Jahrhundertroman Alternativtitel: 2077 Wie Schmidt sein 21. Jahrhundert sah Jahrhundertroman Archivar Schmidt und die globale Erschöpfung Demokratiedämmerung Wie Schmidt sein 21. Jahrhundert sah Generation Sichtflug Protokoll eines verlorenen Jahrhunderts Die verlorene Epoche Protokoll des 21. Jahrhunderts Die verlorene Epoche Wie Schmidt das 21. Jahrhundert sah II Inhalt Vorwort 1 Vorgeschichten 4 Staatstheater Generation Sichtflug Das 20. Jahrhundert 4 6 12 2000 - 2024 Ein schleichender Weltkrieg und andere Krisen 16 Jahrhundertauftakt Bewusstseinsstörung Exkurs Wirtschaft Russland und die Ukraine Afrika Die arabische Welt Amerika Israel und das historische Unrecht China und Indien Und Europa? Noch einmal Wirtschaft Zwischenstand 2025 - 2049 Hilflose Demokratie, Neues Denken 16 22 25 30 40 49 61 69 75 79 86 89 95 Parteienzuwachs Was geht wie lange gut? Dauerkonflikt um Staatsgrenzen Flüchtlingsströme und territoriale Integrität Kurze Begegnung Scheidungsrecht für Staaten Neues Denken in China Eine Jahrhundertpartei? Das digitale Hiroshima Flächengewinne der Demokratie Wankendes Vorbild Europa Das Elend der Parteien Hundertjahrfeiern Sinnstiftungsversuche Kleine Staatsreparaturen 95 108 112 115 118 121 126 141 145 156 161 175 189 197 207 III 2050 – 2074 Globale Erschöpfung 213 Mächtige Senioren Neue Hoffnungsträger Rentnerrevolution? Das Yang-Konzept Noch mehr Ideologiefreiheit Die Krise der Archive Abschied von Hauser Ringen um Rohstoffe Ölkartell: Die Bösen tun Gutes Jahrhundertereignis Klimawandel Schwache Cyberwehr Mit Milliardären aus der Systemkrise? Chinesische Visionen Noch einmal Euphorie Yang, China und die Neokraten Wie Constanze es sah 2075 -… Ist das Jahrhundert noch zu retten? 213 215 226 230 234 240 247 257 265 269 277 281 291 309 313 318 325 Europa geht aufs Ganze Altfall Griechenland Deutsche Zustände Denkwürdige Zusammenkunft Kleine Neuerungen Stillstände Nachwort 325 328 330 333 347 350 355 1 Vorwort Eine Geschichte des Jahrhunderts soll dies nicht werden, nicht einmal in Ansätzen. Ich bin kein Historiker. Ich will weniger über die Ereignisse dieses Jahrhunderts schreiben als darüber, wie Menschen, wie Bürger und politische Akteure in diesem Jahrhundert gedacht haben. Ich weiß, auch das ist beinahe vermessen, wenigstens dann, wenn man dabei aus eigener Erinnerung schöpfen will. Aber ich habe ein gutes Gedächtnis, und ich habe sogar ein eigenes kleines Archiv. Keines, wie ich es in meinem Berufsleben verwaltet habe, als Archivleiter des SPIEGEL, nur eines mit privaten Aufzeichnungen, die ich, Archivarseele, die ich nun einmal bin, akribisch verwahre. Wann ich wie und was als politischer Mensch gedacht habe, das finde ich wohlsortiert in meinen Dateien und Zettelkästen. Schrankfüllend ist es nicht. Im Beruf musste ich detailbesessen sein, aber damit war meine Neigung zum Detail für dieses Leben erschöpft. Im sonstigen Leben versuchte ich die Welt eher aus der Vogelperspektive zu betrachten, aber immer auch geerdet durch archivarisches Faktenwissen. Menschen werden noch immer nicht alt genug, um ein Jahrhundert aus eigenem Erleben beschreiben zu können, aber ich bin immerhin in diesem Jahrhundert aufgewachsen und mit ihm ziemlich alt geworden. Ich könnte mit diesem Jahrhundertporträt noch warten, bis das Jahrhundertende näher kommt, aber zwei Gründe sprechen dagegen. Erstens weiß ich nicht, wie lange ich als mittlerweile Achtzigjähriger zu einer solchen Arbeit noch fähig wäre. Zweitens könnte dieses Jahrhundert tatsächlich schon reif für eine abschließende Betrachtung sein. Würde nämlich der Rest des Jahrhunderts die überfällige Zeitenwende bringen, würde dies den Rahmen dieses Textes ohnehin sprengen. Dann hätte der Rest seinen Platz - als dessen Vorspiel gewissermaßen - eher in einem Porträt des kommenden Jahrhunderts. Oder aber das letzte Jahrhundertviertel wird - ich fürchte, so wird es kommen - für dieses Jahrhundertporträt wenig Neues bringen. 2 Dieses Jahrhundert hat natürlich auch mein eigenes politisches Bewusstsein geprägt, also bin ich Teil dessen, was ich hier beschreibe. Also muss ich mir auch darüber im Klaren sein, wie mein eigenes Denken sich in den Etappen dieses Jahrhunderts verändert hat. Das im Nachhinein zu verfolgen war fast ein Glückserlebnis. Ich weiß jetzt, dass ich nicht noch einmal so denken darf, wie ich in früheren Jahrhundertabschnitten gedacht habe, aber ich weiß natürlich auch, dass viel zu viele es immer noch tun. Als früherer Archivar falle ich aus der Rolle, wenn ich so etwas schreibe. Von einem Archivar erwartet man Fakten, keine Meinung, kein Urteil, und diese Erwartung habe ich in meinem Arbeitsleben lange erfüllen wollen. Aber gerade weil man von mir keine Meinung erwartete, genoss ich die denkbar größte innere Meinungsfreiheit. Ich nehme das als ein Privileg. Die schreibenden Kollegen haben dieses Privileg nicht. Nur wer meinungsstark schreibt, schreibt interessant, und interessant wirkt nur, was den Resonanzboden bestehender Vorurteile zum Schwingen bringt. Das bringt die schreibenden Kollegen immer wieder in Versuchung, sich Vorurteile zu eigen zu machen. Solcher Versuchung war ich nie ausgesetzt. Von einem Archivar erwartet niemand, dass er Vorurteile bedient. Das verleiht innere Freiheit, es hat allerdings auch seinen Preis: Wer keine Vorurteile hat, der findet selten Gleichgesinnte. Aber das war bei mir natürlich nicht von Anfang an so, ich wurde schließlich nicht als Archivar geboren. Ich war achtundzwanzig, als ich im SPIEGEL-Archiv meine erste Stellung antrat, und natürlich hatte ich damals schon politische Meinungen und Urteile, und natürlich waren das großenteils Vorurteile. Ich könnte daher über die Zeit davor, über das zwanzigste und das frühe einundzwanzigste Jahrhundert, nicht so vorurteilsfrei schreiben, wie ich es möchte, wenn ich nicht das Glück gehabt hätte, im Archiv auf Hauser zu treffen, meinen Mentor, den großen Entzauberer von Vorurteilen. Aber darüber später. Kollase, den 25.04.2077 3 PS: Dieser Text wird wohl überwiegend Leser finden, die nach der Jahrhundertmitte geboren sind. Trotzdem wünsche ich mir natürlich, dass auch einige Ältere, vielleicht auch einige aus meiner Generation der um die Jahrtausendwende Geborenen, sich die Mühe des Lesens machen werden, auch wenn sie darin nur wenige eigene Meinungen bestätigt finden. Wem täte es nicht gut, sich im hohen Alter doch noch einen Reim auf dieses ungereimte Jahrhundert zu machen? 4 Vorgeschichten Staatstheater Irgendwo las ich, dass man sich jung fühlen muss, um für junge Leute zu schreiben, und sich alt fühlen muss, um für Alte zu schreiben. Das gilt auch für das Schreiben einer Geschichte des 21. Jahrhunderts. Ich kann nicht so tun, als wäre ich noch jung, aber vielleicht hilft es, hier mit meiner Zeit als junger Mensch zu beginnen, auch wenn ich damals manchmal das Gefühl hatte, nicht ganz in meine Zeit zu passen. Meine Erinnerung setzt mit der Nacht der Jahrtausendwende ein. Ich musste für ein Foto posieren: Mein Kindsgesicht todmüde vor einem vom Feuerwerk taghell erleuchteten Berliner Nachthimmel. Zum Glück war unten auf dem Foto das Brüstungsrohr unserer Dachterrasse zu sehen, sonst wären es wirklich nur der beleuchtete Himmel und ich gewesen. Unter dem Foto in der Handschrift meiner Mutter - die in ihrem ganzen Berliner Leben irgendwie doch das Mädchen vom Lande geblieben war -: Matthias und das neue Jahrtausend feiern Geburtstag. Ich, Matthias Schmidt, bin am 1. Januar 1996 geboren. Es gibt andere peinliche Jugendfotos von mir, aber dieses gehört zu den peinlichsten. Neujahrsgeborene gehen ohnehin mit einer Last ins Leben, nun war meiner Kindheitserinnerung noch dieses Jahrtausendwendespektakel aufgebürdet. Ich hätte das Foto später vernichten mögen, aber das habe ich - irgendwie bin ich eben doch ein Zauderer - immer wieder aufgeschoben, bis heute. Das Foto wird diese Welt wohl nach mir verlassen. Vielleicht war es auch wegen dieses Fotos, dass ich mich später bei Feiern oft fragte, ob denn der Anlass der richtige sei. Man soll sich nicht zu früh freuen, das hatte ich früh gelernt, aber dann gilt doch auch: Man soll nicht zu früh feiern. Wie kann man guten Gewissens eine Jahrtausendwende feiern, wenn man für das neue Jahrtausend 5 neues Unheil befürchten muss? Ich weiß, dass die wenigsten Jungen sich mit solchen Gedanken befassen, aber die meisten Alten tun es leider auch nicht. Später habe ich das Feiern dann etwas besser verstehen gelernt. Bei jungen Menschen feiert man in die Zukunft hinein: In einem Jahr bist du schon sooooo groß. Bei deinem nächsten Geburtstag bist du schon ein Schulkind. Nächstes Mal darfst du schon wählen. Nächstes Jahr hast du schon deinen Führerschein. Nächstes Jahr hast du schon dein Abitur. Nächstes Jahr studierst du schon. Ganz anders bei alten Menschen. Sie feiern in die Vergangenheit hinein. Die späten runden Geburtstage, die späten Jubiläen, die Silberhochzeiten, die Goldenen, die Diamantenen - keine Rede mehr von Herausforderungen, von Zielen und Plänen, von Zukunft überhaupt, höchstens noch ein trotziges: auf weitere soundso viele Jahre. Ansonsten Erinnerungen, alte Geschichten, Erlebtes, Miterlebtes, Überstandenes, Geleistetes, einzelne Glücksmomente. Erlittenes? Schwamm drüber. Ich weiß, von privatem Feiern soll hier am allerwenigsten die Rede sein, aber politische Feiern, Staatsfeiertage, haben damit Gemeinsamkeiten. All die Feiern von politischen Jahrestagen sind Feiern in die Vergangenheit hinein. Mein Vater war noch bei Feiern zu Jahrestagen der Oktoberrevolution dabei gewesen. Großes Staatstheater mit Blick in die Vergangenheit, so sagte es einmal mein Großvater. Natürlich wurde dabei auch kurz über Zukunft geredet, aber dafür versetzte man sich erst einmal weit in die Vergangenheit. So fühlte sich die Gegenwart wie eine strahlende Zukunft an, und die wirkliche Zukunft kam nur als Floskel vor. Die Oktoberrevolution feiert niemand mehr, aber ist es mit dem Staatstheater unserer Zeit, unseres Jahrhunderts nicht ähnlich? All die Jahrestage von lange zurückliegenden Ereignissen, bei denen man sich in eine graue Vorzeit versetzt, um sich umso emphatischer zur Gegenwart zu gratulieren. Fühlen die meisten politischen Jahrestage, die wir heute feiern, sich nicht an wie diamantene Hochzeiten? Aber was gibt es in der Politik noch oder was könnte es geben, das man wie Kindergeburtstage, wie Geburtstage der Jugend feiern kann? Hat die Demokratie uns nicht alle, Alte wie Junge, schon politisch vergreisen lassen? In diesem 6 Jahrhundert standen uns Hundertjahrfeiern - hundert Jahre deutsches Grundgesetz und anderes - bevor, die genau diesen Gedanken aufdrängten. Generation Sichtflug Politische Vergreisung - das sind fast schon wieder Gedanken eines alten Mannes. Wie war es, als ich achtzehn war? Ich versuche, an diese Zeit zu denken. Der Blick ging damals in die Zukunft, die naheliegende eigene vor allem. Was wollte ich werden? Was würde ich studieren? Ich ging die Sache damals ziemlich systematisch an und stellte mir all die gängigen Fragen. Welcher Beruf gäbe deinem Leben Sinn? An welchem hättest du Spaß? Wofür hättest du Talent? Was würde für Spannung sorgen? Was gäbe dir Sicherheit? Womit ließe sich gutes Geld verdienen? Und welches Studienfach wäre zu all dem der Schlüssel? Vieles konnte ich vornherein ausschließen. Ich schaute in den Spiegel und wusste: Andere sehen besser aus, du gehörst nicht ins Rampenlicht. Ich hörte mir zu und wusste: Andere reden besser, flüssiger, überzeugender, also wirst du - Streitigkeiten anderer langweilen dich sowieso - kein Anwalt, auch kein Politiker. Und ich horchte in mich hinein und wusste: Andere sind durchsetzungsstärker, also wirst du kein Manager, kein Unternehmer. Technik interessiert dich nur mäßig, also wirst du kein Ingenieur. Naturwissenschaften hast du in der Schule gemieden, also wirst du kein Chemiker, kein Biologe, kein Physiker. Zeichnen können andere viel besser, also wirst du kein Künstler, kein Gestalter, kein Architekt. Du kannst kein Blut sehen, also wirst du kein Arzt. Du bist ungeduldig, also wirst du kein Lehrer. Schließlich ging ich zur Berufsberatung. Der Rat war: Sie sind noch nicht reif, sich zu entscheiden, Sie brauchen eine Orientierungsphase, studieren sie erst mal was Allgemeinbildendes. Was das denn sein könnte, fragte ich. Schauen Sie sich mal bei den Geistes- und Sozialwissenschaften um, war die Antwort. 