerung von
Staaten.
Das war ein schlüssiger Gedanke, aber auch einer von ungeahnter politischer
Sprengkraft. Der SPIEGEL brachte es trotzdem fertig, in den folgenden zehn Jahren
keinen einzigen Beitrag über Robert Yang und Global Upgrade zu veröffentlichen.
Aber es war eben schon nicht mehr der SPIEGEL, den ich jahrzehntelang als
Archivleiter geliebt und verflucht hatte. 2059 hatte die Amazon-Alibaba-Gruppe die
restlichen Anteile übernommen und war damit alleinige Eigentümerin geworden. Der
SPIEGEL hatte in den Jahren davor im Printbereich deutlich an Auflage und Umsatz
verloren, und nun wurden neue Konzepte gesucht.
263
Ein Jahr nach der Restübernahme durch Amazon-Alibaba kam der Verlagsleiter zu
mir. Ich erwartete, dass es um Sparvorgaben für das Archiv gehen würde, die ich
nicht eingehalten hatte, aber darüber sprach er kein Wort. Ich könne mir ja denken,
begann er, dass sich im SPIEGEL einiges verändern müsse. Nach dem Willen der
Anteilseigner solle der SPIEGEL einen Herausgeber bekommen, man denke dabei an
einen Politiker im Ruhestand. Die ZEIT habe - darauf dürfe man sich noch einmal
besinnen - damals Helmut Schmidt zum Herausgeber gemacht, und so gut wie unter
Schmidts Herausgeberschaft sei es der ZEIT später nie mehr gegangen. Ein genialer
Schachzug des Verlegers sei das gewesen, und es könne durchaus auch heute noch
ein Erfolgsrezept sein.
Ich saß da wie vom Donner gerührt. Ein Ex-Politiker, ein Parteimitglied also, als
SPIEGEL-Herausgeber? Für mich unfassbar.
- Wir wollen auch die Meinung unserer Führungskräfte dazu wissen. Also, Herr
Schmidt, was halten Sie davon?
- Helmut Schmidt war eine Ausnahmeerscheinung, sagte ich. Ex-Politiker wie ihn
gibt es heute nicht mehr.
Er machte eine unwillige Miene. Soweit er es wisse, sagte er, habe auch Helmut
Schmidt in die Rolle eines Herausgebers erst hineinwachsen müssen.
- An wen denken Sie denn?, fragte ich.
- Es kommen nur die höchsten Staatsämter in Frage. Wir denken an einen ExKanzler.
- Mesäcker etwa?, entfuhr es mir. Nein, der sicher nicht.
- Ja, Mesäcker, sagte der Verlagsleiter kühl. Aber seien sie unbesorgt. Mesäcker hat
mittlerweile die Reife, die man sich von einem Herausgeber des SPIEGEL wünscht.
Da sind wir ganz sicher.
264
Mesäcker also. Der Mann, der seit unserer ersten Begegnung außer Machtwillen und
flüssiger Rede für mich nur Mittelmäßigkeit verkörperte. Genau die Art von
Mittelmäßigkeit, die die Welt in diesem Jahrhundert hatte stagnieren lassen.
Ich weiß nicht, ob dieses Gespräch der Grund war, aber in den Tagen danach verlor
sich das Gefühl von Souveränität, von Beherrschung und nicht selten auch von Stolz,
mit dem ich bis dahin fast immer meine Arbeit im Archiv getan hatte. Ich begann,
am SPIEGEL zu zweifeln, aber auch an mir selbst. Erlebten wir beim SPIEGEL
unnötige Veränderungen zum Schlechten, oder war ich schon zu alt, um mich an
notwendige Veränderungen zu gewöhnen? Würde das SPIEGEL-Archiv bald nicht
mehr der passende Ort für mich sein, oder war ich nicht mehr der Richtige für den
künftigen SPIEGEL? Je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker wurden die
Zweifel. Ich begann, mich in meinem eigenen Büro, das mir jahrzehntelang wie ein
zweites Zuhause gewesen war, fast wie ein Fremder zu fühlen.
Natürlich hatte ich eine Vorahnung von dem, was kam. Drei Monate nach der
Einsetzung Mesäckers als SPIEGEL-Herausgeber wurde ich zur Verlagsleitung
heraufgebeten. Als ich eintrat, sah ich neben dem Verlagsleiter die Personalchefin
sitzen. Ich hielt kurz inne, dann ging ich gefasst auf die beiden zu.
- Sie wollen mir einen Vorschlag machen?, sagte ich mit fester Stimme.
Ich sah die Erleichterung in ihren Gesichtern. Sie konnten sich also die peinliche
Vorrede sparen.
- Ja, Herr Schmidt, sagte die Personalleiterin, wir glauben, wir haben einen guten und
fairen Vorschlag für Sie.
Mein erster Gedanke war bei Hauser. Ist es Archivleiterschicksal, sein Berufsleben
beim SPIEGEL vorzeitig beenden zu müssen? Nein, kein Selbstmitleid, sagte ich mir
dann, das hatte auch Hauser damals nicht. Und gab es nicht auch eine Unzahl von
Redakteuren, die es nicht bis zur Altersgrenze geschafft hatten? Aber gab es unter
denen nicht auch tragische Fälle? Hieß es nicht, dass auch Kiesewetter seine
Entlassung noch längst nicht verwunden hat? Und selbst wenn ich eher
265
hinauskomplimentiert als entlassen würde, war das ein großer Unterschied?
Andererseits: Hatte Kiesewetter nicht bei Hausers Trauerfeier von dem Glück
gesprochen, den SPIEGEL rechtzeitig verlassen zu müssen, und mir Ähnliches
gewünscht? Dann fiel mir ein, wie Hauser seine Entlassung eine befreiende
Niederlage genannt hatte. Würde nicht auch ich mich bald befreit fühlen können? Ja,
sagte ich mir, auch für mich kann es schlimmstenfalls eine befreiende Niederlage
werden.
Das Gespräch verlief beinahe reibungslos. Ich war in aufgeräumterer Stimmung, als
ich mir anmerken ließ, und der Verlagsleiter und die Personalerin zeigten sich
zunehmend gut gelaunt. Die angebotene Abfindung war großzügig, ich forderte
mehr, wurde kurz hinausgebeten, danach wurde das Angebot noch einmal ordentlich
aufgestockt. Ich würde sogar, das war für mich das Allerwichtigste, noch neun
Monate lang meinen Dienst tun dürfen, wenn ich es wolle. Wenigstens hatten sie mir
mein bisheriges Leben nicht wie Diebe aus der Hand geschlagen.
Als ich wieder in meinem Büro saß, dachte ich an den Nachfolger, der demnächst an
meinem Schreibtisch sitzen würde, einen viel Jüngeren natürlich, wahrscheinlich
einen, der all das, was mich beim SPIEGEL in letzter Zeit befremdet hatte, für ganz
und gar selbstverständlich nehmen würde. Was macht die Jüngeren so fügsam?,
fragte ich mich. Oder ist es deren neue Art von Weisheit?
Ölkartell: Die Bösen tun Gutes
Dass die Menschheit einen Einbruch in Wohlstand und Lebensstil erleben wird,
wenn die Erdöl- und -gasvorkommen der Welt zur Neige gehen, daran gab es nie
vernünftigen Zweifel. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts deckten die
bekannten Ölvorkommen den Bedarf für nur noch 30 Jahre. Dies hätte zumindest bei
der Generation der Jungen alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Das Ende des
Ölzeitalters verschob sich danach aber immer weiter in die Zukunft, weil immer
neuer Ölvorkommen entdeckt wurden. Im ersten Quartal unseres Jahrhunderts nahm
man an, dass die bekannten Reserven noch für mindestens 50 Jahre reichen würden.
266
Vom zweiten Jahrhundertquartal an wurden dann aber weniger Ölvorkommen neu
entdeckt, als alte verbraucht werden. Das Ende der der Öl-Zeit rückte von da an also
immer näher und damit der dadurch bedingte Wohlstandseinbruch. Schon zu dieser
Zeit konnte nur noch ein energiepolitisches Wunder verhindern, dass die Generation
der Jüngsten noch zu Lebzeiten davon betroffen sein würde. Vom politischen Willen,
solches Wunder zu bewirken, war und ist aber weltweit nichts zu spüren. Natürlich
mahnten verschiedenste Organisationen Politiker, Regierungen und Parlamente
dieser Welt, auf eine drastische Verringerung des Ölverbrauchs hinzuwirken, und
dies tat auch Yang mit seiner Bewegung. Yang war sich aber bewusst, wie
vergeblich diese Mahnungen bleiben würden.
Die Regierungen dieser Welt hätten kommen sehen müssen, dass sich unter diesen
Umständen ein neues Weltölkartell bilden würde, und zwar ein mächtigeres denn je.
Denn das Schwinden der Ölreserven war nicht nur für die Verbraucherländer ein
Schreckensszenario, am stärksten mussten sich natürlich die Förderländer davon
bedroht fühlen. Sie mussten daher alles daransetzen, das Ende des Ölzeitalters so
weit wie möglich hinauszuschieben. Dies war nur mit drastischer Drosselung der
Ölförderung zu erreichen.
Yangs Bewegung erstellte hierzu Anfang der sechziger Jahre eine gründliche Studie.
Die Studie zeigte, wie der Ölverbrauch langfristig reduziert werden müsste, um die
Interessen der Weltbevölkerung generationenübergreifend ausgewogen zu wahren.
Die Entwicklung des Ölverbrauchs, so Yang, müsse durch den Öl- und Benzinpreis
gesteuert werden. Dieser müsse innerhalb von zehn Jahren annähernd verdoppelt und
innerhalb von 50 Jahren etwa verzehnfacht werden. Hierfür sollten die
Ölverbraucherländer durch stetig steigende Steuern auf den Öl- und Benzinverbrauch
sorgen.
Die gleiche Wirkung, so führte Yang weiter aus, hätte es natürlich, wenn die
Ölproduzenten ihre Preise entsprechend erhöhten. Genau das würden sie auch tun,
wenn die Verbraucherländer ihnen nicht mit drastischen Erhöhungen ihrer
Mineralölsteuern zuvorkämen. Yang führte auch aus, wie massiv dadurch Wohlstand
267
und wirtschaftliche Macht zugunsten der ölproduzierenden Staaten umverteilt
würden.
Dass Yang später von zahllosen Politikern und Regierungen dieser Welt
vorgeworfen wurde, diese Studie habe die Ölförderländer zur Bildung des
Weltölkartells geradezu angestiftet und damit zu einem rücksichtslosen
Wirtschaftskrieg gegen die Verbraucherländer, wunderte ihn selbst am wenigsten.
Um von eigenem Versagen abzulenken, erklärte er, sei Politikern schon immer jedes
Mittel recht gewesen.
Yang scheute sich auch nicht, in dieser Debatte später noch Öl ins Feuer zu gießen.
Er würdigte die von den Ölförderländern ausgelöste Ölpreisexplosion als die - im
generationenübergreifenden Interesse der Menschheit - zweitbeste Lösung. Das
Vorgehen der Förderländer sei kein wirtschaftlicher Machtmissbrauch und kein
Wirtschaftskrieg, es sei die Bremsung der noch immer öltrunkenen Weltwirtschaft in
höchster Not. Manchmal, so Yang, täten eben auch die vermeintlich Bösen Gutes.
Die im Herbst 2065 gegründete Weltorganisation der Ölproduzenten, die weitaus
mächtigere Nachfolgerin der OPEC, wurde von Anfang an als Weltölkartell
bezeichnet, aber das war eine Verharmlosung. Diese Organisation war von Anfang
an eine straff geführte Weltmonopolagentur, die alle ihre Mitgliedsländer streng zu
disziplinieren wusste. Vielleicht wäre sie erst einige Jahre später entstanden, wenn
Russland sich hierfür nicht so energisch engagiert hätte. Russland gehörte mit
Venezuela und Nigeria zu den Ländern, die vom ölfinanzierten Wohlstand am
allerwenigsten in ihre Zukunftssicherung investiert hatten. Diese drei Staaten
mussten sich daher vor einer Zukunft ohne Öleinnahmen noch mehr fürchten als
andere Förderländer. So wurde Russland zum Hauptinitiator des Weltkartells. Die
Losung, die die russische Regierung dem Kartell vorgab, hieß: Förderung drosseln,
Erlöse stabilisieren. Mit immer weniger Öl sollte also ein immer gleicher
Einnahmestrom erzielt werden. Als 10-Jahres-Ziel gab Russland vor: Preise
verdoppeln, Förderung halbieren. Als 50-Jahres Ziel: Preise verzehnfachen,
268
Förderung auf ein Zehntel verringern. Man konnte in der Tat meinen, diese Zahlen
seien von Yang inspiriert gewesen.
Die Regierungen der Verbraucherländer, die meisten westlichen Demokratien
eingeschlossen, gaben sich zunächst der Illusion hin, dieses Weltkartell werde rasch
an den Interessengegensätzen seiner Mitglieder zerbrechen, und sie rechtfertigten
damit ihre Untätigkeit. So verpassten die Verbraucherländer die letzte Chance auf
einen glimpflichen Ausstieg aus der Öl-Ära.
Dass das Ölproduzentenkartell mit seiner Monopolmacht nicht gerade zimperlich
umgehen würde, nicht gegenüber armen Ländern und erst recht nicht gegenüber
westlichen Wohlstandsländern, war natürlich absehbar. Trotzdem löste das Ausmaß
der wirtschaftlichen Machtverschiebung in den Wohlstandsländern blankes Entsetzen
aus. Den weltweiten Absturz der Aktienkurse nach Gründung des Kartells nutzten
dessen Mitgliedstaaten, um sich weltweit in ölverarbeitende Konzerne und andere
Schlüsselindustrien einzukaufen. Als dann die ersten Staaten ihre Ölrechnungen
nicht mehr bar bezahlen konnten, bot das Kartell ihnen an, auch Wertpapiere und
Sachwerte zahlungshalber anzunehmen, vor allem Staatsanleihen und Anteile an
staatlichen oder halbstaatlichen Unternehmen, an Flughäfen, Häfen,
Energieversorgern, Entsorgungsunternehmen, Telekommunikationsunternehmen,
Börsen, Eisenbahngesellschaften und Wohnungsgesellschaften und immer mehr auch
an staatlichen Ländereien und Immobilien. Großbritannien und Norwegen, die sich
dem Kartell angeschlossen hatten, beteiligten sich hieran, behaupteten aber,
mäßigend auf die anderen Kartellmitglieder einzuwirken. Dennoch entwickelte das
Kartell sich nach und nach zu einem globalen Großinvestor, von dem immer mehr
Länder abhängig wurden. Auch westliche Wohlstandsstaaten standen ohne
Kapitalimporte aus den Ölkartellländern vor dem wirtschaftlichen Kollaps.
Nicht hiervon betroffen war China. Es hatte als weltweit einziger großer
Ölverbraucherstaat genügend Vorsorge getroffen, um den Druck des Ölkartells auch
langfristig nicht fürchten zu müssen. Durch konsequente Energiepolitik hatte es
seinen Ölverbrauch seit den zwanziger Jahren auf ein Zehntel gesenkt. Der Stolz auf
269
diese konsequente Energiepolitik gab dem politischen Selbstbewusstsein Chinas
weiteren Schub. Die Geringschätzung für demokratische Staaten, die zu solcher
Konsequenz nicht fähig waren, erreichte in China einen neuen Höhepunkt.
Jahrhundertereignis Klimawandel
Dass das 21. Jahrhundert auch ein verlorenes Jahrhundert der Bevölkerungspolitik
sein könnte, darüber wurde in sechziger Jahren eine Zeitlang heftig diskutiert, nicht
nur in Kreisen der Wissenschaft. Aber noch immer wurde das Thema dabei nicht von
den lähmenden Tabus befreit, die seit dem 20. Jahrhundert auf ihm lasteten.
In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hatte sich in einigen wenigen
Ländern wie Finnland die Bevölkerungszahl spontan stabilisiert, ohne entschiedene
politische Eingriffe. Ansonsten teilte die Welt sich auf in Regionen, die entweder ihr
Bevölkerungswachstum oder ihren Bevölkerungsschwund nicht unter Kontrolle
hatten. Dabei überwog das unkontrollierte Bevölkerungswachstum noch immer bei
Weitem.
Als lange Zeit erstes und einziges unter den bevölkerungsreichsten Ländern hatte
China für sein demographisches Problem frühzeitig politische Lösungen gefunden,
so drastisch die Mittel teilweise auch waren. China hielt damit seine
Bevölkerungszahl im Durchschnitt der ersten Jahrhunderthälfte etwa konstant. Kein
großes demokratisch regiertes Land der Welt tat es ihm nach. Robert Yang
kommentierte dies in einer Streitschrift so: Die Demografie ist eine weitere politische
Schicksalsfrage, in der die Demokratie versagt hat.
Im ersten Jahrhundertquartal mehrten sich unter Bevölkerungswissenschaftlern
dennoch die Stimmen, die in der Frage des globalen Bevölkerungswachstums
Entwarnung gaben. Sie sagten voraus, dass das Bevölkerungswachstum bald
weltweit ebenso zurückgehen werde, wie es in den meisten wirtschaftlich hoch
entwickelten Staaten schon zurückgegangen war. Das Bevölkerungswachstum hänge
hauptsächlich vom Wohlstands- und Bildungsniveau ab, und dies werde weltweit
270
genügend steigen, um eine Übervölkerung der Welt zu verhindern. Eine wirkliche
Entwarnung konnte dies aber schon deswegen nicht sein, weil mit wachsendem
Wohlstand auch der Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch und die Pro-Kopf-Belastungen
für Umwelt und Klima steigen würden. Zudem wurde bei diesen Prognosen der
Einfluss von Tradition und Kultur auf die Geburtenraten unterschätzt.
Verharmlost wurden in den damaligen Studien auch die langfristigen Auswirkungen
der niedrigen Geburtenraten in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern. Diese
Länder verloren allein aufgrund des Bevölkerungsrückgangs an politischem und
ökonomischem Gewicht in der Welt und damit auch an Möglichkeiten, zivilisierend
auf die Weltpolitik einzuwirken. Verstärkt wurde dies noch durch die Verlängerung
der Lebenserwartung und die damit verbundene Überalterung. Mit der Überalterung
war in den hoch entwickelten Ländern der Anteil der Erwerbstätigen an der
Bevölkerung stark gesunken, und dies minderte in diesen Ländern natürlich
Wohlstand und Wirtschaftskraft.
Da ihre Familienpolitik noch immer nicht für nennenswert höhere Geburtenraten
gesorgt hatte, hatten die Wohlstandsstaaten nach Ersatzlösungen suchen müssen. Der
Politik war nichts anderes eingefallen, als die Überalterung mit immer mehr
Zuwanderung zu entschärfen, mit dem also, was - aus verständlichen Gründen Überfremdung zu nennen ein politisches Tabu geblieben ist. Aber gerade die
Tabuisierung des Überfremdungsthemas hatte in vielen Ländern Rechtspopulisten
immer mehr Wählerstimmen zugetrieben, und sie trug damit weiter zur Vergiftung
der politischen Stimmung bei. Eine konsequent auf die Geburtenrate ausgerichtete
Politik war weiterhin nicht in Sicht.
Nicht anders stand es natürlich um die Klimapolitik. Bei anhaltendem
Weltbevölkerungswachstum und noch schnellerem Wohlstandswachstum waren
auch im 21. Jahrhundert die klimaschädlichen Immission weiter gewachsen, allen
Mahnungen der Wissenschaft und allen politischen Lippenbekenntnissen zum Trotz.
2068 fand in Neuseeland die 51. Weltklimakonferenz statt. Nachdem einige kleine
Länder schon im Vorfeld mit der Forderung gescheitert waren, diese Konferenz auf
271
dem stattfinden zu lassen, was von den Seychellen oder von Vanuatu noch übrig war,
hatten sich schließlich Neuseeland und die Niederlande um die Ausrichtung
beworben.
Die Niederlande wollten der Welt vorführen, dass es innerhalb des Landes erste
Anzeichen einer Klimamigration gab. Niederländische Geographen hatten
Landkarten erstellt, auf denen die Landesteile ausgewiesen waren, die in den
kommenden 100 Jahren wegen wachsender Überflutungsgefahr würden aufgegeben
werden müssen. In diesen Regionen hatte der Staat seine Investitionen in die
Infrastruktur schon merklich reduziert, mit der Folge, dass sich schon jetzt kaum
noch Neubürger dort ansiedelten. Wissenschaftliche Gutachten prognostizierten, dass
bei konsequenter Fortsetzung dieser Politik, bei Reduzierung der staatlichen
Infrastrukturausgaben auf das Unvermeidliche, diese Regionen sich innerhalb von
drei bis vier Generationen größtenteils spontan entvölkern würden.
Zwangsumsiedlungen würden nur in geringem Umfang notwendig sein.
Neuseeland war von den Folgen des Klimawandels nur indirekt betroffen. Es wollte
die Augen der Welt aber darauf richten, dass es schon mehr als 50.000
Klimaflüchtlinge aufgenommen hatte und dass der Zustrom dramatisch anschwoll.
Zu diesem Thema führte Neuseeland eine geschickte Medienkampagne, und es
bekam schließlich als Austragungsort der Weltklimakonferenz den Vorzug.
Am Charakter der Weltklimakonferenzen hatte sich in den 80 Jahren seit ihrem
Beginn wenig geändert. Sie waren ein Ritual, das mehr der Beruhigung des
klimapolitischen Weltgewissens diente, als dass es konkrete politische Wirkung
erzielte. Man begnügte sich damit, über das Weltproblem Klima auf Weltebene in
ernster Stimmung zu konferieren, aber kein Land fühlte sich für das Problem als
ganzes verantwortlich. Die Erfolglosigkeit der Weltklimapolitik ersparte den
Regierungen dieser Welt schmerzlichere, also unpopuläre Maßnahmen, und viele
von ihnen konnten die Erleichterung hierüber kaum verbergen.
272
Wissenschaftler mehrerer Länder hatten in den fünfziger Jahren akribisch
nachgewiesen, dass die bisherigen Beschlüsse von Weltklimakonferenzen den
Klimawandel nicht nachweisbar beeinflusst hatten. Soweit klimaschädliche
Immissionen hinter früheren Prognosen zurückgeblieben seien, sei dies fast
vollständig mit technischen Innovationen und spontanen Reaktionen der Märkte zu
erklären.
Im Vorfeld der Klimakonferenz von Auckland waren die Erwartungen dennoch
höher als bei fast allen vorangegangenen. Die Weltöffentlichkeit war von einer
Studie aufgeschreckt worden, die nachwies, dass die Erde für Menschen
unbewohnbar würde, wenn alle fossilen Energieträger irgendwann vollständig oder
auch nur größtenteils verbrannt sein würden. Diese Studie war alles andere als eine
Neuigkeit, aber sie war zum ersten Mal so präsentiert worden, dass sie spontane
Massenwirkung erzielte.
Ähnlich hohes Aufsehen erregte eine weltweit koordinierte Initiative von
Entwicklungsländern, die von den großen Klimaschädigernationen dieser Welt, von
den großen Wohlstandsnationen also, präzise bezifferten Schadensersatz verlangten.
Die Erdatmosphäre, so wurde argumentiert, sei allen Ländern und allen Menschen
der Welt gleichermaßen zu eigen. Daher müsse die Aufnahmekapazität der
Erdatmosphäre für klimaschädigende Immissionen gleichmäßig auf die Menschen
dieser Welt verteilt werden. Die meisten Wohlstandsnationen hätten ihren Anteil
hieran aber nicht nur aufgebraucht, sie hätten ihn schon weit überzogen. Dies
verwehre es den weniger entwickelten Nationen, jemals mit vergleichbarer
Leichtigkeit Wachstum und Wohlstand zu erlangen wie die derzeitigen
Wohlstandsstaaten. Dabei beriefen einige sich ausdrücklich auf Yangs Forderung,
die fossilen Energieträger als kollektives Menschheitserbe zu behandeln.
Aus dieser prinzipiell schlüssigen Argumentation wurden Entschädigungsansprüche
hergeleitet, deren Befriedigung die alten Wohlstandsnationen im Wohlstand um fast
ein Jahrhundert zurückgeworfen hätte. Vor der Auckland-Konferenz wurde in der
Weltöffentlichkeit aber schon darüber spekuliert, wie lange die alten
273
Wohlstandsnationen sich diesen Ansprüchen der übrigen Welt noch würden
entziehen können. Angefeuert wurden diese Spekulationen durch Gerüchte, dass
China sich hierbei auf die Seite der Entwicklungsländer schlagen und für deren
Ansprüche streiten werde, notfalls mit Wirtschaftssanktionen oder Schlimmerem.
So entstand im Vorfeld der Auckland-Konferenz eine nervöse Atmosphäre, die
natürlich von den Medien verstärkt wurde. Viele Fernsehmoderatoren befragten
Politiker, warum sie in Klimafragen so lange untätig gewesen waren und wie sie mit
der moralischen Schuld in dieser Frage umgingen. Weltweit bekannt wurde ein
Vorfall in Italien - wo die Medien mittlerweile so unverblümt wie nirgendwo sonst
die Inkompetenz ihrer politischen Klasse ausweideten - mit Ministerpräsident
Borelli, der seiner Interviewerin auf eben diese Frage die flapsige Antwort gab.
- Das müssen Sie mich nicht fragen, ich bin erst seit zwei Jahren im Amt.
Der weitere Wortwechsel hielt sich monatelang in den Charts von Youtube:
- Sie, Herr Borelli, sind 65 Jahre alt, sie sind seit 45 Jahren Parteimitglied und seit
13 Jahren Parteivorsitzender oder stellvertretender Parteivorsitzender. Sie waren
dreimal Minister, das erste Mal vor zehn Jahren, davon eineinhalb Jahre
Umweltminister. Sie müssen also alles gewusst haben. Aber Sie haben in der Partei
und in der Regierung nie kritische Fragen zum Klimawandel gestellt, nie eine
Initiative dazu ergriffen, das haben wir recherchiert. Wie können sie da noch guten
Gewissens das Land regieren?
Borelli machte eine ausholende aggressive Handbewegung, streifte dabei kurz die
Brust der Journalistin, zuckte zurück, versuchte vergeblich ein herablassendes
Lächeln, dann bellte er die Frau an:
- Und Sie? Sie machen diesen Job auch schon zehn Jahre. Warum haben Sie denn
zum Klimawandel nie kritischen Fragen gestellt?
- Das ist nicht meine Aufgabe, antwortete sie mit provozierender Gelassenheit.
Politisch verantwortlich sind Sie.
274
- Was glauben Sie denn, hätte ich tun sollen? Öffentlich Italien zum gewissenlosen
Klimasünder erklären? Den Wählern sagen: Ihr müsst euch heute einschränken,
damit eure Nachkommen es in 50 oder 100 Jahren besser haben? Sie und ihre
Kollegen hätten mich doch zum Gespött der Nation gemacht.
- Trotzdem hätten Sie es tun sollen. Und Sie können es immer noch tun. Zum Beispiel
jetzt.
- Ausgerechnet Sie wollen mir das vorschreiben?
- Wenn Sie sich ihrer moralischen Verantwortung nicht stellen, dann sollten Sie die
politische Verantwortung abgeben. Auch das können sie jetzt erklären. Hier in dieser
Sendung.
Borelli verlor vollends die Fassung.
- Sie fordern mich also zum Rücktritt auf?, schrie er. Dann sollten Sie erstmal mit
gutem Beispiel vorangehen.
- Na gut, dann gehe ich voran. Ich habe Fragen, die ich in dieser Sendung hätte
stellen sollen, nicht gestellt. Daher erkläre ich hier meinen Rücktritt.
Und dann mit bohrendem Blick: Nun Sie.
- Über Ihren Rücktritt freut sich ganz Italien. Ich habe die Mehrheit der Wähler
hinter mir.
Die Interviewerin schwieg, aber sie hüllte ihr Schweigen in ein souveränes
herablassendes Lächeln, das die Kameras - im Wechsel mit Borellis hilflosen Gesten
der Empörung - minutenlag auskosteten.
Dies war natürlich ein journalistischer Coup. Nicht nur, weil hier ein führender
Politiker so gekonnt vorgeführt wurde wie selten zuvor. Es war auch ein Coup der
klimapolitischen Bewusstseinsbildung.
Ähnliches geschah kurz danach in den Vereinigten Staaten. Der
Präsidentschaftskandidat der Demokraten galt in Klimaschutzfragen als
unvoreingenommen, aber in der Öffentlichkeit hatte er sich nie ganz festgelegt. In
275
einem Hintergrundgespräch mit Journalisten ließ er seinen Gedanken dann etwas
freieren Lauf: Auch die Ölvorkommen der Vereinigten Staaten gingen rapide zur
Neige, auch für Amerikaner werde die Zeit billigen Benzins und billiger Energie bald
vorbei sein. Der amerikanische Lebensstil werde dann unbezahlbar werden. Die
Amerikaner müssten räumlich enger zusammenrücken, sagte er dann, sie müssten ein
Land der kurzen Wege werden, ihre Siedlungen und Häuser müssten kompakter
werden, und das sei längst nicht alles. "Und um all das zu ermöglichen, sagte er,
"werden wir unserem Staat viel mehr Geld geben müssen, als wir es bisher tun."
Ob es ein Versehen oder eine gezielte Indiskretion war, dass eine Bild- und
Tonaufnahme hiervon an die Öffentlichkeit gelangte, wurde nie geklärt, aber schon
die Spekulationen hierüber heizten die Erregung weiter an. Ein Aufschrei der
Empörung ging durchs Land. Der Kandidat zog sich schließlich aus dem Rennen um
die Präsidentschaft zurück. Viele engagierte Klimaschützer waren hierüber bestürzt,
aber Robert Yang war es nicht. Er sah sich nur bestätigt.
Die Auckland-Konferenz übertraf alle vorherigen Weltklimakonferenzen noch in
gleichgültiger Routine, und davon waren mittlerweile auch die zahllosen
zivilgesellschaftlichen Protestinitiativen angesteckt, die diese Konferenzen schon
lange begleiteten. Die einzige große Ausnahme hiervon war Yangs Global Upgrade.
Sie präsentierte sich bei der Auckland-Konferenz selbstbewusster denn je, und sie
stieß auf größere Resonanz denn je.
In Auckland verkündete Yang keine neue Botschaft, es war die gleiche wie vorher.
Er protestierte nicht gegen die Konferenzteilnehmer und deren Untätigkeit, er
protestierte gegen niemanden, er propagierte nur weiter seine besondere Art von
Protest. Schon im Vorfeld der Konferenz appellierte er wieder an die
zivilgesellschaftlichen Initiativen, von der Klimakonferenz nichts Konkretes zu
erwarten und von ihren Teilnehmern nichts Konkretes zu fordern. Wenn er überhaupt
eine Botschaft an die Teilnehmerstaaten hatte, dann hieß sie: Ihr hört uns nicht zu,
also reden wir nicht mit euch. Ihr alle seid Vertreter von Regierungen, die das
Problem nicht verstehen wollen oder können, egal, aus welchen Parteien ihr kommt.
276
Ihre alle seid Vertreter politischer Systeme, die Klimapolitik in die Hände
klimapolitischer Dilettanten legen. Wir machen euch deswegen keinen Vorwurf. Ihr
arbeitet in Systemen, die dem Problem nicht gewachsen sind, fachlich nicht,
moralisch nicht und politisch nicht. Nicht ihr persönlich führt die Welt klimapolitisch
an den Abgrund, die politischen Systeme tun es, auch die demokratischen.
Und an die zivilgesellschaftlichen Initiativen richtete er wieder die Botschaft:
Konzentriert euch auf den politischen Systemwandel.
Yang war klar, dass er mit solchen Forderungen die Geduld zivilgesellschaftlich
engagierter Bürger strapazierte. Auch denen fiel es verständlicherweise schwer, auf
persönliche Feindbilder zu verzichten, und die allerwenigsten waren daher bereit, die
Ursache des klimapolitischen Versagens im System der Demokratie zu sehen. Aber
Yang hatte auch Konkreteres zu bieten. In Auckland propagierte er zum ersten Mal
seine Idee einer virtuellen Weltklimaregierung. Dieses Gremium sollte
klimapolitische Entscheidungen simulieren, wie sie von den fachlich und moralisch
denkbar kompetentesten Instanzen getroffen würden.
Für diese virtuelle Weltklimaregierung schlug Yang eine konkrete
Organisationsform vor. Es sollte ein kleines und auf Dauer eingerichtetes Gremium
sein. Dessen Mitglieder sollten ausschließlich unabhängige Experten sein,
gestandene Klimawissenschaftler, die auf ihrem Gebiet nie für politische
Auftraggeber gearbeitet hatten und es nie zu tun versprachen. Diese Personen sollten
in einem speziell hierfür entwickelten Los- und Wahlverfahren bestimmt werden.
Und um schließlich die politische Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit dieser
Personen auch nach ihrer Wahl zu gewährleisten, sollten sie finanziell unabhängig
sein oder gemacht werden. Die Mittel dafür stünden bereit.
Yang war sich drüber im Klaren, dass ein solches Projekt nur gelingen könnte, wenn
es sehr geduldig vorbereitet würde. Er schätzte die Vorbereitungszeit auf neun Jahre.
2076, schlug er vor, könne eine solche virtuelle Weltklimaregierung vor die
Weltöffentlichkeit treten. Deren Vorschläge würden die Ergebnisse der
277
Weltklimakonferenzen dann endlich als das erscheinen lassen, was sie immer
gewesen seien: Dokumente organisierter politischer Unverantwortlichkeit.
2076 erschien noch weit hin, aber Yangs Ankündigung weckte zumindest große
Neugier. Global Upgrade wurde danach zu der von den Medien weltweit am meisten
beachteten zivilgesellschaftlichen Bewegung.
Schwache Cyberwehr
Dass der SPIEGEL Konzernbetrieb geworden war, hat ihm nicht nur geschadet. Dem
SPIEGEL war u.a. die Konzernabteilung Cyber Security zu Diensten, und deren
Spezialisten erneuerten die Cyberabwehr des SPIEGEL von Grund auf. Dabei
bereiteten sie auch Altfälle zur Schulung auf, vor allem natürlich den großen
Hackerangriff auf das Archiv. Dabei kam heraus, dass die Hacker damals
Insiderinformationen aus dem Verlag gehabt haben müssen, zumindest mit größter
Wahrscheinlichkeit. Danach wurden alle Führungskräfte, auch ich als Archivleiter,
befragt, ob sie einen Verdacht hätten. Alle verneinten, auch ich.
Aber einen leisen Verdacht hatte ich doch. Klaus, der Computernerd, hatte einige
Male beiläufig über Datensicherheit und Hackerabwehr gesprochen. Und später,
nach seinem Ausscheiden, erfuhr ich, dass er Mitglied im neu gegründeten Kaos
Computer Klub war. Die Hacker-Szene kannte er also. Aber war es vorstellbar, dass
ausgerechnet unser Klaus, der sympathische Hofnarr des Archivs, uns so
hintergangen hat? Dass er als Narr in Wahrheit doch ein Böser war? Ein Kauz war er
schon, das wusste ich, aber ein Komplize krimineller Hacker?
Ich wehrte mich mit aller Kraft dagegen, diesen Gedanken weiterzudenken.
Andererseits, überlegte ich dann: Haben die Hacker uns mir ihrer Attacke überhaupt
geschadet? Nein, sagte ich mir, das haben sie eigentlich nicht. Sie haben die Augen
der Welt für einen Moment auf den SPIEGEL gelenkt, sie haben uns aufgerüttelt,
und sie haben uns für unsere eigene Angreifbarkeit sensibilisiert. Der SPIEGEL war
danach weltweit noch bekannter, und wir waren am Ende viel besser geschützt.
278
Selbst wenn also Klaus in die Sache verwickelt war - konnte man ihm überhaupt
einen Vorwurf machen?
Mir ging der Vorfall natürlich nie ganz aus dem Sinn, und ich stellte auch immer
wieder Vermutungen zu den Tätern an. Am Ende wurde mir fast zur Gewissheit:
Täter, Mittäter oder Auftraggeber war ein Geheimdienst. Niemand sonst hatte ein so
klares Motiv, ein so selbstverständliches Interesse an unseren brisanten
Archivinformationen. Es konnte der BND gewesen sein, der Verfassungsschutz, ein
ausländischer Geheimdienst oder - noch wahrscheinlicher - der BND zusammen mit
einem ausländischen Dienst, der NSA oder dem GCHQ. Aber Klaus als Helfer eines
Geheimdienstes? Oder irgendein anderer Kollege? Nichts erschien mir jetzt
abwegiger.
Dass in einer digital bald lückenlos vernetzten Welt den Geheimdiensten eine immer
unheimlichere Macht zuwuchs, das war nichts Neues und nichts Besonderes mehr.
Das hatte auch ich inzwischen als Teil einer Entwicklung hingenommen, die
dennoch niemand würde rückgängig machen wollen. Niemand wäre darauf
gekommen, den Bürgern, dem Staat und der Wirtschaft ihre Internetverbindung zu
nehmen, nur um der digitalen Angreifbarkeit ein Ende zu machen. Aber unheimlich
blieb es doch. Ich fragte mich, ob, wenn nichts getan würde, dieses Problem immer
schlimmer und immer schwerer lösbar würde, ähnlich wie beim Klimaproblem. Aber
erst nach Jahren wurde mir klar, dass es hier tatsächlich einen engen Zusammenhang
mit Yangs Ideen zur Klimaschutzpolitik gab.
Yang hatte sich gefragt, ob der Klimaschutz bei den Regierungen dieser Welt in den
richtigen Händen liege. Die Erfahrung hatte ihm gezeigt: Nein, das tut er nicht. Dann
hatte er überlegt, wem sonst der Klimaschutz überantwortet werden sollte. Eine
solche Institution, so sah er es, gab es nicht. Also müsse eine solche Institution erst
geschaffen werden. Yangs Konzept: eine Art eigenständige Klimaregierung.
Ist es nicht, dachte ich, bei Cyber-Sicherheit und digitalem Datenschutz ganz
ähnlich? Regierung und Staat sollen auf diesem Gebiet alles Notwendige für uns tun,
279
was wir aus eigener Kraft nicht können. Aber sind Staat und Regierung hierin
wirklich kompetent? Und verfolgen sie hierin wirklich unsere Interessen? Wenn
Regierungen beim Klimaschutz versagen, können wir von ihnen dann bei der
Cybersicherheit Besseres erwarten? Könnte nicht beiden Problemen gemein sein,
dass unsere jahrhundertealten staatlichen Strukturen - auch und vielleicht besonders
die demokratischen - damit überfordert sind?
Und machen wir in Sachen Cybersicherheit und Datenschutz nicht sogar den Bock
zum Gärtner, wenn wir diese Aufgabe in die Hände unserer Regierungen legen? Hat
nicht der Staat, wie er ist, sogar ein naheliegendes Interesse daran, seine Cybermacht
zu missbrauchen? Müssen wir nicht hiervor am allermeisten auf der Hut sein? Die
viel zu späte Verleihung des Friedensnobelpreises an den schon todkranken Edward
Snowden sollte uns das in Erinnerung gerufen haben.
Wir wollen immer noch eine Welt, in der alles mit allem vernetzt ist und die für uns
immer transparenter wird. So vernetzt zu sein ist für uns fast ein Grundbedürfnis
geworden, aber dieses kollidiert mit anderen Grundbedürfnissen wie dem nach
Sicherheit, nach Privatheit und nach Intimität und mit dem Schutz geistigen und auch
materiellen Eigentums. Wenn die Vernetzung weiter zunimmt, nehmen auch die
Verletzlichkeiten zu.
Worum es hierbei für uns geht, das verstehen auch Laien wie ich, aber viel mehr
verstehen wir Laien davon nicht. Uns fehlen sogar die Worte und Begriffe, um über
Cybersicherheit treffend reden zu können. Wir können unser Vorstellungsvermögen
dafür nur mit Vergleichen stärken. Mir hilft es, über Cybersicherheit in den gleichen
Begriffen und Bildern zu denken wie über äußere und innere Sicherheit im alten
Sinne, mit Begriffen also wie Polizei und Streitkräfte. Ich stelle mir also vor, dass
wir eine Cyberpolizei und Cyberstreitkräfte brauchen. Cyberpolizei zum Schutz vor
inländischen Cyberangriffen, Cyberstreitkräfte zum Schutz vor Angriffen aus
anderen Ländern. Jüngere mögen ihre eigenen Begriffe dafür finden, aber für mich
versuche ich es erst einmal mit diesen.
280
In Yangs Sinne müssten wir uns demnach fragen: Wer sollte für eine Cyberpolizei
und Cyberstreitkäfte verantwortlich sein? Wer sollte deren politische Führung
haben? Wer sollte die dafür notwendigen Gesetze und Verordnungen schaffen?
Dieselben Politiker etwa, dieselbe politische Klasse, dieselben Geschöpfe unserer
Parteien, mit denen wir es in der Politik sonst zu tun haben? Lässt sich dauerhafte
verlässliche Cybersicherheit wirklich in den alten Strukturen schaffen, mit einem
neuen Ministerium oder neuen Abteilungen in alten Ministerien, z.B. im Innen- oder
im Verteidigungsministerium oder im Kanzleramt?
Der Einwand von Yang wäre: Fast überall auf der Welt gibt es für Klimaschutz
zuständige Behörden, aber geholfen hat es nicht. Der andere, nicht weniger wichtige
Einwand wäre: Dann würden uns Institution schützen, vor deren Macht wir
möglicherweise selbst Schutz brauchen. Die zwingende Schlussfolgerung aus beidem
ist: Auch für Cybersicherheit sollte eine ganz und gar eigenständige politische
Zuständigkeit geschaffen werden. "Etwa so wie früher die Bundesbank", war
Constanzes spontaner Kommentar, als ich ihr diesen Gedanken zum ersten Mal
vortrug.
So kompliziert hatte ich noch nicht gedacht, aber Constanze hatte natürlich Recht.
Aber auch dieser Gedanke wurde umso komplizierter, je länger ich mich damit
befasste. Was würden z.B. kleinere Nationen tun, die für eigene Cyberstreitkräfte
nicht genug Geld und nicht genug Wissen hätten? Sie müssten natürlich mit anderen
Nationen gemeinsame Cyberstreitkräfte einrichten. Dann aber würde sich, so
beschrieb Constanze es später, in Sachen Cybersicherheit eine eigene politische
Landkarte formen. Dass dies eine Landkarte des gegenseitigen politischen
Vertrauens sein würde, diesen Gedanken Constanzes habe ich nicht sofort
verstanden, aber heute versteht ihn wohl fast jeder.
Eines aber verstand ich umso rascher: Für verlässlichen Klimaschutz und
Datenschutz ist unsere Demokratie nicht gemacht, und sie wird diesen Aufgaben
vermutlich nie gerecht werden.
281
Das waren natürlich brisante Gedanken, viel brisantere sogar, als ich es damals
ahnte. Erst Jahre später erfuhr ich, dass ganz ähnliche Vorschläge seit Längerem zum
politischen Programm der Neokraten gehörten. Und fast zur gleichen Zeit kam
heraus: Keine deutsche Organisation, die Muslimisch Soziale Union ausgenommen,
wurde von den deutschen Geheimdiensten so gründlich überwacht wie die
Neokraten. Einen besseren Beweis für die Brisanz dieser Gedanken hätte es nicht
geben können.
Mit Milliardären aus der Systemkrise?
Die Auckland-Konferenz stand im Schatten noch brisanterer Ereignisse. In Ägypten
wurde erneut ein Aufstand von der Militärdiktatur blutig niedergeschlagen, der junge
islamische Staat, der sich im Zentrum Nordafrikas gebildet hatte, zerfiel nach
jahrlangem blutigem Bürgerkrieg, die Euro-Zone bröckelte an ihren südlichen
Rändern weiter ab, und in Amerika zerfiel endgültig das alte Parteiensystem. Nach
den Republikanern spalteten sich nun auch die Demokraten in zwei eigenständige,
etwa gleich starke Parteien auf.
Die Auflösung der Demokraten folgte auf einen Akt politischer Aufklärung. In den
sozialen Medien zirkulierte ein Dokumentarfilm über den Bildungs- und
Bewusstseinsstand amerikanischer Parlamentarier. Mindestens die Hälfte von ihnen
hing irgendeiner Überzeugung an, die schon im letzten Jahrhundert bei aufgeklärten
Bürgern als rückständig gegolten hatte. Sie waren z.B. gegen konsequenten
Klimaschutz, für die Todesstrafe, gegen Beschränkungen des privaten
Waffenbesitzes oder gegen die Evolutionstheorie im Schulunterricht. Mindestens die
Hälfte der Parlamentarier, so wurde es im Film kommentiert, vertrete also
Meinungen, die sie in vielen zivilisierten Ländern für jedes politische Mandat
disqualifizieren würden.
Vielleicht war es der aggressive Tonfall des Films, vielleicht aber erst die große
Resonanz hierauf, die zu einer breiten Solidarisierung mit den angegriffenen
Parlamentariern führte. In den Medien, von den Parteien und auch vom Präsidenten
282
wurde der Film als heimtückische Verunglimpfung unbescholtener Politiker
verurteilt. Zahlreiche Demokraten bekundeten dagegen Verständnis. Sie wollten von
diesem neuerlichen Ansehensverlust der politischen Klasse nicht betroffen sein.
Nach erbitterten innerparteilichen Auseinandersetzungen spaltete diese Minderheit
sich schließlich ab. Sie gründete ihre eigene Partei, und sie gab ihr den Namen Neue
Demokraten. Schon in ersten Umfragen lagen danach die Neuen Demokraten und die
alten fast gleichauf. Den alten Demokraten hielten vor allem die traditionellen
Milieus ethnischer Minderheiten die Treue.
Die Neuen Demokraten gewannen rasch potente Förderer, darunter ein knappes
Dutzend liberal gesinnter Superreicher und viele vermögende Familien mit
asiatischem Hintergrund. Es gab in Amerika nun vier annähernd gleich starke
Parteien, alte und neue Republikaner und alte und neue Demokraten, von denen jede
ihre eigenen regionalen Wählerhochburgen hatte. Amerika driftete damit nicht nur
im politischen Bewusstsein weiter auseinander, es begann auch eine neue
Entfremdung zwischen Regionen.
In Deutschland war in dieser Zeit die Muslimisch Soziale Union in den Schlagzeilen.
Sie hatte bei der letzten Wahl viele nichtmuslimische Protestwähler gewonnen und
ihr Wahlergebnis damit fast um ein Drittel gesteigert. Bei den etablierten Parteien
herrschte darüber noch immer stummes Entsetzen. Trotzdem machten SPD und
Grüne noch einmal einen Versuch, mit der MSU Koalitionsverhandlungen zu führen.
Dabei brach in der MSU ein heftiger innerparteilicher Machtkampf aus. Der
stellvertretende Vorsitzende, ein begnadeter Demagoge und Fundamentalist, warf die
Frage auf, was die Partei eigentlich im Parlament wolle. Dort habe man ihr noch nie
zugehört, rief er den Parteitagsdelegierten zu, und dort werde man ihr auch nie
zuhören. Verschwendet eure Energien nicht in Parlamentsarbeit und Wahlkämpfen,
rief er, kämpft für euren Glauben in der Mitte der Gesellschaft. Innerhalb weniger
Monate scharten sich fast die Hälfe der MSU-Mitglieder hinter dem stellvertretenden
Vorsitzenden. Sie gründeten innerhalb der Partei die außerparlamentarische
muslimische Plattform.
283
Dies weckte bei den anderen Parteien, bei den Bürgern und den Medien natürlich erst
recht Ängste. Viele Bürger hatten das Bild einer muslimischen
außerparlamentarischen Opposition vor Augen, die ähnliche Schrecken verbreiten
würde wie im vorigen Jahrhundert die so genannte Rote Armee Fraktion. Die
Mehrheit dachte: Es kann so nicht weitergehen. Aber zugleich: Niemand tut etwas
dagegen.
In dieser unruhigen Weltlage für ein so anspruchsvolles Projekt wie die virtuelle
Weltklimaregierung breite Aufmerksamkeit zu gewinnen, das konnte eigentlich nur
aussichtslos erscheinen. Umso bemerkenswerter, dass Robert Yang genau dies eine
Zeitlang gelang.
Yang hatte jetzt 17 Jahre aufreibender politischer Aktionsarbeit mit vielen
Enttäuschungen hinter sich. Am Sinn dieser Arbeit hatte er nie gezweifelt, aber
zunehmend doch am Erfolg, gerade in den Jahren vor Auckland. Der AucklandAuftritt gab ihm neue Zuversicht. Ohne die Erfahrung der letzten 17 Jahre, sagte er
noch während der Konferenz, stünde er hier auf verlorenem Posten, aber jetzt sei er
sich seiner Sache sicherer denn je. Man werde Wichtiges bewirken, aber das
wichtigste Mittel dazu werde nicht lauter Protest sein.
Mehr als zehn Jahre war Yang in der Welt herumgereist, um Mitstreiter und
Sympathisanten zu gewinnen, Organisationsstrukturen zu schaffen und Kontakte zu
Sponsoren aufzubauen. Immer hatte dabei das Organisieren und Koordinieren von
Protesten im Mittelpunkt gestanden. Genau das aber, erklärte er später einmal, sei
vielleicht sein größter Fehler gewesen.
Mit seinen jüngsten Themenwechseln hatte Yang viele Sympathisanten, Mitstreiter
und Förderer irritiert. Für die meisten war er immer noch der große Umwelt- und
Klimaschutzaktivist. Dass für ihn das Thema Selbstbestimmung über die
Staatszugehörigkeit nun ebenso wichtig geworden war, wollten immer noch die
wenigsten wirklich wissen. Auch nicht, dass er mehr denn je an der herkömmlichen
Demokratie zweifelte.
284
Für Separatistenversteher und Demokratieskeptiker war es damals viel schwerer,
Unterstützer und Förderer zu finden, als für Klima- und Umweltaktivisten. Als Yang
nicht nur die Demokratiekritik, sondern auch das Thema Separatismus zunehmend
offensiv vertrat, schwächte dies seine Bewegung über Jahre. Viele Anhänger von
World Upgrade sympathisierten zwar mit der einen oder anderen separatistischen
Bewegung, aber umso entschiedener verurteilten sie alle anderen. Den meisten war
noch jeglicher Separatismus suspekt, und vielen auch immer noch die
Demokratieskepsis.
Nicht anders war es bei den Geldgebern. In seinen Präsentationen für die Reichen
und Superreichen war Yang mit kontroversen Themen immer sehr bedächtig
umgegangen, und so hatte er zahlreiche potente Spender gewonnen und bei Laune
gehalten. Word Upgrade schwamm im Geld und in Geldzusagen. Zu Puigs Millionen
waren zuerst die vielen Millionen hinzugekommen, die Halsdorf bei den SamwerBrüdern und einem halben Dutzend anderen deutschen, schwedischen und
niederländischen Superreichen akquirierte. Aber bald war Yang in den USA und
Kanada im Fund Raising ebenso erfolgreich. Eine Zeitlang drängten Superreiche der
Internet- und Softwarebranchen World Upgrade das Geld geradezu auf.
Später nannte Yang diese Zeit seine verlorenen Jahre. Was sollte er mit dem vielen
Geld anstellen? Der Aufbau seiner Bewegung stockte, die globalen Protestaktionen
zum Klima- und Umweltschutz ließen sich kaum noch sinnvoll steigern, und die
Themen Demokratiekritik und politische Selbstbestimmung konnten nur behutsam in
Stellung gebracht werden. Irgendwann wurde Yang klar, dass er seine Bewegung
vorerst nicht weiter ausweiten durfte. Nun konzentrierte er sich erst einmal auf
Grundsatzfragen. Wie passten seine zwei großen Themen eigentlich zusammen? Was
hatten sie gemeinsam? Und würden sie je unter dem Dach einer einzigen großen
Bewegung zusammenfinden können?
Dass mit der Demokratie etwas Grundlegendes falsch sei, dafür war das Versagen im
Klimaschutz ihm fast schon Beweis genug gewesen, und das Versagen der
Demokratie in der Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit zerstreute bei ihm
285
den letzten Zweifel. Aber was verband diese beiden Probleme? Gab es den einen
Schalter im System, der umgelegt werden müsste, um beide zu beheben? Natürlich
nicht. Beide Probleme, das immerhin wusste Yang, hatten ihre Ursachen im
politischen System, bei beiden ging es also um Verfassungsfragen. Das war eine
wichtige Gemeinsamkeit, aber es war auch die einzige.
An der Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit fehlte es, weil demokratische
Staaten ihre Bürger hierüber nicht frei entscheiden ließen. Sie stellten den Bürgern
hierzu entweder gar keine Fragen oder falsche. Der Fehler war hier offensichtlich ein
Zuwenig an Bürgerbeteiligung. Ganz anders in der Klimafrage. Hier lag die
Problemlösung nicht in der Bürgerbeteiligung. Hier würde es nicht helfen, die Bürger
immer wieder nach ihrer aktuellen Meinung zu fragen, z.B. darüber, wie stark, wie
schnell, womit und von wem klimaschädliche Immissionen reduziert werden sollten.
Hier war der Fehler ein Mangel an Kompetenz und Verantwortlichkeit. Hier legte die
Demokratie die Entscheidungen in falsche Hände, in die Hände von kurzsichtigen
Dilettanten statt von langfristig denkenden, verantwortungsvollen Experten. Die
Demokratiekritik, folgerte Yang, würde daher zwei ganz verschiedene Ansätze
gleichzeitig verfolgen müssen: Im Einen mehr Entscheidungsfreiheit für Bürger, im
Anderen mehr Entscheidungskompetenz für Experten.
Vom alten, aber immer noch energischen Puig hatte Yang sich überreden lassen, sich
eine Zeitlang ganz auf das Thema Bürgerentscheidungen zu konzentrieren. Die
beiden waren sich einig, dass politische Unabhängigkeitsbewegungen umso
erfolgreicher wären, je genauer sie den Bürgerwillen repräsentierten. Dafür aber
müssten sie erst einmal den Bürgerwillen möglichst genau ermitteln, was am
zuverlässigsten mit Referenden gelinge. Unabhängigkeitsbewegungen dürften es sich
daher nicht mehr gefallen lassen, dass Referenden vom Staat genehmigt werden
müssen. Sie müssten also Referenden aus eigener Kraft durchführen können. Das, so
Puig, habe ihn auch die Erfahrung gelehrt. Wie sich solche Referenden ohne Zutun
des Staates durchführen ließen, wisse auch er noch nicht, aber unmöglich könne es
doch nicht sein. Dann kam das Argument, das für Yang das entscheidende war:
286
Wenn Unabhängigkeitsbewegungen jederzeit eigene Referenden durchführen
könnten, dann würden sie nicht nur ihre Ziele schneller erreichen. Dann würden die
Staatsbürger dieser Welt ihre Staatszugehörigkeit weniger denn je noch als Schicksal
hinnehmen, und dann könnten daher viele neue Unabhängigkeitsbewegungen
entstehen.
Dies war der Impuls, der bei Yang noch mehr Energien in Sachen
Unabhängigkeitsreferenden wachsen ließ. Jetzt endlich kam in das Projekt der
Online-Referenden, für das Puig schon seine ersten Millionen bereitgestellt hatte,
neue Bewegung. Yang hatte sich nach seinen Anfragen bei indischen SoftwareUnternehmen schon darauf festgelegt, diese Softwareentwicklung an Prabas zu
vergeben, seinen Studienfreund, der in Bangalore eine große
Softwareentwicklungsfirma aufgebaut hatte. Nun schickte er Prabas eine aktualisierte
Projektskizze.
Die Antwort kam postwendend. Natürlich, schrieb Prabas, sei er bei diesem
spannenden Projekt weiter dabei. Er sehe die Probleme, aber unlösbar seien sie nicht,
dessen sei er ganz sicher. Dass seine erste Kostenschätzung nicht zu halten sei, dass
wisse Yang ja schon, aber er werde die Schätzung nun schnell aktualisieren. Die
Entwicklungszeit schätze er jetzt überschlägig auf drei bis vier Jahre. Er melde sich
bald wieder.
Welcher Glücksfall Prabas für dieses Projekt war, das erkannte Yang, als die nächste
Mail kam:
Lieber Robert, deine Idee mit der Referendumssoftware gefällt mir immer besser. Die
Idee könnte auch für Indien einmal wichtig werden. Indien hat ja seine eigenen
Katalanen, seine Basken, seine Flamen usw. Ich selbst gehöre dazu.
Wahrscheinlich hast du keine Vorstellung davon, wie viele Inder sich für solche
Referenden später einmal interessieren könnten. Nicht viel weniger, als Europa
Einwohner hat! Aus solchen Referenden könnte also eines Tages eine neue
Landkarte des indischen Subkontinents hervorgehen. Und das - das ist das
287
Faszinierende daran - ganz friedlich. Ich bin also mit großer Begeisterung dabei.
Für euch, aber auch für Indien.
Darunter als PS:
Noch scheinen solche Ideen im Westen besser zu gedeihen als bei uns. Aber auch das
wird sich ändern.
Das Referendumskonzept war eines jener bedeutenden Vorhaben, die vielleicht nie
gestartet worden wären, wenn ihre Initiatoren Schwierigkeiten, Kosten und
Zeitaufwand im Vorhinein auch nur annähernd erahnt hätten. Nach vier Jahren
Entwicklungszeit waren zwanzig Millionen Dollar verbraucht, zehn davon Puigs, die
anderen zehn, wie Yang später offenbarte, von einem amerikanischen Spender, der
nicht einmal genau wusste, worum es ging. Nach fünf Jahren wurde eine Testversion
in einem ersten Großversuch eingesetzt. Nicht in Katalonien, sondern in Estland.
Bis dahin hatte man fast überall auf der Welt geglaubt, dass Onlinereferenden nicht
viel anderes seien als herkömmliche Meinungsumfragen. Auch ein kleines Team in
der SPIEGEL-Redaktion hatte sich irgendwann damit befasst, und das Resümee war,
dass allenfalls ein eigensinniger Superreicher sich an eine solche Entwicklung
heranwagen könnte. Heute ist klar, dass Online-Referenden mit Prabras' Software
Ergebnisse liefern, die Wahlergebnissen in Zuverlässigkeit nicht nachstehen. Dass
sie auch eine starke Waffe in der Hand von Unabhängigkeitsbewegungen und
zivilgesellschaftlichen Organisationen sein würden, das hätte man aber schon viel
früher erkennen sollen.
Der Test der Referendumssoftware in Estland war ein Erfolg. Er sollte wirklich nicht
mehr sein als ein Funktionstest, aber er machte dort den Weg für neue Überlegungen
zum Status der russischen Minderheit frei. Der alte Puig drängte danach natürlich auf
ein Referendum in Katalonien, aber es zeigte sich, dass die Katalanen in der
Unabhängigkeitsfrage mittlerweile zermürbt waren. Die Hoffnungen, der spanische
Staat werde irgendwann doch den Weg für ein legales Referendum öffnen, war nach
288
jahrzehntelangen fruchtlosen Anläufen geschwunden. Ende der fünfziger Jahre
spielte das Unabhängigkeitsthema in Katalonien kaum noch eine Rolle.