7 Ich durchforstete die Websites der Universitäten. Von den mehr als 200 Studiengängen schloss ich zwei Drittel sofort aus, mehr als 60 allgemeinbildende blieben übrig. Viele mit klingenden Namen, sehr viele, von denen ich nie gehört hatte, viele, unter denen ich mir nichts vorstellen konnte. Studiengangerfinder, dachte ich, das wäre mein Beruf. Ich war in einem schwierigen Alter. Ich schob die Entscheidung vor mir her. Ein guter Freund wollte Medizin in Halle studieren, also entschied auch ich mich erst einmal für Halle. Welche anderen Gründe sprachen dafür? Ich erinnere mich an keine, an Gründe, die dagegen sprachen, schon eher. Mein Freund entschied sich dann doch für München. Für mich zu spät, ich blieb bei Halle. Die Entscheidung für Politik - genauer gesagt, die so genannte Wissenschaft davon hatte ich buchstäblich in letzter Minute getroffen. Jemand hatte mir von Graf erzählt, der in Halle Politikwissenschaft lehrte. Graf sei anders als die meisten, ein hoch interessanter Mann, für angehende Politologen Grund genug, nach Halle zu gehen. Warum also nicht Politikwissenschaft in Halle? Im Nebenfach habe ich dann - allgemeinbildend - Soziologie, Geschichte und Philosophie studiert. Mit Halle hatte ich dann nach zwei Jahren meinen Frieden gemacht. Natürlich war Halle mir zu klein und zu provinziell und die Stimmung zu depressiv, und die Wochenenden waren zu lang, um dort bleiben, und fast immer zu kurz, um zu Freunden nach München, Heidelberg oder Hamburg fahren zu wollen. Aber irgendwann wurde Halle mir dann doch vertraut genug. Ähnlich mochte es lange vorher Graf gegangen sein. Er lehrte seit über zwanzig Jahren in Halle, schien aber in Gedanken dort nie ganz angekommen zu sein. Von vielen Studenten wurde er „Der Fremde“ genannt. Aber Halle brauchte so einen. Er war das Glanzlicht im Hallenser akademischen Alltag. Nach sieben Jahren Halle war ich dann so weit, dass ich wusste, was ich hätte werden wollen: Stadtplaner. Zu spät. Nun musste ich als studierter Politologe ins Berufsleben eintreten. Aber was ließ sich daraus machen? Ich wusste es nicht, und 8 die meisten Kommilitonen auch nicht. Wir alle wussten nur, dass wir viel zu viele waren für die Jobs, in denen wir unser Studienwissen anwenden konnten. Wenn wir uns den akademischen Stil schnell genug abgewöhnten, hatte ein Dozent einmal gesagt, könnten wir z.B. Journalisten werden oder Redenschreiber für Manager. Es war spannend, und noch fühlte es sich gut an. Noch hatte ich nichts zu verlieren. Als Student hatte ich oft darüber gelesen, welche Gedanken Ältere sich über unsere Studentengeneration machte. Damals wurde in fast jeder Dekade eine neue Generation ausgerufen, und unsere nannte man - warum, habe ich vergessen seltsamerweise Generation Z. Der Tonfall, in dem man über uns schrieb, war ärgerlich, aber vieles Geschriebene war richtig. Wir waren viel mit uns selbst beschäftigt. Die wenigstens waren politisch ernsthaft interessiert, auch unter den Politikstudenten. Zeit für politisches Engagement hatten wir nicht oder nahmen wir uns nicht. Die Bereitschaft, Lebenszeit für politische Ziele zu opfern, wächst eben so hat Graf es einmal gesagt - meistens aus Empörung, und empört waren wir nicht. Empörung und Zorn herrschten anderswo. „Euer Wohlstand frisst eure Zeit.“ So sagte Graf es in einer Vorlesung kurz vor seiner Emeritierung, einer denkwürdigen Vorlesung, in der er aussprach, was keiner seiner Kollegen je gewagt hätte. Er begann im üblichen akademischen Tonfall. Dann, ganz spontan, ganz offensichtlich ungeplant, vielleicht sogar ungewollt, zuerst im Tonfall einer beiläufigen Anmerkung, dann immer erregter, für Augenblicke wie in unterdrücktem Zorn, rechnete er mit uns ab, mit seinen Studenten, nein mit einer ganzen Studentengeneration. Und dann, fast am Schluss: Ihr seid die Generation Sichtflug. Generation Sichtflug. Das wurde bei uns ein geflügeltes Wort. "Na, du Sichtflieger", so pflaumte man sich amüsiert an. Ich nahm es nicht so locker. Hatte Graf nicht irgendwie Recht? Ja, irgendwie waren wir eine Generation Sichtflug. Aber hatte er uns denn Besseres gelehrt? Den politischen Instrumentenflug? Nein, das hatte auch er nicht. Sein kaum verhohlener Zorn traf, ohne dass er es merkte, auch ihn selbst. 9 Aber Graf legte kurz darauf noch einmal nach. Alle wussten, dass es sein allerletzter Auftritt in Halle sein würde, der Hörsaal quoll über bis weit in die Flure hinein. Er fing wieder streng akademisch an mit Anmerkungen zur politischen Theorie der Gegenwart. Dann brach er unvermittelt ab, ließ seinen Blick in die Weite des Hörsaals schweifen, dann sagte er: - Aber das ist für euch natürlich alles graue Theorie. Für euch, sagte er. Er hatte, solange ich ihn kannte, nie einen Studenten geduzt, nun dieses „für euch“. - Ihr wisst ja, fuhr er dann fort, dass ihr die Generation Sichtflug seid. Dann wurde sein Tonfall schärfer, fast schneidend. - Aber ihr macht nicht einfach nur Sichtflug, ihr macht Sichtflug im Nebel. Ohne Kompass, ohne Orientierung. Und trotzdem gut gelaunt. Dann der Zwischenruf eines Studenten: Woher kommt denn der Nebel? Großes Gelächter im Hörsaal. Darauf Graf - jetzt siezte er uns wieder: - Es ist der Nebel der Begriffe. Von überall her. Von den Medien, von Parteien, von Regierungen, in Wahlkämpfen. Dann, nach einer kurzen, kunstvollen Pause: - Aber auch von den nebulösen akademischen Begriffen. Wieder ein langer, weiter Rundblick in den Hörsaal. - Den einen Rat gebe Ihnen noch mit: Behalten Sie die wenigen Prozente des Lehrstoffs, die wichtig sein könnten, die Sie vielleicht zu etwas besseren Staatsbürgern machen. Und vergessen Sie möglichst schnell den ganzen Rest. Machen Sie den Kopf frei für Neues, das im wirklichen Leben hilft. Im Saal eine fast unheimliche Stille. Dann ein anschwellendes Klopfen auf die Tische. 10 Dann wieder Graf: - Ich wünsche Ihnen viel Weitsicht auf Ihrem weiteren Lebensweg. Alles Gute. Er schob die vor ihm liegenden Papiere zusammen und steckte seine Brille ein. Alle im Hörsaal blieben sitzen. Dann standen die ersten auf, keiner ging. Dann fingen einige an zu klatschen, dann immer mehr, dann standen fast alle, fast alle klatschten, einige riefen "bravo". Graf blieb stehen, kämpfte sichtlich mit den Tränen, dann machte er eine beschwichtigende Handbewegung. Das Klatschen ebbte ab. Dann sein allerletzter Satz: - Ich sage das noch einmal: Vergessen sie möglichst schnell möglichst viel von dem, was Sie hier gelernt haben. Dann ging er, die Standing Ovations sichtlich genießend, mit einem verschmitzten Lächeln. Es war der bewegendste Moment meiner Zeit in Halle. Vielleicht der einzige wirklich bewegende. Aber zu was hatten wir Graf eigentlich so frenetisch applaudiert? Zu seiner unverhofften Wahrhaftigkeit? Dazu, dass unser Studium größtenteils Zeitverschwendung war, all die schönen Demokratie- und sonstigen Theorien eingeschlossen? Wir wussten es nicht. So begeistert wir von Grafs Auftritt gewesen waren, so schnell war er vergessen. Am nächsten Tag tauchten die Gedanken wieder in den Alltag ein, die nächste Seminararbeit, die nächste Klausur, das anstehende Praktikum, die Fertigstellung der Bewerbungsmappe und so weiter, und schon waren die Standing Ovations für Graf nur noch ein aus dem Zusammenhang gerissener Erinnerungsfetzen. Eine Zehnsekundenaufnahme davon auf Youtube war nach ein paar Tagen gelöscht. Drei Tage nach seiner Abschiedsvorlesung hatte Graf Halle für immer verlassen. 11 Wenn ich mich richtig erinnere, sah ich Constanze - die Cramer, wie viele sie nannten - zum ersten Mal in einer von Grafs Vorlesungen. Constanze Cramer. Politik und Informatik im Nebenfach, Hauptfach Ökonomie. Ich war im dritten von vierzehn Semestern, sie in ihrem vorletzten, dem siebten. Ein älterer Kommilitone neben mir machte eine Kopfbewegung zu ihr hin. „Schau mal!“ Man kannte sie. Eine Erscheinung. Auffallend schön, auffallend athletisch, auffallend weiblich, auffallend schwarzes langes Haar, einschüchternd groß, manchmal auf hohen Absätzen, auffallend gepflegt, auffallend gut gekleidet, auffallend geschminkt. Auf den ersten Blick eine Allerweltseleganz wie aus Modejournalen, ein Karrieretyp. Eine von jenen, die einmal von Weitem gesehen zu haben mir eigentlich vollauf genügt hätte. Im ersten Moment konnte man sie auch für einen akademischen Jungstar halten, eine angehende Professorin. Alles an ihr, ihre Körperhaltung, ihre Mimik, ihre Gestik, ihre Blicke, sagte: Kommt mir nicht zu nahe; ich weiß, ihr würdet gern, aber tut es nicht. Dazu passte ihr immer in voller Länge, nie in Kurz- oder Koseform ausgesprochener Vorname. Immer Constanze, niemals Connie oder sonstwas. Bei uns Politologen gab es keine Frauen und auch keine Männer, die es mit einer wie ihr hätten aufnehmen mögen. "Bei solcher Frau bist du als Mann doch immer nur der Kofferträger." Nur einmal - ich saß ihr in Grafs Seminar näher als sonst - erahnte ich in ihrer Miene für einen kurzen Moment Tiefgründigeres. Auch in Grafs Seminar war sie immer wortgewandt und schlagfertig, sie argumentierte glänzend, aber wenn sie sprach, dann in angestrengtem, fast schrillem Tonfall. Einer Erscheinung wie ihr hätte man eine wohlklingendere Stimme gewünscht. Aber dann hätte man vielleicht auch sie spontan zur Generation Sichtflug gezählt. Das wäre, wie ich später herausfand, ein großer Fehler gewesen. Ich habe ihr viel zu verdanken, auch für dieses Buch. 12 Das 20. Jahrhundert Die Geschichte orientiert sich nicht am Kalender. Ein kalendarisches Jahrhundert, auch das einundzwanzigste, als zusammenhängende Epoche zu behandeln ist im Grunde, ich weiß es, schlicht Unsinn. Wenn man unser Jahrhundert als historische Epoche betrachten will, dann hat diese eher mit dem letzten Jahrzehnt des vorigen Jahrhunderts begonnen, mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Staatenwelt. Ich fange daher mit einer Anmerkung zum zwanzigsten Jahrhundert an. Wie haben Menschen im vorigen Jahrhundert politisch gedacht? Was haben sie mit ihrem Denken angerichtet, und was haben sie damit - im Guten wie im Schlechten verhindert? Welche Fortschritte gab es im politischen Bewusstsein? In Geschichtsbüchern wird man vieles anders lesen, aber gerade deswegen will ich hier aufschreiben, wie Hauser es mir schon vor 50 Jahren zu sehen geholfen hat. Das zwanzigste Jahrhundert - nicht das kalendarische - hatte einigermaßen klare Konturen. Die Zeit bis zur Jahrhundertmitte war, wie man weiß, das wohl dunkelste Kapitel der Menschheitsgeschichte, die Zeit der Weltkriege, die Zeit massenmörderischer Despotien und die Zeit martialischer und menschenverachtender Ideologien. Es war die Zeit von kolonialistischer Ausbeutung und Rassismus, wozu, um nur ein Beispiel zu nennen, das lange geleugnete und fast vergessene Terrorregime in Belgisch Kongo mit seinen ca. 10 Millionen Opfern gehörte. Und es war auch - und das wird hier eine herausragende Rolle spielen - das Jahrhundert in politischem Leichtsinn, politischer Ignoranz, in Siegerwillkür und kolonialistischer Überheblichkeit gezogener Staatsgrenzen. Daneben war es aber auch die Zeit, in der eine vergleichsweise zivilisierte politische Ideologie, die Ideologie der Demokratie, sich global durchzusetzen begann. Das Ende des zweiten Weltkriegs war natürlich eine historische Zäsur. Im nachfolgenden Ost-West-Konflikt steigerten sich die militärischen Bedrohungsszenarien zu atomaren Weltuntergangsszenarien. Auch dem militärisch Stärkeren drohte nun schlimmstenfalls die vollständige Vernichtung, und militärische 13 Überlegenheit bewahrte nicht mehr vor Vernichtungsangst. Vor allem in der westlichen Welt war das Weltkriegsende daher auch eine Bewusstseinswende. Das politische Bewusstsein wurde zuallererst zu einem Welt- und Atomkriegsverhinderungsbewusstsein. Dies war das Verbindende dieser Ära. Auf diesem Entwicklungsstand war die westliche Welt mit sich zufrieden. Gegenüber dem Rest der Welt konnte sie immerhin einen politischen Zivilisierungsvorsprung für sich reklamieren, der nach Jahrzehnten und teilweise nach Generationen und Jahrhunderten zu bemessen war. Auch der sozialistischen Staatenwelt sah man sich natürlich moralisch weit überlegen. Und da diese erst mit jahrzehntelanger Verzögerung kollabierte, wurde auch die Selbstzufriedenheit der westlichen Welt weit über ihre Zeit hinaus konserviert. Sonst wäre es spätestens in den siebziger Jahren Zeit für die Einsicht gewesen, dass dem Zivilisierungsschub der Nachkriegszeit ein neuer folgen muss. Mit dem politischen Bewusstsein ging es in der späteren Nachkriegszeit kaum noch voran. Den Schreckensregimen der ersten Jahrhunderthälfte folgten Diktatoren wie Franco und Salazar, terroristische Militärjuntas wie in Argentinien, kommunistische Schreckensherrscher wie Mao Zedong, Pol Pot und Ceausescu, archaische Despoten wie Idi Amin und Saddam Hussein und Völkermorde wie in Ruanda. Es wurden auch von demokratischen Weltkriegssiegermächten - weiter konventionelle Kriege geführt, u.a. in Korea, Vietnam und Afghanistan, allein in diesen Ländern mit mehr als acht Millionen Todesopfern. Dies wurde im Westen nicht etwa als zivilisatorische Entgleisung gesehen, sondern eher als natürliche Fortsetzung der Geschichte. Die Beschränkung der Atommächte auf konventionelle Kriegführung galt in dieser Zeit schon als Ausweis zeitgemäßer zivilisatorischer Reife. Solche Beispiele zeichnen ein düsteres Bild dieser Epoche, aber in der westlichen Welt wurde die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts dennoch nicht als düstere Zeit erlebt. Man lebte weiter im Bewusstsein, dass zumindest in der eigenen Welt das Schlimmste verhindert und das Mögliche im Großen und Ganzen erreicht wurde. Die westlichen Staaten führten gegeneinander keine Kriege, die noch verbliebenen 14 Despoten der westlichen Welt wurden schließlich gestürzt, und es gab vor allem keinen Atomkrieg. Die konventionellen Kriege fanden woanders statt, wenn auch immer wieder mit militärischer, finanzieller und geheimdienstlicher Beteiligung etablierter Demokratien. Ansonsten blieben die westlichen Staaten ganz darauf konzentriert, in der eigenen Welt den erreichten Status zu bewahren. Nichts anderem diente auch die europäische Integration. Dass der Weg zur politischen Einigung Europas aber nicht nur Konflikten vorbeugen, sondern sich später selbst als konfliktträchtig erweisen würde, ahnte damals niemand. So wurde in der westlichen Welt eine zwischenstaatliche Nachkriegsordnung festgezurrt, die den durch die Weltkriege geschaffenen Status bewahrte. Als dann zehn Jahre vor der Jahrtausendwende endlich die sozialistischen Regime des Ostens kollabierten, war man in der westlichen Welt sicherer denn je, die denkbar höchste Stufe politischer Zivilisierung erreicht zu haben. Nach zwei Weltkriegen und jahrzehntelangem kaltem Krieg schien die Zeit der großen weltgeschichtlichen Dramen vorbei und die Zeit reif für ein entspanntes neues Jahrhundert. Europa würde auf absehbare Zeit friedlich und demokratisch vereint sein, und der Rest der Welt würde zur politischen Zivilisierung des Westens aufschließen. Wir haben unsere großen politischen und wirtschaftlichen Probleme gelöst, glaubte man, zumindest die grundsätzlichen, wir haben die sozialen Konflikte hinreichend entschärft, und nach unserem Vorbild wird nach und nach auch die restliche Welt es schaffen. Auch die zwischenstaatliche Friedensordnung schien zumindest dem Prinzip nach fest gefügt zu sein, nicht nur für Europa und den Westen. Die Staatengemeinschaft hatte sich auf die Unverletzlichkeit bestehender Staatsgrenzen als vermeintlich friedenswahrendes Prinzip geeinigt, auf das so genannte Prinzip der territorialen Integrität. Damit hatten bestehende Staaten de facto einen Anspruch auf Unveränderlichkeit ihrer Staatsgrenzen. Da die meisten Kriege bis dahin mit Übergriffen auf Staatsgrenzen begonnen hatten, versprach man sich von der Durchsetzung dieses Prinzips eine vollends nichtkriegerische Zukunft. 15 Fast über die gesamte zweite Jahrhunderthälfte hinweg gab es aber militante Konflikte, die nicht in dieses Bild passten. Es gab innerstaatliche Konflikte wie in Nordirland, im Baskenland, in Kaschmir und vielen anderen Krisenregionen, die im Kern Konflikte um Staatsgrenzen waren und damit auch Konflikte um das Prinzip der territorialen Integrität. Ähnliche Konflikte gab es fast permanent in Afrika, wo sie allein in den neunziger Jahren Millionen Todesopfer forderten. Und Europa, das das kriegerische Zeitalter zumindest für sich selbst überwunden glaubte, erlebte schon bald nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion die Jugoslawien-Kriege und andere ähnliche Gewaltkonflikte. Dies zeigte, wie brüchig die politische Zivilisierung auch in Europa noch immer war. Diese Kriege waren nicht, wie viele damals glaubten, die letzten Nachwehen eines kriegerischen zwanzigsten, sie waren vielmehr der unheilvolle Auftakt zu einem unfriedlichen 21. Jahrhundert. Aber die westliche Welt ließ sich von ihrer Selbstzufriedenheit zum Jahrtausendausklang nicht ablenken. Die Sektkorken sollten knallen. So feierte man ziemlich unbesorgt in ein verstörendes neues Jahrhundert hinein. 16 2000 - 2024 Ein schleichender Weltkrieg und andere Krisen Jahrhundertauftakt Meine Großeltern würden sich im Grabe umdrehen, wenn sie wüssten, wie ihr Jahrhundert hier auf ein paar Seiten abgefertigt wird. Auch meine Eltern haben die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts als große Selbstverständlichkeit erlebt wie fast alle damals. Sie waren stolz darauf, was in ihrer Zeit überwunden, erkämpft und verteidigt worden war, und sie wollten sich diese Zeit nicht kleinreden lassen. Mir fällt der distanzierte Blick natürlich leichter. Für mich ist auch die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts eine Zeit, in der Menschen - auch die im so genannten Westen - sich von Überzeugungen haben tragen lassen, die sich heute mit Vernunft nicht mehr erklären lassen. Aber nun endlich zu unserem, dem 21. Jahrhundert, in dem ich mein Berufsleben als Archivar verbracht habe. Dass ich Archivar geworden bin, ist eigentlich ein Zufall. Eigentlich hatte ich doch eher Redakteur werden wollen. Bis irgendwann ein älterer Freund mir sagte, auch etwas wie Archivarbeit sollte man als Redakteur einmal gemacht haben. Das Wort Archivarbeit hatte bei mir keinen guten Klang. Archive sind eben keine Orte, in die es viele lebenshungrige Mitt- oder Endzwanziger zöge. Aber dann war da diese von Hauser verfasste verführerische Stellenanzeige des SPIEGEL. Meinen Sie auch, dass Archivarbeit langweilig ist?, so begann sie, und wer auf solch einen Satz stößt, kann nicht anders als weiterlesen. Dann das Bewerbungsgespräch. Ich ging auf das einschüchternde Verlagsgebäude in der Hamburger Hafen City zu und dachte: Hier wärest du ein winziges Rädchen einer großen Maschinerie, das kannst du nicht wollen. Dann stand ich vor Hausers fast bescheidenem Büro, die Tür stand offen, hinter einem großen, hellen Schreibtisch ein schlanker Mann mit etwas gedrungener Figur, schmalem Gesicht, fast filigraner Hornbrille und dichtem, leicht gewelltem dunklem Haar. Mit einer Geste bat er mich 17 herein, lenkte mich auf den spartanischen Stuhl vor seinem Schreibtisch. Ein eher stiller Typ, dachte ich, kein autoritärer Chef, nicht unsympathisch. Dann sah er mich einen kurzen Moment lang mit einem eindringlichen, bis ins Innerste ausforschenden Blick an, dann hörte ich seine helle, freundliche Stimme sagen: - Ich bin Jan Hauser. Als wäre damit alles gesagt. Aber ein paar Sätze später waren wir schon in einem intensiven Gespräch, und nach wenigen weiteren Sätzen wussten wir beide: Wir vertrauten einander. Und dann seine Begeisterung für die Archivarbeit. Nirgendwo sind Sie so unabhängig wie hier, erklärte er mir, nirgendwo erfährt man Überraschenderes, nirgendwo kann man klarer denken. Ganz verstand ich es damals noch nicht, aber es machte mir Mut weiterzufragen, so naiv und so direkt, wie es nur ein Anfänger tun kann. - Aber was bewirkt man als Archivar? Welchen Einfluss hat man? - Mehr, als Sie vermuten, sagte er. Vielleicht mehr als die meisten Redakteure. Ich sah ihn erstaunt an, und genau das hatte er offenbar erwartet. - Manche, die sich hier bewerben, wollten eigentlich Redakteur werden. Sie auch? Ich tat, als müsse ich überlegen. - Ich selbst wollte es nie, sagte er. Hier arbeitet man viel freier. Als Redakteur ist man immer auch gefangen. - Worin? - Im Zeitgeist? In der Aktualität? In Vorgaben des Verlags? Er sah mich auffordernd an, als warte er auf meine Bestätigung. Dann sagte er: - Außerdem hat man hier im Archiv den Blick ins Weite. - Weit in die Vergangenheit, meinen Sie? - Das hängt ganz von Ihnen ab, sagte er. 18 Dabei sah er mich wieder mit seinem eindringlichen Hauser-Blick an, einem Seelenfängerblick, verführerisch und auftrumpfend zugleich, der Menschen für Augenblicke sprachlos machen kann. Ich will dich, sagte mir der Blick in diesem Moment, ich will dich für unser Archiv, ich will dich als Kollegen. Ich senkte den Blick und horchte in mich hinein. Dann spürte ich, wie meine Miene sich ganz ohne mein Zutun zu einem stummen, widerstandslosen „Du kriegst mich“ formte. Hauser lehnte sich mit entspanntem Stöhnen zurück. - Ich glaube, Sie passen zu uns. Kurzes Schweigen. - Vor allem wegen Ihrer breiten Allgemeinbildung. Er beugte sich wieder vor. - Allerdings… über meinen Kopf hinwegsehend - …ein bisschen mehr Wirtschaftswissen hätte nicht geschadet. Dann: - Aber egal, dafür haben wir jemand anderes. Dann gab er sich einen Ruck, richtete sich auf, sah mich mit befreitem Lächeln an. - Also? Sind wir uns einig? So fing alles an. So kam ich zum SPIEGEL-Archiv, so kam ich mit Jan Hauser zusammen, ohne den ich kein Archivar geworden wäre oder doch einer, wie die meisten Menschen sich Archivare vorstellen, ohne den mein politisches Bewusstsein noch heute ein ganz anderes wäre, als es geworden ist, und ohne den ich nicht einmal auf den Gedanken hätte kommen können, dieses Buch zu schreiben. 19 Die meisten Menschen machen sich von einem Archiv wie unserem falsche Vorstellungen. Sie meinen, wir archivierten nur Informationen, die unseren Redakteuren beim Schreiben nützlich sind. Hauser hat mir erklärt, dass das bei uns von Anfang an anders war: Wir archivierten nicht nach dem Kriterium Nützlichkeit, darüber dürften wir uns kein Urteil anmaßen. Es gebe immer wieder unscheinbare Informationen, die erst nach fünfzig oder mehr Jahren in ihrer Bedeutung erkannt würden, und manche davon würden nirgendwo anders als in Archiven wie unserem zu finden sein. Auch darin liege der Sinn unserer Arbeit. Natürlich ist man als Archivar zuerst einmal Quellensammler, eine Art Buchhalter des Zeitgeschehens. Im Umgang mit Informationen war ich immer auch passionierter Systematiker. Mein Gedächtnis ist ein systematisches Privatarchiv, manche meinten damals sogar, es sei ein Autistengedächtnis. Aber ich hatte nicht nur ein Bild davon, was in diesem Jahrhundert politisch getan und gedacht wurde, mein Gedächtnis versuchte auch zu speichern, was zu tun, zu denken oder zu dokumentieren möglicherweise versäumt wurde. Insofern sah ich als Archivar vieles anders, als andere es taten. Zum Aktuellen musste ich professionelle Distanz halten, daran gewöhnte ich mich. Beruflich lebte ich insofern in der Vergangenheit. Aber manches Mal bin ich aus dieser Rolle gefallen. Manchmal habe ich der Redaktion Archiveinträge aufgedrängt, die mir für mögliche spätere Artikel wichtig erschienen, auch sehr viel spätere. „Wozu denn das?“, war dann oft die erstaunte Antwort, und darauf hätte ich antworten mögen: „Das werdet ihr noch sehen.“ Habe ich natürlich nicht. Seit ich im Archiv arbeitete, von 2024 an, hinterließen politische Ereignisse bei mir viel tiefere Spuren als vorher. Ich versuchte nun auch, mir ein möglichst klares Bild vom Denken und vom Handeln von Politikern meiner bisherigen Lebenszeit zu machen. Dabei zehrte ich natürlich auch von Erinnerungen aus zweiter Hand, aber es ist genug Zeit vergangen, um daraus allzu Einseitiges herauszufiltern. 20 Deutschland war zur Jahrtausendwende noch immer in der Rolle des schuldbeladenen Weltkriegsverlierers. Nicht noch einmal auffallen in der Weltgeschichte, das war noch immer eine Maxime deutscher Politik. Nicht negativ auffallen, aber auch nicht mit dem Anspruch, besser zu sein als traditionsreichere Demokratien. So waren die anderen mit Deutschland einigermaßen zufrieden und erst recht Deutschland mit sich selbst. Anders ging es den Weltkriegssiegerdemokratien. Sie taten sich, auch wenn sie es sich selbst noch kaum eingestanden, schwer mit ihrem schleichenden Bedeutungsverlust. Keine guten Voraussetzungen für eine vernunftgesteuerte Weltpolitik. So war man zur Jahrtausendwende im so genannten Westen vor allem mit sich selbst beschäftigt. „Es geht uns besser denn je“, dachte man, oder „Es könnte uns viel schlechter gehen.“ Großen Veränderungswillen gab es nicht. Gedanken wie „Könnte es uns und anderen nicht noch besser gehen?“ oder „Wie lange wird es uns noch so gut gehen?