Eine neue Idee, wie sich Prabras' Konzept doch auch in Katalonien einsetzten ließe,
kam dann Alex Vidal, einem jungen katalanischen Freund Puigs, Anfang der
sechziger Jahre. Vidal setzte an der Monarchiefrage an. Im Sommer 2060 hatte eine
unbedachte Bemerkung des schon leicht dementen Königs Felipe das Thema
Monarchie in Katalonien neu aufleben lassen. Er habe immer der König aller Bürger
Spaniens sein wollen, hatte Felipe gesagt, sogar der Katalanen. Für die Katalanen
war das natürlich ein Affront.
Das Verhältnis zwischen Katalanen und Felipe war schon lange gespannt gewesen.
In den vierziger und fünfziger Jahren hatten sich in ganz Katalonien unterschwellig
leichte antimonarchistische Stimmungen verbreitet. Wenn überhaupt einen König,
meinten immer mehr Katalanen, dann nicht diesen, aber warum überhaupt einen? In
den sozialen Netzwerken kursierte der Schnappschuss eines mürrischen, ungepflegt
aussehenden, schlecht rasierten Felipe mit der Unterschrift: El nostre Rei no ets.
Unser König bist du nicht.
Lass uns diese Stimmung nutzen, schlug Puigs Freund Vidal vor, der Weg zur vollen
politischen Unabhängigkeit ist weit, versuchen wir es doch erst einmal mit dem
Naheliegenden, versuchen wir, uns erst einmal von der spanischen Monarchie zu
lösen. Puig war noch skeptisch, aber Yang, der Stratege, pflichtete Vidal sofort bei.
Es komme in dieser Phase nicht darauf an, Begeisterungsstürme zu entfachen, viel
wichtiger sei es, möglichst wenig Widerstände zu wecken. Deswegen sei es in der
Tat klug, sich bei einem ersten Online-Referendum ganz auf das Thema Monarchie
zu beschränken.
Von Yang kam dann der Vorschlag, das Referendum unter das schlichte Motto No
pagarem per la seva monarquia - Wir zahlen nicht für eure Monarchie zu stellen.
Katalonien könne seinen Kostenanteil am Unterhalt der Monarchie dem spanischen
Zentralstaat vorenthalten, z.B., indem alle Katalanen einen Promillesatz ihrer
289
Einkommensteuer einbehielten. Das sei zwar nicht mehr als ein Nadelstich,
garantiere dem Thema aber hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Ob Felipe sich danach
weiter als König auch der Katalanen ausgeben werde, wisse man nicht, aber es würde
ihm damit zumindest verleidet.
Die Zeit war reif dafür. Für den greisen Felipe gab es keinen würdigen Nachfolger.
Sein Sohn, ein kontaktscheuer Psychiater, hatte die Thronfolge nie gewollt, seine
Tochter war eine krankhaft schüchterne Frau ohne jedes Charisma. Gründe genug für
die Abwendung von der spanischen Monarchie.
Und wenn ihr wollt, hielten Puig und Vidal ihren wenigen noch skeptischen
Landsleuten dann noch entgegen, könnt ihr euch später irgendwann einen eigenen
zivilen König wählen. Ein Argument, von dem viele sich angesprochen fühlten.
Das Referendum wurde ein spektakulärer Erfolg. Felipe schwieg danach über die
Katalanen, und die Katalanen schwiegen über Felipe. De facto war die Monarchie für
Katalonien damit abgeschafft.
Die Weltöffentlichkeit reagierte gespalten. In den Medien wurde die Aktion vielfach
als politisches Bravourstück gewürdigt, von Politikern westlicher Ländern wurde sie
fast ausnahmslos als illegitim und respektlos verurteilt. In Katalonien aber machte sie
den Willen zur politischen Unabhängigkeit stärker denn je. Wir holen uns die
Unabhängigkeit stückweise, das war die neue, von Vidal, Puig und Yang propagierte
Losung, in die fast alle Katalanen einstimmten. Dies entsprach ziemlich genau der
Vorstellung von politischer Selbstbestimmung, die Hauser in den zwanziger Jahren
skizziert hatte, aber das fiel mir erst viel später ein.
Auch in ganz Spanien hatte sich lange vor dem katalanischen Online-Referendum
Gleichgültigkeit gegenüber der Monarchie breitgemacht, aber das Vorgehen der
Katalanen drehte die Stimmung. Es weckte bei vielen Spaniern neue Loyalität mit
ihrem alten König. Vereinzelt kam es sogar zu promonarchistischen
Massendemonstrationen. Diesen Stimmungsumschwung wollten spanische Politiker
nutzen, um die Stellung der spanischen Monarchie neu zu festigen. Woher dann der
290
Vorschlag kam, hierfür ein ebensolches Online-Referendum abzuhalten wie in
Katalonien, wurde nie ganz geklärt, aber ich will bis heute nicht von dem Gedanken
lass, dass Puig, Vidal und Yang dahinter gesteckt haben könnten. Wenn es so war,
dann war es eine geniale List.
Das Referendum fiel aus, wie alle es erwartet hatten. Die neu erwachte Loyalität mit
dem König führte zu einer klaren promonarchistischen Mehrheit. Danach sahen die
meisten Spanier ihre Monarchie auf absehbare Zeit gesichert, aber das schien nur so.
Das viel wichtigere Ergebnis dieses Referendums war etwas ganz anderes. Mit
diesem Referendum war genau das Tabu gebrochen, das die Existenz der Monarchie
sicherte. Nach diesem Referendum war klar: Es muss nicht das letzte seiner Art
gewesen sein. In Spanien würde in Zukunft kein Monarch mehr davor sicher sein,
durch ein Referendum de facto abgesetzt zu werden. Spanien war damit keine
gesicherte Erbmonarchie mehr. De facto war gab es schon eine Wahlmonarchie.
Was dies für die Ordnung der Staatenwelt langfristig bedeuten könnte, ahnten
zunächst nur wenige. Es war nur ein kleiner, fast unscheinbarer Eingriff in die
politische Ordnung, aber es war einer, der die Möglichkeit viel größerer
Veränderungen zumindest aufscheinen ließ. Yang machte sich sofort daran, mit
Aktionen in anderen Monarchien dieser Welt für weitere solche Referenden zu
werben. Auch einige Medien widmeten sich eine Zeitlang dem Thema. Im SPIEGEL
erschien - 15 Jahre, nachdem ich das Thema der Redaktion nahgelegt hatte - eine
Artikelserie mit dem Titel Von der Zwangsmonarchie zur Wahlmonarchie. Wie man
die Monarchie abschafft und gleichzeitig rettet.
Die Themen der einzelnen Artikel waren:
- Wenn Thronfolger sich einem Referendum stellen. Wie aus der Erbmonarchie eine
Wahlmonarchie wird.
- Trennung von Monarchie und Politik. Das Überleben der Monarchie als
Identifikationsinstanz.
- Monarchiesteuer. Wie eine erneuerte Monarchie sich finanzieren kann.
291
- Sport, Kultur und kollektives Gedenken. Die neuen Aufgaben repräsentativer
Monarchen.
So anspruchsvolle Beiträge hatte ich vom SPIEGEL seit Langem nicht mehr
erwartet, aber hier zeigte die Redaktion noch einmal Größe. Umso heftiger war dann
der SPIEGELinterne Streit darüber, ob dieses Thema das deutsche Publikum
wirklich interessierte. Die Schwesterverlage des Konzerns in Spanien und anderen
Ländern lehnten eine Übernahme des Themas ab.
Chinesische Visionen
Yang hatte seine spendablen Milliardäre überschätzt. Sie alle hatten Großes geleistet,
keiner von ihnen hatte seine Milliarden geerbt, keiner von ihnen verdankte sie
gewieften Spekulationen, alle waren mehr oder weniger visionäre
Unternehmergründer gewesen. Dass sie sich aber - von Puig abgesehen - auch in der
Politik auf Visionäres würden einlassen wollen, darauf hätte Yang dann doch nicht
hoffen dürfen.
Constanze ist eine, die es besser gewusst hätte. Ihre Masterarbeit hatte sie über Genie
und Kalkül großer Unternehmensgründer geschrieben, und sie war dem Thema
verbunden geblieben. Das Genie der Gründer, hatte sie mir einmal erklärt, sei etwas
anderes als das Genie von Erfindern. Gründergenie, das sei vor allem Energie und
Konzentration und die Fähigkeit, sich einer bestimmten Aufgabe bedingungslos zu
verschreiben. Solches Genie lasse sich nicht auf andere Aufgaben übertragen, schon
gar nicht von der Wirtschaft auf die Politik, und es lasse sich auch nicht ins Alter
hinüberretten.
Mit ihrem Verständnis von Wirtschaft hatte Constanze mir manches Mal auch Politik
verständlicher gemacht. Sie hatte mir z.B. erklärt, dass in der Wirtschaft das Neue
fast immer Einzelleistungen zu verdanken ist, den Leistungen von Erfindern oder
von Gründern, von Berühmtheiten wie Henry Ford, Ferdinand Porsche, Dietmar
Hopp, Bill Gates, Steve Jobs, Jeff Bezos, Larry Page, Sergey Brin, Mark Zuckerberg,
292
Larry Ellison, Jack Ma und von zahllosen Unbekannten. Schon immer sei es im
Übrigen so gewesen, dass es die Gründer in der Wirtschaft dorthin ziehe, wo sich am
meisten bewegen lasse, in zukunftsträchtige Branchen. Gründernaturen hätten dafür
einen sicheren Instinkt. Und dann sagte sie:
- In der Politik gibt es keine Gründer mehr. Schon gar nicht in der Demokratie.
Sie sagte es so beiläufig, dass ich kaum darauf achtete. Es dauerte Monate, bis mir
die Bedeutung dieses Satzes richtig klar wurde. Gründernaturen zieht es dorthin, wo
sich viel bewegen lässt, zu zukunftsträchtigen Aufgaben. Wenn es in demokratischer
Politik keine Gründer mehr gibt, dann bedeutete dies, dass sich in demokratischer
Politik nicht mehr viel bewegen lässt. Dann ist demokratische Politik nicht mehr
zukunftsträchtig.
Es war nicht so, dass es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Ganz neu war mir der
Gedanke natürlich nicht, schon wegen Hauser, aber er warf ein Schlaglicht auf
Bekanntes. In demokratischer Politik lässt sich viel weniger bewegen, als bewegt
werden müsste, daher zieht es diejenigen, die dort am dringendsten gebraucht
würden, nicht dorthin. In diesen wenigen Sätzen klang es so klar und einleuchtend,
so passend zu allem, was die Demokratien des 21. Jahrhundert bisher geboten hatten,
und genau deswegen so erschütternd. Demokratische Politik ist wie Wirtschaft ohne
Gründer, wie eine stagnierende Wirtschaft also, und Parteien, Parlamente und
Regierungen sind Nachlassverwalter von politischen Erfindern und Gründern
vergangener Jahrhunderte.
Als ich Constanze vor einigen Jahren an dieses Gespräch erinnerte, machte sie dazu
noch eine brisante Bemerkung. Das große Land der Gründer, sagte sie, könnte im 21.
Jahrhundert China sein.
- Du meinst, in der Wirtschaft, sagte ich.
- Vielleicht ja auch in der Politik, antwortete sie.
Ich war nie in China gewesen, nicht einmal, als unsere Zwillinge dort ihre langen
Praktika machten, und auch nicht in meinen frühen Pensionärsjahren, als Hilke,
293
meine Frau, viele Male auf eine China-Reise drängte. Als ehemaliger Archivar hatte
ich zu China meine Informationsquellen, und mehr, dachte ich, müsse ich über China
nicht wissen. Mit eigenen Augen müsse ich es nicht gesehen haben.
Ich wusste, dass China nach der Jahrhundertmitte zu den reichen europäischen
Staaten im Wohlstand aufgeschlossen hatte, dass das Wachstum danach abgeflacht
war und dass Europa, Japan, die Vereinigten Staaten und China sich wirtschaftlich
inzwischen etwa gleichauf entwickelten.
Politisch war es in China turbulenter zugegangen. China war von seiner so genannten
kommunistischen Partei weiter fast wie ein Unternehmen geführt worden,
ideologiefrei, professionell und unübersehbar erfolgreich. Aber Ende der fünfziger
Jahre erlebte das chinesische Einparteienregime die erste ernste Krise dieses
Jahrhunderts. Die Konjunktur war eingebrochen, und neue Korruptionsskandale
hatten das Vertrauen der Bürger erschüttert. Im Westen wurde wieder einmal über
das Ende des politischen Systems in China spekuliert. China, meinten renommierte
China-Kenner, befinde sich in einer ähnlichen Phase wie Russland zu Zeiten Jelzins.
Ein sehr wahrscheinliches Szenario sei, dass demnächst ein chinesischer Putin die
Weltbühne betreten werde, der dann mit Russland ein antiwestliches Bündnis zu
schmieden versuche.
Chinas nächster Staatspräsident, der kommende mächtigste Mann der Welt, ein
Gesinnungsnachfahre Putins? Dieses Schreckensszenario versetzte die westliche
Welt in Panik. Die Vereinigten Staaten, Europa und Verbündete rüsteten sich für
einen neuen kalten Krieg, die Rüstungsetats westlicher Länder wurden aufgestockt,
Japan, Südkorea und Australien in die Nachfolgeallianz der NATO aufgenommen.
Mit Indien wurden bilaterale Beistandsverträge geschlossen, und in den bis dahin
wirtschaftlich eng mit China verbundenen Ländern Afrikas starteten westliche
Länder neue Initiativen, um den chinesischen Einfluss einzudämmen. Auch ich
entzog mich dieser Stimmung nicht. Auch ich presste China in diese Schablone
westlichen Denkens, trotz Tian.
294
Als ein paar Jahre danach die westliche Angst vor China eine Pause machte, fragte
Hilke mich, ob nun nicht doch die Zeit gekommen sei für die immer wieder
aufgeschobene China-Reise.
- In unserem Alter?, fragte ich. Hilke und ich als China-Touristen, das war mir noch
immer nicht geheuer.
- Warum nicht?, fragte sie. Soweit sie wisse, habe Helmut Schmidt seine letzte
China-Reise mit zweiundneunzig gemacht, ich sei erst vierundsiebzig. Also wann,
wenn nicht jetzt?
Ich brauchte zwei Tage Bedenkzeit. China sehen, das war für mich noch immer nicht
das Ziel, aber noch einmal Tian treffen, zum vielleicht letzten Mal? Und erfahren,
was Tian, der vielleicht auch schon Rentner war, in diesen Zeiten über sein Land und
über den Westen dachte? Natürlich, das würde eine so weite Reise wert sein. Ich
schickte eine Mail an Tian, dann machte ich mich daran, die Reise zu planen.
Zwei Wochen später landeten wir in Peking. In der Ankunftshalle kam Tian mit
einem milden Lächeln auf mich zu. Ein Lächeln, dachte ich zuerst, aus Mitleid mit
einem alten Mann auf anstrengender Reise, aber dann merkte ich, wie ich sein mildes
Lächeln spontan erwiderte. War es die gemeinsame Erinnerung an viele gemeinsame
Gedanken der letzten vierzig Jahre? War es die Erwartung, nach so vielen Jahren
politische Altersweisheit miteinander zu teilen? Aber konnte der fünf Jahre jüngere
Tian sich wirklich schon altersweise fühlen? Schon möglich, dachte ich, schließlich
hatte er schon als junger Mann eine Ernsthaftigkeit ausgestrahlt, als hätte er ein
halbes Dutzend Jugendjahre übersprungen. Aber war er überhaupt schon im
Ruhestand? Hatte er schon den Schub an Altersweisheit erlebt, der Pensionären
vorbehalten ist? Oder war er noch immer ein Glied im Getriebe der chinesischen
Think-Tank-Industrie?
Wir blieben kurz voreinander stehen, beide etwas verlegen, weil uns von dem vielen,
was wir einander in diesem Moment hätten sagen wollen, der passende erste Satz
295
nicht einfiel. Dann ein flüchtiger Händedruck, eine angedeutete Umarmung. Dann
fragte ich:
- Bist du auch schon im Ruhestand?
Tian sah mich mit mildem, nachsichtigem Lächeln an.
- Das erkläre ich dir gleich, sage er dann.
Die Taxifahrt zum Hotel dauerte im Pekinger Dauerstau eine halbe Ewigkeit. Tian
stellte Hilke einige höfliche Fragen, während ich noch immer mit meiner
ungeschickten Begrüßungsfrage haderte. Aber dann begann er so selbstverständlich
über Arbeitsleben und Ruhestand im Alter zu reden, als wäre ich für nichts anderes
nach Peking gekommen. Und schon war es wieder wie früher so oft: Wir redeten
über eine spröde Materie und spürten dabei eine große Nähe.
- Ob ich im Ruhestand bin, wolltest du wissen?, fragte er.
Und dann, ohne meine Antwort abzuwarten:
- Ist denn euer Rentensystem immer noch wie vor dreißig Jahren?
Dabei sah er mich an, wie um sich der Wirkung seiner Frage zu vergewissern.
- Im Großen und Ganzen, ja, sagte ich.
- Schade, sagte er. Und nach einer kurzen Pause: Aber das habe ich befürchtet.
Dann erklärte er mir, dass in Chinas neuem Rentensystem jeder selbst darüber
bestimme, wie viel und wie lange er im Alter arbeite. Er zum Beispiel sei, was man
in China jetzt einen Viertelrentner nenne.
Auf meine Frage, was das denn sei, antwortete er, das sei im Prinzip ganz einfach.
Chinesische Viertelrentner arbeiteten ein Viertel weniger als vorher, und sie
bekämen halb so viel Geld wie vorher. Das machten viele in seinem Alter so. Man
könne Viertelrentner natürlich auch Dreiviertelbeschäftigte nennen, aber
Viertelrentner sei der handlichere Begriff, auch auf Chinesisch, das habe sich so
durchgesetzt.
296
- Und zusätzliche Rente bekommst du zu deinem halben Lohn nicht?, fragte ich.
Nein, noch nicht, sagte er, das habe er sich für später aufgespart. Je später er Rente
beziehe, desto höher sei sie natürlich.
- Viertelrentner zum halben Lohn also. Ist das bei euch die Alternative zum
Vollrentner?
Natürlich nicht die einzige, sagte er. Er hätte z.B. auch Halbrentner werden können,
dann bekäme er jetzt ein Drittel seines früheren Gehalts, aber zumindest theoretisch
gebe es im chinesischen Rentensystem unendlich viele Alternativen. In diesem
System hätten die Rentner also viel mehr Wahlmöglichkeiten als bei uns.
Das klinge ja eigentlich gut, sage ich, aber irgendeinen Haken müsse es diesem
System geben.
Das wolle er nicht ausschließen, sagte Tian, aber bisher habe noch niemand einen
solchen Haken entdeckt.
Ganz durchschaute ich es in diesem Moment nicht, aber ich fühlte mich sofort an
Constanzes Gedanken über das Arbeiten im Alter erinnert. Ich hätte mir gewünscht,
Constanze wäre bei diesem Gespräch dabei gewesen, aber so mühte ich mich allein,
dem eventuellen Haken am chinesischen Rentensystem auf die Spur zu kommen.
Aber welche Fragen ich auch stellte, Tian hatte immer überzeugende Antworten.
Hatte China, bisher fast unbeachtet von der westlichen Welt, in wenigen Jahrzehnten
ein Rentensystem geschaffen, wie Deutschland es in anderthalb Jahrhunderten nicht
einmal annähernd zustande gebracht hatte? Eines, das den chinesischen Rentnern die
denkbar besten Wahlmöglichkeiten bot, die denkbare größte Flexibilität am Ende
ihres Arbeitslebens und zugleich eine faire Lastenverteilung zwischen den
Generationen? War also das chinesische Rentensystem genau dasjenige, das wir in
Deutschland bekämen, wenn wir wirklich noch einmal ganz von vorn anfangen
könnten? Noch während der Taxifahrt ging mir durch den Kopf, wie die
Systembewahrer der deutschen Politik das chinesische System in den Medien
zerreden würden, wenn es für Deutschland ins Gespräch gebracht würde. Der
297
Viertelrentner, von dem Tian mit beinahe liebevollem Stolz sprach, würde dem
hämischen Spott der deutschen Meinungsführer ausgesetzt. Es würde von
chinesischen Schrumpfrentnern die Rede sein, die sich in Deutschland niemand
wünschen könne, und alle Hinweise auf die viel größeren Wahlfreiheiten und die
Fairness und Nachhaltigkeit des chinesischen Systems würden dabei untergehen. Ich
war mir sogar sicher, dass selbst die IG SENIOREN hierin einstimmen würde.
Mir kamen dabei Constanzes Gedanken über politische Gründer in den Sinn. Waren
in der chinesischen Rentenpolitik Gründer am Werk gewesen, wie demokratische
Politik sie nicht mehr hervorbringen kann? Herrschte ausgerechnet in der nach außen
hin so erstarrten chinesischen Einparteienherrschaft mehr politischer Gründergeist
als in der westlichen Parteiendemokratie? Wenn es so war, dann war es erschütternd
für die Demokratie, aber für die Welt ein kleiner Hoffnungsschimmer.
Auf dem Weg in unser Hotelzimmer sagte ich zu meiner Frau:
- Hilke, diese Reise hat sich jetzt schon gelohnt.
Wir hatten für nur elf Tage gebucht, sechs Tage für Peking, fünf für Shanghai. Es
wurden am Ende elf Tage Peking. Am zweiten Tag begann Tian, mir über
Zukunftsszenarien zu erzählen, die die Partei von führenden Forschungsinstituten des
Landes hatte ausarbeiten lassen. Zuerst glaubte ich, es seien vage Szenarien für das
22. Jahrhundert, aber Tians Schilderungen wurden immer konkreter, und schließlich
fragte ich ihn, was davon noch in diesem Jahrhundert Wirklichkeit werden könnte.
Seine Antwort: alles. Das war der Moment, in dem ich wusste, dass eine Woche
Peking nicht reichen würde.
Dass China sich in der jüngeren Vergangenheit viel rascher gewandelt hatte als der
Westen, darüber hatten wir früher oft gesprochen, aber ich hatte immer gemeint, dass
das nur für die Vergangenheit galt, dass es ein Aufholprozess sein würde, der China
bestenfalls an den wohlhabenden demokratischen Westen heranführt. Aber wenn
China den Westen schon mit seinem Rentensystem überholt hatte, waren ihm dann
solche Entwicklungssprünge nicht auch auf anderen Gebieten zuzutrauen? Hundert
298
Jahre vorher hatte die Führung der DDR die Losung ausgegeben, den Westen zu
"überholen ohne einzuholen". War China das Land, dem hundert Jahre später genau
dies gelingen würde?
Hätte ich gewusst, wie offen Tian über alles mit mir reden würde, hätte ich ihn von
Anfang an einfach erzählen lassen. Ich hätte ihm dann nicht diese erstbeste politische
Frage gestellt, die mir in den Sinn kam, die Frage, die sich in dieser Zeit im Westen
alle stellten, wenn sie an China dachten: Was hat China in seiner Rolle als führende
Weltmacht vor?
Tian machte eine wegwerfende Handbewegung.
- Ach, sagte er fast unwirsch, ihr Westler mit eurem Weltmachtthema.
Es klang, als wäre das für ihn eine Bagatelle.
- Aber China, sagte ich, ist doch die mächtigste Weltmacht, die es je gab. Es ist doch
klar, dass das den Rest der Welt beschäftigt.
Wieder schwieg er eine Weile.
- Ja, sagte er dann, aber ihr beschäftigt euch damit noch immer wie im 20.
Jahrhundert. Wie damals, als die Weltmächte noch westlich waren. Lass uns später
darüber reden.
Dann lud er mich ein, ihn am übernächsten Tag in seinem Institut zu besuchen.
Auf meinen Besuch war Tian dann so gründlich vorbereitet, wie man es von ihm
nicht anders erwarten konnte. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel mit Büchern
westlicher Autoren über das Weltmachtthema. Er nahm sie nacheinander in die
Hand, zeigte mir die Titelseiten und gab einen kurzen Kommentar. Dann schob er
mir eine Liste von Aufsätzen zu, die in chinesischen Forschungsinstituten zum
Thema Weltmacht entstanden waren, einige davon in englischer Sprache. Einige
Einträge hatte er unterstrichen. Einer davon: Westliches Weltmachtdenken und
Weltmachthandeln bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Lehren für China.
299
Seit mehr als vierzig Jahren, begann er dann, arbeiteten chinesische Historiker und
Politologen an Forschungsaufträgen zum Thema Weltmacht. Die allerersten
Ergebnisse seien ziemlich konservativ gewesen, im Grunde Variationen zum
westlichen Weltmachtdenken. Im Westen sei es immer mehr oder weniger
selbstverständlich gewesen, dass Weltmachtstatus etwas Erstrebenswertes sei.
Chinesische Historiker seien aber zu einem anderen Ergebnis gekommen. Die Rolle
der Weltmacht verspreche erst einmal viele Vorteile, aber auf sehr lange Sicht
gesehen sei sie fast allen Ländern irgendwann zu Kopf gestiegen, habe sie also
keinem Land wirklich gutgetan. Außerdem sei die Weltmachrolle unsicherer
geworden, als sie es in früheren Zeiten gewesen sei. Nicht einmal China könne
wissen, wie lange es diese Rolle würde spielen können.
Sicher seien sich die chinesischen Forscher inzwischen auch, fuhr er fort, dass es
Menschen auf Dauer nicht glücklicher mache, Bürger einer Weltmacht zu sein.
Weltmachtstreben sei immer von Politikern ausgegangen, nicht von den Bürgern.
Weltweit am zufriedensten seien die Menschen in erfolgreichen kleineren Staaten, in
Europa seien das Staaten wie Norwegen, Dänemark, Österreich, Finnland, die
Schweiz oder Luxemburg, das habe ja auch westliche Forschung seit Jahrzenten
immer wieder bestätigt.
- Aber China, unterbrach ich ihn, kann sich der Weltmachtrolle doch gar nicht
entziehen. Es kann sich nicht in einen kleinen Staat verwandeln, um seine Bürger
glücklicher zu machen.
Das könne China natürlich nicht, antwortete er, aber es habe sich immerhin schon
selbst davor bewahrt, die Sowjetunion des 21. Jahrhunderts zu werden, und nun
müsse es vermeiden, dass es ihm irgendwann so gehe wie Russland und später
Amerika nach dem Verlust ihrer Weltmachrollen. China müsse daher versuchen,
Weltmacht zu sein, ohne die Weltmachtrolle zu spielen. Dass imperiales Denken
veraltetes Denken sei, das wisse man doch in Deutschland am besten.
- Also seht ihr Chinas Größe als eine Last?, fragte ich.
300
Natürlich nicht nur, antwortete er, die Macht des eigenen Landes sei irgendwie schon
beruhigend, aber die gegenseitige Verletzlichkeit von Staaten sei inzwischen doch so
groß, das wisse ich sicher auch, dass ein Staat sich nur dann vollends in Sicherheit
wiegen könne, wenn er keine ernst zu nehmenden Feinde habe.
Tian warf mir dabei einige scheue Blicke zu, als fürchte er, mich, einen alten
Europäer im achten Lebensjahrzehnt, mit solchen Gedanken zu überfordern. Ganz
falsch war das nicht. Ich hatte mich auf lange anregende Gespräche mit ihm gefreut,
aber dass ich Tian hier fast atemlos zuhören würde, wie er sich, bescheiden wie
früher zwar, aber doch mit der unerschütterlichen Gewissheit, westlichem Denken in
manchem weit voraus zu sein, über die Weltmachtfragen der Zukunft dozierte, hatte
ich mir nicht träumen lassen.
- Aber wer weiß denn, fragte ich ihn dann noch, ob die chinesische Führung nicht
doch mehr Macht will und womöglich auch Staatsgebiete hinzugewinnen will? Muss
sich die Welt darüber wirklich keine Sorgen machen?
- Lass und darüber später reden, sagte er in einem Tonfall, als wolle er mich schonen.
Wir verbrachten noch drei lange Abende miteinander, und nach jedem Mal sagte ich
Hilke, ich fühlte mich wie nach einer Gehirnwäsche. Am längsten hielt Tian sich mit
meiner Frage auf, ob China nicht noch größer und mächtiger werden wolle. Auch
dazu, erklärte er, hätten seines und andere Forschungsinstitute die Empfehlungen der
Historiker bestätigt. Das Ergebnis sei: Wenn China größer würde, dann würde es
schwächer werden. Das stärkste China wäre eines, das kleiner ist als das heutige.
Wie das angehen könne, fragte ich.
Eigentlich, sagte er, genüge für diese Einsicht der gesunde Menschenverstand, aber
nun sei es auch durch historische Forschung belegt. Nichts sei - auf sehr lange Sicht
zumindest - für die Stärke eines Landes so wichtig wie sein spontaner innerer
Zusammenhalt. Dieser Zusammenhalt stärke die Treue der Bürger zu ihrem Staat, er
stärke deren Solidarität und er stärke, was ja noch wichtiger sei, deren Zufriedenheit
und Glück, und das Glück der Bürger sei doch das höchste aller politischen Ziele.
301
Dem würde kaum jemand widersprechen, sagte ich, aber welche konkreten
Auswirkungen das denn auf die Politik habe.
Auf Dauer, sagte Tian, solle möglichst niemand, der es nicht wolle, ein Teil von
China sein, keine Gemeinschaft, keine Region, kein Volk. Wenn Tibeter, Uiguren
und andere Minderheiten nicht Bürger von China sein wollten, dann sollten sie es
zumindest auf lange Sicht nicht bleiben. Dann wäre eine Trennung für beide Seiten
von Vorteil. Das habe man in China früher ganz anders gesehen, aber das sei ein
Fehler gewesen.
Ich horchte auf. Bedeutete das, dass China sich allen eventuellen separatistischen
Ansinnen auf seinem Staatsgebiet würde beugen wollen? Würde China der Welt
genau das Beispiel geben wollen, für das Yang und Puig schon so viele Jahre
vergeblich geworben und gestritten hatten?