“ waren Gedanken von Spielverderbern. Man wollte nicht in längeren Zeiträumen denken als gewohnt. Meine Generation, die Generation Sichtflug nicht, aber auch nicht die Generationen der Älteren. Vielleicht war ich bis weit in die erste Jahrhunderthälfte hinein einfach noch zu jung, um besondere Erwartungen an unser Jahrhundert zu haben. Erst Jahre nach meinem Eintritt ins Archiv begann ich, Vergleiche zwischen unserem und dem 20. Jahrhundert anzustellen. Wie weit sind Menschen, Staaten und die Staatenwelt im letzten Jahrhundert vorangekommen, fragte ich mich nun, und um wie viel weiter könnten sie in diesem Jahrhundert vorankommen? Fragen, mit denen ich mich ziemlich allein fühlte. Bis ich darüber mit Hauser sprach. Anfang unseres Jahrhunderts war bei Älteren die größte Sorge noch immer: Nicht noch eine Jahrhunderthälfte wie die vorletzte, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts. Ich selbst hatte diese Sorge nie. Der Anspruch hätte doch sein müssen: nicht noch eine Jahrhunderthälfte wie die jüngste, die fünf Nachkriegsjahrzehnte. Also habe ich später die erste Hälfte unseres Jahrhunderts immer wieder an der zweiten Hälfte des 21 20. Jahrhunderts gemessen. Je länger ich dies tat, desto besorgter wurde ich. Das habe ich aber, so gut ich konnte, für mich behalten. Wem hätte ich es auch anvertrauen sollen? Kein Redakteur hätte darüber schreiben wollen. Ein einziges Mal habe ich mich damit vorgewagt, und die Antwort war: „Dafür finden wir keine Leser.“ Der Kollege hatte natürlich Recht. Dass die Geschichte der politischen Zivilisierung mit der Ausbreitung der Demokratie abgeschlossen sei, glaubte inzwischen niemand mehr, aber man sah sich dem Ziel doch immer noch nah. „Was erwartest du eigentlich?“, sagte der Kollege noch, „so viel Fortschritt in so kurzer Zeit gab es noch nie.“ Auch das mochte richtig sein, aber die Antwort darauf wäre gewesen: „Es gab in so kurzer Zeit auch noch nie so viele neue Probleme.“ In dieser Zeit war der Niedergang des demokratischen Parteiensystems schon zu erahnen, aber auch das änderte nichts an der herrschenden Selbstzufriedenheit. Das gehört aber schon nicht mehr hierher, es gehört in die Geschichte späterer Jahrhundertabschnitte. 22 Bewusstseinsstörung Dieses kleine Jahrhundertporträt soll vor allem eine Bewusstseinsgeschichte sein. Auch deswegen kann man dabei nicht über den barbarischen Jahrhundertauftakt hinweggehen, den islamistischen Anschlag auf das New Yorker World Trade Center im September 2001. Was haben die Täter dabei gedacht, was ihre Inspiratoren, was ihre Sympathisanten? Was haben diejenigen gedacht, die auf diesen Anschlag politisch reagierten, die dabei im Namen der Opfer zu handeln meinten und selbst zu Tätern wurden? Wer hat bei all dem wie weit über die Folgen seines Handelns nachgedacht, wer wie weit über die Folgen des Handelns der Anderen? Ein Problemknäuel, das die Welt zu überfordern schien. Erst einmal aber zu einer anderen fast unentwirrbaren Geschichte, über die ich im Archiv lange recherchiert habe, zu den Jugoslawien-Kriegen der frühen neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts. Heute wissen wir, dass dies exemplarische Kriege zur Lösung einer Jahrhundertaufgabe waren: der Entflechtung falsch zusammengesetzter Staaten. Dass Jugoslawien nach dem Zusammenbruch des Sozialismus nicht als zusammenhängender Staat zu halten sein würde, war den Beteiligten offenbar rasch klar. Niemand schien aber zu wissen, wie man einen solchen Staat friedlich auflöst. Also gab es über die neunziger Jahre hinweg Krieg, genauer gesagt mehrere Kriege, in die auch NATO-Staaten verwickelt waren. Das Ergebnis, der Zerfall Jugoslawiens in Serbien, Kroatien und fünf weitere eigenständige Nachfolgestaaten, war eigentlich für alle vorhersehbar. Warum brauchte es dafür dann aber diese Kriege, eine Intervention der NATO und ein anschließendes langes Besatzungsregime im Kosovo und in Bosnien? Und was, wenn überhaupt etwas, hat man daraus gelernt? Und wenn man nichts oder zu wenig gelernt hat: Konnte das der Auftakt einer Abfolge ähnlicher Kriege sein, womöglich einer langen Ära von Kriegen zur Auflösung von Staaten? Und konnte es wirklich sein, dass niemand, weder Politiker noch Bürger noch Experten, sich ernsthaft diese 23 Frage stellte? War die Welt womöglich in der Hand politischer Schlafwandler, ähnlich wie sie es vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs gewesen war? Genau diesen Anschein hatte es. Unser Jahrhundert begann ähnlich unheilträchtig wie das vorherige. Ein schlichter Rückfall in ein Denken wie hundert Jahre zuvor war dies aber nicht, davon hat mich auch die Archivarbeit überzeugt. Wer sich mit den JugoslawienKriegen näher befasste, dem musste klar sein: Die Kriege des 21. Jahrhunderts würden ganz andere sein als die großen Kriege der Vergangenheit. Die meisten großen Kriege waren Ausbrüche überschießenden Machtgefühls gewesen. Wenn man andere Staaten besiegen und damit Macht und Einfluss über fremde Staatsgebiete ausweiten konnten, warum dann nicht? Gelohnt haben sich die großen Kriege dieser Art aber auf sehr lange Sicht fast nie, und in der Welt des 21. Jahrhunderts war dies weniger denn je zu erwarten. Dass auch unser Jahrhundert eine Ära von Eroberungskriegen sein würde, war kein plausibles Szenario. Nun aber Kriege wie die um Jugoslawien. Viele hieran Beteiligte waren natürlich noch ganz in altem Denken befangen, verfolgten also noch auf Eroberung und Unterdrückung gerichtete Kriegsziele. Im Kern ging es bei diesen Kriegen aber um etwas ganz anderes. Hier wollte kein Despot oder Monarch oder ideologisch verblendetes Regime seinen Herrschaftsbereich ausweiten. Hier wollten werdende Demokratien sich Staatsgrenzen schaffen, in denen es unter ihren Bürgern genügend spontanen Zusammenhalt geben würde und damit die Voraussetzungen für innerstaatlichen Frieden. Das waren verständliche, vernünftige und alles andere als unmoralische Anliegen. Trotzdem war die Staatenwelt hierauf völlig unvorbereitet. Konzepte für eine friedliche Erfüllung dieser Anliegen hatte die Weltpolitik nicht. Die aus der Geschichte gezogenen Lehren reichten hierfür offensichtlich nicht aus. Heute wissen wir, dass die Staatenwelt auch aus den Jugoslawienkriegen keine Lehren gezogen hat, nicht einmal diese, die sich unmittelbar aufdrängte: Wo Autokraten stürzen, die ihr Staatsvolk nur mit eiserner Faust hatten zusammenhalten können, leben bei den Bürgern generationenalte Zusammengehörigkeitsbedürfnisse 24 und Fremdheitsgefühle neu auf. Wenn diese Bedürfnisse missachtet werden, kommt es zu schweren innerstaatlichen Konflikten. Nur eine herausragende politische Zivilisierung kann dann noch verhindern, dass die Zusammensetzung von Staatsvölkern mit Gewalt, Terror, Bürgerkrieg oder Krieg neu ausgekämpft wird. Für diese eine einfache Wahrheit war die Zeit noch nicht reif. Man muss wohl froh sein, wenn in einem Jahrhundert wenigstens einige wenige politische Ideologien und Dogmen überwunden werden. Das vorige Jahrhundert war damit beschäftigt, Ideologien wie Kolonialismus, Imperialismus, Kommunismus, Rassismus und Geschlechterdiskriminierung zu überwinden oder zumindest abzumildern. Würde im 21. Jahrhundert wenigstens der alte ideologische Umgang mit Staatsgrenzen überwunden werden? Diese Frage hatte mich in meiner Zeit im Archiv immer wieder beschäftigt, und sie begleitet mich bis heute. Zum politischen Bewusstsein nach der Jahrtausendwende an dieser Stelle nur noch dies: In dieser Zeit war viel von Globalisierung die Rede, also auch davon, dass fast überall auf der Welt ähnliche Informationen und gleiches Wissen verfügbar würden. Dies, so glaubte man, würde zu einer globalen Angleichung der politischen Zivilisierung führen. Diese Auffassung war zum Ende des 20. Jahrhunderts geradezu zum Dogma geworden. Aber eine Ideologie sah man hierin natürlich nicht, allenfalls eine Ideologie zur Überwindung von Ideologien, also ein denkbar harmlose. Aber es war eben doch eine Ideologie, und diese hatte, wie sich zeigen sollte, ähnlich fatale Auswirkungen wie die Ideologien des 20. Jahrhunderts. Sie war Wegbereiterin für die größte politische Katastrophe des ersten Jahrhundertviertels, den Krieg der USA und Großbritanniens gegen den Irak und den mörderischen Flächenbrand, der ihm im Nahen Osten folgte. Möglich wurde dieser Krieg nur, weil Figuren wie George W. Bush und Tony Blair ernsthaft glaubten, ein besiegter und vom Diktator Saddam befreiter Irak würde sich ähnlich rasch modernisieren, sich also ähnlich rasch zu einer stabilen modernen Demokratie entwickeln können, wie die Nachkriegs-Bundesrepublik es getan hatte. Bush, Blair und ihre zahllosen Gesinnungsgenossen und Sympathisanten hatten aber, wie die Nachkriegsgeschichte 25 des Irak dann zeigte, vom Modernisierungspotential des Irak und vergleichbarer Länder nicht die geringste Ahnung. Nach dem Sturz Saddam Husseins offenbarte sich im Irak ein politischer Bewusstseinsstand, der eher Parallelen zum Dreißigjährigen Krieg nahelegte als zur Situation Deutschlands nach dem Zweiten Weltkrieg. Der vermeintliche Befreiungskrieg wurde damit zum exemplarischen Fall eines gescheiterten Modernisierungskrieges. Der Nachkriegs-Irak wurde formal demokratisiert, aber als Demokratie war er von Anfang an nicht lebensfähig. Er zerfiel in Bürgerkriegen, die noch archaischer geführt wurden als im zerfallenden Jugoslawien. Die westlichen Modernisierer, die Krieg für eine höhere Stufe politischer Zivilisierung zu führen vorgaben, standen damit in der Wirkung ihres Tuns moralisch auf dem Niveau ihrer Kriegsgegner. Nach dem Zerfall des Irak gab es keine politische und militärische Weltmacht mit glaubhafter moralischer Autorität mehr. Die Welt war in der politischen Zivilisierung zurückgefallen. Exkurs Wirtschaft An meinem zweiten Arbeitstag im Archiv stellte Hauser mich den Kollegen vor. Alle freundlich, einige beinahe herzlich. Die meisten schienen hoch konzentriert zu sein, manche introvertiert, manche etwas verschroben, wie die meisten Menschen sich Archivare vorstellen. Vielleicht ist wirklich etwas Wahres daran, dass typische Archivare leicht autistische Züge haben. Aber wenn Hauser auf sie zuging, hellte sich bei fast allen die Miene auf. Am Ende unserer Tour standen wir, Hauser und ich, vor einer geschlossenen Tür am Ende eines langen Flurs. "Hier sind wir in der Wirtschaftsabteilung", sagte Hauser. Er ging hinein, ich einen Schritt hinter ihm. Im Raum nur ein Schreibtisch, dahinter eine junge Frau mit auffallend kurzem schwarzem Haar, markanter Brille. Sie sah kurz auf, schaute Hauser aus dem Augenwinkel an, sagte ein kurzes "hallo?". - Ihr neuer Kollege. - Ach so, sagte sie. Dann, mit einem freundlichem Lächeln noch einmal: Hallo! Ich sagte nichts, sah sie eine Weile unschlüssig an. Ein bekanntes Gesicht? 