Ich starrte ihn ungläubig an.
- China wird also das volle Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit
einführen? Das würde die Welt auf den Kopf stellen. Oder besser gesagt…
- Ja, sagte Tian, besser gesagt: vom Kopf auf die Füße.
Dabei lächelte er selbstbewusst, mit unverkennbarem Stolz.
Dann erklärte er, dass man in dieser Sache zwar von einem Recht auf
Selbstbestimmung sprechen könne, dass es im Grunde aber um eine neue Dimension
von Freiheit gehe, die in Recht umgesetzt werden müsse. Diese Freiheit nenne man
inzwischen auch in China politische Assoziationsfreiheit.
- Kennst du Robert Yang?, unterbrach ich ihn.
- Robert Yang, den Kanadier?, sagte er. Natürlich weiß ich von ihm. Wir beobachten
ihn China schon sehr lange. Ein sehr interessanter Mann. Wir halten viel von seinen
Ideen.
- Wer ist wir?, wollte ich wissen.
302
- Unsere Institute. Unsere Wissenschaftler.
- Aber eure Politiker denken natürlich noch ganz anders.
- Sagen wir es so: Noch handeln sie anders. Aber immer mehr von ihnen, die meisten
sogar, wissen, dass China sich in den nächsten fünfzig Jahren noch einmal von
Grund auf wandeln muss. Sie wissen aber noch nicht, wie. Daran forschen unsere
Institute.
In den nächsten Tagen breitete Tian dann ein Zukunftsszenario aus, wie ich es am
allerwenigsten von einem Chinesen erwartet hatte. Langfristig werde China sich
wohl gesundschrumpfen, um die Zufriedenheit seiner Bürger zu optimieren, aber
dies könne hundert Jahre oder länger dauern. Ein mögliches Übergangsszenario sei,
dass sich an Chinas Rändern kleine teilselbstständige Staatsgebilde abspalteten, die
nur durch eine gemeinsame Armee und vielleicht eine gemeinsame Währung mit
dem Kernland verbunden blieben. So könne ein loser Staatenverbund entstehen, der
anpassungsfähiger wäre als ein zentralistisches Großchina und dessen Mitglieder
voneinander lernen könnten.
- Würde China dann nicht ein bisschen wie die Europäische Union werden?, fragte
ich vorsichtig.
Tian schüttelte heftig den Kopf.
- Glaubt ihr in Europa denn noch immer, dass ihr für China das Vorbild seid?
Vorbild sei Europa für viele gebildete Chinesen eine Zeitlang wohl gewesen, fuhr er
fort, auch noch in der Zeit, als er Praktikant im SPIEGEL-Archiv war, aber die Welt
sei ja inzwischen eine ganz andere. Inzwischen stünden Europa und Amerika doch
fast am Rand des Weltgeschehens. Inzwischen sei China doch das Land, das für
Wissenschaftler und Studenten aus aller Welt das attraktivste sei, Europa dagegen
halte an einer - ich möge den Begriff verzeihen - beinahe musealen Hochkultur fest,
so sehe man es nicht mehr nur in China. Zumindest hätten Chinas beste
Universitäten, die zum Teil auch in englischer Sprache lehrten und forschten, denen
Europas und der USA den Rang abgelaufen, das wisse ich doch auch.
303
So weit war es noch ein fast normales Gespräch gewesen, aber was dann kam, war
eher ein Vortrag, oder auch das nicht, eher war es eine behutsame Heranführung an
Gedanken, von denen Tian wohl annahm, dass ich ihnen nur langsam würde folgen
können.
Wenn er sage, Europa sei etwas museal geworden, dann möge ich nicht denken, dass
er nicht auch das Museale an China sehe, aber China werde sich daraus zügiger
befreien. Es werde dabei das westliche Modell schon deswegen nicht kopieren, weil
es nicht zur chinesischen Kultur passe. Außerdem habe das westliche Modell, so
sähen er und seine Kollegen es, auch in Europa seinen Zenit schon lange hinter sich.
Seine und die Aufgabe seiner Kollegen sei es, Politik in großen historischen
Zusammenhängen zu sehen, so wolle es auch die Partei. Die Partei habe in China
zwei historische Phasen hinter sich. Die erste, die maoistische, sei die Zeit des
großen ehrgeizigen Experiments gewesen, das gescheitert sei. Nun neige sich auch
die zweite Phase ihrem Ende zu, in der die Partei dem Volk als guter Manager des
Staates Wohlstand und Stabilität gebracht habe. In der nun folgenden Phase müssten
Wohlstand und Stabilität selbstverständlich gewahrt werden, aber das allein werde
den Bürgern nicht mehr lange genügen. Als technokratische Organisation, wie sie es
in den vergangenen siebzig oder mehr Jahren gewesen sei, werde die Partei nicht
überleben können. Chinas politische Zukunft werde mit Sinnstiftung,
Selbstbestimmung, Bürgerbeteiligung und noch mehr Professionalität zu gestalten
sein.
Er hielt kurz inne.
- Mit mehr Professionalität als in eurer Demokratie, sagte er.
Und dann, etwas verlegen:
- Als in eurer Laiendemokratie.
Das alles, fuhr er fort, sei aber mit dem bestehenden politischen System Chinas nicht
zu realisieren. Dieses System müsse sich daher, wie gesagt, früher oder später
304
gründlich wandeln. Die große Frage sei, ob die Partei es schaffe, diesen Wandel
selbst zu gestalten, oder ob sie ihm irgendwann zum Opfer falle.
- Ein grundlegend erneuertes China unter einer Einparteienherrschaft, unterbrach ich
ihn, das wäre doch ein Widerspruch in sich.
- Wirklich?, fragte er. Wenn die Partei den Wandel selbst gestalte, dann seien die
Gefahren für Wohlstand und Stabilität am geringsten. Im Übrigen werde die Partei,
dessen sei er ganz sicher, bei der nächsten Erneuerung des Landes kaum Tabus
kennen.
Ich sah ihn etwas ratlos an. Erst als ich dann aufmunternd mit dem Kopf nickte, fuhr
er fort:
Erst einmal müsse China für den Systemwandel die richtige Sprache finden. Es solle
ja möglichst niemand ausgegrenzt werden, möglichst alle Parteimitglieder sollten
mitgenommen werden, auch die in letzter Zeit wieder stärker gewordenen NeoMaoisten. Sein Institut habe daher vorgeschlagen, Maos Begriff der permanenten
Revolution aufzugreifen, ihm aber einen gänzlich neuen Sinn zu geben.
- Welcher Sinn soll das sein?, fragte ich ungläubig.
- Eine permanente Erneuerung der politischen Ordnung, sagte er. Eine solche
permanente Erneuerung zu garantieren, dass könne einmal zur Hauptaufgabe der
Partei werden. Und der Volkskongress könne sich irgendwann zu einem
Verfassungskongress transformieren, der über die Vorschläge der Partei zur
politischen Ordnung entscheidet.
- Dann könnte es aber sein, dass die Partei damit ihre eigene Entmachtung einleitet.
Vielleicht, antwortete er, würde die Partei Macht verlieren, aber als Garant des
permanenten friedlichen Systemwandels bliebe sie vorerst unentbehrlich. Das sähe
ich als Europäer vielleicht anders, aber den meisten Chinesen brauche man das nicht
zu erklären.
305
Mit diesem etwas verstörenden Satz ließ er das Gespräch für diesen Abend enden.
Ich ging mit einem unguten Gefühl zurück ins Hotel. In welcher Gedankenwelt lebte
Tian? Woher nahmen er und seine die Kollegen ihre Anregungen? Tians Gedanken
schienen einiges mit der Gedankenwelt Hausers gemeinsam zu haben. Aber gab es
wirklich Dinge, die Europäer schwerer verstanden als Chinesen? War ich für Tian
ein alter europäischer Archivar im Ruhestand, der chinesischen Vordenkern nicht
mehr folgen kann?
Schon in Tagen davor war mir nicht danach zumute gewesen, zusammen mit Hilke
die kleinen touristischen Unternehmungen zu machen, die wir uns in Peking
vorgenommen hatten. Nun erst recht nicht. Noch immer hatte ich von Peking außer
dem Hotel wenig gesehen, und ich ahnte schon, dass es dabei bleiben könnte. Ich
hatte mir viele Notizen über die Gespräche mit Tian gemacht und hatte im Internet
über die Partei, über die zurückliegenden Volkskongresse und über Chinas
sozialwissenschaftliche Institute recherchiert. Ich hatte auch ein paar erste Mails an
Constanze geschickt, die Tians Gedanken noch am ehesten, hoffte ich, würde folgen
wollen, aber noch hatte ich von ihr keine Antwort.
Am nächsten Tag breitete Tian sein Zukunftsszenario für Chinas Staatspartei weiter
aus. Wenn die Partei ihre führende Stellung behalten wolle, erklärte er, müsse sie,
wie schon gesagt, unter anderem immer professioneller werden. Das werde ihr nur
gelingen, wenn sie den Anspruch aufgebe, die Politik als ganze zu beherrschen. Sie
werde sich daher vermutlich in einen Verbund eng spezialisierter eigenständiger
Politorganisationen aufspalten müssen. Es werde z.B. eine Organisation geben, die
sich auf regionale Verwaltung spezialisiert. Andere Organisationen würden sich auf
einzelne Felder zentralstaatlicher Politik konzentrieren, z.B. Wirtschaftspolitik,
Sozialpolitik, Verteidigungspolitik und Verfassungspolitik. Eine Partei, sagte er, und
eine Parteiführung, die sich die Zuständigkeit für die Politik als ganze anmaßten,
werde es im 22. Jahrhundert in China nicht mehr geben.
Das war aufregend genug, aber in den Tagen danach wurde es noch aufregender.
Wenn die Partei sich auf diese Weise reformiert habe, erklärte Tian, dann werde der
306
Staat nach dem demselben Prinzip reformiert werden. Auch eine Staatsführung, die
für die Politik als ganze zuständig sei, werde es dann irgendwann nicht mehr geben.
Das werde die langsame permanente Revolution mit sich bringen, deren Garant die
Partei später einmal werden solle.
Schon da hatte ich ein Gefühl, als verweigerte sich mein politisches
Vorstellungsvermögen. Aber am nächsten Tag legte Tian noch einmal nach.
Aufspaltung von Partei und Staat und Einrichtung eines dauerhaften
Verfassungskongresses, das seien natürlich auch für die Partei höchst
gewöhnungsbedürftige Ideen. Selbst wenn sie auf Verständnis stießen, würden sie
doch als ein Experiment wahrgenommen, und die Bereitschaft zu gesellschaftlichen
Experimenten sei nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch in China noch
immer begrenzt. Die Frage, ob man ein solches Experiment mit einem Volk von fast
1,3 Milliarden Menschen anstellen solle, sei daher allzu berechtigt. Daher überlege
man in China, ein solches Experiment zuerst in einem kleineren Staat durchführen zu
lassen.
- Aha, sagte ich. Also doch imperiales Denken. China soll ein kleines Land unter
seine Kontrolle bringen, um es für gesellschaftliche Experimente zu missbrauchen.
Ich erschrak selbst über meinen aggressiven Tonfall, aber bevor ich mich dafür
entschuldigen konnte, nickte Tian schon verständnisvoll mit dem Kopf.
Er verstehe meine Reaktion ja, sagte er, aber imperial sei der Gedanke ganz und gar
nicht. China wolle auf keinen Fall ein anderes Land zu politischen Experimenten
zwingen, wie vielversprechend diese auch seien. China könnte aber irgendwann mit
anderen Ländern darüber verhandeln, unter welchen Bedingungen sie zu solchen
zukunftsweisenden Experimenten bereit seien. China könne beispielsweise den
Bürgern eines Landes anbieten, sie für ein solches Experiment finanziell angemessen
zu belohnen. Das sei im Westen ja schon als so genannte Bürgergeldhilfe diskutiert
worden, einem Zusatzeinkommen also, das jedem Bürger in gleicher Höhe
ausgezahlt werde. Bei einem kleinen Land mit bis zu dreißig Millionen Einwohnern
307
könnte China allen Bürgern eine Prämie zahlen, die ihren Wohlstand über Jahre
hinweg beträchtlich steigert.
Wahrscheinlich, sagte er zum Schluss, werde die Entwicklung diesen Weg gehen
müssen. Seine Größe mache China eben doch unbeweglich. Wir, sagte er, wir oder
unsere Nachkommen, werden irgendwann andere dafür bezahlen, im Kleinen für uns
auszuprobieren, was wir im Großen nicht zustande bringen.
Noch in der Nacht schickte ich Constanze eine lange aufgeregte und etwas konfuse
Mail, in der ich sie auf den letzten Stand brachte. Schon am nächsten Morgen hatte
ich die Antwort. Sie hatte fast alles, so konfus es geschrieben war, auf Anhieb
verstanden, und sie war nicht schockiert, sie war nicht befremdet, sie war nicht
überrascht, wie ich es am ehesten erwartet hatte. Sie war begeistert. Ob auch ich
dabei an Hauser dächte, fragte sie, und dann, in dem sarkastischen Humor, den sie
sich im hohen Alter zugelegt hatte:
- Wenn das die Deutschen wüssten! Stell dir die Kommentare vor, die Überschriften
im SPIEGEL und anderswo: China auf Abwegen, China demontiert sich selbst, ein
Volk als Versuchstier, Staatspartei verweigert echte Demokratisierung und so weiter.
Denk mal über politisches Asyl in China nach!
Bei unserem letzten Treffen fragte ich Tian, ob er wirklich meine, dass seine
Gedanken sich in der Partei irgendwann durchsetzen würden.
- Was wäre die Alternative?, fragte er. Dann gab er sich selbst die Antwort: Eine
Demokratie nach westlichem Muster ganz sicher nicht. Die Alternative wäre ein
Rückfall in die Autokratie.
Ob das denn ganz auszuschließen sei, fragte ich.
Er zögerte einen Moment.
- Das hoffe ich doch.
Am Morgen vor dem Abflug war ich in Hochstimmung. Wenn ich diese Reise nicht
gemacht hätte, sagte ich zu Hilke, dann hätte ich etwas sehr Wichtiges verpasst. Aber
308
schon beim Abflug war die Hochstimmung vorbei, und während des Fluges
erschienen mir all die Gedanken, die Tian ausgebreitet hatte, immer unwirklicher.
Zurück in Deutschland, fühlte es sich wieder ganz anders an. Nun erschien mir alles,
was hier politisch gedacht und diskutiert wurde, mindestens ebenso unwirklich, und
es kam mir sinnlos vor, Tians Gedanken in Deutschland diskutieren zu wollen. Ich
hatte erlebt, wie in China neue politische Ideen brodelten, und nun war ich
zurückversetzt in eine Welt politischer Ideen- und Ereignisarmut. All der immer
gleiche vorgeschobene Parteienstreit, die immer gleiche Rhetorik der
Kommentatoren und Talkshows und sogar die Einwürfe kritischer Parteien wie der
MSU, der IG SENIOREN und gelegentlich der Deutschen Demokraten waren mir
gleichgültiger denn je. Was und wo war hier das Neue? Politik war hier das
gewohnte vorhersehbare Spektakel, das gelegentlich neue Gesichter, aber keine
wirklich neuen Gedanken hervorbrachte. Und nicht einmal die jungen neuen
Gesichter waren wirklich neu. Die dem Anschein nach Jungen waren Wiedergänger
von Mesäcker und Seinesgleichen, oder es waren neue Gesichter mit alten Namen,
dritte Generation Guttenberg, vierte Generation Bush, vierte Generation Le Pen und
andere, die als neue Hoffnungsträger gehandelt wurden. Das politische Kalkül
dahinter: Da neue Gesichter keine neuen Ideen bringen, sollen sie wenigstens an
Vertrautes erinnern. Verständlich ist das. In dieser Zeit nahm der schleichende Dritte
Weltkrieg wieder einmal einen neuen Anlauf, als zweiter Kurdenkrieg im Nahen
Osten und mit neuen Sezessionskriegen in Asien, ohne dass dies die politische
Öffentlichkeit im Westen noch erregte. Und China war, obwohl unangefochtene
Weltmacht, sehr weit weg, und Leute wie Tian erst recht. Wäre ich nicht schon seit
Jahrzehnten Nichtwähler gewesen, wäre ich es allerspätestens in dieser Zeit
geworden.
Einige Wochen nach meiner Rückkehr fragte ich unsere Zwillinge, ob sie denn
glaubten, dass die Menschen in China für so radikale Reformen, wie Tian sie
skizziert hatte, bereit sein können. Damals, zur Zeit ihrer Praktika in China, ganz
sicher nicht, meinte der eine. Der andere: Wenn die Partei es vorgebe, dann
309
vielleicht. Auch das machte mich natürlich nicht klüger. Dann fragte ich sie, wie weit
die Chinesen damals, Mitte der fünfziger Jahre, im politischen Bewusstsein hinter
dem Westen zurück gewesen sein. Die Chinesen dächten anders, sagten beide, aber
einen Rückstand würden sie das nicht nennen. Schließlich fragte ich, ob sie meinten,
dass die Chinesen überhaupt etwas vom Westen zu lernen hätten, von westlichem
Bewusstsein.
- Humor, sagte der eine.
- Ironie, sagte der andere.
Immerhin, dachte ich. Wenigstens das.
In den folgenden Wochen und Monaten hätte ich mir nichts so dringend gewünscht
wie Nachrichten, die auf politische Erneuerungen in der westlichen Welt hoffen
ließen. Dann las ich, dass Robert Yangs katalanischer Förderer und Freund Xavi
Puig im Alter von 79 Jahren gestorben war. Nicht nur ich war um eine Hoffnung
ärmer.
Noch einmal Euphorie
Viele von Yangs Mitstreitern warfen ihm Ende der sechziger Jahre vor, schuld an der
Krise der Bewegung zu sein. Zu viele hatten sich daran gewöhnt, dass amerikanische
und europäische Superreiche die Kassen von World Upgrade füllten und Geld daher
keine Rolle zu spielen schien. Auch Yang hatte sich davon blenden lassen und immer
kühnere Pläne geschmiedet. Aber die Krise zwang ihn und seine Bewegung dann zur
Konzentration auf das Wesentliche. Das machte es mir zumindest leichter, dieses
Wesentliche zu erfassen.
Je mehr ich über Yang wusste, desto mehr Gemeinsamkeiten entdeckte ich zwischen
ihm und Hauser. Ähnlich wie Hauser war Yang überzeugt, dass in der Politik ein
globaler Neuanfang vonnöten war. Und wie Hauser fragte er sich: Wie würde man
die Welt gestalten, wenn man noch einmal ganz von vorn anfangen könnte, mit allem
inzwischen gesammelten Wissen und Können? Wie wäre es, wenn wir uns von allen
310
Vorurteilen, allen Ideologien und allen erstarrten Denkmustern befreien könnten, die
wir als Altlasten mit uns herumtragen? Und was wäre, wenn wir auch von allen
persönlichen Interessen absähen, die sich aus unserer Lebenslage gerade ergeben?
Wenn wir also u.a. über Staatsgrenzen, Staatszugehörigkeiten, Klimapolitik,
Ressourcenpolitik, Bevölkerungspolitik, EU, Monarchie, NATO,
Wirtschaftsordnung, Sozialstaat und das politische System ganz und gar neutral und
unbelastet nachdächten? Würden wir es dann wieder so einrichten, wie es ist? Yangs
Antwort darauf war ein hundertfaches Nein. Die Welt, wie sie ist, so formulierte er
es, sei politisch kaum noch manövrierfähig. Umso unabweisbarer wurde aber der
Gedanke, dass irgendwann tatsächlich ganz von vorn angefangen werden müsste.
Aber so unabweisbar dieser Gedanke war, so realitätsfern erschien er natürlich. Wie
sollte man eine Nation oder gar die Welt dazu bringen, in der Politik alles
Gewachsene in Frage zu stellen?
Aber Geld macht Mut, Geld verleiht der Phantasie Flügel, Geld kann große Ideen
Wirklichkeit werden lassen, und auch bei Yang war eine große Idee gereift. Es war
eine ganz ähnliche Idee, wie Tian sie mir in Peking erläutert hatte. Ganz von vorne
anfangen, meinte Yang, das sei in einem kleinen Staat einfacher als in einem großen.
Kein großer Staat sei dafür manövrierfähig genug, und dafür nannte er zahlreiche
Beispiele. Deutschland war einer von ihnen.
Nur ein kleiner Staat könne der Welt daher mit großen Reformen ein Beispiel geben.
Am ehesten ein hoch zivilisierter kleiner Staat, in dem eine akute Krise den
Reformwillen der Bürger gestärkt habe. Zwar würden auch Bürger solcher Staaten
nicht Versuchskaninchen für allzu kühne Reformideen sein wollen, aber solche
Ängste, glaubte Yang, ließen sich mit Aufklärungsarbeit und finanziellem Beistand
ausräumen. Die von seinen Milliardären zugesagten Gelder würden ausreichen,
überschlug er, um einen Staat mir mehreren Millionen Staatsbürgern für ein
beispielgebendes Reformprojekt zu gewinnen. Im katalanischen
Monarchiereferendum sah er ein sehr ermutigendes Beispiel, nun müsse ein größerer
Wurf gelingen.
311
Aber wo waren die kleinen Krisenstaaten, die sich mit einer beispielhaften
Systemreform aus der Krise würden befreien wollen? Yang fand sie nicht. Er hatte
auf kleine europäische Staaten gehofft, aber genau diese Staaten schienen in dieser
Zeit die krisenfestesten zu sein. Welche Hoffnung blieb also? Für Yang war es die
Hoffnung auf neu zu gründende Staaten, auf Staaten also, die ihre Unabhängigkeit
separatistisch erkämpften hätten, die sich von verkrusten Staaten abgespalten hätten
und nun für sich selbst eine bessere Ordnung finden wollten. Yang überlegte sogar auch das eine Parallele zu Tians Gedanken -, den Bürgern solcher neu zu gründenden
Staaten übergangsweise eine so genannte Bürgergeldhilfe anzubieten. Dies sollte der
Lohn dafür sein, dass sie der Welt in Sachen Staatsordnung ein Beispiel geben.
Es war Yang immer leichtgefallen, Menschen für sich zu gewinnen, und auch, sie
sich gewogen zu halten. Aber mit seiner Idee eines Modellstaats, der so viel
scheinbar Bewährtes hinter sich ließe, war er für viele zu weit gegangen. Die meisten
der Milliardäre, die ihn seit den fünfziger Jahren unterstützten, hatten inzwischen an
geistiger Frische eingebüßt. Ob er denn wirklich, musste Yang sich fragen lassen,
separatistische Revolutionäre als Vorreiter von Reformen im Sinn habe. Und wo auf
der Welt Staatsgründer und Staatsbürger sich denn mit Übergangshilfen, wie Yang
sie erwog, zu wegweisenden Reformen würden ermutigen lassen. Auch Yang hatte
darauf noch keine schlüssige Antwort.
Der Facebook-Gründer Zuckerberg war in dieser Zeit 89 Jahre alt geworden. Bei
Zuckerberg, das wusste Yang, war in den zurückliegenden Jahren die
Altersschwäche weit fortgeschritten. Zwanzig Jahre lang hatte er sich ganz und gar
seinem privaten Bildungszentrum und der angegliederten kleinen
Forschungsuniversität gewidmet, aber nun wollte er sich auch daraus zurückziehen,
verbittert auch über den Niedergang von Facebook, das den Anschluss an die
Kommunikationsformen der jungen Generation verpasst hatte. Als Yang
Zuckerbergs Stimme am Telefon hörte, ahnte er, dass es nichts Gutes bedeutete.
Er habe bisher nie gezweifelt, so begann Zuckerberg, dass Yangs Projekte die
hundert Millionen Dollar, die er ihm überlassen habe, verdienten. Die Welt leide
312
unter schlechter Politik, so sehe er es noch immer, und im Kampf gegen dieses
Leiden seien selbst Milliarden gut investiert. Aber für Ziele, wie Yang sie in letzter
Zeit verfolge, wolle er sein Geld nicht eingesetzt sehen. Er habe gemeint, Yang stehe
immer noch dem Konzept privater Staatsmanagementorganisationen nahe, das er
selbst nach wie vor für das beste der Welt halte, aber da hätten sie sich wohl leider
missverstanden. Zuckerberg beendete das Gespräch mit einem Monolog darüber,
dass er als amerikanischer Patriot immer noch glühender Anhänger der
amerikanischen Verfassung sei und sich immer noch den Gründungsvätern der
amerikanischen Nation verpflichtet fühle. Was nun offenbar in Yangs Kopf vorgehe,
sei damit offenbar nicht vereinbar.
Unvorhersehbar war dies nicht gewesen. Nicht wenige von Yangs superreichen
Spendern hatten ihre Sympathien für das Konzept der SMOs bekundet, und keinem
hatte er darin widersprochen, auch Zuckerberg nicht. Yang wusste auch, warum die
SMOs den Superreichen so attraktiv erschienen. Als Betreiber von
Staatsmanagementorganisationen kämen nur ausnahmsweise Staaten oder
Unternehmen in Frage. Naheliegender war, dass einige der weltweit größten
gemeinnützigen Stiftungen Staatsmanagementorganisationen gründen würden.
Manchen Stiftungen superreicher Milliardäre war dies durchaus zuzutrauen. Und was
wäre für einen ruhelosen Multimilliardär im Ruhestand verlockender, als nach einer
großen Unternehmerkarriere an etwas noch Größerem beteiligt zu sein? Als
Mitgründer und Mitbetreiber einer globalen Staatsmanagementorganisation würde er
womöglich sogar in die Geschichte eingehen können. Auch Yang glaubte daran, dass
Staatsmanagementorganisationen das Elend mancher gescheiterter Staaten würden
lindern können, aber mehr als eine kurzfristige Übergangslösung sah er in ihnen
nicht.
Nach dem Gespräch mit Zuckerberg ging alles ganz schnell. Die Superreichen und
ihre Entouragen waren enger vernetzt, als Yang es sich ausgemalt hatte. So alt und so
gebrechlich Zuckerberg war, so intakt war noch immer das Netzwerk, über das er auf
die Stimmungen anderer Milliardäre einwirken konnte. Der einstige Hoffnungsträger
313
Yang versteige sich nun in utopische Reformideen, so machte es in Milliardärkreisen
schnell die Runde.
Bald darauf brach über Yang eine Welle von Kündigungen gegebener Geldzusagen
und von Rückforderungen gezahlter Gelder herein. Aus einer politischen Bewegung,
bei der an Geldmangel nichts scheitern konnte, wäre in kurzer Zeit fast eine
Bewegung wie viele andere geworden. Noch einmal ganz von vorn anzufangen,
danach war Yang nach so vielen Jahren aufreibenden globalen Aktionismus nicht
zumute.
Yang, China und die Neokraten
Seit meinem Ausscheiden aus dem Archiv hatte ich mich immer wieder gefragt, ob
die Zivilisierung des politischen Bewusstseins wirklich vorankommt. Ich schwankte
dabei zwischen Hoffen und Bangen, aber das Bangen überwog bei Weitem. Der
schleichende Dritte Weltkrieg, die Bevölkerungsentwicklung, die
Wohlstandsverteilung, die politische Selbstbestimmung, der Klimawandel, die
Verknappung natürlicher Ressourcen, die Flüchtlingsströme – bei keinem solcher
Probleme kam die Lösung näher. Politiker dieser Welt rangen um Zukunftsfragen
nach veralteten Regeln, und nicht einmal diese Regeln hielten sie halbwegs
verlässlich ein. Ihre Regeltreue hing ab von parlamentarischen
Mehrheitsverhältnissen und nationalen Interessenlagen.
Aber dann gab es diese fast untrüglichen Zeichen der Hoffnung. Dass es einen
Robert Yang gab, dass seine Bewegung weltweit hunderttausende Mitglieder und
Millionen Sympathisanten hatte und dass es noch immer ein paar Superreiche gab,
die sie unterstützen wollten, war das nicht schon Beweis genug, dass die Welt
politisch im Aufbruch war? Dass sie den Problemen unseres Jahrhunderts nicht mehr
lange mit den Methoden früherer Jahrhunderte zu Leibe rücken würde? War also die
politische Gleichgültigkeit der Mehrheit nur die Ruhe vor einem Sturm der
Erneuerung? Standen wir genau jetzt, wo selbst in China so neues politisches Denken
aufkeimte, am Beginn einer neuen Ära der Aufklärung? Ja, diese Hoffnung gab es.
314
Und dann waren da noch diese Neokraten. Warum ich sie so viele Jahre lang nicht
beachtet hatte, ist mir noch immer nicht ganz klar, aber sie hatten um Beachtung
auch nicht wirklich gekämpft. Sie hatten keine politische Partei sein wollen, sie
hatten fast nie aktiv für sich geworben, sie hatten keine charismatische
Führungsfigur, in den Medien spielten sie nie eine Rolle, und bis 2069 stellten sie
sich keiner Wahl. Auch als ich von Hausers Kontakt zu den Neokraten erfuhr,
machte mich selbst das noch nicht viel neugieriger. Unter den Neokraten stellte ich
mir eher blasse Theoretisierer vor, die politische Gedankenexperimente fern von der
politischen Praxis anstellten.
Keine Partei sein zu sollen, das scheint bei den Neokraten lange ein Dogma gewesen
zu sein. Aber 2069 traten sie dann doch zur Bundestagswahl an, auf ihre besondere
Weise, ohne Wahlwerbung und ohne führenden Köpfe, die sich
öffentlichkeitswirksam präsentierten. Nur in einem einzigen Wahlkreis, in Freiburg,
stellten sie einen Kandidaten auf. Sein Wahlslogan war: Die Anderen können alles,
ich kann nur Eines. Max Kruse für Umweltpolitik.