26 Sie erwiderte meinen Blick, zögerte, zog die Augenbrauen hoch , dann, mit geweitetem Blick, ein Anflug von Lächeln. - Haben wir uns schon mal gesehen? Diese Stimme! Sie war es, es war ihre Stimme, Constanzes Stimme. Es war die angestrengte, etwas schrille und kratzige Stimme der Cramer. Ich rührte mich nicht. Dann stand sie auf, kam auf mich zu, streckte die Hand aus. Cramer, die Souveräne. Was tun? Mich in Luft auflösen? Ihre Hand griff schon nach meiner, da stand sie vor mir mit ihrem jetzt kurz geschnittenem Haar und ihrer markanten Brille, so selbstbewusst wie früher, so imposant wie früher und ebenso elegant wie früher. Aber unnahbar? Nein. Nicht unnahbar, nicht einschüchternd, nicht abweisend. Hatten wir uns alle in ihr getäuscht? - Vielleicht im Seminar?, fragte ich mit viel zu leiser Stimme. In Grafs Seminar? - Ja genau. - Constanze Cramer? Frau Cramer? - Constanze. - Matthias. Matthias Schmidt. - Ja, jetzt erinnere ich mich. Ach, ihr kennt euch?, fragte Hauser. Dabei sah er uns abwechselnd mit dem gütigen Blick eines Vaters an, der zusieht, wie sein Kind einen Freund von früher trifft. - Ihr werdet öfter miteinander zu tun haben. - Würde mich freuen, sagte Constanze. Dann setzte sie sich wieder an den Schreibtisch. Als wir gegangen waren, sagte Hauser: Sehr selbstbewusste Frau. Genau, hätte ich sagen mögen, aber ich traute mich nicht. Tagelang ging mir diese Bemerkung Hausers durch den Kopf. Würde er das später einmal auch über mich sagen: Sehr selbstbewusster Mann, dieser Schmidt? Würde ich das wollen? War ich von Constanze, der sehr selbstbewussten, der Cramer, schon wieder eingeschüchtert wie damals als junger Student? Von der Constanze, die Informatik und Ökonomie 27 studierte, Fächer, die ich mir nicht zugetraut hätte? Die fast doppelt so schnell studiert hatte wie ich? Die, wie sie bald erzählen würde, vier Jahre bei einer Unternehmensberatung gearbeitet hatte, zu einem Gehalt, das ich vielleicht nie im Leben erreichen würde, vier Jahre ein Leben aus dem Koffer, 13-Stunden-Tage, 60Stunden-Wochen, die vielen Reisezeiten nicht mitgerechnet, und die dabei gelernt hatte, sich ganz ungeniert unbeliebt zu machen? Die also nicht nur eine Erscheinung war, sondern auch ein Arbeitstier, konsequent und durchsetzungsstark? Die gerade einmal drei Jahre älter war als ich, mir aber mindestens sechs Jahre Berufs- und vielleicht auch Lebenserfahrung voraus hatte? Aber warum saß sie nun hier im Archiv? Warum machte sie nicht Karriere im Management? Warum nicht, wie es damals viele erwartet hatten, eine Hochschulkarriere? Viele Jahre später hat sie mir auch das freimütig erklärt: Starke Erscheinung mit schwacher Stimme, so habe man an der Hochschule über sie geredet. Man habe sie sehen und man habe Texte von ihr lesen wollen, aber ihr zuhören wollen habe man nicht. Das habe sie gerade noch früh genug gemerkt. - Und?, frage ich. Hast du es bedauert? - Nein, sagte sie. Die Erinnerung an Grafs Abschiedsvorstellung hat es mir leicht gemacht. Wirtschaftsexpertin im Archiv einer Zeitschrift wie dem SPIEGEL zu sein ist ein ziemlich einsamer Job. Die Archivarbeit allein brachte uns selten zusammen, aber wir schafften uns unsere Gelegenheiten. Wenn wir uns trafen, dann bestimmte natürlich meistens Constanze die Themen, und natürlich ging es dann oft um Wirtschaft. Ich versuchte dann, wenigstens höfliches Interesse zu zeigen, und sie dankte es mir mit immer mehr Geduld. Sie konnte einem Laien wie mir die Wirtschaft so leichthändig, so gut gelaunt und mit so wenigen Worten verständlich machen niemand sonst. Hätte sie mir diesen Nachhilfeunterricht nicht gegeben, würde ich mich heute nicht trauen, hier kurz etwas Eigenes zur Wirtschaftsentwicklung in unserem Jahrhundert anzumerken. 28 Aber sind Wirtschaftsfragen für die Bewusstseinsgeschichte unseres Jahrhunderts überhaupt wichtig? Oder sind sie zumindest dann eher unwichtig, wenn eine Epoche vom Scheitern großer historischer Projekte wie Friedenswahrung oder globaler Modernisierung geprägt ist? So würde ich vielleicht noch heute denken, wenn die Gespräche mit Constanze nicht gewesen wären. In meinen ganz jungen Jahren glaubte ich, politische Stimmungen seien von nichts so abhängig wie von der Wirtschaftslage. Constanze erklärte mir, dass das einmal so gewesen sein mag, aber nicht mehr so ist. Die meisten Bürger sind zufrieden, solange es für sie wirtschaftlich nicht bergab geht. Solange es nur überschaubaren Minderheiten wirtschaftlich schlecht geht, will die demokratische Mehrheit keine großen politischen Veränderungen. Wer will es ihr verübeln? Dass ihr eine ganz andere Politik mehr Wohlstand bringen würde, lässt sich schwer beweisen. Im ersten Jahrzehnt des Jahrhunderts begann eine schwere Finanzmarkt- und Bankenkrise, und in Teilen Europas folgte ihr eine lange Staatsverschuldungs- und Wirtschaftskrise. In manchen Medien war die Rede davon, dass in dieser Krise Marktwirtschaft und Kapitalismus versagt hätten, aber wirklich ernst nahmen das nur wenige. Die große Mehrheit der Bürger war gelassener. In Deutschland sowieso, aber selbst in den Staaten, die die Krise viel stärker zu spüren bekamen, blieben große politische Veränderungen aus. Was hätte sich, von einer etwas strengeren Kontrolle der Banken abgesehen, politisch auch ändern sollen, um Krisen solcher Art zu verhindern? Auch Constanze hatte darauf noch keine Antwort. Eine Zeitlang glaubte ich, in Kreisen der Wissenschaft wisse man dies genauer, aber dann hat Constanze es mir so erklärt: Es gebe zwei verschiedene Arten von Wirtschaftswissenschaften, und beide führten in dieser Frage nicht weiter. Die eine, im Elfenbeinturm der Theorie, beschäftige sich vor allem mit sich selbst, die andere mische sich in die Politik ein. Die eine, die theoretische, sei intellektuell auf höchstem Niveau, die andere sei auf dem Niveau der Politik, der sie sich andiene. Die eine sei für politische Fragen unbrauchbar, die andere gebe den politischen Rat, den ihre Geld- und Auftraggeber suchten. So sei es schon immer gewesen, sagte sie, 29 und so werde es sicher auch bleiben. Ich habe sie dann gefragt, ob die Wissenschaft nicht doch dazulerne und in Zukunft besser vor Wirtschaftskrisen werde bewahren helfen. Sie wisse von Krisen, erklärte sie, die durch Wirtschaftstheorien verursacht wurden, aber von keiner, die durch Wirtschaftstheorie verhindert wurde. Sie glaube auch nicht, dass sich daran viel ändern werde. Ob es wirklich alles so einfach sei, fragte ich sie noch, und ihre schnippische Antwort war: Nein, aber für einen Laien wie dich ist es Wesentliche. Aber genug davon, mehr als ein kleiner Exkurs in Wirtschaftsfragen soll hier nicht sein. Womit ich nicht sagen will, dass Wirtschaft für das politische Bewusstsein in diesem Jahrhundert doch eher nebensächlich sei. Natürlich erleichtert Wohlstandswachstum auch Fortschritte in der politischen Zivilisierung. Aber wirtschaftlicher Fortschritt wird, wie mir Constanze einmal erklärte, nicht von der Politik und nicht von Politikern gemacht. Politiker behaupteten oft das Gegenteil, die meisten glaubten es sogar, aber es sei nicht so. Politik könne wirtschaftlichen Fortschritt behindern oder zulassen, aber machen könne sie ihn nicht. - Noch nicht?, fragte ich. - Im Zulassen des Fortschritts kann die Politik noch besser werden. So redete sie. Kurze, knappe Erläuterungen, gekrönt von einem Satz wie ein Schlusswort, der mich erst einmal sprachlos machte, der mir dann aber immer plausibler erschien. Das war ihr großes Talent. Ob sie einige ihrer Talente als Archivarin nicht doch vergeude, fragte ich sie einmal, und auch darauf gab sie eine Antwort, die mir allmählich immer plausibler wurde: Ja, sagte sie, das habe sie sich natürlich auch gefragt. In der Unternehmensberatung habe sie gelernt, Dinge genau auf den Punkt zu bringen. Da müsse man zeigen, dass man manches auch ganz anders sehen kann, als die Mandanten es schon viel zu lange gesehen hätten, und dabei gehe es weniger um die richtige Lösung als um die Möglichkeit einer Lösung, und da dies oft, was die Kunden nicht gleich merken dürften, eine eher diffuse Botschaft sei, sei es umso wichtiger, sie knackig zu 30 präsentieren. "Es muss sitzen. Es muss ein kleiner Schock sein." Das, meinte sie, sei ihr meistens gelungen. Es klang so engagiert, als würde sie nichts lieber tun wollen als genau solche Arbeit, und doch so distanziert, als erzählte sie von einem früheren Leben. Wieso sie dann nicht dabei geblieben sei, fragte ich. - Auch solches Leben wollte ich einmal gelebt haben. Aber man zahlt einen Preis. - Welchen? - Ich bin hier in der Reha. Das Archiv ist meine Reha. Viel klüger fühlte ich mich danach nicht, aber ich fühlte, dass, was die Wirtschaft angeht, viele doch viel weniger klug waren, als sie glaubten. Ein gutes Gefühl. Die Wirtschaftsentwicklung unseres Jahrhunderts hat ihm Recht gegeben. Russland und die Ukraine Mit der Arbeit im Archiv hatte ich mich bald angefreundet. Begeisterung war es nicht, aber je mehr ich über Alternativen nachdachte, desto besser fühlte ich mich dort aufgehoben. Was kein Wunder war, wenn man einen Hauser als Chef hatte. Hauser und ich waren einander so nah, wie Kollegen verschiedener Generationen es nur sein können. Aber Hauser überraschte auch immer wieder mit Bemerkungen, die mich verunsicherten. So sagte er einmal beiläufig, er kenne das Archiv fast auswendig. Ich sah ihn natürlich ungläubig an. Nein, sagte er, natürlich nicht buchstäblich das ganze Archiv, aber das, worauf es ankomme. Die Schätze des Archivs sozusagen. Von einer Million Archivinformationen seien das höchstens einige hundert. Über die Jahrzehnte habe er ein Gespür dafür entwickelt, welche das sein könnten. Lernen könne man das nicht, sagte er, lehren könne man es auch nicht, man könne eben nur ein Gespür dafür entwickeln 31 Nur einige hundert von einer Million Archivinformationen sollten wirklich wichtig sein? Pflegten wir also doch einen Berg von Karteileichen, in dem es nur sporadisch Spuren wichtigen Lebens gab? Ich fragte Constanze, ob sie es nach ihren zweieinhalb Jahren Archiverfahrung etwa auch so sehe. Ja, sagte sie, im Archiv einen wirklichen Schatz zu finden, das sei fast wie ein Lottogewinn. Archivarbeit erfordere nun einmal Geduld. - Aber wenn es wirklich so ist, fragte ich, machen wir dann nicht etwas grundsätzlich falsch? - Vielleicht, sagte sie. Einen Unternehmensberater sollte man vielleicht nicht darauf ansetzen. Was der denn sagen würde, wollte ich fragen, aber dann wusste ich schon selbst die Antwort. Er würde eine große Reorganisation vorschlagen. Constanze hatte mir ja geschildert, wie es geht. Ein langer diffuser Bericht, am Ende eine knackige Botschaft: Das Archiv muss schrumpfen, das Archiv muss sich ganz und gar in Frage stellen. Weiter wollte ich es mir damals noch nicht ausmalen, auch wegen Hauser nicht. Das Archiv in Frage zu stellen hieße, Hauser in Frage zu stellen, und nichts lag mir ferner. Hauser war nicht nur ein kollegialer Chef für uns alle, auch im Umgang mit Redakteuren, dachte ich, bewies er sicheres Gespür. Trotzdem war sein Verhältnis zur Redaktion nicht ohne Spannungen. Jahre später, lange nachdem ich sein Nachfolger geworden war, hörte ich im Vorbeigehen einen unserer Chefredakteure sagen: „Einen zweiten Hauser hatten wir uns eigentlich nicht gewünscht, oder?“ Ein Kommentar über einen allseits hoch geschätzten Kollegen klingt anders. Hatte es eine Seite Hausers gegeben, von der ich nichts ahnte? Hatten sich Redakteure irgendwann von Hauser falsch informiert gefühlt oder sogar manipuliert? Hatte er Archivinformationen für sich behalten? Hatte er Informationen 32 weitergegeben, von denen er wusste, dass sie falsch waren? War er so bei der Chefredaktion in Misskredit geraten? Nichts davon wollte ich glauben. Dann erinnerte ich mich, wie Hauser einmal Archive mit Geheimdiensten verglichen hatte. Geheimdienstler, hatte er gesagt, arbeiteten diskret und unauffällig, deswegen werde ihre Macht weit unterschätzt, und ähnlich sei es bei Archivaren. Ein Geheimdienstchef könne Regierungschefs und Minister ins offene Messer laufen lassen, er könne ihnen Macht über andere geben, er könne, das wisse ich doch, sogar Kriegsbereitschaft wecken und Kriegsausbrüche verhindern helfen, und daran habe sich nichts geändert. Ein Archivleiter sei ein Geheimdienstchef im Kleinen. Auch er könne Menschen, vor allem natürlich Redakteure, ins offene Messer laufen lassen und Menschen Macht über andere geben. Ganz unauffällig. Ich fragte ihn, ob er es schon einmal getan habe, und er antwortete, das glaube er nicht. Archivare, fuhr er dann fort, könnten herausfinden, wer welche Archivinformationen genutzt, also auch, wer welche Informationen Kollegen und Lesern vorenthalten hat. Deswegen seien viele Redakteure vor Archivaren auf der Hut, auch ich würde das noch erleben. Sprach er aus Erfahrung? War er womöglich ein kleiner Intrigant? Hatte er sogar mitgemischt, als einige Jahre vorher zwei Chefredakteure entlassen wurden? Und hatte ein Gespräch, das wir über Information und Desinformation im Krieg geführt hatten, nicht auch damit zu tun? Redaktionen gehe es im Krieg nicht viel anders als Regierungen, hatte er gesagt. Man erwarte von ihnen, dass sie wissen und schreiben, wer im Krieg die Guten und wer die Bösen seien. Auch wenn sie es nicht wüssten, werde der Druck irgendwann zu groß, dann lege die Redaktion sich fest, auch wenn ein moralisches Urteil eigentlich noch unmöglich sei. Und wie diese Festlegung dann ausfalle, das hänge auch von Informationen aus dem Archiv ab. Ich fragte nach einem Beispiel, und darauf gab er eine lange Antwort über den Anschluss der Krim an Russland und den Bürgerkrieg in der Ostukraine. 