Das war natürlich kein Slogan für jedermann, die Wenigsten verstanden ihn, aber für
die Neokraten ging es dabei um eines der Grundübel der Demokratie: dass
Parlamentarier über alles und jedes mitentscheiden dürfen, auch wenn sie nichts
davon verstehen. Die Neokraten wollten daher das Stimmrecht jedes Abgeordneten
auf das beschränkt sehen, worin er wirklich kompetent ist. Ein Gedanke, dem man
sich vernünftigerweise nicht verschließen kann. Jede andere Regelung,
argumentierten sie, liefere das Land dem politischen Dilettantismus aus. Max Kruse
sollte der Vorreiter sein. Im Fall seiner Wahl sollte er nur an Abstimmungen
teilnehmen, bei denen es um sein Spezialgebiet geht, die Umweltpolitik.
Kruse gewann in seinem Wahlkreis immerhin 6% der Wählerstimmen. Nicht viel,
und doch deutlich mehr, als die Neokraten erwartet hatten.
Nach langen internen Auseinandersetzungen entschieden die Neokraten sich danach,
versuchsweise an weiteren Wahlen teilzunehmen, möglicherweise auch bundesweit.
315
Sie machten sich bereit für die Bundestagswahl 2073. In dieser Zeit studierte ich zum
ersten Mal ihre politischen Zukunftsszenarien.
Yang hatte eine virtuelle Weltklimaregierung erdacht, die einer späteren realen
Weltklimaregierung Ideen auf den Weg geben sollte. Schon lange vorher war ihm
aber klar gewesen, dass die Staaten dieser Welt nie eine solche Weltklimaregierung
schaffen würden, solange sich ihre politischen Systeme nicht änderten. Um das
Weltklimaproblem lösbar zu machen, müssten daher erst einmal die politischen
Systeme der Einzelstaaten reformiert werden.
Wie aber könnte es dazu kommen? Die Staaten selbst würden dies nicht wollen und
aus eigener Kraft nicht können. Jemand müsste es ihnen erst einmal vorführen,
zumindest in der Theorie. Anfang 2069 stellte Yang daher sein Konzept eines
virtuellen Weltverfassungsrats vor. Wie die virtuelle Weltklimaregierung
Entscheidungen einer realen Weltklimaregierung simulieren sollte, so sollte der
virtuelle Weltverfassungsrat Entscheidungen eines späteren realen
Weltverfassungsrates simulieren. Eine dieser Entscheidungen: die Schaffung einer
Weltklimaregierung.
Im Nachhinein fragt man sich, warum Yang und die Neokraten nicht schon in den
fünfziger Jahren zusammengefunden hatten. Die Neokraten hatten sich immer schon
für eine radikal erneuerte Demokratie eingesetzt. Sie hatten dabei das Konzept eines
permanenten, eines "ewigen" Verfassungsrats entwickelt, der für die ständige
Weiterentwicklung der Staatsordnung zuständig sein sollte. Sie hatten sogar schon
einen virtuellen Verfassungsrat eingerichtet, der die Arbeit eines späteren realen
Verfassungsrats simulieren sollte. Das waren ganz ähnliche Reformideen, wie Yang
sie für die globale Staatengemeinschaft hatte. Und unübersehbar war auch: Die Rolle
des neokratischen Verfassungsrats würde eine ganz ähnliche sein, wie Tian sie für
einen künftigen chinesischen Volkskongress im Sinn hatte.
Der virtuelle Verfassungsrat der Neokraten war schon weit vorangekommen. Er hatte
schon einen vollständig ausformulierten Verfassungsentwurf für eine erneuerte
316
Demokratie vorgelegt. Damit hatten die Neokraten etwas vollbracht, wofür Yang
noch einen jahrzehntelangen Entwicklungsprozess veranschlagt hatte.
In ihrem Verfassungsentwurf hatten die Neokraten sich auch des zweiten großen
Themas angenommen, für das Yang und seine Bewegung sich engagierten:
Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit. Die Neokraten hatten hierfür einen
eigenen Begriff geprägt: politische Assoziationsfreiheit. So nannten sie die
Entscheidungsfreiheit der Bürger über die Staatszugehörigkeit. Dabei hatten sie auch
einen Gedanken entwickelt, den Hauser mir schon 50 Jahre vorher skizziert hatte:
dass die Staatszugehörigkeit nicht für alle Politikbereiche dieselbe sein muss. Als
Staatsbürger ist man Mitglied u.a. einer staatlichen Solidargemeinschaft,
Verteidigungsgemeinschaft, Rechtsgemeinschaft, Währungsgemeinschaft und
Kulturgemeinschaft, und diese Gemeinschaften können unterschiedliche
Mitgliederkreise und Staatsgebiete haben. Wie Hauser es sich damals schon
vorgestellt hatte: Die Schotten sollten sich in freier Entscheidung von Großbritannien
loslösen können, ohne z.B. eine eigene Währung und eigene Streitkräfte einrichten
zu müssen. Die Bürger Europas sollten dementsprechend ihre politische Landkarte in
freier Entscheidung gestalten können, und sie sollten es für
Währungsgemeinschaften, Verteidigungsgemeinschaften,
Identifikationsgemeinschaften, Solidargemeinschaften und andere mit je eigenem
Ergebnis tun können. Zu dieser großen neuen politischen Freiheit war das
separatistische Recht auf Unabhängigkeit, für das Puig und Yang ursprünglich
gestritten hatten, nur ein erster Schritt.
Es lag nun natürlich nahe, den Verfassungsentwurf der Neokraten mit Yangs OnlineReferenden über politische Unabhängigkeit zusammenzubringen. Beides
zusammengenommen würde eine Friedensbotschaft an alle Separatisten der Welt und
alle ihre Gegner ergeben und damit an fast alle Konfliktparteien des schleichenden
Dritten Weltkriegs. Die Botschaft wäre: Nach unseren Regeln und mit unserem
Verfahren könntet ihre eure Konflikte gewaltfrei und zivilisiert lösen, und ihr könntet
euch und euren Mitbürgern, Mitstreitern und vermeintlichen Gegner großes Leid
317
ersparen. Und wenn ihr es jetzt nicht könnt, habt ihr zumindest die Aussicht, es
irgendwann in der Zukunft zu können. Also geduldet euch. Wartet ab, bis andere es
euch vormachen, und schärft inzwischen euer Vorstellungsvermögen für diese
Möglichkeiten. All das klang einfach, es klang plausibel, aber auch ich brauchte
geraume Zeit, bis ich mir diese Gedanken wirklich zu eigen gemacht hatte.
Nicht nur zwischen den Ideen der Neokraten und denen Robert Yangs gab es
fundamentale Übereinstimmungen gab, noch erstaunlicher waren die
Übereinstimmungen mit Tians Gedanken über die Zukunft Chinas. Wie viel also
wussten Yang, die Neokraten und die Tians Chinas voneinander? Gab es zwischen
ihnen womöglich schon einen Gedankenaustausch, sei es offen oder vertraulich?
Oder hatte es ihn von Anfang an gegeben? Und hatte nicht Tian bei meinem Besuch
in Peking einmal von politischer Assoziationsfreiheit gesprochen, dem Begriff, den
die Neokraten geprägt hatten?
Am einfachsten war es für mich natürlich, Tian zu fragen. Ich schickte ihm eine
kurze Mail, und er schrieb postwendend zurück. Ja, antwortete er - schon dieses Ja
ließ mein Herz höher schlagen -, natürlich wüssten er und seine chinesischen
Fachkollegen von Robert Yang und von den deutschen Neokraten, darüber hätten
wir, meine er, bei meinem Besuch ja auch gesprochen.
Tian wusste also Bescheid. Aber wenn man sich sogar in China schon mit den
deutschen Neokraten befasst hatte, dachte ich, musste dann nicht auch Yang von
ihnen gehört haben? Musste er nicht deren Verfassungsentwurf längst kennen? Und
könnte nicht sein neues Konzept für Unabhängigkeitsreferenden schon mit dem
neokratischen Konzept der politischen Assoziationsfreiheit zusammengefunden
haben? Und musste nicht längst der Brückenschlag zwischen Yangs Konzept einer
Weltklimaregierung und eines Weltverfassungsrats und den Reformkonzepten der
Neokraten vollzogen sein? Und würde alles zusammengenommen, Yangs Ideen, die
Ideen der Neokraten und die Ideen der Tians in China, nicht schon genügen, um
Wege aus der globalen politischen Stagnation zu weisen?
318
Zumindest die Vermutung, dass es zwischen Yang und den Neokraten eine direkte
Verbindung gab, war nicht falsch. Es war Claude Halsdorf, der Milliardärflüsterer,
der Yang den ersten Hinweis auf die Neokraten gegeben hatte. Ein Landsmann, ein
luxemburgischer Jungmilliardär, hatte Halsdorf gefragt, wie er mit einer ZehnMillionen-Spende am ehesten helfen könnte, politische Systemreformen anzustoßen.
Halsdorf hatte ihm die deutschen Neokraten empfohlen, aber die wiesen die Anfrage
ab. Ihre Begründung war einleuchtend: Wenn sie dieses Geld annähmen, dann würde
ihre geistige und ideologische Unabhängigkeit angezweifelt, dann würde erst recht
versucht werden, sie in irgendwelche ideologischen Schubladen zu stecken. Was
Deutschland anbetrifft, hatten sie damit zweifellos Recht.
Halsdorf brachte seinen luxemburgischen Jungmilliardär schließlich doch mit Robert
Yang zusammen, aber er verschwieg ihm nicht, dass er auch bei den Neokraten
angefragt hatte.
Danach begann Yang, sich näher mit den Neokraten zu befassen.
Wie Constanze es sah
Die Ereignisse dieser Zeit beobachtete ich, so jung ich mich trotz allem noch fühlte,
doch als alter Mann. Manchmal erschrak ich über mich selbst. Worauf hatte ich mich
eingelassen? War Yang nicht doch ein unverbesserlicher Utopist?
Weltklimaregierung, Weltverfassungsrat, real oder virtuell - klang das nicht
verdächtig nach Weltrevolution und damit nach schlimmstem zwanzigstem
Jahrhundert? Und waren Yangs Mitstreiter und Sympathisanten, auch wenn es ein
paar Millionen waren, doch größtenteils Sonderlinge?
Und dann die Neokraten. Wer waren sie? Welche Generationen waren dort
vertreten? Ein Großteil, das hatte ich herausgefunden, war nur wenig jünger als ich.
Die große Mehrheit allerdings war sehr jung, aber die meisten von ihnen blieben nur
kurze Zeit dabei. Ich erklärte es mir so, dass die neokratischen Reformideen den
meisten noch zu kompliziert erschienen.
319
Und wie war es in China? Auch Tian war inzwischen ein ziemlich alter Mann. Wie
viele Gleichgesinnte gab es? Wie viele Menschen in China teilten seine
Reformideen, und wie alt waren sie? Waren die meisten ähnlich alt wie Tian?
Interessierten junge Chinesen sich wirklich für große Reformideen? Auch das
erschien mir sehr zweifelhaft. Könnte es dann nicht sein, dass Yang, die Neokraten
und die Tians in China in Wahrheit alle nur utopisches Theater aufführten? Weckten
Begriffe wie Weltverfassungsrat, Weltklimaregierung, permanenter
Verfassungskongress und politische Assoziationsfreiheit nur unerfüllbare
Erwartungen? Waren Leute wie Tian nur Feigenblätter des chinesischen Systems, die
systemkritische Geister vorbeugend ruhigstellen sollten? Nichts von dem erschien
mir vollends abwegig.
Constanze hatte das neunte Lebensjahrzehnt erreicht, und wir beiden Alten hielten in
diesen Jahren engeren Kontakt denn je. Je älter wir geworden waren, desto klarer
wurde uns, wie sehr gemeinsame Erinnerungen uns verbanden. Wir hatten zahllose
Mails über Yang, Tian und die Neokraten und über deren Ideen ausgetauscht und
über die Ähnlichkeiten mit Hausers früheren Gedanken, als Constanze vorschlug, wir
sollten uns bald noch einmal sehen. Ich hatte schon lange darauf gehofft. In
manchem erschien mir Constanze noch immer als die Souveränere, die ein sicheres
Urteil hatte, wo ich lange ergebnislos grübelte. Ob mit Yang und den Neokraten eine
neue Ära der Aufklärung beginne oder ob sie doch nur Revolutionsromantiker
waren, auch darauf würde Constanze die besseren Antworten haben.
Wir trafen uns, nostalgisch wie wir in solchen Dingen inzwischen doch geworden
waren, wieder in dem früher vertrauten kleinen Restaurant in der Nähe des
Verlagsgebäudes, aus dem der SPIEGEL nach der drastischen Verkleinerung von
Redaktion und Archiv demnächst ausziehen würde. Ich kam wenige Minuten zu spät.
Constanze saß schon an einem Zweiertisch mit Blick aufs Wasser. Sie wollte sich
erheben, aber ich merkte, wie schwer es ihr fiel, und unterbrach sie mit einer
bedächtigen Handbewegung. Sie streckte mir sitzend die Hand entgegen und sah
mich ihrem wachen, herausfordernden Blick an, wie sie es immer getan hatte.
320
- Ich freue mich, sagte ich nur. Freu mich, mit dir zu reden.
Constanze hatte sich gründlich vorbereitet. Über Yang und seine Bewegung wusste
sie mindestens so gut Bescheid wie ich, und über die Neokraten viel besser. Auf fast
alle meine Fragen hatte sie schlüssige Antworten. Auf die Frage, ob Yang und die
Neokraten nicht Utopisten oder Revolutionsromantiker seien, antwortete sie,
vielleicht seien es ja gerade vermeintliche Utopisten oder Revolutionsromantiker, die
in diesen Zeiten am dringendsten gebraucht würden.
Natürlich, sagte sie dann, schreckten Begriffe wie Utopie und Revolution ab, weil
deren Praxis meistens im Desaster geendet hätte. Und natürlich werde, wer vor
langfristigen Fehlentwicklung warne, noch immer gern als Apokalyptiker abgetan.
Aber in der Politik, das wisse ich ja, müsse zunehmend langfristiger geplant und
vorgesorgt werden, und daher werde letztlich doch versucht werden müssen, was
Böswillige als utopisch und revolutionär diskreditierten.
- Würdest du, fragte ich, Yang und die Neokraten also doch als utopisch und
revolutionär bezeichnen?
- Nicht in der Öffentlichkeit, sagte sie. Ich will ihnen ja nicht schaden.
Dann fragte sie mich, wie genau ich über die vermeintliche Utopie der Neokraten
Bescheid wisse.
- Wahrscheinlich nicht gut genug, sagte ich.
Na gut, sagte sie, dann wolle sie es kurz für mich zusammenfassen. Die Neokraten
befassten sich so gut wie gar nicht mit den kurzfristigen Problemen, die das Denken
und Handeln von Politikern beherrschten. Politiker dächten, wie wir ja wüssten,
kaum über die nächste Legislaturperiode hinaus, auf der Agenda der Neokraten
dagegen seien fast nur Aufgaben, die langfristig zu planen und zu realisieren seien.
Als erste Beispiele nannte sie wiederkehrende Volksabstimmungen über die
Verfassung, dann einen Sozialstaat auf Basis eines nachhaltigen Bürgergeldes, ein
Rentensystem ohne staatlich festgesetzte Altersgrenzen, eine Bevölkerungspolitik,
321
die für eine stabile demographische Entwicklung sorgt, eine beispielgebende Rolle
beim Klimaschutz, die Überführung fossiler Energieträger und anderer knapper
Rohstoffe - als Kollektiveigentum der jetzigen und künftigen Menschheit - in ein
Weltnaturerbe und wiederkehrende Volksabstimmungen zur Bevölkerungs- und
Einwanderungspolitik. Das klinge in manchen Ohren noch immer utopisch, sagte sie,
aber in Wahrheit komme all das, wenn es denn komme, mindestens hundert Jahre zu
spät.
Viel wichtiger, fuhr sie fort, als die Formulierung solcher Ziele sei etwas ganz
anderes. Viel wichtiger sei die Einsicht, dass diese Ziele in bestehenden politischen
Systemen nicht erreichbar seien, auch nicht in der Demokratie.
- So sieht es Robert Yang, sagte ich.
- Aber auch die Neokraten, sagte sie. Deswegen sei, das wisse ich ja, das wichtigste
Ziel der Neokraten der schrittweise Übergang von der Demokratie zu reiferen
Staatsformen, die sie neokratisch nennten. Der schrittweise Übergang, das sei ganz
wichtig. Es sei die vielleicht größte Stärke der Neokraten, dass sie klare
Vorstellungen von einem solchen schrittweisen Übergang hätten.
Ob ich denn die Demokratieskepsis der Neokraten wirklich teilte, fragte sie dann.
- Im Prinzip ja, sagte ich.
Das hoffe sie doch sehr, sagte sie. Was sie zuerst für die Neokraten eingenommen
habe, sei deren Überzeugung, dass niemand, kein Bürger, kein Parteimitglied, kein
Abgeordneter, kein Regierungs- und kein Staatschef und auch keine Partei heute
mehr die Politik als ganze verstehe. Das habe ihr sofort eingeleuchtet. Dass man als
Bürger eine Partei wählen könne, die in allen Fragen der Politik kompetent sei, das
sei eine überholte Vorstellung. Deswegen sollten die Bürger ihren Staat nicht mehr
politischen Parteien anvertrauen. Die Neokraten forderten deswegen ja erst einmal
die Einführung einer Proteststimme, mit der Wähler ihre Ablehnung des
Parteienwesens und ihre Skepsis gegenüber der Parteiendemokratie bekunden
322
könnten. Auch die Empfehlung der Neokraten, diese Skepsis bis dahin durch aktives
Nichtwählen kundzutun, erscheine ihr inzwischen sehr plausibel.
Das verstünde ich wohl, sagte ich, Nichtwähler sei ich ja schon lange, aber insgesamt
klinge das doch reichlich kompliziert. Die Bürger überzeugen könne es nur, wenn es
auf einfachere Formeln reduziert würde.
- Die Demokratie, sagte sie, war die Antwort auf die Intoleranz der Monarchie.
Neokratische Reformen sind die Antwort auf die Inkompetenz der Demokratie.
Klingt das einfach genug?
- Aber nicht-demokratische Politik ist doch meistens noch inkompetenter, antwortete
ich.
Constanzes sah mich einen Moment lang entgeistert an.
Ja, sagte ich rasch, ich wisse schon, was sie meine. Wenn nichtdemokratische
Staaten noch inkompetenter seien als demokratische, dann entschuldige das nicht die
Inkompetenz der demokratischen.
- Genau, sagte Constanze. Trotzdem bleibe die Illusion, man müsse sich nur für die
richtige Partei entscheiden, damit in der Politik alles gut werde, natürlich
verführerisch. Für viele noch immer verführerisch - und noch gefährlicher - sei auch
die Illusion, Politik und Religion in eine Hand geben zu sollen. Diese Illusion habe
Teile der muslimischen Welt in der Entwicklung um mindestens ein Jahrhundert
zurückbleiben lassen. In der Entwicklung von Zivilisation und von Wohlstand,
ergänzte sie.
Die Neokraten, fuhr sie dann fort, muteten den Bürgern zu, sich von solchen
bequemen Illusionen zu verabschieden. Das sei in der Tat eine Zumutung, aber es sei
der Preis dafür, in einer möglichst hoch entwickelten Gesellschaft leben zu dürfen.
- Bis die Bürger dafür bereit sind, sagte ich, ist es aber noch ein sehr weiter Weg.
Schon vorher muss sich vieles ändern.
- Müsste, sagte Constanze in fast barschem Ton. Wird es aber nicht.
323
Danach fragte ich sie nur noch, welche politische Großtat sie sich denn für dieses
Jahrhundert am meisten wünschte.
- Das Ende des schleichenden Dritten Weltkriegs, sagte sie, ohne eine Sekunde zu
zögern. Und, was damit ja zusammenhänge, die Entscheidungsfreiheit über die
Staatszugehörigkeit.
- Was die Neokraten politische Assoziationsfreiheit nennen?
- Ja. Das allein ist ein Jahrhundertprojekt. Bis die Menschen sich daran gewöhnt
haben, wird es Generationen dauern.
Am nächsten Tag verbrachten wir Stunden damit, uns gemeinsam das aktuelle
Weltszenario der politischen Zivilisierung vor Augen zu führen. Es war das Szenario
eines erstarrten, sozial gespaltenen Europas, ebenso starrer und sozial noch tiefer
gespaltener USA, von Staaten, die wieder einmal die Kontrolle über Teile ihres
Staatsgebietes verloren hatten, vom anhaltenden Elend verarmter Mehrheiten in
vielen Staaten Afrikas und Asiens, von wieder aufflammenden gewaltsamen
ethnischen und konfessionellen Konflikten, von Bürgerkriegen und Kriegen um
Staatsgrenzen im Nahen Osten, von weiterem dramatischem Bevölkerungszuwachs
in Afrika und anderen Weltregionen, von ebenso dramatischer Schrumpfung der
Bevölkerung in Teilen Europas, von weiter eskalierenden Konflikten um
Einwanderung, von wachsender Energieknappheit, explodierenden Preisen für
knappe Rohstoffe und fossile Energieträger und vom Ausschluss großer Teile der
Weltbevölkerung von bezahlbarer Energie. Und von der globalen politischen
Inkompetenz, die all das zulasse.
Aber es gebe doch kleine Lichtblicke, wandte ich ein. Länder wie Kanada, die
skandinavischen Länder, die Schweiz, Österreich oder Luxemburg und mit
Einschränkungen auch Deutschland und sogar die USA hätten doch nicht nur ihren
Wohlstand weiter gesteigert, sie seien auch in ihrer politischen Zivilisierung
einigermaßen gefestigt.
- Einigermaßen, sagte Constanze. Aber das allein hält die Welt nicht stabil.
324
Ganz so düster wollte ich die kostbare Zeit mit Constanze nicht ausklingen lassen.
Kurz vor ihrer Abreise erzählte ich ihr dann doch noch von meinen langen
Gesprächen mit Tian in Peking. Wenn Tian und Gleichgesinnte sich dort
durchsetzten, erklärte ich, könnte China auch mit politischen Reformen die führende
Rolle in der Welt übernehmen, es könnte sogar Vorreiter in der politischen
Zivilisierung werden. Die Tians in China, die Neokraten und Robert Yang im
Westen, sagte ich, zusammengenommen gebe das doch Hoffnung für den Rest
unseres Jahrhunderts.
- Wer weiß, sagte sie versöhnlich. Große Veränderungen fangen immer irgendwo im
Kleinen an.
Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob sie es wirklich so meinte oder ob sie mich
nur nicht entmutigen wollte.
Ein halbes Jahr später, bei der Bundestagswahl 2073, gewannen die Neokraten zehn
Sitze. Sie hatten einen kuriosen Wahlkampf geführt. Einige Neokraten hatten dafür
plädiert, im Wahlkampf nur für das Nichtwählen zu werben, aber schließlich hatte
sich der Vorschlag durchgesetzt, sich um Sitze auf der Zuschauertribüne des
Bundestages zu bewerben. Ein Vorschlag im Geist von Klaus und Tilman. Eines der
Wahlplakate der Neokraten zeigte ihre Kandidaten, wie sie von der Zuschauertribüne
auf einen spärlich besetzten Plenarsaal hinunterblickten. Dazu Sprüche wie Rauf aus
der Froschperspektive - Die Neokraten.
Von nun an wussten alle, die es wissen wollten: Die Neokraten waren keine
verbissenen Theoretiker. Sie hatten hohe Ziele, aber sie hatten auch Humor. Auch
das unterschied sie von den meisten Parteipolitikern.
Natürlich stellten die Neokraten auch ein Wahlprogramm vor, aber das enthielt
nichts außer der Einführung der förmlichen Proteststimme ins Wahlrecht. Sie
versprachen, sich im Parlament ganz auf dieses Ziel zu konzentrieren und aus allem
anderen herauszuhalten. Sie wussten, dass sie auch damit keine Wählermassen
325
überzeugen würden, aber wieder erhielten sie weit mehr Stimmen, als sie erhofft
hatten.
2075 -… Ist das Jahrhundert noch zu retten?
Europa geht aufs Ganze
Eigentlich wollte ich dieses Buch mit dem dritten Jahrhundertquartal enden lassen,
und das nicht nur, weil ich mir in einer seltsamen Laune einmal ein
Erscheinungsdatum vor meinem 80. Geburtstag gewünscht hatte. Ich glaubte, ich
hatte bis dahin alles aufgeschrieben, was ich zu sagen hatte. Aber schon nach den
allerersten Ereignissen des letzten Jahrhundertquartals war mir klar, dass dies doch
ein allzu willkürlicher Abschluss gewesen wäre, und auch Constanze drängte mich
danach, noch eine Ergänzung zu schreiben. Also bündelte ich noch einmal die
Kräfte, um diese letzten Kapitel hinzuzufügen. Meinem Verleger gebührt Dank
dafür, dass er mir diesen Aufschub gewährt hat.
In den Jahren davor hatte ich gemeinte, auf das Thema Europa nicht noch einmal
eingehen zu sollen, aber nun kann ich die Krise der EU, die im Frühjahr 2075 ihren
Anfang nahm, nicht übergehen.
Die EU hatte sich schon in den sechziger Jahren Großes aufgebürdet. Das Projekt
einer gemeinsamen Armee aller EU-Staaten, das schon im ersten Jahrhundertquartal
jahrelang diskutiert wurde und dann scheiterte, lebte Ende der fünfziger Jahre wieder
auf. 2065 fiel die Entscheidung, diese gemeinsame Armee schrittweise zu realisieren.
Bis 2080 sollten die Armeen der Mitgliedsstaaten in der gemeinsamen europäischen
Armee aufgegangen sein.
Nachdem seit den vierziger Jahren nach und nach Serbien, Montenegro, Mazedonien
und Albanien und dann auch Bosnien Herzegowina in die EU aufgenommen worden
waren, waren 2066 auch Moldawien und die Ukraine dazugekommen. Auch diese
Länder sollten also an der kommenden europäischen Armee beteiligt werden.
326
Beitrittskandidaten mit mittlerweile sehr guten Aussichten auf eine Aufnahme in die
EU und deren Armee waren neben der Türkei auch Armenien und Georgien. Eine
Gruppe von Mitgliedsländern setzte sich zudem für die Aufnahme Israels ein.
Die Entscheidungen über die Osterweiterungen der EU und viel mehr noch die
Entscheidung über die europäische Armee waren unter den Mitgliedstaaten lange
umstritten gewesen. Der gemeinsamen Armee stimmten Österreich, Finnland,
Dänemark, Schweden, die Niederlande, Großbritannien, Portugal und Irland erst
unter massivem Druck der anderen Mitgliedstaaten zu.
Diese Länder wollten aber sichergehen, nicht noch einmal solchem Druck ausgesetzt
zu sein. Daher knüpften sie ihre Zustimmung an eine Reform der
Entscheidungsverfahren der EU. Sie setzten durch, dass sie bei künftigen
herausragenden Entscheidungen, insbesondere bei Aufnahmen neuer Mitglieder und
Einsätzen der europäischen Armee, ein rotierendes Vetorecht erhielten. Im Gegenzug
mussten sie akzeptieren, dass auch Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und
Polen ein solches Vetorecht eingeräumt wurde. Russland ausgenommen, hatte die
Europäische Union nun zwar fast ganz Europa als kommende militärische
Weltmacht geeint, aber sie hatte sich, wie sich bald zeigte, zugleich politisch
vollends handlungsunfähig gemacht. Entscheidungsfähig war die EU von nun an nur
noch in Routinefragen.
Was am Ende den Ausschlag dafür gab, das die seit fast siebzig Jahren schwelende
Europaskepsis in den siebziger Jahren ihrem bisherigen Höhepunkt zutrieb, ist
schwer zu ergründen. Eine Rolle spielte bei vielen sicher die Furcht, die EU verliere
mit ihren Erweiterungen weiter an politischer Reife, und eine wichtige Rolle spielte
natürlich auch die Entscheidungsschwäche der EU. Bei vielen schürte das Nahen der
gemeinsamen europäischen Armee - allen Vetorechten zum Trotz - darüber hinaus
offenbar die Angst, ihr Land könne gegen ihren Willen in riskante militärische
Abenteuer verwickelt werden. Wahrscheinlich musste all dies aber
zusammenkommen, um den Unmut über die EU so eskalieren zu lassen.
327
Hätte auch nur eine Regierung eines EU-Landes dies vorausgesehen, wäre wohl
weder das Projekt der gesamteuropäische Armee je beschlossen worden noch das
Vetorecht für einzelne Mitglieder. So aber konnten europaskeptische Parteien genau
diese Schwachstelle der EU erfolgreich für sich nutzen. In kleineren EU-Staaten
forderten sie das Vetorecht auch für das eigene Land ein. Eure Stimme für das Veto FPÖ, mit solchen Slogans warben immer mehr europakritische Parteien, nicht nur
bei den Europawahlen. Der Graben zwischen den europakritischen Parteien und den
etablierten Altparteien wurde dabei immer tiefer, und die europakritischen Parteien
wurden stärker denn je. In immer mehr EU-Staaten bildeten sich Notkoalitionen
zwischen Parteien, die außer dem Festhalten an den alten Strukturen der EU kaum
politische Gemeinsamkeiten hatten. So verloren mit der EU auch immer mehr
Mitgliedstaaten an politischer Handlungsfähigkeit.
Fast alle politischen Beobachter waren bis dahin überzeugt, dass die politische
Stimmungslage in den späten sechziger Jahren ihren Tiefstpunkt erreicht hatte. Die
frühen Siebziger belehrten sie eines Besseren. Seit den zehner Jahren war in jeder
Dekade mindestens ein Land der EU in eine ernste wirtschaftliche Krise geraten.