33 Alle Regierungen, alle Geheimdienste, alle politischen Parteien und alle Medien hätten in dieser Sache ebenso viel desinformiert wie informiert. Moskau habe es getan, Kiew ebenso und die Staaten des Westens kaum weniger. Wir vom Archiv, sagte er, gaben uns damals alle Mühe, Information von Desinformation unterscheiden zu helfen, aber genützt hat es wenig. Die Redaktion habe sich Beweise dafür gewünscht, dass nur Putin böswilliger Friedensstörer und Kriegstreiber war, die Regierungen des Westens und der Ukraine dagegen nur dem Frieden dienten. Nur zwei Redaktionskollegen - es tue ihm immer noch Leid um sie - hätten sich daran nicht gehalten. An dieser Stelle kann ich nicht anders, als einen ersten Ausschnitt aus Hauser Aufzeichnungen einzuflechten, auf die ich zwei Jahre nach seinem Ausscheiden aus dem Archiv gestoßen bin. Ich hätte mir gewünscht, Hauser hätte mir diese Aufzeichnungen selbst anvertraut, aber ich fand sie rein zufällig bei einer Recherche im Archiv. Sie waren noch vollkommen unberührt, augenscheinlich noch von niemandem gelesen oder auch nur durchgeblättert oder angeschaut. Hauser hatte am Tag seiner Verabschiedung ein einziges Exemplar dieser Aufzeichnungen ins Archiv gestellt, wie ein unauffälliges Geschenk an den Verlag, als wollte er es dem Zufall überlassen, ob sie je von jemandem gelesen würden. Ich hatte das Glück, ihr Finder und erster Leser zu sein. Auch mit diesen Aufzeichnungen ist Hauser für mich dann zu einem Zeitzeugen des ersten Vierteljahrhunderts geworden. Natürlich hat Hauser darin auch einiges über Russland und Russlands Rolle im Ukrainekonflikt geschrieben, und natürlich hatte er dazu eine Meinung, die damals alles andere als die gängige war. Als Archivar hätte ich mir manchmal doch gewünscht, Überflüssiges und Nebensächliches herauszuhalten und dem, was ich für das Besondere hielt, einen bevorzugten Platz zu geben. Aber ich habe es nicht getan. Auch zum Ukraine-Konflikt mussten wir natürlich wahllos das viele Redundante archivieren, das westliche Politiker, Organisationen, Ämter und Medien hierzu absonderten und das die Rollen von Gut und Böse fast immer auf die gleiche Art verteilte. Eine Zeitlang waren "Russlandversteher" und "Putinversteher" unter Journalisten 34 Schimpfworte. Die anderen, die Nichtversteher also, waren die selbstsichere Mehrheit, auch bei uns. Russland als Restgebilde der Sowjetunion, das den Verlust der Großmachtrolle nicht verkraftet und sich Teile der Ukraine einverleiben will, um sich dabei doch noch einmal als Großmacht zu inszenieren - das war im Westen die gassenläufige Deutung. Aber was war daran stimmig? Richtig war das innere Bild von Russland als verstörter Ex-Großmacht. Geschwächte nationale Identität, bedrohtes politisches Selbstbewusstsein und ein Verlangen nach Ersatzbefriedigungen, dazu ein Präsident Putin, der für eben diese Gefühle ein sicheres Gespür hatte. Populistische Rhetorik und Symbolik, autokratischer Führungsstil, neuer Nationalismus, neue Feindseligkeit gegenüber Minderheiten jeglicher Art, Durchsetzungskraft vor Rechtsstaatlichkeit, neue Religiosität, das waren - nach einer kurzen Phase versuchter Verwestlichung - die Quellen des politischen Empfindens im postsowjetischen Russland. Putins Nachfolger werden dieser Linie auf absehbare Zeit folgen. Amerika verkraftet den Entzug der Weltmachtrolle etwas besser, schon wegen seiner viel längeren demokratischen Geschichte, aber Ähnlichkeiten werden bleiben. Und die Ukraine? Opfer verschleppten russischen Großmachtwahns? So wollten die Regierenden im Westen es sehen, aber plausibel war es nie. Als die inneren Unruhen mit Protesten in Kiew begannen, war die Ukraine, innerlich zerrissen und wirtschaftlich rückständig, schon fast ein gescheiterter Staat. Seit der Ausgliederung aus der Sowjetunion immer wieder inkompetente, korrupte und abgewählte Staatsführungen, die der Westen zum Teil dennoch hofierte. Dann im Winter 20013/14 der Kiewer Bürgeraufstand gegen den Präsidenten Janukowitsch, in dem sich alles andere offenbarte als landesweit staatstragende Gemeinsamkeiten. Auch im Archiv finden sich die Belege für eine ganz andere Sicht der Dinge: Die Staatsgrenzen der Ukraine waren ähnlich willkürlich gezogen wie die Staatsgrenzen vieler ehemaliger Kolonien. Also war die Bevölkerung dieser Ukraine nicht dafür gemacht, auf Dauer in einem gemeinsamen Staat zu leben. In Teilen des Landes war diese Ukraine für die Mehrheit der Bevölkerung nicht zur politischen Heimat geworden. Dort herrschte gegenüber dem eigenen Staat ein spontaner und ganz und gar legitimer Widerwille, auch wenn die dafür gebräuchliche Bezeichnung keinen guten Klang hat: Separatismus. 35 Das Weitere will ich zusammenfassen: Die Krim sei Russland zugefallen, weil die Krim-Bewohner es so wollten. Russland habe dabei unauffällig und fast gewaltlos geholfen, also hinlänglich zivilisiert, ohne gewalttätiges Großmachtgehabe. Es habe sich, im Gegenteil, taktisch klug für die Freiheit von Bürgern eingesetzt, über ihre Staatszugehörigkeit selbst zu bestimmen. Selbst wenn Russland hier aus falschen Motiven das moralisch Richtige getan habe, bleibe es doch das Richtige, und wer das Richtige tue, dürfe dafür nicht mit Sanktionen bedroht und bestraft werden. Genau das aber hätten die westlichen Demokratien bekanntlich getan. Sie hätten eine Sanktionsmaschinerie in Gang gesetzt, um Russland für einen legitimen Einsatz für das Selbstbestimmungsrecht der Krim-Bewohner zu bestrafen. Hausers Fazit des Krim-Konflikts: Hier sei eine falsch gezogene, konfliktträchtige Staatsgrenze ohne Blutvergießen nachhaltig korrigiert worden, ohne dass dadurch erkennbar neue Konflikte und größere neue Minderheitenprobleme geschaffen seien. Dies sei geradezu ein historischer Glücksfall. Selten in der Geschichte sei eine umstrittene Grenze so reibungslos im Sinne der Bürger korrigiert worden. Einer Figur wie Putin könne man manches vorwerfen, aber die Loslösung der Krim von der Ukraine ganz sicher nicht. Die Welt habe ja erlebt, wie kurz danach in der arabischen Welt um umstrittene Grenzen ganz anders, nämlich mit schlimmstem Terror und Krieg gekämpft wurde, vorher habe sie dies in den Jugoslawienkriegen erlebt, und die Welt werde sich wundern, wie oft sich dies noch wiederholen werde. Spätere Historiker würden sich einmal fragen, warum der Westen die von Russland unterstützte Loslösung der Krim damals nicht als friedenswahrende Bereinigung der politischen Landkarte gewürdigt habe. Und dann Hausers Kommentar zum Konflikt um die Ost-Ukraine: Die Krim ließ sich von der Ukraine mit einem sauberen chirurgischen Schnitt abtrennen. Im Fall der Ost-Ukraine war dies anders. Russlands Rolle war hier dubioser. Vielleicht hatte Putin, geblendet von der Leichtigkeit der Operation Krim, die Komplikation dieses Konflikts unterschätzt, als er die ostukrainischen Separatisten bestärkte. Er könnte geglaubt haben, auch hier könne nach einem rasch 36 anberaumten Referendum die ukrainische Staatsgrenze schnell und friedlich korrigiert werden. Es gab zwar ein Referendum in der Region Donezk, in dem eine überwältigende Mehrheit für die Abspaltung von der Ukraine votierte. Aber welcher Grenzverlauf würde der richtige sein? Wie sollten die Minderheitenrechte im abgespaltenen Gebiet geregelt werden? Und sollte das abgespaltene Gebiet ein vollständig eigenständiger Staat werden, mit eigener Armee und eigener Währung, oder sollte er auf eine eigene Armee, eine eigene Währung und womöglich noch auf andere Zuständigkeiten verzichten? Oder sollte die Ostukraine sich ganz und gar Russland anschließen? Die ostukrainischen Separatisten zu unterstützen, ohne diese Fragen zu Ende gedacht zu haben, war fahrlässig. Insofern trifft Putin und seine Mitstreiter große Mitschuld am Leid im ostukrainischen Bürgerkrieg. Nicht weniger Schuld tragen aber die ukrainische Staatsführung und deren westliche Unterstützer, diejenigen also, die den Ostukrainern eine freie Entscheidung über ihre Staatszugehörigkeit verweigern wollten. Das Ergebnis dieser Verweigerung: nach einem opferreichen Bürgerkrieg ein schwelendes Staatsgrenzenproblem und damit ein neuer schwelender Konfliktherd in Europa. Aber was konnte man vom ukrainischen Staat damals anderes erwarten? Von einem Staat in der denkbar kompliziertesten politischen Lage, um dessen Führung sich in dieser Zeit nur politische Anlernlinge bewarben, darunter ein Boxweltmeister und ein Schokoladenfabrikant, noch blutigere Laien also als die Staatslenker sonstiger, auch westlicher Demokratien? Präsident wurde damals - als das in der Tat kleinere Übel zuerst der Schokoladenfabrikant, der dann aber natürlich in jeder nur denkbaren Hinsicht überfordert war. Dass auch der Westen in diesem Konflikt nicht flexibler reagierte, lässt sich ebenso wenig mit Vernunftgründen erklären. Erklärbar ist es nur mit Dogmengläubigkeit. Nach dem Dogma der territorialen Integrität sollte jedem Staat die Unverletzlichkeit seiner Grenzen garantiert sein, auch dann, wenn er, wie die Ukraine es tat, einem Teil seiner Bürger das Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit verweigert. Alles, was die Grenzen bestehender Staaten eigenmächtig in Frage 37 stellte, also auch die von Separatisten abgehaltenen Referenden und Wahlen in der Ostukraine, wurde demnach von westlichen Regierungen für illegitim erklärt, nicht zuletzt unter Berufung auf das Völkerecht. Von Regierungen also, die selbst, allen voran die USA, das Völkerrecht immer wieder nach Gutdünken auslegten. Natürlich ist das Dogma der territorialen Integrität aus leidvoller historischer Erfahrung entstanden. Die Erfahrung war, dass die meisten Kriege von Staatsführungen ausgingen, die eigenmächtig und gewaltsam Staatsgrenzen verändern wollten. Vom Dogma der territorialen Integrität versprach man sich, dass es den bisher wichtigsten aller Kriegsgründe aus der Welt schaffen und damit eine weitestgehend friedliche Welt schaffen würde. Das war sicherlich gut gemeint, aber es hat alles andere als nachhaltigen Frieden gebracht. Auch in der Ukraine wurde im Namen dieses Dogmas ein Krieg der Regierung gegen eigene Bürger geführt, die frei über ihre Staatszugehörigkeit entscheiden wollten. Wie werden künftige Historiker hierüber einmal urteilen? Mit Entsetzen über das politische Denken in unserem Jahrhundert? Hoffentlich. Wie Hauser es hier formulierte, klang es so wohltuend selbstverständlich. Ich war beim Ukraine- Konflikte immer unsicher gewesen, welche Seite - wenn überhaupt eine - moralisch im Recht ist. Wie hatte ich übersehen können, dass das Dogma der territorialen Integrität mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker unvereinbar ist? Nur einmal, als ich erfuhr, dass sogar der greise Helmut Schmidt den Anschluss der Krim an Russland mit dem Selbstbestimmungsrecht der Völker verteidigt hatte, war ich diesem Gedanken nahe gekommen. Hatte die Staatengemeinschaft sich mit dem Dogma der territorialen Integrität ein globales Denkverbot auferlegt? War die Auffassung, ein Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit sei mit dem Frieden unter den Völkern unvereinbar, ein fataler historischer Irrtum? Bei einer Archivrecherche stieß ich auf den seit Mitte des 20. Jahrhunderts andauernden Zypern-Konflikt. Seit Jahrhunderten lebten im Norden des Inselstaates mehrheitlich Türken, im bevölkerungsreicheren Süden mehrheitlich Griechen. Die 38 Türken fühlten sich von der griechischen Mehrheit seit jeher schlecht behandelt. Als die griechische Mehrheit den Anschluss Zyperns an Griechenland anstrebte, war dies für die türkische Minderheit natürlich ein Schreckensszenario. Der Konflikt hierüber wurde zwei Jahrzehnte lang mit beiderseitigem brutalem Terror geführt, ein opferreicher Konflikt also, in dessen Verlauf Hunderttausende innerhalb des Landes und aus dem Land flüchteten und vertrieben wurden. Schließlich besetzte die Türkei 1974 Nordzypern, das sich daraufhin zu einem unabhängigen Staat ausrief. Die Türkei half damit den türkischen Zyprioten, über ihre Staatszugehörigkeit frei zu entscheiden, und intervenierte so gesehen für die Freiheit und gegen das Dogma. Allerdings war hiernach die Vorgeschichte schon mit zu viel Gewalt und Unrecht, mit zu vielen Verbrechen beider Konfliktparteien belastet, als dass das Problem allein mit Referenden über die Staatszugehörigkeit noch hätte gelöst werden können. Erst nach einem halben Jahrhundert komplizierter Vermittlungsarbeit, begleitet von einer ganz allmählichen politischen Bewusstseinsveränderung, konnte zur Staatszugehörigkeit der Zyprer wenigstens eine provisorische Übereinkunft erzielt werden. Selbst in diesem vergleichsweise übersichtlichen Fall reicht also eine Generation nicht aus, um die Denkblockade in Sachen Separatismus auch nur ansatzweise zu lösen. Der auf Zypern jahrzehntelang herrschende Terror und die Invasion Nordzyperns durch die Türkei lassen sich sogar als Vorboten der neuen Ära des Unfriedens deuten, die mit den Jugoslawien-Kriegen der neunziger Jahre begonnen hat. Aber auch hierzu war Hauser, wie ich bald herausfand, mit seinen Gedanken schon viel weiter. Gegen Ende seiner Aufzeichnungen schrieb er: Nicht