Jedes dieser Länder, darunter Italien, Portugal, Polen, Bulgarien, Rumänien, zweimal
Griechenland, nacheinander alle anderen Staaten Südosteuropas und, wenn auch
weniger dramatisch, Frankreich, mussten von der Europäischen Zentralbank vor dem
Bankrott bewahrt werden, und die Zentralbank musste mehrfach mit Steuergeldern
der Mitgliedstaaten rekapitalisiert werden. Jedes dieser Ereignisse trieb natürlich den
europakritischen Parteien neue Wählermassen zu.
2071 machten dann der Front National und die niederländische Partij voor de
Vrijheid mit einem Plan Furore, von dem erst später bekannt wurde, dass er mit
europakritischen Parteien anderer Länder abgestimmt war: Aufkündigung des
Projekts einer EU-Armee und Gründung einer gemeinsamen Armee zunächst
Frankreichs, der Niederlande, Belgiens, Deutschlands, Dänemarks und Schwedens.
Bei den folgenden Wahlen wurden die Partij voor de Vrijheid und der Front National
mit Abstand stärkste Partei in ihrem Land.
328
In den Jahren danach herrschte in Sachen Zukunft Europas eine fast gespenstische
Stille. Natürlich wussten auch die Europaskeptiker nicht, wie es mit Europa
weitergehen sollte, vom Konzept der "kleinen" Europa-Armee einmal abgesehen.
Aber auch sonst wagte kaum jemand, die Entwicklung der EU in aller Offenheit
weiterzudenken. Zu groß war die Angst, mit solchen Gedanken vollends ins
politische Abseits zu geraten.
Die meisten politisch interessierten Europäer wandten sich erst einmal tröstlicheren
Wendungen der Weltpolitik zu. Einen Hauch von Zuversicht verbreitete in dieser
Zeit die mentale Erschöpfung der arabischen Welt, die der Erschöpfung Europas
nach seinen zwei Weltkriegen zu ähneln schien. In der Tat war die
Gewaltbereitschaft im arabischen Raum schon seit Ende der vierziger Jahre langsam
zurückgegangen. Die meisten westlichen Beobachter waren sich wieder einmal einig,
dass dieser Teil der Welt nun keine andere Wahl hatte, als sich nach westlichem
Vorbild zu demokratisieren. Weiter war die Vorstellungskraft noch nicht gediehen.
Altfall Griechenland
Dass 2075 vier Länder der Euro-Zone gleichzeitig in eine Finanz- und
Wirtschaftskrise gerieten, hat natürlich Constanze viel mehr erregt als mich. Die
ganze Geschichte des Euro, schrieb sie mir in einer Mail, sei ein historisches
Lehrbeispiel für politische Unbelehrbarkeit. Ob nicht auch dafür in meinen
Manuskript noch Platz sei. Sie wisse natürlich, dass ich alles andere als ein Lehrbuch
schreiben wolle, aber ein Lehrbeispiel für Unbelehrbarkeit sei keineswegs nur eine
Sache für Lehrbücher. Diesen Wunsch konnte ich ihr nicht abschlagen. Ich will es
aber kurz machen und hierzu von Constanzes Gedanken nur den einen wiedergeben,
den ich am leichtesten verstand.
Schon bei der ersten Griechenland-Krise, meint Constanze, sei die Politik der EU
von Anfang an eine schleichende Konkursverschleppung gewesen. Dabei habe die
EU sich ganz darauf konzentriert, die Kosten dieser Politik vor den Bürgern zu
329
verbergen. Diese Kosten seien immens gewesen, aber trotzdem seien sie nicht als das
gewürdigt worden, was sie eigentlich hatten sein sollen: solidarische Hilfe.
Die Kritiker, erklärte Constanze, hätten immer wieder angeprangert, mit den
Finanzhilfen der EU würden vor allem griechische und europäische Banken und
nebenbei der griechische Staat gestützt, die Bürger Griechenlands dagegen
profitierten von diesen Hilfsgeldern kaum.
Das sei zwar sehr vereinfacht, meint Constanze, aber im Grunde doch richtig. Eine
wirklich solidarische Politik, die auch moralisch gewürdigt würde, hätte ganz anders
ansetzen müssen. Eine solche solidarische Politik hätte das Konzept der
Bürgergeldhilfe anwenden sollen. Die reichen EU-Staaten hätten jedem Griechen in
der Krise eine laufende Unterstützung zahlen sollen, zu Anfang monatlich z.B. 200
Euro, für eine vierköpfige Familie mithin monatlich € 800,-. Im Gegenzug hätte die
EU den Griechen dann die bittere Wahrheit beibringen müssen, dass ein Crash, eine
Staats- und Bankenpleite also, nicht zu verhindern sei, auch wenn es ein Crash auf
Raten wäre. Die Botschaft hätte also sein müssen: Wir können euren Staat nicht
retten und nicht alle eure Banken, wir können euch auch nicht in der Euro-Zone
halten, eure Einkommen werden eine Zeitlang sinken, aber mit unserer Hilfe,
beginnend mit monatlich € 200,- für jeden von euch, vom Baby bis zum Greis, wird
es für euch glimpflich ausgehen. Also konzentriert euch schon jetzt auf die Zeit nach
dem Crash. Findet euch damit ab, dass ein Teil eurer Ersparnisse verloren ist und
dass viele von euch nach dem Crash andere Arbeit an einem anderen Ort zu
geringerem Lohn werden tun müssen. Je rascher ihr das annehmt, desto eher wird der
Crash überwunden sein. So könnte ihr eure Wirtschaft und euren Staat aus eigener
Kraft neu aufbauen, und ihr werdet stolz darauf sein.
- Welcher Grieche hätte dazu nein gesagt?, fragte Constanze, und sie gab sich selbst
die Antwort: Nur die, die viel zu verlieren hatten. Die Wohlhabendsten.
- Aber warum, fragte ich, hat dann niemand in Europa diese Lösung gewollt?
- Alte Dogmen, sagte sie nur.
330
Ob die EU sich denn bei den absehbaren neuen Krisen auf solche neuen Konzepte
der Krisenbewältigung einlassen werde, fragte ich noch.
- Nein, sagte sie.
Deutsche Zustände
Das Ereignis in Deutschland, das sich mir für einen Nachtrag an dieser Stelle zuerst
aufdrängte, war auf den ersten Blick unscheinbar. Im Sommer 2075 begannen die
etablierten Altparteien mit ihren Planungen für die Bundestagswahl 2077. Sie
entwickelten die üblichen Szenarien denkbarer Wahlausgänge und stellten fest, dass
die politische Lage instabiler werden könnte denn je. Scheinbar ausweglose
Szenarien ergaben sich schon bei einem Stimmenanteil der Neokraten von 4%. Das
aber war nach letzten Umfragen nicht mehr auszuschließen.
Die etablierten Parteien einigten sich schließlich mit den Deutschen Demokraten und
den Grünen darauf, das Wahlgesetz zu ändern und die Hürde für den Einzug in den
Bundestag auf 7% der Stimmen anzuheben. Dass dies unter den gegebenen
Umständen verfassungskonform sei, ließen sie sich von führenden
Verfassungsrechtlern in einer Reihe von Gutachten bestätigen. Die Begründung
lautete: Die aktuelle Lage Deutschlands, Europas und der Welt erfordere höchste
politische Stabilität und Berechenbarkeit, und diese seien mit dem Wahlrecht in
seiner aktuellen Fassung nicht mehr gewährleistet. Das Urteil des
Verfassungsgerichts von 2035, das die 5%-Hürde für unzulässig erklärt hatte, sei
unter den damaligen Umständen zwar richtig gewesen, aber die Umstände hätten
sich grundlegend gewandelt.
Das Bundesverfassungsgericht bestätigte diese Rechtsauffassung im Dezember 2075
in einer Eilentscheidung, und es fügte hinzu: Die Demokratie müsse sich in
instabilen Zeiten gegen Systemveränderer zur Wehr setzen können, und das
Wahlrecht sei dafür ein legitimes Mittel. Erfahrene Beobachter schlossen daraus,
dass das Gericht die Neokraten zu den Systemveränderern zählte.
331
Ich fragte mich, ob das Land mit dieser Entscheidung in seiner Reformfähigkeit nicht
weit zurückgeworfen sei. Wieder einmal war es Constanze, die mich in meiner
Vermutung bestätigte. Die Stabilität, meinte sie, der diese Wahlrechtsänderung
dienen solle, sei nichts anderes als Erstarrung. Es war mir fast peinlich, dass ich mir
das von Constanze erklären lassen musste. Natürlich geht fast jeder großen
Erneuerung ein gewisses Maß an Instabilität und Unordnung voraus. Wer Instabilität
ausschließt, der schließt daher auch Erneuerung aus. Genau das, meinte Constanze,
sei doch das Drama der Demokratien in unserem Jahrhundert.
Alles sprach tatsächlich dafür, dass die etablierten Parteien sich jetzt erst einmal
zwanzig Jahre lang zurücklehnen konnten. Die Muslimisch-Sozialen hatten sich
selbst geschwächt, die Neokraten waren auf absehbare Zeit aus dem Parlament
ausgesperrt, und neue Parteien, die die 7%-Hürde überspringen könnten, waren nicht
in Sicht. Was hätte auch deren Botschaft sein sollen?
Ein einziges Ereignis in Deutschland ließ in dieser Zeit wirklich aufhorchen, ein
Vorstoß der Deutschen Demokraten. Sie forderten Bürgerentscheide über die
europäische Armee. Aber sie forderten dazu nicht etwa nur ein simples Ja oder Nein,
ihre Forderung war viel klüger. Die Bürger sollten darüber entscheiden, welche
Länder an einer solchen Armee beteiligt sein sollten und welche nicht. Immerhin
eine klügere Forderung zu diesem Thema, als die niederländische Partij voor de
Vrijheid sie in ihrem Programm hatte.
Diese Forderung mochte auf den ersten Blick unverfänglich erscheinen, aber bei
näherem Hinsehen war sie alles andere als das. Um zu urteilen, mit welchen Ländern
sie eine gemeinsame Armee betreiben wollten und mit welchen nicht, müssten die
Bürger sich erst einmal über die friedenspolitische Kultur dieser Länder im Klaren
sein. Das war schwierig genug. Noch schwieriger war: Der Kreis der Länder, die an
einer gemeinsamen Armee zu beteiligen sind, würde sich kaum in einem einmaligen
Bürgerentscheid bestimmen lassen.
332
Als die Deutschen Demokraten dies verstanden hatten, machten sie sich auf die
Suche nach brauchbaren Lösungsvorschlägen. Dabei stießen sie schließlich auf
Robert Yang. In seinem Konzept für Online-Referenden zur politischen
Unabhängigkeit vermuteten sie einen aussichtsreichen Ansatz.
Fast gleichzeitig stießen sie darauf, dass auch die Neokraten sich sehr genau mit
dieser Frage befasst hatten. Für die Neokraten war das Selbstbestimmungsrecht
darüber, wer mit wem gemeinsame Streitkräfte unterhält, sogar ein Grundrecht. Wie
dieses Grundrecht wahrzunehmen sei, dazu hatten sie konkrete Verfahrensvorschläge
entwickelt. Die Deutschen Demokraten mussten erkennen, wie wenig sie die
Konsequenzen ihres Vorschlags durchdacht hatten.
Dass die Deutschen Demokraten ausgerechnet bei Yang und den Neokraten Ideen
und Rat suchten, brachte nicht nur sie selbst in Verlegenheit. Kontakte zu Yang und
den Neokraten würden den Deutschen Demokraten auch die eigenen Anhänger
verübeln. Umgekehrt würden Yang und den Neokraten von deren Anhängern
Kontakte mit den Deutschen Demokraten schwer verübelt. Eigentlich wünschte man
sich allseits Kontakte, aber alle behielten es für sich. Sie wussten: Man würde
voneinander lernen können, aber wenn es bekannt würde, würden andere die
Gewinner sein.
Eines aber hat der Vorstoß der Deutschen Demokraten immerhin bewirkt. Er führte
dazu, dass Yang und die Neokraten endlich enger zusammenfanden, um
Gemeinsamkeiten zu erkunden und ggf. zu entwickeln. So begann deren Konzept zu
reifen: Landesverteidigung wird zur eigenständigen Staatssparte, und über deren
Grenzen entscheiden die Bürger mit Online-Referenden, wie Yang sie konzipiert
hatte. Die politische Landkarte der Landesverteidigung würde also direkt von den
Bürgern gestaltet. Das war schon fast ein Stück Utopie, und die Deutschen
Demokraten waren unversehens in deren Nähe gerückt.
Nach der Wahl 2077 bildeten die Sozialdemokraten mit der IG Senioren und den
Grünen eine Minderheitsregierung. Viel bewegen würden sie gemeinsam nicht, das
333
wussten alle, aber es könnte reichen, um sich eine Legislaturperiode lang als
Gewinner zu fühlen.
Denkwürdige Zusammenkunft
Interessierte es mich als 79jährigen - in einem Alter, in dem die Wenigsten politische
Ereignisse noch mit großer Anteilnahme verfolgen - wirklich noch, ob Yang und die
Neokraten erste Kontakte geknüpft hatten, die vielleicht in zwanzig Jahren einmal
konkrete Folgen haben würden? Ich hatte jahrzehntelang im Zwiespalt zwischen
politischer Weitsicht im Hauserschen Sinn und der kürzeren Sicht der Generation
Sichtflug gelebt. Was lag näher, als sich in meinem hohen Alter mit der kürzeren
Sicht zu begnügen?
Demnächst würde ich achtzig werden. Der Gedanke irritierte mich. Nicht etwa, weil
ich mir selbst zu alt war. Das Altsein hatte mich nie irritiert, auch nicht das
Älterwerden, aber irritiert war ich von dem Gedanken, meinen achtzigsten
Geburtstag feiern zu sollen. Würde es so sein wie meistens bei späten runden
Geburtstagen, bei denen nostalgisch in die Vergangenheit hineingefeiert wird? Keine
Rede mehr von Herausforderungen, von Wagnissen, von Risiken, von Zukunft
überhaupt, höchstens noch ein trotziges: auf weitere soundso viele Jahre? Ja,
schmeicheln würde es mir, aber nein, so würde ich es nicht wollen. Das wussten auch
die anderen. Wenn es zu meinem Achtzigsten etwas anderes zu feiern gäbe als mich,
irgendetwas Zukunftsträchtiges, ja, dann würde ich mitfeiern wollen, ein rauschendes
Fest sogar, soweit ich es noch kann, ein Fest in die Zukunft hinein, und dann würde
ich, wenn es so sein soll, nebenbei auch mich mitfeiern lassen. Ansonsten höchstens
ein stilles Fest des Zuschauens, des Beobachtens.
Constanzes Mann war 2074 gestorben, nach zwei beschwerlichen Jahren in einer
betreuten Wohnanlage. Aber auch in dieser Zeit staunte ich, wenn ich ihre Mails las,
noch oft über die Jugendfrische ihrer Gedanken. Ich habe sie im geistigen Altern
überholt, dachte ich einige Male, ich bin im Denken bequemer geworden. Nach dem
Tod ihres Mannes kam dann mehr als ein Jahr lang kein Lebenszeichen von ihr.
334
Aber dann, ganz unvermittelt, als sei der letzte Kontakt erst gestern gewesen, schrieb
sie: Du denkst doch sicher schon an deinen Achtzigsten.
- Nein, tue ich nicht, antwortete ich.
- Aber ich.
- Ist ja noch lange hin, schrieb ich. Ich will ja auch nicht feiern.
- Ein Grund zum Feiern findet sich schon, schrieb sie Wochen später.
Eine Floskel, dachte ich. Danach tauschten wir wieder Mails über die üblichen
Themen aus, meist über kleine politische Beobachtungen und darüber, ob sie eher zu
Hoffnungen oder zu Hoffnungslosigkeit Anlass gaben. Bei mir war mehr
Hoffnungslosigkeit, bei ihr etwas mehr Hoffnung,.
Ein Grund zum Feiern finde sich schon - ich hätte wissen sollen, dass das mehr als
eine Floskel war. Wenn es jemanden gab, der Floskeln scheute, dann Constanze.
Was also konnte sie gemeint haben? Zum Beispiel: Wenn mir mein Achtzigster kein
Grund zum Feiern war, dann würde sie einen anderen Grund schaffen. Ich hätte es
mir denken können, aber so viel Phantasie hatte ich nicht. Ich hatte nie so viel
Phantasie gehabt wie Constanze.
Ich weiß nicht, ob ich je mit ihr darüber gesprochen hatte, aber in den Jahren davor
hatte ich manches Mal darüber nachgedacht, wen ich zu Lebzeiten unbedingt noch
einmal würde treffen und wen ich noch würde kennenlernen wollen. Es waren
flüchtige Gedanken. Ich dachte dabei natürlich auch an Tian, dann an Klaus, den
Hofnarr des Archivs, an Tilman, seinen Nachfolger, an Kiesewetter, den geschassten
Chefredakteur, und sogar an den alten Mesäcker. Einmal meinte ich sogar, ich würde
Robert Yang gern noch kennenlernen, was mir dann aber vermessen erschien.
Warum sollte der große Weltaktivist Yang einen kleinen pensionierten SPIEGELArchivar treffen wollen? Dann doch eher Halsdorf, den Milliardärflüsterer, überlegte
ich, aber auch den Gedanken verwarf ich.
335
Drei Monate vor meinem Achtzigsten schickte Constanze mir eine lange Mail. Die
Neokraten würden am Tag vor meinem Achtzigsten ein Seminar in Hamburg
veranstalten, für das sich auch Nichtmitglieder anmelden könnten.
- Wenn du dabei bist, schrieb sie, dann komme ich auch.
- Freut mich sehr, antwortete ich, aber eine Geburtstagfeier machen wir danach nicht.
Wir verabredeten uns in der Eingangshallte des Tagungshauses in Eimsbüttel. Als
ich ankam, waren schon viele in der Halle versammelt. Ich sah mich von der
Eingangstür aus um, von Constanze keine Spur. Dann sah ich im hinteren Winkel
eine kleine Personengruppe, jemand winkte mir zu. Ich musste lange hinschauen.
War das Klaus? Ja, die Art, wie er sich bewegte, das konnte nur er sein. Neben ihm
ein älterer Mann, etwa in meinem Alter, schien es mir, mit einem Profil, das mir
bekannt vorkam. Auch ihn schaute ich lange an, bis er Arme und Lippen bewegte.
Kiesewetter! Klaus und Kiesewetter, zwei vertraute SPIEGEL-Leute von damals. Ein
warmes Gefühl kam auf, gegen das ich mich nur kurz wehrte. Ja, ich freute mich.
Aber wer waren die anderen? Wo war Constanze? Ich ging auf die Gruppe zu, dann
sah ich einen jüngeren Mann, Mitte bis Ende vierzig, selbstbewusste Miene,
markante schwarze Brille. Seine Hände lagen auf den Handgriffen eines Rollstuhls.
Im Rollstuhl eine Frau mit schlohweißem Haar. Erst als ich ganz nah war, sah ich ihr
Gesicht. Constanze.
Constanze im Rollstuhl, schlohweiß. Ich erschrak, fasste mich, ging auf sie zu,
drückte ihr die Hand, umarmte sie.
Sie gab dem Mann hinter ihr ein unauffälliges Signal, der schob den Rollstuhl aus
der Gruppe heraus, und ich folgte ihr.
- Ich sehe einige bekannte Gesichter hier, sagte ich. Hast du das veranstaltet?
- Ja, deinetwegen, sagte sie. Sie sind deinetwegen hier.
- Dann schwieg sie und lächelte und drehte sich um zu dem Mann hinter ihr.
- Dein Sohn?, frage ich. Sie sind der Sohn?
336
- Ja, sagte er.
- Freut mich, dass alles geklappt hat, sagte Constanze, und dass alle gekommen sind.
Wir gehen zusammen ins Seminar, danach treffen wir uns im Bistro. Das ist für uns
reserviert.
- Wer ist wir?, fragte ich.
- Lass dich überraschen.
Dann das Seminar. Zuerst ein Vortrag von Paul Meier, Vorstandsmitglied der
Neokraten. Es war eine Tour de Force durch deren Programmatik. In einer knappen
Stunde breitete Meier politische Zukunftsszenarien aus. Manches davon erinnerte
mich an Hauser, anderes an Tian, wieder anderes an das, was ich über Robert Yangs
Ideen wusste, nur weniges erschien mir ganz und gar fremd. Trotzdem kostete es
mich einige Anstrengung, Meier zu folgen. Bei den meisten Teilnehmern dagegen
von Anstrengung keine Spur. Ich bin viel älter als die meisten, dachte ich, daran wird
es liegen.
Dann die Podiumsdiskussion. Ein kleiner Tisch mit vier Stühlen. Meier bat die
Mitdiskutanten zu sich. Ich war in Gedanken noch bei Fragen, die ich zu seinem
Vortrag hätte stellen mögen, dann sah ich, wie Meier mit strahlendem Lächeln auf
drei Männer zuging, einer etwa in meinem Alter, einer eine halbe, der andere fast
eine Generation jünger, und ihnen die Plätze zuwies. Jetzt erst hörte ich die Namen:
Hier bitte, Herr Kiesewetter, here on my left please, Mr Yang, Sie, Herr Mesäcker,
bitte hier rechts. Dann erst erkannte ich die Gesichter. Yang, Kiesewetter und
Mesäcker an einem Tisch, zu Gast bei den Neokraten. Morgen wirst du achtzig, sagte
ich mir, du musstest achtzig werden, um das zu erleben. Aber immerhin, du erlebst
es. Altwerden kann sich lohnen, das zumindest hatte ich immer geahnt.
Was folgte, war keine Diskussion, eher eine Befragung. Meier hatte eine klare
Agenda. Sie alle wissen, sagte er, dass wir hier keine Talkshow machen, wir arbeiten
auf Entscheidungen hin. Dass die Zuhörer über die Ideen der Neokraten und Robert
Yangs Bescheid wussten, setzte er offenbar voraus.
337
Dann wandte er sich Robert Yang zu.
- Sie und wir, sagte er zu Yang, wünschen uns eine politische Zukunft jenseits der
alten Demokratie. Darüber müssen wir hier nicht diskutieren. Wir wollen darüber
reden, wie wir unsere Konzepte bekannter machen können. Das sei schwierig genug,
fuhr er fort, und dabei könne man bekanntlich viel falsch machen. Überall lauere die
Gefahr, mit alten Ideologien und Vorurteilen in Verbindung gebracht zu werden.
Deswegen habe Yang sich früher mit öffentlichen Auftritte lange zurückgehalten,
und die Neokraten versuchten es immer noch. Die Frage sei nun, ob die Zeit reif sei
für ein offensiveres Auftreten.
- Sie, Robert Yang, sagte er dann, haben sich in letzter Zeit sehr dafür eingesetzt.
Warum?
- Weil es eilt, sagte Yang. Nicht für ihn und seine Mitstreiter, aber die Welt brauche
schnelle Veränderungen. Dass die Spätfolgen unentschlossener Klimapolitik und
Bevölkerungspolitik zu einem Weltdrama würden, sei schon lange nicht mehr
abwendbar, und umso weniger sei hierbei weitere Unentschlossenheit noch
hinnehmbar. Auch politische Unabhängigkeitsbestrebungen, die sich in der Welt ja
immer weiter ausbreiteten, könnten nicht mehr so missachtet werden wie bisher. Wir
sind bereit, sagte Yang dann. Die virtuelle Weltklimaregierung habe großartige
Vorarbeit geleistet, jetzt könne darauf aufgebaut werden. Auch die Verfahren für die
freie Wahl der Staatszugehörigkeit seien praxisreif, es fehle nur noch der Mut, sie
anzuwenden.
Dann hielt er kurz inne, und dann sagte er fast beiläufig: Aber einiges
Aufsehenerregende werde vielleicht doch schon sehr bald passieren. Es könnte in
Europa bald eine oder zwei offizielle Entmonarchisierungen geben, die erste
vermutlich in Katalonien. Das dürfe aber natürlich nur der Anfang sein.
Meier unterbrach ihn. Er, Yang, wisse ja, mit wie viel Sympathie die Neokraten seine
Aktivitäten seit Langem verfolgten, aber er wisse ja auch, welche Zwischenschritte
die Neokraten auf dem Weg zu grundlegenden Reformen für notwendig hielten:
338
Protest durch Nichtwählen, Durchsetzung förmlicher Proteststimmen, offene
Verfassung und permanenter Verfassungsrat. Dazu sähen die Neokraten weiterhin
keine Alternative, und dafür erhofften sie sich auch den Schulterschluss mit Yang
und seiner Bewegung.
Dann wandte Meier sich an Kiesewetter. Welche Chancen er, Kiesewetter, denn
sehe, dass Yang und die Neokraten die Unterstützung einflussreicher Medien
gewönnen.
Kiesewetters Antwort war kurz und bündig. Die Eigentümer der einflussreichen
Medien hätten entweder kein Interesse an großen Veränderungen oder nicht den Mut,
sich dazu zu bekennen. Die Neokraten sollten sich daher weiter auf kleinformatige
Öffentlichkeitsarbeit konzentrieren, auf kleine informelle Veranstaltungen und auf
soziale Netzwerke. Die großen Medien würden sie erst gewinnen, wenn diese nicht
mehr anders könnten. Irgendwann werde es hoffentlich so kommen, aber wann, dazu
wage er keine Prognose.
Meier wandte sich nun Mesäcker zu.
Was will der denn hier?, flüsterte ich Constanze zu, und sie flüsterte zurück: Wart's
ab, auch ein Mesäcker könnte sich verändert haben.
Meier fragte Mesäcker, ob über die Konzepte Yangs und der Neokraten in den
Parteien überhaupt gesprochen werde, und wenn, dann in welchen.
In seiner Partei nicht, sagte Mesäcker, zumindest offiziell nicht, und wahrscheinlich
auch nicht in anderen Parteien. Eine Ausnahme seien vielleicht die Deutschen
Demokraten, die ja immer noch versuchten, sich nach außen von den etablierten
Altparteien zu unterscheiden. Er meine sogar, dass einige Deutsche Demokraten die
politische Unabhängigkeit Bayerns wieder ins Gespräch bringen wollten und dass sie
sich dabei womöglich auch auf Yang und die Neokraten berufen würden.
- Schlimmeres, warf Meier entrüstet ein, könnte uns Neokraten nicht passieren.
- Das verstehe ich sogar, sagte Mesäcker.
339
Meier sah Mesäcker verblüfft an. Er war auf ein Streitgespräch mit Mesäcker
eingestellt gewesen, und nun dies, diese verständnisvolle Bemerkung Mesäckers, mit
der er am wenigsten gerechnet hätte.
Meiner hielt kurz inne, als wolle er doch noch die streitigen Argumente gegen
Mesäcker anbringen, mit denen er sich im Voraus gewappnet hatte, aber all das wäre
nun ins Leere gegangen. Stattdessen setzte er zu einem versöhnlichen Schlusswort
an. Wenn irgendwelche bizarren bayerischen Separatisten sich auf Konzepte von
Yang und den Neokraten beriefen, sagte er, dann würde das wieder einmal zeigen,
wie leicht neue Ideen zwischen alte politische Fronten geraten. Wenn das einigen an
diesem Abend noch klarer geworden sei, dann habe die Veranstaltung sich schon
deswegen gelohnt.
Fast alle im Raum klatschen Beifall.
Ich wollte danach rasch aufstehen, aber Constanze fasste mich am Arm.
- Interessant genug für jemanden, der morgen achtzig wird?, flüsterte sie.
- Natürlich. Danke, dass du mich hierher gelockt hast.
- Das war ja nur das Vorprogramm, sagte sie dann. Im Bistro geht's weiter. Also bis
gleich.
Ich bot mich an, ihren Rollstuhl zu schieben, aber ihr Sohn kam mir zuvor und schob
sie eilig weg.
Im Bistro waren zwei große Tische zusammengestellt. Als ich hineinkam, saß
Constanze schon am Kopf eines der Tische, die Ellenbogen aufgestützt, vor ihr ein
Blatt mit handschriftlichen Notizen. Die Plätze um sie herum waren besetzt, nur zwei
Plätze ihr gegenüber waren frei.
- Setz dich, sagte sie, da drüben.
Ich sah von einem zum anderen. Constanzes Sohn, daneben Robert Yang, dann
Claude Halsdorf, der Milliardärflüsterer, dann ein Sohn von Xavi Puig, dann Klaus
vom Archiv, dann Kiesewetter, dann Meier von den Neokraten, dann Mesäcker.
340
Einer fehlt leider noch, sagte Constanze, sein Flug ist verspätet.
In dem Moment öffnet sich die Tür, ich drehe mich um. Tian! Ich stehe auf, gehe auf
ihn zu, umarme ihn, geleite ihn wortlos zum Platz neben mir. Dann bringt Constanze
mit einer kurzen Handbewegung alle zum Schweigen. Dann begrüßt sie einen nach
dem anderen, stellt jeden mit ein paar treffenden Sätzen vor. Dann sagt sie:
- Ich hatte nie geglaubt, je Teil einer solchen Runde sein zu können. Danke euch
allen, dass ihr da seid.
Dann begann sie zu reden. Beredt und souverän war sie immer gewesen, aber so
bewegend, ja fast ergreifend wie jetzt hatte ich sie nie erlebt. Meinen Geburtstag
erwähnte sie dabei mit keinem Wort, aber alle schienen Bescheid zu wissen. Ich,
Matthias Schmidt, ein alter pensionierter SPIEGEL-Archivar, wird morgen achtzig,
und Constanze bringt dazu Menschen zusammen, die für mich die wichtigsten der
Welt waren. Keine Feier, nur eine kleine Gesprächsrunde in einem kleinen Bistro,
und doch das größte Geschenk, das ich mir hätte wünschen können.
Constanze sprach lange, aber zu lang wurde es niemandem. Sie und ich seien neben
Mesäcker die Ältesten in der Runde, wir kennten uns seit Studienzeiten, und eine
unserer ersten gemeinsamen Erinnerungen sei ein Professor Graf gewesen, der uns
als kurzsichtige Generation Sichtflug abgekanzelt habe. Später hätten wir beide im
SPIEGEL-Archiv unter dem mittlerweile legendären Archivleiter Hauser, meinem
Vorgänger, gearbeitet, einem Mann, für den die Weitsicht oder, wie er es genannt
habe, der Blick ins Weite ein lebenslanges Leitmotiv gewesen sei. Seitdem hätten
wir beide, jeder für sich, uns immer wieder gefragt, zu wie viel Weitsicht Politik in
diesem Jahrhundert fähig sein werde. Diese Frage sei ja immer noch nicht
beantwortet oder wenn, dann allenfalls negativ. Sie sei eigentlich nur Ökonomin,
sagte sie, aber als Beraterin habe sie viele Eindrücke gesammelt, die genau dies
bestätigten.
Dann fing sie an, eine Art politisches Weltszenario auszubreiten, von dem ich zuerst
meinte, dass es in dieser hochkarätige Runde überflüssige Selbstverständlichkeiten
341
seien. Aber sie trug es mit solcher verblüffenden Verve und solch altersweisem
Charme vor, dass niemand auch nur für einen Moment den Blick abschweifen ließ.
Sie sprach vom schleichenden Dritten Weltkrieg, der ja wieder nur eine
Verschnaufpause eingelegt habe, von den schwelenden Konflikten um politische
Unabhängigkeit und davon, dass auf Dauer nur die Wahlfreiheit über die
Staatszugehörigkeit die Welt werde befrieden können. Dann streifte sie kurz die
gefährlichsten Konfliktherde der Welt in Asien und Afrika, dann sprach sie über die
weltweit zunehmende wirtschaftliche, politische und militärische Verwundbarkeit
durch Cyber-Attacken, die inzwischen die atomare Bedrohung fast habe vergessen
lassen, dann über die Überbevölkerung, die trotz verringerten
Bevölkerungswachstums immer gefährlicher werde, da der Raubbau an Rohstoffen
sich weiter beschleunige. Den Preis dafür würden viele Menschen schon in diesem
Jahrhundert zahlen - mit verringerten Chancen auf Wohlstand und damit auf Bildung
und Zivilisierung. Dann sprach sie über die globale Erwärmung, die noch nicht
einmal annähernd gestoppt sei, eine böse Hinterlassenschaft der lebenden
Generationen nicht nur an das nächste Jahrhundert, und darüber, dass die großen
sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die skandalösen Gerechtigkeitslücken, die
immer irgendwo lauernde Massenarbeitslosigkeit und die Unbelehrbarkeit der
Zentralbanken fast in Vergessenheit gerieten, aber nur, um irgendwann mit umso
größerer Wucht auf die politische Agenda zurückzukehren.
Die Mehrheit hier am Tisch, sagte sie dann, sei sich sicher darüber einig, dass das dabei sah sie Mesäcker aufmunternd an - nicht die Schuld einiger führender Politiker
dieser Welt sei, sondern ein Systemversagen. Ein Versagen auch der Demokratie, vor
allem - jetzt streifte sie Mesäcker mit einem eher entschuldigenden Blick - der
Parteiendemokratie.
Dann machte sie eine Pause, drückte den Rollstuhl von der Tischkante weg und
schaute in die Runde. So, sagte sie dann, nun habe sie ein Problemszenario
ausgebreitet, das möge genug sein. Den meisten in dieser Runde sei ja die
Beschreibung von Problemen nicht genug, sie dächten über deren praktische Lösung
342
nach. Nun habe sie den unbescheidenen Wunsch, dass reihum jeder dazu etwas
beitrage, was ihm wichtig erscheine, mich ausgenommen, denn ich sei heute ja zum
Zuhören eingeladen.
Mesäcker war der Erste. Er habe geahnt, sagte er, dass er an diesem Tag
Erstaunliches hören werde, aber es sei noch weit erstaunlicher, als er es erwartet
habe. Er habe großen Respekt vor dieser Runde und auch vor dem, was er vorher bei
den Neokraten gehört habe, aber spontan könne er dazu nichts Wichtiges beitragen.
Auch er wolle lieber nur Zuhörer sein.
Klaus sah ihn mit verschmitztem Lächeln an.
- Das ist doch schön, wenn einmal ein früherer Politiker im Alter zum guten Zuhörer
wird.
Mesäcker blieb gelassen.
- Sie mögen sogar Recht haben, sagte er, und ja, dazu könne er sich in dieser kleinen
Runde als alter Mann durchaus bekennen, auch er denke manchmal darüber nach, ob
er sich in seinem Politikerleben fürs Zuhören und auch für das Nachdenken genug
Zeit genommen habe. Auf jeden Fall wünsche er sich, dass Politiker es damit in
Zukunft leichter hätten.
- Ich gratuliere Ihnen zu dieser Einsicht, warf Meier ein, mit dieser Einsicht fängt
neokratisches Denken an.
Und dann, in die Runde blickend:
- Sie, Herr Mesäcker, haben also als Politiker Dinge entschieden, über die sie zu
wenig wussten und zu wenig nachgedacht haben. So verstehe ich Sie.
- Vielleicht, sagte Mesäcker. Aber hatte ich eine andere Wahl?
- Nein, sagte Meier, die hatten sie nicht. Auch Sie waren eben Opfer eines
Systemversagens.
Er schaute wieder in die Runde.
- Und wir alle mit Ihnen.
343
Mesäcker sah ihn verdutzt an, dann lächelte er, dann sah er, wie alle anderen
schmunzelten, dann lachten alle, auch Mesäcker, für eine Sekunde befreit auf. Von
dem Moment an war die Stimmung ganz und gar gelöst, und wir waren eine
vertraute, fast intime Runde.
- Bin ich dran?, fragte Halsdorf dann.
- Ja, sagte Constanze. Sie erklären uns ganz kurz, ob Geld die Welt rettet.
Halsdorf lächelte. Dass die Welt mit Geld allein nicht zu retten sei, sagte er, auch mit
viel Geld nicht, dass wüssten hier natürlich alle, aber ohne viel Geld erst recht nicht.
Yang habe ja gezeigt, wie viel Geld sich, wenn man es geschickt anstelle, für große
politische Ideen mobilisieren lasse, nicht nur in Amerika. Immer mehr private
Milliardenvermögen würden in Stiftungen überführt, und fast alle diese Stiftungen
seien irgendwie auf Sinnsuche, und das bedeute auch: auf Ideensuche. Was derzeit
knapp sei, sei daher nicht großes Geld, das in der Politik Gutes tun wolle, knapp
seien vielmehr die großen Ideen, aus denen Gutes entstehen könne. Deswegen habe
Robert Yang für seine Ideen so viel Geld mobilisieren können, und die Neokraten in
Deutschland sollten es nun auch versuchen. Sie sollten es tun, schloss er, solange
noch genügend Superreiche offen seien für neue politische Ideen. Keiner wisse, wie
lange es so bleibe.
Der junge Puig fühlte sich angesprochen, und er nickte Halsdorf zu. Die meisten
Milliardäre seien als Ideenförderer in der Tat launisch und unstet. Sein verstorbener
Vater sei allerdings seinem großen politischen Thema bis zum Lebensende treu
geblieben und zu Robert Yang immer loyal, und er selbst wolle das auch sein.
- Andererseits, mischte Meier sich ein, hat die Abhängigkeit vom großen Geld
politischen Ideen nie gutgetan. Wenn z.B. der Förderer einer Idee in Misskredit
gerät, dann gerät die Idee oft mit unter die Räder. Wir Neokraten wollen unsere
Sache daher weiter behutsam voranbringen. Die so genannte Weltrettung, das wissen
wir alle, verträgt keinen Aufschub, aber einen gescheiterten Rettungsversuch verträgt
die Welt erst recht nicht.
344
Yang hob ungeduldig die Hand. Das verstehe er, sagte er, aber für sein Projekt sehe
er das anders. Wenn sein Projekt scheitere, dann seien damit keine Ideen gescheitert,
sondern er selbst. Dann habe er vielleicht hunderte Millionen verschwendet,
vielleicht auch Milliarden, dann zögen sich womöglich die Milliardäre dieser Welt
von solchen Projekten erst einmal zurück, aber dann müsse er sich wenigstens nicht
vorwerfen, zu lange gezögert zu haben. Dann sei es nicht seine Schuld, sondern dann
sei der Welt eben nicht zu helfen gewesen. Er werde in nächster Zeit versuchen, die
Weltöffentlichkeit auch mit aufsehenerregenden Aktionen aufzurütteln.
Meier wollte mit einem Kopfschütteln auf sich aufmerksam machen, aber Yang ging
gleich zu seinem nächsten Thema über.
- Ich weiß, begann er, dass auch die Neokraten sich für die freie Wahl der
Staatszugehörigkeit einsetzen, vielleicht sogar noch konsequenter und radikaler als
ich. Das hat mich natürlich bestärkt. Ich bin sogar sicher, dass das Konzept der
Neokraten und das von Puig und mir entwickelte vollständig zusammenwachsen
werden.
Dann sprach er lange über das Verfahren der Online-Referenden zur politischen
Unabhängigkeit. Diese Entwicklung sei - wie meistens in solchen Fällen - viel
aufwändiger gewesen als geplant. Ein großes Problem sei die Fälschungssicherheit
gewesen, aber nicht weniger schwierig der Ausschluss von Zufallsergebnissen. Erst
Puig habe ihn darauf gestoßen, dass die Ergebnisse herkömmlicher demokratischer
Wahlen oft Zufallsergebnisse seien, Momentaufnahmen, die nur flüchtige
Stimmungen abbildeten. Sein Abstimmungserfahren sei dagegen so weit entwickelt,
dass sich Zufallsergebnisse damit ausschließen ließen, was übrigens nicht nur für
Unabhängigkeitsreferenden gelte. Im Übrigen hätten seine Entwickler auch
großartige Lösungen für das Problem gefunden, dass unterlegene Minderheiten durch
die Ergebnisse von Unabhängigkeitsreferenden benachteiligt sein können. Wenn eine
Region sich z.B. nur mit ganz knapper Mehrheit für unabhängig erkläre, dann sei es
natürlich fraglich, ob damit der Freiheit und dem Frieden wirklich gedient sei. Mit
345
einem solchen knappen Ergebnis dürfe der politische Entscheidungsprozess daher
nicht beendet sein.
- Richtig, warf Meier ein, das sehen wir Neokraten genauso. Was wir politische
Assoziationsfreiheit nennen, schützt auch eventuelle neu entstehende Minderheiten.
- Glauben Sie mir, sagte Yang, die Zeit ist reif dafür. Viel Behutsamkeit können wir
uns nicht mehr leisten.
Kiesewetter, der bis dahin mit halb geschlossenen Augen zugehört hatte, hob
demonstrativ die Augenbrauen.
- Kann sein, dass die Zeit reif ist, murmelte er, aber die Presse, die Medien, die
Redaktionen sind es noch nicht.
In diesem Moment hob Constanze die Hand, als wolle sie die Gesprächsrunde damit
beenden. Dann begann sie im Tonfall eines Schlussworts:
- Hoch interessant, was wir gerade gehört haben….
- Aber wie sieht denn Tian das Ganze?, unterbrach ich sie. Wollen wir das nicht auch
noch hören?
Constanze schaute mich etwas verlegen an, dann sah sie auffordernd zu Tian
hinüber, dann Tian zu mir, dann ich zu Tian, und dabei nickte ich ihm so lebhaft zu,
dass er kurz entschlossen das Wort ergriff.
Er habe hier sehr interessante Gedanken gehört, sagte er, auch wenn er und seine
Kollegen in China deren Entwicklung schon seit langer Zeit verfolgten. Dann deutete
er vorsichtig einiges von dem an, was er mir in unseren langen Gesprächen in Peking
erklärt hatte. Einige in der Runde, Meier vor allem und Yang, Constanze und auch
Kiesewetter, hörten ihm staunend zu, als trauten sie ihren Ohren nicht. Aber dann
brach Tian - er hatte kaum mehr als zwei Minuten geredet - unvermittelt ab.
- Sie sehen, sagte er dann noch, in China hält man sich viele Wege offen, auch
einige, denen der Westen sich noch verschließt. Aber man müsse die kommenden
Entwicklungen in China aufmerksam beobachten.
346
Alle in der Runde nickten anerkennend. Nur mich hatte dieses Aber etwas stutzig
gemacht. Aber wir sollten die Entwicklungen in China beobachten. Was bedeutete
das?
Constanze dankte Tian, und nun kam sie - auch das natürlich gut vorbereitet - zu
ihrem Schlusswort, jetzt mit einer ersten Spür Müdigkeit in der Miene, aber immer
noch sprühend vor geistiger Frische.
Was wir heute gehört hätten, mache doch viel Mut, sagte sie. Die große
Demokratiemüdigkeit, die den Westen in den letzten Jahrzehnten befallen habe,
müsse eben nicht bedeuten, dass das Rad der Geschichte zurückgedreht werde, ganz
im Gegenteil. Wenn sich in letzter Zeit wieder eine so genannte Sehnsucht nach der
starken Frau bzw. dem starken Mann an der Staatsspitze ausgebreitet habe, dann
werde das bald überwunden sein. Von den Neokraten hätten wir gehört, dass in
Wahrheit niemand mehr die Rolle des starken Staatslenkers kompetent ausfüllen
könne, und das sei doch sehr einleuchtend. Demnach könne es kein Zurück hinter die
Demokratie geben, wie sie ist, sondern nur eine Entwicklung über die Demokratie
hinaus. Wenn also unsere Art von Demokratie untergehe, wie beispielsweise die
klassische Demokratie Athens untergegangen sei, dann führe das nicht in ein neues
Zeitalter von Monarchien, Autokratien und Gottesstaaten. Allein die von Yang
skizzierten neuen Abstimmungsverfahren zeigten, dass unserer Demokratie viel
höher entwickelte Staatsformen nachfolgen könnten.
Wir hätten aber auch gehört, fuhr Constanze fort, wie unterschiedlich der Zeitbedarf
für diese Entwicklungen eingeschätzt werde. Meier zufolge könnten wohl selbst die
Jüngsten in der Runde nicht sicher sein, diese Entwicklungen noch zu erleben. All
dem wolle sie als Ökonomin nur noch hinzufügen: Auch die Wirtschaft sei von der
Inkompetenz überforderter demokratischer Staatsführungen und ihrer Zentralbanken
immer betroffen. Auch die Wirtschaft könne daher von einer Weiterentwicklung der
Demokratie nur profitieren. Dabei strahlte Constanze eine zuversichtliche Stimmung
aus, von der wir uns alle anstecken ließen. Nur Tians Miene blieb so ernst, wie sie
seit seiner Ankunft gewesen war.
347
Natürlich hatten wir bis dahin nichts zu Ende diskutiert, aber das durfte ich auch
nicht erwarten. Wir kamen schon zum Ende unserer Begegnung, und auch das war
von Constanze perfekt inszeniert. Es gab eine mehrsprachige Speisekarte, deutsch,
englisch, katalanisch, chinesisch und luxemburgisch, mit je einem deutschen,
englischen, katalanischen, chinesischen und luxemburgischen Gericht. Dann wurde
unser kleiner Kreis von fünf Kellnern umsorgt, allesamt Studenten, einer Deutschen,
einem Kanadier, einer Chinesin, einem Luxemburger und einer Katalanin. Und nach
der ersten Speise hatte Constanze noch eine Überraschung parat. Jeder von uns sollte
die politische Idee, die ihm für die Zukunft am wichtigsten schien, den fünf
Studenten in einem Kurzvortrag erläutern, und anschließend sollte ein anderer
herausfinden, wie gut die Studenten es verstanden hatten. Alle machten mit
Begeisterung mit.
Aber das Ergebnis war dann doch ernüchternd. Richtig verstanden hatten die
Studenten nur, was Mesäcker über die Zukunft seiner Partei gesagt hatte. Ganz
überrascht habe sie das nicht, sagte Constanze am Ende, es habe uns aber zumindest
gezeigt, wie viel Überzeugungsarbeit noch zu leisten sei.
Vielleicht, sagte sie, als wir danach auseinandergingen, hätten wir für alles noch
immer nicht die richtige Sprache gefunden. Bei solchen Themen müsse man immer
auch in Bildern sprechen, die die Phantasie anregten. Was ich denn von dem Bild
hielte, mit dem Meier einmal Demokratie und Neokratie verglichen habe:
Demokratien seien die Larven, aus denen sich die Schmetterlinge der Neokratie
entwickeln würden.
Ich brauchte eine Weile, bis das Bild sich in meiner Vorstellung ganz entfaltet hatte.
- Das passt, sagte ich.
Kleine Neuerungen
Wie hatte Constanze es geschafft, eine solche Runde zu diesem Tag
zusammenzubringen? Ganz leicht sei es nicht gewesen, untertrieb sie, als ich sie am
348
nächsten Morgen danach fragte, aber interessante Menschen zusammenzubringen,
darin habe sie ja Übung. Viel mehr konnte ich ihr, bescheiden wie sie war, nicht
entlocken. Tian und Klaus, sagte sie noch, habe sie nicht überreden müssen, eine
kurze Mail habe genügt, und den anderen habe sie eine förmliche Einladung
geschickt. Einladung zu was?, wollte ich wissen, und sie las mir vor: zu einem
hochkarätig besetzten internationalen Kolloquium mit führenden politischen
Reformkonzeptgebern u.a. aus Deutschland, China und Kanada im Anschluss an ein
Konzeptseminar der Neokraten. Das habe genügend Neugier geweckt.
Natürlich war ich von dem Treffen beglückt, und auch Constanze tat es gut. Das
Leben wird im Alter ereignisärmer, nicht erst im neunten Lebensjahrzehnt, und vor
allem Yang hatte uns das Gefühl gegeben, wir erlebten womöglich doch noch große
politische Veränderungen.
Ganz falsch lagen wir damit nicht. Weniger als ein halbes Jahr nach unserem Treffen
gab es in Schottland ein Probereferendum über die Monarchie, wie es schon in
Katalonien stattgefunden hatte. Der Zeitpunkt war denkbar günstig. Die royale
Familie hatte gerade mit neuen Skandalen Schlagzeilen gemacht. Im Internet
kursierten heimlich aufgenommene Bilder eines offenbar alkoholseligen
Königspaares, der König hörbar Unflätiges murmelnd, und dazu gab es Gerüchte
über einen alles andere als königlichen Erziehungsstil der beiden. Von dieser Familie
wollten sich weniger Schotten repräsentiert sehen als je zuvor.
Nach dem ersten Probereferendum wurden - wie Yangs Verfahren es vorsah - zwei
Bestätigungsreferenden durchgeführt. Das Ergebnis war eindeutig. Mit einer
Ausnahme lehnten alle schottischen Bezirke die britische Monarchie mit großer
Mehrheit für sich ab. In diesen Bezirken war damit auch in Schottland die Monarchie
de facto abgeschafft. Dem König wurde die Botschaft übermittelt, als Gast sei er dort
weiter sehr willkommen, aber nicht mehr als Staatsoberhaupt und König der
Schotten.
349
Wenige Monate später gründete sich in Flandern eine Bewegung, die sich die
Loslösung von der belgischen Monarchie zum Ziel setzte.
Ich hatte die europäischen Monarchien immer für bedeutungslos gehalten und tat es
noch immer, aber die Medien waren erfüllt von dem Thema, und ich ließ mich davon
anstecken. Wirklich bedeutende politische Entwicklungen hatte ich in Europa bisher
kaum erleben dürfen, nicht einmal den Willen dazu, aber hier war wenigstens in
einer Angelegenheit ein breiter Veränderungswille zu spüren. Immerhin war es ein
Stück Staatsordnung, das hier in Frage gestellt wurde. Ich wollte meine Freude
hierüber teilen und rief Constanze an. Auch sie sei doch sicher froh, dies in unserem
Alter noch zu erleben.
- Ja, antwortete sie, interessant ist das, aber es ist doch auch erschütternd, dass eine
solche Kleinigkeit schon als großes Ereignis gilt. Eine Provinz erklärt einen
machtlosen König auf ihrem Gebiet zum Privatmann. Na und?
Sie hatte natürlich wieder einmal Recht. Es gab einen kleinen Funken Hoffnung auf
spätere größere Veränderungen, mehr nicht.
Aber schon ein paar Monate später bewegte sich wieder etwas. Es gab Neues aus
Island und China. Wirtschaftlich hatten beide Länder schon lange eng
zusammengearbeitet, vor allem natürlich in Fischereiangelegenheiten. Nun wollten,
so hieß es, Island und China auch bei politischen Reformen kooperieren. Ich dachte
natürlich sofort an das, was Tian mir in Peking erzählt hatte: dass China in kleinen
Modellstaaten Reformen erproben lassen wollte, die man sich am einem
Milliardenvolk nicht zu erproben traute. War Island mit seinen 300.000 Einwohnern
nicht ein geradezu idealer Testfall? Würde Island sich also, ermutigt durch
großzügige chinesische Finanzhilfen, demnächst zum globalen Vorreiter politischer
Systemerneuerung machen? Das beobachten zu dürfen, dafür würde ich mir noch ein
ziemlich langes Leben wünschen.
Aber auch anderswo kamen Reformvorhaben in Bewegung. Yangs Referendumsidee
hatte einige Initiativen angeregt, die Größeres im Sinn hatten als eine Loslösung von
350
monarchistischem Zeremoniell. In Indien suchten immer mehr Regionen nach
Wegen zu mehr Autonomie, und auch hier sprach sich herum, dass Yangs
Referendumskonzept hierfür neue Perspektiven eröffnete. Auch in Südosteuropa
wuchs bei ethnischen und sprachlichen Minderheiten, ungarischen, albanischen und
anderen, das Interesse an Yangs Konzept. Auch in Estland wurde darüber immer
mehr diskutiert. Estland hatte die Furcht vor einer russischen Invasion fast zur
Staatsräson gemacht und als NATO-Mitglied militärisch immer weiter aufgerüstet.
Misstrauen und Missgunst zwischen der estnischen Mehrheit und der russischen
Minderheit des Landes waren dadurch immer größer geworden. Dass nun die
russische Minderheit mehr Eigenständigkeit einforderte, könnte auch von Yangs
Konzept inspiriert gewesen sein. Dazu passten Slogans, mit denen die russische
Minderheiten jetzt Furore machte, wie Eure Armee ist nicht unsere und Wir zahlen
nicht mit für euren Rüstungswahn. Was anderes konnte das Ziel solcher Initiativen
sein als ein - wie es jetzt auch in den Medien genannt wurde - Yang-Referendum?
Also ein Lossagen der russischen Minderheit von der estnischen
Landesverteidigung? Das aber würde nur möglich sein bei einer Ausgliederung der
Landesverteidigung aus dem estnischen Gesamtstaat. Was wiederum auf eine
Aufgliederung des Staates im Sinne der Neokraten hinausliefe. So weit immerhin
war unser Jahrhundert schon gekommen.
Stillstände
Ein paar Monate lang hatte ich geglaubt, hier mit dieser hoffnungsvollen Note enden
zu können, aber das wäre, wie man inzwischen weiß, ganz und gar irreführend
gewesen.
Von der Bundestagswahl 2077 hatte ich mir keine Veränderungen erwartet, aber es
kam dann doch anders. Die Schlussphase des Wahlkampfs brachte eine Debatte, wie
man sie seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Den Anfang machten die Deutschen
Demokraten. Als Umfragen ihnen immer stärkere Stimmenverluste vorhersagten,
schossen sie sich immer gezielter auf die EU ein. Die EU sei ein verkorkstes Projekt,
351
und man müsse endlich den Mut haben, es auch so benennen. Dieses politische
Europa sei nicht mehr reparabel, eine Sanierung sei zwecklos, es helfe nur noch ein
Neubau. Mit uns Europa neu bauen, das wurde die zentrale Wahlkampfbotschaft.
Für die Neokraten hätte es Schlimmeres kaum geben können. Dass man das
politische Europa von Grund auf neu bauen müsse, das hatten sie schon immer
vertreten, und Konzepte dafür hatten sie über Jahrzehnte entwickelt. Dieses Thema
durften sie nicht von den immer noch populistischen Deutschen Demokraten
vereinnahmen lassen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stürzten sie sich daher in
eine reguläre Wahlkampfdebatte. Sie traten den Deutschen Demokraten mit dem
Slogan entgegen: Baumeister für ein neues Europa - Die Neokraten.
Helfen tat es nicht. Bei den Neokraten erneuerte es nur die alte Einsicht, dass sie in
solchen Debatten nichts zu gewinnen hatten. Die Deutschen Demokraten wurden bei
dieser Wahl erstmals stärkste Partei. Dabei gelang es ihnen, viele politikmüde
Wähler wieder an die Wahlurnen zu bringen und damit die Wahlbeteiligung auf
unerwartete 37% zu steigern. Die Leitmedien wollten darin ein Wiedererstarken der
Demokratie sehen. Die Deutschen Demokraten gewannen am Ende SPD und die
Unionsparteien als Koalitionspartner, womit weitere vier Jahre Stillstand gesichert
waren.
Ich rechnete ich mir aus, welche regierungsfähigen Koalitionen ohne eine 7%-Hürde
möglich gewesen wären. Das überraschende Ergebnis: Die Deutschen Demokraten
hätten mit den Grünen und den Neokraten eine knappe Mehrheit gehabt, und vieles
sprach dafür, dass dies für sie sogar das kleinere Übel gewesen wäre. In einer
solchen Koalition wiederum wäre den Neokraten zuzutrauen gewesen, grundlegende
Reformen des Wahlrechts durchzusetzen, bis hin zur Einführung der förmlichen
Proteststimme. Es war also das Verfassungsgericht, das den Weg zu solchen ersten
politischen Systemreformen in Deutschland verstellt hatte.
In den Monaten danach bemerkte ich an mir zum ersten Mal, wovor mein Verstand
mich bis dahin hatte bewahren sollen: Das Altern macht ungeduldig. Wenn es um
352
große, grundlegende Reformen geht, hatte schon Hauser mir oft vorgehalten, müsse
man in historischen Zeiträumen denken, sich also vor Ungeduld hüten. Die
Geschichte nehme eben auf den Wunsch, ein bestimmtes Ereignis noch selbst zu
erleben, keine Rücksicht, wie weit dieser Wunsch auch verbreitet sei. Aber
ausgerechnet im Alter konnte ich diesen Wunsch immer weniger unterdrücken. Ich
hoffte, dass wenigstens anderswo auf der Welt demnächst Stillstände aufbrechen
würden.
Dann kam eine Mail von Tian, die erste nach langer Zeit. Was weißt du Neues über
Yang? Was über Meier und seine Neokraten? Behalten sie einen langen Atem? Nur
diese drei Sätze, sonst nichts. Kein Wort über China, kein Wort über die
Reformideen von Tian und Kollegen, kein Wort darüber, wie weit die Partei und
womöglich die Regierung in China sich darauf eingelassen hatten. Ich wusste: Ein
gutes Omen war das nicht.
Manchmal ähnelt die Wirklichkeit einem schlechten Roman. Manchmal folgen
spontane reale Ereignisse wie gekünstelt aufeinander. So erschien es mir, als nur
einige Tage nach Tians Mail die Vanuatu-Tragödie ihren Lauf nahm. Meteorologen
sagten voraus, dass wieder einmal ein südpazifischer Wirbelsturm Vanuatus Inseln
streifen würde. Dann wurden die Meldungen bedrohlicher. Was da komme, hieß es
jetzt, könne der heftigste je beobachtete Wirbelsturm sein. Die nächste Nachricht:
Der Zyklon ändere die Richtung, sein Zentrum bewege sich genau auf Vanuatu zu.
Dann die Warnung: Viele kleinere Inseln Vanuatus würden vollständig überflutet
werden. Jetzt blickte die Welt auf Vanuatu.
Vielleicht hatte Yang so etwas schon lange erwartet, und vielleicht wusste er auch
längst, was er in solchem Fall tun würde. Viele Dutzend wagemutige Journalisten
aus aller Welt, manche von ihnen bekannte Kriegsberichterstatter, machten sich
sofort auf den Weg nach Vanuatu. Und Yang wollte dabei sein. Für ihn, den globalen
Klimaschutzaktivisten, war das vielleicht die große Chance seines Lebens, ein
weltweit sichtbares klimapolitisches Signal zu geben.
353
Yang brauchte zwei Tage für die Vorbereitung. Er charterte ein Flugzeug, ließ es mit
Schlauchbooten, Fahnen, Transparenten und Ballons beladen, alle mit unübersehbar
großer Beschriftung. Eine davon: World Upgrade in Aktion für Vanuatu. Eine
andere: Virtuelle Weltklima-Regierung - VWCG. Drei von deren Mitgliedern flogen
mit ihm. Zum ersten Mal, hoffte Yang, würden die Augen der Welt sich auf dieses
Gremium richten.
Yangs Flugzeug landete in Vanuatus Hauptstadt Port Vila einen halben Tag, bevor
der Wirbelsturm sie erreichte. Am nächsten Morgen erkannte ich auf Fernsehbildern
vom Flughafen Port Vila Yangs Fahnen und Transparente. Ein paar Stunden später
schaltete ich einen kanadischen Nachrichtenkanal ein. Da sah ich Yang im
Kurzinterview mit einem Reporter, im Hintergrund seine Mitstreiter von der
virtuellen Weltklimaregierung, umgeben von Schlauchbooten und Ballons, alle
beschriftet mit Yangs großformatigen Botschaften.
Dies waren die letzten Bilder von Yang. Am nächsten Tag meldeten die Medien
seinen Tod. Er war nicht Opfer seines Wagemuts geworden, er war nicht bei einer
spektakulären Aktion verunglückt, er war einen ganz banalen Tod gestorben. Eine im
Orkan herabfallende Balkonplatte hatte ihn erschlagen.