der Separatismus ist maßlos und radikal, sondern dessen Unterdrückung. Nicht Radikalisierung führt zum Separatismus, sondern die Verweigerung separatistischer Anliegen führt zur Radikalisierung. So war es auch in Zypern, in Jugoslawien und in der Ukraine. Aber es gibt Beispiele dafür, dass es anders geht. Tschechien und die Slowakei z.B. haben sich friedlich voneinander getrennt, weil beide Seiten es so wollten, weil keine Seite dogmatisch verblendet war und weil zudem der künftige Grenzverlauf ziemlich unstrittig 39 war. So einvernehmlich hätte es auch mit der Krim ausgehen können, wenn die dogmatische Verblendung nicht gewesen wäre. Aber auch in Russland war das Bewusstsein in Sachen Separatismus natürlich nicht weiter fortgeschritten. Russland trat für das separatistische Selbstbestimmungsrecht da ein, wo es um die Interessen von Russen ging. Wenn es um die Bewahrung eigener Staatsgrenzen ging, um den Separatismus von Minderheiten im eigenen Staat, beharrte auch Russland auf dem Dogma der territorialen Integrität. Damit rechtfertigte es seine brutal geführten Kriege in Tschetschenien und anderen abtrünnigen Regionen. Im opportunistischen Umgang mit völkerrechtlichen Dogmen standen Russland und der Westen einander also kaum nach. Der Westen hätte hierbei moralische Überlegenheit wiedergewinnen können. Er hätte z.B. die Zustimmung zum Anschluss der Krim an Russland davon abhängig machen können, dass Russland auch in Tschetschenien und anderen Landesteilen Referenden über die Staatszugehörigkeit zulässt. Auch wenn Russland Jahrzehnte gebraucht hätte, um sich ernsthaft hierauf einzulassen: Ein erster Schritt in Richtung einer neuen Weltfriedensordnung hätte dies werden können.. Die Rückwärtsgewandtheit des Denkens in Sachen Staatsgrenzen bezeugte in dieser Zeit kaum ein Politiker so unverblümt wie Putin, als der den Zerfall der Sowjetunion als die größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts bezeichnete. Damit zeigte er, wie schwach auch bei ihm, der sein politisches Handwerk besser beherrschte als die meisten Staatslenker des Westens, das Vorstellungsvermögen für langfristige politische Veränderungen war. Die Sowjetunion war ein auf Zwang gegründetes künstliches Staatsgebilde gewesen, also konnte ihr Zerfall keine geopolitische Katastrophe sein. Die friedliche Auflösung der Sowjetunion hat vielmehr diverse Kriege vermeiden helfen, wie sie im zerfallenden Jugoslawien geführt wurden. Wenn die Auflösung der Sowjetunion eine Katastrophe zur Folge hatte, dann war es die in Russland entstandene politische Sinnleere. Westliche Vorstellungen von Demokratie konnten diese Leere nicht füllen. So war es kein Wunder, dass sich im politischen Bewusstsein Russlands postsowjetische, chauvinistische, zaristische und westlich-demokratische Denkfiguren irrational und unberechenbar verknäuelten. 40 Natürlich stutze ich, wenn ich so etwas las. Meinte Hauser wirklich, die westliche Demokratie sei für Russland nicht die passende Staatsform? Ganz fremd war mir der Gedanke nicht, aber noch zu fremd, als dass ich ihm damals hätte nachgehen wollen. Vielleicht hätte ich mich näher damit befasst, wenn ich mich schon damals gefragt hätte, ob die ethnischen und religiösen Minderheiten Russland auf Dauer die Treue halten würden. Konnte man sich dessen bei den 20 Millionen russischen Muslimen sicher sein, aus denen schon eine Generation später bis zu 30 Millionen werden sollten? Würden diese sich in Russland nicht früher oder später als unwillkommene Minderheit fühlen und über ihre Staatszugehörigkeit neu entscheiden wollen? Auszuschließen war das schon damals nicht. Sicher war nur, dass diese Minderheiten sich von politischen Dogmen nicht ewig würden einschüchtern lassen. Afrika Es gäbe an dieser Stelle noch viel über die zwei gemeinsamen Jahre im Archiv zu erzählen, in denen Hauser und ich einander so nahe kamen. Aber dies ist nicht die Geschichte von Hauser und mir, es soll eine kurze Bewusstseinsgeschichte des Jahrhunderts sein, soweit möglich sogar eine Weltgeschichte, und daher muss hier erst einmal von anderen Weltregionen die Rede sein, in denen sich im ersten Jahrhundertviertel ähnliche Dramen abspielten wie die gerade geschilderten, Dramen also um Fragen der Staatszugehörigkeit. Im demokratischen Europa galt Streit um Staatsgrenzen lange als ein Problem von gestern. Es komme nicht darauf an, so war die herrschende Meinung, in welchem Staat man als Bürger lebe, es komme nur darauf an, dass Staaten die Minderheitenrechte wahrten. Dies konnte zur herrschenden Meinung werden, weil in Westeuropa nur noch ein kleiner Teil der Bürger von dem Problem betroffen war. Die Kriege der Vergangenheit bis hin zu den Jugoslawienkriegen hatten in Europa viele Willkürgrenzen korrigiert, und in der Tat war auch der Umgang mit Minderheiten 41 zivilisierter geworden. Aber durfte man Ostukrainern, Krimbewohnern und anderen deswegen vorschreiben, sich unerfüllte Staatszugehörigkeitswünsche zu versagen? Darüber, sagte Hauser einmal, dürfe sich doch niemand ein Urteil anmaßen, ohne die Betroffenen selbst gehört zu haben. Ob ich denn selbst einmal mit Betroffenen darüber geredet hätte. Und als ich darauf nicht antwortete: Ich könnte ja einmal einen Griechen fragen, was heute geschähe, wenn Griechenland oder Teile davon noch immer unter türkischer Herrschaft stünden, aber die Antwort könne ich mir sicher auch denken. Ich könnte auch einmal einen Finnen fragen, was Finnen heute täten, wenn ihr Land noch immer zu Russland gehörte. Die Finnen würden dies, da sei er ganz sicher, selbst dann nicht hinnehmen wollen, wenn Russland Minderheitenreichte ähnlich respektierte wie westeuropäische Staaten. Falsche Staatsgrenzen seien nun einmal keine von selbst heilenden Wunden, und sie würden es wahrscheinlich nie werden. Die vielen Kriege in Europa hätten viele Staatsgrenzen korrigiert, aber, das wisse ich doch auch, damit sei die Frage der Staatszugehörigkeit auch in Europa nicht für immer und nicht überall vom Tisch, auch nicht im Europa der Europäischen Union. Nach solchen Gesprächen mit Hauser war ich immer wieder verblüfft, in welcher politischen Ahnungslosigkeit ich, nein wir alle, unsere ersten Lebensjahrzehnte verbracht hatten. Mit Hausers Hilfe hatte ich den Separatismus neu verstehen gelernt, aber es gab noch einen anderen politischen Begriff, den ich ebenso neu verstehen lernen musste: Parallelgesellschaften. Dieser Begriff war in der westlichen Welt ebenso negativ besetzt, er löste ebensolche Abwehrreflexe und ebensolche Empörung aus wie der Separatismus. Es hat lange gedauert, bis ich Hausers Ausführungen dazu wirklich ernst nahm, und noch länger, bis sie mir ganz und gar einleuchteten. Wir wollen keine Parallelgesellschaften in unserem Land. Darüber herrschte in Deutschland und vielen anderen Ländern Einvernehmen. Dieser Spruch ging konservativen Politikern am leichtesten über die Lippen, aber Widerspruch gab es dagegen auch anderswoher nicht. Was aber, fragte Hauser, waren die Alternativen? 42 In vielen Ländern sei längst ein Zustand erreicht, in dem es nur noch darum gehe, ob sich Parallel- oder ob sich Gegengesellschaften im eigenen Land bilden würden. Gegengesellschaften bedeuteten unvermeidlich Gewalt und Terror. Parallelgesellschaften dagegen stünden für die Chance auf ein friedliches Nebeneinander. Notfalls müsse der Staat Parallelgesellschaften sogar gezielt fördern, um daraus nicht Gegengesellschaften entstehen zu lassen. Nur so werde in manchen Ländern der innerstaatliche Frieden künftig noch zu wahren sein. Diese Länder müssten lernen, Parallelgesellschaften nicht als Schreckensszenarien zu betrachten, sondern als ein Befriedungskonzept. Ich gestehe, dass ich mir erst mehr als dreißig Jahre später ernsthaft die Frage stellte, wie mit staatlicher Förderung funktionierende Parallelgesellschaften entstehen können. Aber genug erst einmal davon. An dieser Stelle muss von Afrika die Rede sein. Auch die Probleme Afrikas hätte ich in meinen ersten Lebensjahrzehnten fast ignoriert, wären nicht die wachsenden Flüchtlings- und Migrantenströme nach Europa gewesen, die in manchen europäischen Ländern schon Parallelgesellschaften und teilweise sogar Gegengesellschaften aufkeimen ließen. Afrika hatte Hauser immer am Herzen gelegen. In seiner Jugend hatte er mit seiner Familie ein Jahr lang in Kenia gelebt, eine Erfahrung, sagte er, die ihn erst gelehrt habe, die Welt des wohlhabenden Westens mit dem nötigen Abstand zu betrachten. Zu Afrika hat er solchen Abstand nicht immer gewahrt. Manche seiner Aufzeichnungen zum Afrika des ersten Jahrhundertviertels lesen sich wie verzweifelte Klageschriften, aber ich will hier etwas nüchterner bleiben. Hier geht es mir darum, ob die Probleme der politischen Zivilisierung in Afrika mit denen im Westen und anderswo in der Welt vergleichbar waren. Die Antwort nehme ich vorweg: Genau so war es natürlich. Ich will mich den Problemen Afrikas auf einem Umweg nähern, dem Umweg über den Fall Ukraine. Die Ereignisse dort verstanden zu haben kann helfen, das Afrika 43 des ersten Jahrhundertviertels zu verstehen. Deswegen ist hier aus Hausers Erinnerungen noch ein Abschnitt zur Ukraine am Platz. Er beginnt - ganz und gar untypisch für Hauser - mit einem Zitat aus einer Zeitung. Im Juli 214 las ich in einer deutschen Tageszeitung diesen Beitrag Carl Bildts, des schwedischen Außenministers, der im Jugoslawien Konflikt lange für die UNO tätig gewesen war: (FAZ vom 7./8.Juli 2014) „…Die meisten Grenzen Europas wurden mit Blut gezogen, im Laufe von Jahrhunderten brutaler Konflikte, ethnischer Säuberungen und Bevölkerungsbewegungen. Diesen abgeschlossenen Prozess wieder zu öffnen hieße, erneutem Blutvergießen Tür und Tor zu öffnen. Daher wurde in den Turbulenzen nach dem Kalten Krieg ein fundamentales Prinzip formuliert: Das Recht auf Unabhängigkeit und Selbstbestimmung wurde anerkannt, alle existierenden Grenzen mussten jedoch respektiert werden. Jede Veränderung bedürfte der Zustimmung. Dieses Prinzip wurde … von der EU in der Jugoslawien-Krise… bekräftigt. Wir haben auf der territorialen Integrität Kroatiens bestanden und es abgelehnt, eine Auflösung Bosniens in Erwägung zu ziehen. Die Grenze zwischen nördlichem Kosovo und Südserbien sollte bleiben. "Alle existierenden Grenzen müssen respektiert werden" und "Jede Veränderung bedürfte der Zustimmung". So also denken die Carls Bildts dieser Welt, so denkt die UNO, so denkt die Staatengemeinschaft, und danach hat die ganze Welt sich zu richten. Welche Anmaßung! Als ich diese Sätze las, fiel es mir wie Schuppen von den Augen. Das Drama um die Ukraine glich im Prinzip nicht nur dem JugoslawienKonflikt, sondern auch vielen anderen mit Krieg, Bürgerkrieg und Terror ausgetragenen Konflikten. Ich dachte an Kaschmir, an Nordirland, an den Kaukasus, an die Tamilen in Sri Lanka, an Tibet, an die Kurden, an Aceh in Indonesien, an Libyen, Irak und Syrien, an den Sudan und Ruanda und viele andere aktuelle und potentielle Konfliktregionen. In all diesen Fällen ging es um die Frage, wer mit wem 44 in einem gemeinsamen Staat leben wollte und wer mit wem besser nicht. Und es ging darum, sich dies von niemandem vorschreiben zu lassen. Könnte also der Jugoslawien-Konflikt der Beginn einer neuen weltgeschichtlichen Bereinigung von Staatsgrenzen gewesen sein? Der Anfang einer langsamen Lösung vom Dogma der territorialen Integrität von Staaten und damit der Anfang eines langen Kampfes für die Freiheit der Bürger, in freien Wahlen Staatsgrenzen korrigieren und über ihre Staatszugehörigkeit entscheiden zu können? Könnten also die Jugoslawienkriege der Auftakt zu einem Weltkrieg in Etappen gewesen sein, zu einem Dritten Weltkrieg, der unser Jahrhundert prägen wird wie die ersten beiden Weltkriege das vorherige? Ich wusste darauf natürlich keine Antwort, aber ich versuchte nun, im Archiv erst einmal mein Wissen aufzubessern. Ich fand heraus, dass es mehr als hundert aktive separatistische Bewegungen in der Welt gab, um ein Vielfaches mehr, als ich vermutet hatte. Aber wer im Archiv zu suchen weiß, der erfährt auch, dass separatistische Neigungen noch viel weiter verbreitet sind. Die aktiven separatistischen Bewegungen waren nur die Spitze eines Eisbergs. Bei diesen Recherchen wurde mir allmählich klar: Selbst die stabilsten Staaten der Welt können sich nicht sicher sein, dass sich nicht irgendwann, und sei es nach Jahrhunderten, ein Teil ihrer Bürger von ihnen lösen will. Bei den Konflikten um Staatsgrenzen wird es daher nie ein Ende der Geschichte geben. Wenn das aber so ist, dann darf die Welt nie nachlassen, ihren Umgang mit diesen Konflikten weiter zu entwickeln und weiter zu zivilisieren. Sonst kann es keine friedliche Welt geben. Das war bei Hauser der beinahe kühle Prolog zu einer leidenschaftlichen Schilderung mehrerer afrikanischer Dramen des frühen 21. Jahrhunderts. Hier, in einer Geschichte des politischen Bewusstseins, soll so viel Leidenschaft nicht sein. Hauser schrieb über Afrika noch ganz in der politischen Gefühlslage seiner Zeit, aber inzwischen sieht man die Ereignisse natürlich distanzierter. Deswegen fasse ich Hausers Schilderung hier auf meine Weise zusammen. 