Ich hätte ihm gewünscht, mit seinem Tod wenigstens noch seiner Sache gedient zu
haben, aber selbst das war ihm nicht vergönnt. Die Welt schaute auf die Bilder von
den Verheerungen des Zyklons, der Fall Yang war eine drittrangige Nachricht. Die
Medien verwehrten ihm sogar noch im Tod den verdienten Respekt. Klimaaktivist
Robert Yang bei Spaziergang in Vanuatu verunglückt, so ähnlich meldete es nicht
nur DIE WELT-Online.
Umso eindrucksvoller war der spontane Nachruf, den zur gleichen Zeit Claude
Halsdorf auf seiner eigenen Internetplattform veröffentlichte und der später
Millionen Leser fand. Ich will hier nicht Halsdorfs ergreifende Schilderung der
Persönlichkeit Robert Yangs wiedergeben, der fast verglüht sei in seinem
Engagement für die Rettung des Weltklimas. Fast ebenso beachtenswert war
354
Halsdorfs Reminiszenz an das Seminar über die Anthropologie von
Staatsverfassungen, das Yang und er in Stanford gemeinsam besucht hatten. Yangs
eigener Beitrag zu diesem Seminar habe davon gehandelt, welche Schlüsselrolle
Feindbilder und Empörung gespielt hätten, wo immer die Bürger große politische
Veränderungen getragen oder mitgetragen hätten, Feindbilder also wie verhasste
Monarchen, Autokraten, Oligarchen, Ethnien, Gesellschaftsschichten, Parteikader,
Un- oder Andersgläubige oder auch abstrakte Feindbilder wie das Großkapital oder
vermeintliche Verschwörercliquen. Diesen Zusammenhang zwischen Feindbild und
Empörung einerseits und politischem Wandel andererseits habe Yang als
anthropologische Konstante beschrieben. Empörung, so Yang damals weiter, wirke
aber, auch wenn sie noch so berechtigt sei, für sich genommen erst einmal nur
destruktiv, was auch in der Geschichte großer politischer Bürgerbewegungen seinen
traurigen Niederschlag gefunden habe. Dies sei ein Schlüsselgedanke, der aber in der
politischen Ideengeschichte bisher kaum eine Rolle gespielt habe. Früher oder später,
so sei Yangs Schlussfolgerung gewesen, bedürfe es daher neuer Staatsverfassungen,
die es Menschen leichter machten, politischen Wandel auf den Weg zu bringen, ohne
sich zuvor in Feindbilder verbissen zu haben. Diesen Gedanken, so Halsdorf, habe
Yang nie aufgegeben, aber er sei zu früh gestorben, um ihm in aller Gründlichkeit
nachzugehen. Hoffnung gebe aber, dass die Neokraten diesen Gedanken - zuletzt
auch in Zusammenarbeit mit Yang - sehr weit entwickelt hätten.
Ich wollte über Yangs Tod nicht nur lesen, ich wollte meine Trauer darüber mit
jemandem teilen, und wen anders konnte ich anrufen als Constanze? Auch sie war
natürlich bestürzt. Ob sie denn glaube, fragte ich sie, dass Yangs Bewegung auch
ohne ihn den gleichen Weg mit gleicher Entschlossenheit weitergehen werde.
Auch Constanze hatte sich diese Frage natürlich schon gestellt, und sie wusste schon
viel mehr als ich. Schon am Tag nach der Todesnachricht hatte sie Claude Halsdorf
angerufen. Wenn einer ein Gespür dafür hatte, wie es um Yangs Bewegung nun
bestellt sein würde, dann er, das wusste sie.
355
Halsdorfs Antwort war niederschmetternd. Er glaube nicht, sagte er, dass jemals
wieder irgendjemand so leicht so viel Geld für ein politisches Projekt einwerben
könne. Einige Milliardäre, zuletzt sogar aus China, hätten Yang ja veritable
Blankoschecks ausgestellt, fast ohne jegliche Auflagen und Zweckbindungen, so
etwas sei nicht wiederholbar. Im Umgang mit den Superreichen dieser Welt sei Yang
ein Jahrhunderttalent gewesen, ein Genie geradezu, und ein Nachfolger sei
nirgendwo in Sicht. Das große Geld werde für World Upgrade nicht mehr fließen,
die Geldgeber würden noch viel kritischer werden, und die großen Projekte, die
Yang in jüngster Zeit auf den Weg gebracht habe, würden rasch ins Stocken geraten.
Dann erzählte er Constanze, worüber Yang zuletzt konkret verhandelt hatte:
informelle Unabhängigkeitsreferenden in Indien und in europäischen Ländern, die
meisten über Teil-Unabhängigkeiten für einzelne Staatssparten. Übergangshilfen für
den Umbau zum klimapolitischen Modellstaat für Slowenien und Estland.
Vorübergehende Übergabe der Staatsgeschäfte des Kosovo, des früheren Libyens
und des früheren Somalias an die Staatsmanagementorganisation der Gates-Stiftung
mit dem Ziel einer politischen Systemerneuerung binnen acht Jahren.
- Aber auch all das, fasste Constanze zusammen, war noch ganz in den Anfängen.
Von einem Robert Yang wollte die Welt sich offenbar nicht retten lassen.
Nachwort
Wie viel einfacher wäre es gewesen, wenn ich diese Geschichte, wie ich es zuletzt
geplant hatte, mit der Bundestagswahl 2077 hätte enden lassen können. Dann kam
Yangs Tod, und den konnte ich natürlich nicht übergehen. Aber durfte Yangs Tod
das Ende dieser Geschichte sein? Wäre nicht auch das ein Ende gewesen wie in
einem schlechten Roman? Mit Yangs Tod gingen viele Hoffnungen unter, das war
klar, aber war damit wirklich irgendetwas zum Abschluss gekommen? Keiner wusste
es.
356
Ich nahm mir in dieser Sache noch einige Wochen Bedenkzeit, und dabei verfolgte
ich die Nachrichten über den aktuellen Volkskongress in China. Es waren die
üblichen starren Bilder, dazu immerhin ein paar Meldungen über unvorhergesehene
Personalien, aber dann kam am Ende die Meldung über die Resolution zur Einheit
und Einigkeit Chinas. Die westlichen Medien machten zu Anfang wenig Aufhebens
davon. Der tiefere Sinn der Resolution erschloss sich erst bei genauem Studium,
nichts also für eilige Korrespondenten und Redakteure. Aber mich machte es
hellhörig, und ich besorgte mir den vollständigen Text.
Es war, wie ich befürchtet hatte. Einheit und Einigkeit, das sollte der Gegensatz zu
Vielfalt und Pluralität sein. Die Botschaft war: Ganz China hat einig hinter der
Parteiführung und ihren Dogmen zu stehen. Ganz China, das hieß: alle Regionen,
alle sozialen Schichten, alle Ethnien, alle Konfessionen, aber es hieß auch: alle
Wissenschaftler, auch Leute wie Tian. Die Vielfalt der wissenschaftlichen
Meinungen, die sich, wie Tian es mir erklärt hatte, auch im Auftrag der
Parteiführung herausgebildet hatte, war der Partei unheimlich geworden.
Dass die Entwicklung von Reformkonzepten ein Wettlauf mit der Zeit sein würde,
hatte auch Tian gewusst. Für China schien dieser Wettlauf nun verloren. Die
Parteiführung glaubte nicht mehr, das Land mit Reformen befrieden zu können, also
versuchte sie es wieder mit harter Hand. Das Signal an die Kritiker, Querdenker und
Vordenker im eigenen Land und in der Welt war: Das neue China wird das alte sein.
Die grandiose Idee, Systemreformen zunächst von kleineren Nationen testen zu
lassen, um sie dann später ggf. auf China zu übertragen, war zu spät gekommen.
Oder würde Tian sagen, zu früh? Viel zu früh womöglich?
Ich schickte Tian eine Mail. Nichts, was ihn in Bedrängnis bringen konnte, nur die
kurze Frage: Wie weit, glaubst du, geht es zurück?
Seine Antwort kam rasch und überraschend klar und offen.
- Mit der Entscheidung des Volkskongresses? Für den Rest des Jahrhunderts ist sie
bindend. Aber das Denken verbietet sie nicht.
357
Nicht das reformerische Denken verbot sie, aber das Handeln. Damit war klar: Das
21. Jahrhundert wird für China als das zu Ende gehen, was es für die Chinesen bisher
gewesen war, als ein Jahrhundert des Wohlstandswachstum. Nicht weniger, aber
auch nicht mehr. Alles andere war damit den Generationen des 22. Jahrhunderts
aufgebürdet. Auch ich war tief enttäuscht. Wie viel Hoffnung hatte Tian in mir
geweckt, dass China einem verkrusteten Westen politische Impulse geben würde, zu
denen dieser selbst nicht mehr fähig war. Diese Hoffnung war nun erloschen.
Wenigstens insofern, sagte ich mir dann, klare Verhältnisse. Yangs Tod und der
Rückschlag in China, beides zusammen kann eine Epoche um ihre Chancen bringen.
Aber manchmal, wenn ich in den Spiegel schaute, auf mein faltiges Gesicht und den
fast kahlen, nur noch von einem schmalen Streifen halblanger schlohweißer Haare
gesäumten Kopf, dachte ich auch: Sollen doch Jüngere sich darüber Gedanken
machen. Du hast wenigstens deine Chronistenpflicht erfüllt.
Als Achtzigjähriger hat man nicht mehr viele Gesprächspartner, bei denen man sich
in solchen Dingen vergewissern kann, aber ich hatte ja noch immer Constanze. Ich
rief sie an, und ohne dass ich es gewollt hatte, begann ich zu klagen, über die
entmutigenden Zeiten und über das Nachlassen der körperlichen Kräfte, das auch ich
immer mehr spürte, über den schmerzenden Rücken, den schwächelnden Kreislauf
und darüber, dass auch ich nun immer öfter eine Gehhilfe benutzte. Wenn mein
Körper noch etwas ordentlich beherrschte, sagte ich, dann allenfalls die Tastatur des
Computers. Darauf gab sie wieder einmal eine Antwort, die alles zurechtrückte: Das
Wichtigste ist dir am längsten geblieben, nimm das als ein großes Glück.
Dann schilderte ich ihr, dass ich dieses Buch nicht mit Ereignissen enden lassen
wollte, die sich später als folgenloses Randgeschehen unseres Jahrhunderts erweisen
würden. Ob sie denn meine, dass das bei Yangs Tod und der aktuellen Resolution
des chinesischen Volkskongresses der Fall sein könnte.
Sie versuchte mich zu beruhigen. Natürlich seien das Momentaufnahmen, und
niemand wisse genau, wie lange diese Ereignisse in die Zukunft hineinwirken
358
würden. Aber wir beide seien doch sicher, dass, wenn irgendwelchen Gedanken
unserer Zeit die Zukunft gehöre, es Gedanken wie die von Yang, Tian und
Ihresgleichen seien. Daran änderten doch auch die jüngsten Ereignisse nichts.
Natürlich hatte sie Recht. Umso irreführender wäre es aber doch, ein Buch über
unser Jahrhundert mit genau diesen Ereignissen enden zu lassen. Aber womit sonst?
Auch dazu bat ich Constanze um ihren Rat.
Schon am nächsten Tag überfiel sie mich Ideen, fast alle davon auf Anhieb hoch
plausibel. Das Allerwichtigste sei natürlich, sagte sie, nach Yangs Tod und den
Ereignissen in China nicht zu resignieren. Reformer brauchten nun einmal einen
langen Atem, am allermeisten, das wisse ich ja, Systemreformer, und nur wer den
allerlängsten Atem habe, der könne am Ende Gewinner sein.
- Und wer, meinst du, wird das sein?, fragte ich.
Vielleicht, sagte sie zögernd, die Neokraten, denn die könne niemand zum
Schweigen bringen, wie das chinesische System es jetzt mit seinen Reformern tue.
Aber wichtiger sei noch, dass die Neokraten nicht auf Führungsfiguren wie einen
Robert Yang angewiesen seien, da deren Initiative - langsam werde daraus ja eine
Bewegung - ganz auf Ideen gegründet sei. Sie glaube allerdings nicht, dass die
Neokraten in diesem Jahrhundert noch etwas bewirken würden.
Auch mit dieser pessimistischen Note will ich hier aber nicht enden, das wäre wohl
auch nicht Constanzes Sinn. Aber was wäre zu den großen politischen Themen noch
nachzutragen? Zur lähmenden Stimmung von Stagnation und Sinnleere in der
westlichen Welt, zum Niedergang der Parteiendemokratie, zur allgemeinen
Inkompetenz und Unberechenbarkeit von Politik, zum schleichenden Dritten
Weltkrieg in Afrika und Asien, zur Missachtung des Selbstbestimmungsrechts über
die Staatszugehörigkeit, zu den Dramen der Bevölkerungsentwicklung, des
Klimawandels und der Ressourcenverknappung, zur zunehmenden digitalen
Verletzlichkeit von Staat und Wirtschaft, zum hilflosen Umgang mit historischem
Unrecht und zu dem Kampf gegen die Flüchtlingsströme, den viele für Europa schon
359
endgültig verloren glaubten? War das Resümee am Ende doch nur, dass wir in einem
Jahrhundert verpasster Chancen lebten?
Auch dazu gab Constanze noch einen klugen Kommentar. Ja, sagte sie, Chancen
habe es durchaus gegeben, aber - auch darüber hätten wir ja schon oft gesprochen es ließe sich niemand benennen, der sie bewusst vergeben hätte. Unser Jahrhundert
sei, politisch gesehen, nun einmal ein Jahrhundert der organisierten Überforderung.
Politische Schuld gebe es viel, aber nur selten hätten demokratische Politiker sie
vorsätzlich auf sich geladen.
Ob das für sie denn das vorläufige Fazit für unser Jahrhundert sei, fragte ich.
- Vielleicht, sagte sie zögerlich, als hätte sie mit dieser Frage am allerwenigsten
gerechnet.
Dann, nach einer Pause, als warte sie darauf, dass sich in ihrem Kopf eine genauere
Antwort formte, sagte sie:
- Unserem Jahrhundert fehlt noch immer eine Kultur langfristen Denkens. Ich weiß,
die hat es auch früher nicht gegeben, aber ausgerechnet jetzt, wo eine solche Kultur
überlebensnotwendig geworden ist, leben wir mit einer Demokratie, die eine solche
Kultur nicht gedeihen lässt.
- Grafs altes Thema, sagte ich. Wir, die Generation Sichtflug, haben es vermasselt.
- Ja, sagte Constanze, aber auch Graf hat es nicht wirklich durchschaut. Er hat uns
Kurzsichtigkeit vorgehalten, aber auch er hat nicht gesehen, wie fest die
Kurzsichtigkeit schon im politischen System angelegt ist. Deswegen sind die
Jüngeren heute ja nicht besser als wir damals.
- Siehst du keine Unterschiede zwischen den Generationen?, fragte ich.
- In der Kultur des langfristigen Denkens? Nein, sagte sie, außer, dass wir wenigstens
noch einen Graf hatten, der es uns vorgehalten hat. Die Generationen nach uns hatten
keinen Graf.
360
Die Kultur des langfristigen Denkens. Das war das Stichwort, das mich nach
unserem Gespräch lange beschäftigte. Ich suchte nach Beispielen großer politischer
Irrtümer der Vergangenheit, vor denen eine solche Kultur uns bewahrt hätte, und als
eines der ersten kam mir die Atomenergie in den Sinn. Was wäre gewesen, wenn die
Kosten für den Rückbau der Atomkraftwerke und für die Zwischen- und
Endlagerung des Atommülls von Anfang an vollständig eingerechnet worden wären?
Diese Frage stellte ich einem früheren Kollegen vom SPIEGEL, und der zögerte
keinen Moment mit der Antwort. Wenn alles einkalkuliert worden wäre, sagte er,
wäre nie ein Atomkraftwerk gebaut worden. Die Kosten des Rückbaus kenne man ja
inzwischen, die Zwischenlagerung könne Jahrhunderte dauern, danach müsse der
strahlende Atommüll bis zu einer Million Jahre im Endlager gesichert werden. Wenn
man die dafür anfallenden jährlichen Kosten im Vorhinein mit einer Million
multipliziert hätte, dann wäre die Atomenergie von Anfang völlig indiskutabel
gewesen. Sie sei nie etwas anderes gewesen als ein zynisches Geschäft dreier
egoistischer Generationen zulasten vieler tausend nachfolgender.
Dazu will ich noch einen eigenen Gedanken nachtragen, der mir schon viele Jahre
vorher gekommen war. Ich habe mehrmals Atomkraftwerke besichtigt und habe
dabei versucht, deren Technik zu verstehen. Gelungen ist mir das nicht, von ein paar
ganz einfachen Formeln abgesehen. Geblieben ist mir aber das Staunen über den
technischen Erfindungsgeist, der solche Gebilde entstehen lässt, im Großen und in
zahllosen Details. Wie simpel sind dagegen die politischen Konzepte, die für einen
verantwortungsvollen Umgang mit der Atomenergie hätten sorgen können. Wie
simpel sind die Gedanken, die zu solchen politischen Systemreformen hinführen.
Wie kann es also sein, dass Menschen etwas so Kompliziertes wie Atomkraftwerke
ersinnen konnten, aber im Aufbau ihres Staates im Dampfmaschinenzeitalter
stehenbleiben? Wie kann es sein, dass menschliche Innovationskraft sich nur in der
Technik so frei entfaltet? Ist nicht schon das Beweis für einen Systemfehler? Ja, das
ist es, und eben dieser Systemfehler verhindert auch eine Kultur langfristigen
Denkens. Das zeigt sich nicht nur im Umgang mit der Atomenergie, es zeigt sich
361
auch in fast allem, wovon hier bisher die Rede war, und klarer noch bei einem ganz
anderen Thema, über das Hauser mit mir schon in den späten zwanziger Jahren
ausführlich gesprochen hat: der Umgang mit menschlichem Erbgut. Für Hauser war
das eine Schicksalsfrage der Menschheit. Hauser erklärte es mir als ein Beispiel
dafür, wie Urteile sich umkehren, wenn man von einer kurz- zu einer langfristigen
Betrachtung wechselt.
Auch er sei immer ein entschiedener Gegner von Eingriffen in das menschliche
Erbgut gewesen, erklärte er mir, und das sei er noch immer. Aber inzwischen habe er
verstanden, dass auch das Nichtstun in dieser Frage folgenschwer sei. Die
menschliche Spezies habe es durch technischen und medizinischen Fortschritt
geschafft, fast allen Neugeborenen ein langes Überleben zu sichern und damit auch
die Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen. Dadurch habe sich die Menschheit als
einzige Spezies von der natürlichen Selektion des Erbguts ausgenommen, und das sei
in höchstem Maße unnatürlich. So etwas habe es in der Welt vorher nie gegeben, hier
stelle also die Menschheit ein hoch riskantes genetisches Experiment mit sich selbst
an. Noch reiche die menschliche Phantasie nicht aus, erklärte Hauser, um sich den
Verlauf dieses Experiments auszumalen, aber eines sei doch sicher: Ewig könne es
nicht gutgehen. Die Menschheit sehe sich insofern ungerührt dabei zu, wie ihre
genetische Überlebensfähigkeit degeneriere.
Verglichen hiermit seien Klimawandel und Bevölkerungsentwicklung beinahe
kurzfristige Probleme, aber das sei natürlich alles andere als ein Grund zur
Beruhigung. Um die Entwicklung ihres eigenen Erbguts nicht in einer
Menschheitskatastrophe enden zu lassen, müsse die Menschheit noch viel mehr
politischen Weitblick entwickeln und ein noch viel höheres Niveau der politischen
Zivilisierung erreichen als für den Umgang mit Problemen wie der Atomenergie und
der globalen Erwärmung. Das aber, sagte er, sei mit unserer Art von Demokratie
nicht möglich.
Mit diesem Gedanken habe ich mich fast fünfzig Jahre lang nicht mehr befasst, aber
als Achtzigjährigem erscheint er mir nun umso unabweisbarer. Auch dieses Beispiel
362
zeigt wieder: Je weiter man in die Zukunft schaut, desto fragwürdiger werden unsere
heutigen politischen Überzeugungen und manchmal auch unsere moralischen. Desto
kläglicher, nein desto unsäglicher erscheint uns die Politik der Gegenwart.
Aber relativieren sich nicht, werden manche fragen, wenn man so weit in die Zukunft
schaut, die Versäumnisse unseres Jahrhunderts? Können die kommenden
Generationen diese Versäumnisse nicht doch durch entschlossenes Handeln
vergessen machen? Hat es nicht schon in der Vergangenheit Jahrhunderte politischer
Stagnation gegeben, ohne dass dies als historische Katastrophe erschienen wäre?
Natürlich. Aber schon Hauser hat gewusst: Die Menschheit verändert sich und ihre
Lebensbedingungen heute schneller denn je, und ein Jahrhundert politischer
Versäumnisse wiegt in diesen Zeiten so schwer wie früher ein Jahrtausend.
Ich fragte Constanze, ob sie es denn für möglich halte, dass der Rückstand in der
politischen Zivilisierung sich noch in diesem Jahrhundert merklich verringert.
Sie zögerte, als wolle sie mir eine negative Antwort ersparen.
- Was hilft es uns, darüber zu spekulieren?, sagte sie dann.
Jüngere in meiner Lage könnten sich solche Spekulationen ersparen, sie könnten
einfach das Ende des Jahrhunderts abwarten. Aber ich habe mir nun einmal auferlegt,
als Achtzigjähriger diesen verfrühten Rückblick auf unser Jahrhundert zu Ende zu
bringen, und Zeit zum Abwarten bleibt mir nicht mehr. Trotzdem hatte ich die fixe
Idee, für den Ausklang des Jahrhunderts irgendein passendes Schlagwort zu finden.
Schließlich fragte ich Constanze, wie sie die politische Gegenwart mit einem Wort
beschreiben würde. Und wieder hatte sie eine Antwort parat.
- Demokratiedämmerung, sagte sie.
- Siehst du es wirklich so düster?, fragte ich.
- Nein, sagte sie. Genau das macht ja Hoffnung.
Für einen Moment war ich von diesem Satz fast beglückt, aber dann fragte ich mich,
ob nicht auch damit in Wahrheit nur Ratlosigkeit verschleiert wird, und schon war
363
mein Mut, dieses Jahrhundert doch noch auf den Begriff zu bringen, wieder
gesunken.
Ich habe mich oft im Leben über mich selbst geärgert, wenn ich solchen Gedanken
nachging, den Gedanken eines Zauderers, aber es gibt auch die seltenen Momente im
Leben, in denen das Zaudern, sogar ein quälend langes Zaudern, sich auszahlt. Hätte
ich an dieser Stelle nicht gezaudert, hätte ich hier nicht dies noch nachtragen können,
was doch noch Hoffnung macht: Nach der kurzen Schockstarre, in die die Global
Upgrade Bewegung nach Yangs Tod verfallen war, wendete die Stimmung sich dort
in ein Jetzt-erst-recht. Eine wichtige Rolle spielte dabei ein Zitat aus einem noch
unfertigen, unveröffentlichten Artikel Robert Yangs. Darin schrieb er, dass die
Bewährungsprobe großer Bürgerinitiativen erst komme, wenn sie sich ohne ihre
großen Leitfiguren und ohne ihre großen Geldgeber behaupten müssten. Der neu
gewählte Vorstand von World Upgrade konnte die Mitgliederzahl in kurzer Zeit fast
um die Hälfte steigern.
Und jetzt, nur ein paar Wochen später, kann ich auch dies noch nachtragen, ein Lohn
für weiteres Zaudern: Eine Mail von Tian, unerschrocken, selbstbewusst und fast
zuversichtlich. Er sehe nun manches klarer nach der Resolution des
Volkskongresses. Die Parteiführung wisse, dass die Gedanken der
Fundamentalreformer schon zu weit verbreitet seien, um ihnen das Denken,
Schreiben und Reden ganz zu verwehren. Die Zeiten, in denen man unbequeme
Geister noch mundtot machen, unter Hausarrest stellen, in Gefängnissen
verschwinden lassen oder gar umbringen könne, seien eben auch in China längst
vorbei. Und aktive Ältere unter ihnen wie er, und das seien viele, ließen sich ohnehin
nicht mehr einschüchtern. Die Partei habe mit der Resolution zur Einheit und
Einigkeit zwar Zeit gewonnen, aber weniger Zeit, als man im Westen befürchte.
Vielleicht sogar weniger, als er, Tian, noch zu leben habe.
Und dann folgte noch dieses PS über die westliche Welt:
364
Die Mächtigen in China können neue Ideen nicht mehr unterdrücken, sie können sie
nur eine Zeitlang totschweigen. Aber das funktioniert, soweit ich weiß, in eurer
gelobten Demokratie ja ganz ähnlich.
Sollte ich mich danach auf die Wette einlassen, dass auch ich die großen Reformen
in China noch erleben und sogar an dieser Stelle noch darüber würde schreiben
können? Während ich darüber grübelte, überraschte mich Constanze, die immer noch
eifrige, die ihre Tage immer mehr mit Internetrecherchen zu verbringen schien, mit
neuen Nachrichten.
World Upgrade hatte endlich eine formelle Kooperation mit den Neokraten
begonnen. Auch der neuen Führung war klar geworden, wie wenig all ihre
Proklamationen, Aktionen und Publikationen, so originell und innovativ sie auch
waren, bisher bewirkt hatten. Wollten sie nicht weiter so wirkungslos bleiben,
mussten sie nach neuen Methoden suchen. Was lag da näher, als die Energie von
World Upgrade mit der konzeptionellen Stärke der Neokraten zu verbinden. Als
Erstes vereinbarten sie eine Zusammenarbeit bei Referenden. Die Neokraten wollten
Yangs Referendums-Software in Deutschland für die Simulation von
Verfassungsratsratswahlen einsetzen.
War nicht auch das ein Hoffnungszeichen? Ich begann mir auszumalen, wie gegen
Ende des Jahrhunderts Fundamentalreformer in China, die Neokraten und World
Upgrade Keimzellen eines politischen Systemwandels bilden würden. Ein
verschwommener Gedanke, aber doch ein wohltuender. Und wie wäre es um die
Staaten dieser Welt heute bestellt, überlegte ich dann, wenn genau das schon vor 50
Jahren passiert wäre? Ganz so weit reichte meine Phantasie nicht, aber dass wir
mindestens fünfzig verlorene Jahre hinter uns hatten, das zumindest war vollkommen
klar.
Und in genau diesen Tagen stieß ich im Internet auf eine Studie, die die deutschen
Neokraten konzipiert hatten und die von World Upgrade finanziert worden war. In
dieser Studie wurden die großen politischen Versäumnisse unseres Jahrhunderts
365
beschrieben und dazu eine politische und wirtschaftliche Entwicklung, wie sie sich in
Deutschland und Europa bei einer Politik im Sinne der Neokraten und Robert Yangs
hätte ergeben können. Es war atemberaubend. Wohlstand, Freiheit, Frieden, Bildung,
Zivilisierung, sozialer Zusammenhalt, politische Sinnerfüllung - in all dem waren wir
weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben. Dabei wurde mir zum ersten Mal klar,
wie viel besser es schon meiner Generation hätte gehen, ein wie viel besseres
Beispiel Deutschland der Welt hätten geben können und - am allerwichtigsten - eine
wie viel heilere Welt wir der nachfolgenden Generation hätten übergeben können.
Ein Zipfel von Utopie war zum Greifen nah gewesen, aber wir haben ihn verpasst.
Der einzige Trost: Weil wir nicht wussten, was uns fehlte, haben wir kaum darunter
gelitten.
Mit diesen Gedanken wollte ich nicht allein sein. Ich wollte Constanze noch einmal
einladen, aber nein, dachte ich dann, wenn es ein Treffen geben soll, dann würde
natürlich ich es sein, der die Reise macht. Also lud ich mich bei ihr ein. Ich wolle,
sagte ich ihr, ein paar sehr wichtige Gedanken mit ihr teilen. Aber schon auf dem
Weg zu ihr kamen mir wieder Zweifel, und sie steigerten sich noch, als ich ihr
endlich gegenübersaß. War es nicht eine skurrile Szene? Hier saßen zwei Uralte,
Constanze und ich, achtzig und dreiundachtzig Jahre alt, die einige im Internet
zusammengesuchte Informationen als Hoffnungszeichen für kommende
Generationen gedeutet hatten, zusammen, und ich erklärte Constanze, dass es um die
wichtigsten Dinge der Welt gehe. Unser Gespräch stockte schon noch nach ein paar
Sätzen.
- Ausgerechnet wir, sagte ich. Ausgerechnet wir suchen händeringend nach solchen
Hoffnungszeichen. Müssten nicht hunderttausende Jüngere längst das Gleiche tun?
Oder tun sie es womöglich schon, ohne dass wir es wissen?
Constanze saß reglos mit gesenktem Kopf in ihrem Rollstuhl und schwieg.
- Oder sehen sie keine Chance gegen die Übermacht derer, die Gedanken wie die von
Tian und Yang als weltfremde Irrwege abtun und dann totzuschweigen versuchen?
366
Jetzt hob Constanze den Kopf und sah mich mit einem Blick an, als hätte sie auf
genau diese Bemerkung gewartet. Dann streckte mir aus dem Rollstuhl die Arme
entgegen, zog mich an sich heran, drückte mich fest und schwieg.
Aus solcher unbarmherzigen Nähe hatte ich ihr altes Gesicht noch nicht betrachtet.
Bisher war Constanze für mich immer die geistig unfassbar jung Gebliebene
gewesen, ihr körperlicher Verfall eigentlich Nebensache, aber in diesem Moment
war es zum ersten Mal anders. Ihre geistige Frische war jetzt Nebensache. Die mich
hier an sich drückte, war vor allem alt und schwach.
Ja, sagte ich schließlich, für uns ist wirklich alles gesagt.
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