45 Beginnen will ich mit dem Fall Sudan. Der unabhängige Staat Sudan war eine der unheilvollen Hinterlassenschaften des Kolonialismus. Seine Grenzen waren - nach langer kriegerischer Vorgeschichte - Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts von Europäern mit dem Lineal auf die afrikanische Landkarte gezeichnet worden. Dieser Sudan wurde von Anfang an von schweren inneren Konflikten heimgesucht. Der überwiegend christliche Süden führte gegen den dominanten arabisch-muslimischen Norden einen jahrzehntelangen Sezessionskrieg. Viele Hunderttausende starben, Millionen wurden vertrieben. 2011 konnte der Süden des Landes schließlich eine Volksabstimmung über seine Eigenständigkeit durchsetzen. Dabei gab es natürlich eine überwältigende Mehrheit für die Gründung des eigenen Staates. Warum mussten, bevor es endlich zur Teilung dieses fehlkonstruierten Staates kam, Millionen Menschen leiden und sterben? Waren auch sie Opfer einer Ideologie? Opfer des von der Staatengemeinschaft, auch vom Westen und allen demokratischen Staaten vertretenen Dogmas der territorialen Integrität? Und damit Opfer des lange vorher begonnenen, sich in Etappen vollziehenden Dritten Weltkriegs? Eine plausiblere Erklärung dieser Tragödie findet sich nirgendwo. Mitverursacher dieser Tragödie sind daher die Staaten, die dieser Ideologie Eingang ins Völkerrecht verschafft haben und danach nicht von ihr lassen mochten. Also vor allem die demokratischen Staaten des Westens. Ist der Sudan aber nicht ein Extremfall, der nur mit der rückständigen politischen Zivilisierung Afrikas zu erklären ist? Die politische Gewaltbereitschaft war in Ländern wie dem Sudan natürlich höher als im weltkriegsgeläuterten Westeuropa. Trotzdem drängen sich die Parallelen zu innereuropäischen Konflikten der jüngeren Vergangenheit auf, vom Zypernkonflikt bis zum Fall Jugoslawien. Die Fälle Sudan und Jugoslawien haben noch etwas gemeinsam: Bei beiden waren die Probleme der Staatszugehörigkeit mit einer einmaligen Staatsaufteilung keineswegs gelöst. Im Kosovo und in Bosnien-Herzegowina schwelten danach Minderheitenkonflikte weiter, die nur durch ein lang andauerndes Besatzungsregime eingefroren werden konnten. Auch im Südsudan war durch die Sezession kein 46 innerstaatlicher Frieden hergestellt. Der eigenständig gewordene Südsudan erwies sich vielmehr seinerseits als unfreiwillige Zwangsgemeinschaft zweier einander seit jeher fremder Volksgruppen. Der Konflikt zwischen diesen Gruppen, den Dinka und den Nuern, fand im Rest der Welt zunächst wenig Beachtung, aber auch er folgte dem Muster der Hauptkonflikte unseres Jahrhunderts. Er wurde durch Waffenstillstände und durch Machtaufteilungen zwischen Stammesführern entschärft, aber gelöst wurde er nicht. Nach ähnlichem Muster wurden auch in Ländern östlich des Südsudan Bürgerkriege und Bürgerkriege geführt, der Unabhängigkeitskrieg Eritreas und der erbitterte Bürgerkrieg in Somalia, der Hungersnöte mit Hunderttausenden Todesopfern zur Folge hatte. Auch in diesem Krieg spielte die Frage, wer mit wem in welchen Grenzen einen gemeinsamen Staat betreiben wollte, eine wichtige Rolle. Weitere Bürgerkriegs- und Terrorszenarien spielten sich in den Folgejahrzenten in vielen anderen Regionen Afrikas ab, darunter Nigeria, Mali, Kenia und Kongo, und immer wieder ging es dabei auch um die Frage, welche Stammes- und welche Religionsgemeinschaften, ob und wo also u.a. Muslime und Christen weiter in einem gemeinsamen Staat leben wollten. Immer wieder war der Befund, dass Staatsvölker, die in Kolonien und Diktaturen als Zwangsgemeinschaften lange funktioniert hatten, bei allmählicher Demokratisierung und Liberalisierung auseinanderdrifteten. Der beunruhigendste Befund für Afrika war, dass mit Nigeria ausgerechnet sein bevölkerungsreichstes Land - dank seiner Ölförderung zugleich eines der wohlhabendsten -, in seiner nationalen Einheit besonders gefährdet war. Es waren immer wieder die Landesteile mit mehrheitlich muslimischer Bevölkerung, in denen Separatisten mit Gewalt und Terror für die Loslösung vom nigerianischen Vielvölkerstaat kämpften. In Nigeria war es lange vorher schon zum weltweit tragischsten Konflikt dieser Art gekommen. Mit seiner ethnisch, sprachlich und konfessionell äußerst inhomogenen Bevölkerung war Nigeria von Beginn an, seit seiner 1960 erlangten Unabhängigkeit, eine Brutstätte innerer Konflikte. Sieben Jahre nach der Unabhängigkeit kam es zum 47 Sezessionskrieg um das abtrünnige Biafra, der in einen Völkermord mündete und etwa drei Millionen Menschen das Leben kostete. Auch dieser Krieg kann im Nachhinein nur als Teil oder Vorläufer des schleichenden Dritten Weltkriegs um die Korrektur falsch gezogener Staatsgrenzen verstanden werden. Wie unheilvoll die westliche Welt in diesem neuen Weltkrieg von Anfang an agierte, wurde hier so deutlich wie kaum irgendwo sonst. Den Krieg um Biafra führte Nigerias Regierung mit Billigung und mit militärischer und finanzieller Unterstützung zahlreicher westlicher Staaten. Natürlich wollte kein westlicher Staat bekennen, mitschuldig zu sein an nigerianischen Staatsgrenzen, innerhalb deren ein friedliches und gewaltfreies Miteinander unmöglich war. Und erst recht wollten westliche Staaten vermeiden, dass das Dogma der territorialen Integrität ausgerechnet in Afrika ins Wanken geriet. Sie zogen es vor, für dieses Dogma in Afrika Kriege zu führen und führen zu lassen, denen Millionen von Menschen zum Opfer fielen. Auch in den Folgejahrzehnten blieben politische Bewusstseinsfortschritte aus, die Afrika vergleichbare Tragödien erspart hätten. Ende des vorigen Jahrhunderts kam es zum Völkermord in Ruanda, einem innerstaatlichen Konflikt zwischen den Stämmen der Hutus und Tutsis, der fast eine Million Menschenleben kostete. Auch in diesem Konflikt war eine falsche, von den Bürgern nicht gewollte Zusammensetzung eines Staatsvolks die Hauptursache. Und auch in der Entstehungsgeschichte und im Verlauf dieses Konflikts haben westliche Staaten Mitschuld auf sich geladen. Auch dies ist eine der afrikanischen Tragödien, die zur leidvollen Vorgeschichte unseres kaum weniger leidvollen Jahrhunderts gehören. Die schon damals gängige Sicht der Dinge war natürlich, dass die Täter in solchen Tragödien im Zweifel und fast immer die Separatisten seien. Man müsse doch einen Staat nicht auseinanderreißen, so meinte man, nur weil ein Teil seiner Bürger sich einen anderen Pass wünsche. Das Beispiel Schweiz mit seinen vier Sprachgemeinschaften zeige ja, was bei gutem Willen der Beteiligten möglich sei. 48 Dazu soll hier ein wörtliches Zitat von Hauser genügen: Wer die Schweiz als den Normalfall annimmt, an dem der Rest der Welt, auch Afrika, sich gefälligst zu orientieren habe, der ist mit seinen Gedanken in einem falschen Jahrtausend. So viel zur Rolle westlicher Dogmen in afrikanischen Tragödien. Natürlich haben westliche Staaten in postkolonialen Zeiten nicht nur Unheil über Afrika gebracht, sie haben auch zu helfen versucht. Aber auch hierzu hatte Hauser eine besondere Meinung, und auch damit, denke ich, verriet er - wie mit allem, was er über Afrika schrieb - ein ziemlich sicheres Gespür. Deswegen will ich hier noch diesen Ausschnitt aus seinen Aufzeichnungen zu Afrika anschließen: Wie viel hat die Entwicklungshilfe westlicher Staaten Afrika genützt? Ein Bruchteil davon hat die Lebensbedingungen der Menschen eine Zeitlang, fast nichts davon hat sie nachhaltig verbessert. Ein Teil wird in die Verwaltung nicht lebensfähiger Staaten gepumpt, ein Teil von korrupten Eliten abgezweigt, ein Teil versandet in unfähigen Bürokratien, viel wird - das habe ich mit eigenen Augen gesehen - für in Geberländern ersonnene Projekte verpulvert, die unter afrikanischen Bedingungen nicht funktionieren können. Einen beträchtlichen Teil verbraucht zudem die Selbstorganisation. Es ist nicht einmal abwegig, dass die bisherige Entwicklungshilfe mehr Schaden als Nutzen gestiftet haben könnte. Ganz sicher hat sie viele falsche Hoffnungen geweckt und damit in Afrika viele Energien fehlgelenkt. Aber viel schlimmer ist natürlich dies: Dass Helferländer - Biafra war eines der frühen Beispiele - mit Militärhilfe Leid über Afrika gebracht haben, das durch keine noch so großzügige Entwicklungshilfe wiedergutzumachen war. Mit ihren Waffenlieferungen waren westliche Helferländer in den Machterhalt vieler skrupelloser afrikanischer Regime und in fast alle afrikanischen Kriege und Bürgerkriege verstrickt, oft sogar - wie in Biafra, Ruanda und im Sudan - auf beiden Seiten eines Konflikts zugleich. Westliche Kolonialmächte haben Afrika zuerst mit falschen Staatsgrenzen durchzogen, dann haben sie die Hand dazu gereicht, solche falschen Staatsgrenzen mit brutalster Waffengewalt zu verteidigen. 49 Was hätte anderes getan werden müssen? Natürlich Hilfe zum Aufbau von Staaten, die unter afrikanischen Lebensbedingungen bestmöglich funktionieren. Aber sollten das Demokratien nach westlichem Muster sein? Ein Ja darauf verbietet sich längst. Man kann für Afrika nur hoffen, dass die richtige Antwort vor der nächsten Welle von Krieg und Terror gefunden wird. Ja, auch so konnte Hauser sein, so abgründig, dass es einem für Momente die Sprache verschlug. Dabei blitzte aber auch auf, was Hauser mit dem weiten Blick des Archivars gemeint hatte, dem Blick auch weit in die Zukunft. Er sah, wie langsam das politische Bewusstsein seit dem Ende des Kolonialismus vorangekommen war, und er fragte sich, ob es im kommenden halben Jahrhundert schneller gehen könnte. Seine Antwort war negativ. Die arabische Welt In meinen jungen Jahren waren - soweit ich mich damit befasste - die großen politischen Konflikte dieser Welt für mich Einzelereignisse. Jeder Konflikt schien seine eigenen Ursachen zu haben, und für den Umgang mit jedem Konflikt musste demnach Politik ein eigenes Konzept entwickeln. Erst Hausers Aufzeichnungen haben mir die Augen dafür geöffnet, dass die meisten dieser Konflikte, besonders die gewaltsamen, ähnlichen Mustern folgen. Sonst wäre ich nie auf die Idee gekommen, mich hier mit so vielen Weltregionen zu befassen. Du übernimmst dich, hätte ich gedacht, und du versuchst zusammenzubringen, was nicht wirklich zusammengehört. Nun also auch noch die arabische Welt? Ja, es muss sein. Eine der Ursachen fast aller großen Konflikte sei Phantasielosigkeit, schreibt Hauser, Phantasielosigkeit sei weltweit unerschöpflich, und allein das sei ein großer globaler Erklärungszusammenhang. Schon deswegen verzettele man sich nicht, wenn man sich mit vielen Konflikten zugleich befasse. Solche Aussagen erschienen mir damals noch reichlich abstrakt, aber später bewahrten sie mich vor vielen vorschnellen Urteilen. 50 Über die arabische Welt des ersten Jahrhundertviertels hat Hauser in vielen Details geschrieben, immer wieder mit der Empörung des zeitgenössischen Betrachters. So viel Detail soll hier nicht sein und auch nicht so viel - dafür liegt vieles mittlerweile zu weit zurück - Empörung. Zumindest dieser eine Absatz aus Hausers Aufzeichnungen passt aber unverändert hierher: Wenn schon nicht in Afrika, hätte dann nicht zumindest in der arabischen Welt zu Beginn des Jahrhunderts eine Modernisierung nach westlichem Muster gelingen sollen? Als es 2011 in mehreren arabischen Ländern zu Massenprotesten gegen die herrschenden Regimes kam, galt dies im Westen als Ausbruch eines endlich erwachten Modernisierungswillens. Damit sei, glaubte man, im arabischen Raum die Zeit für die Demokratisierung nach westlichem Muster gekommen. Die Bürger müssten nur ihre Despoten mit der notwendigen Entschlossenheit stürzen, wo nötig mit militärischer Hilfe des Westens, und sich dann demokratische Verfassungen nach westlichem Muster geben. Und man glaubte auch, die danach zu wählenden arabischen Regierungen und ihre Bürger würden sich dem Dogma der territorialen Integrität unterwerfen. Staatsgrenzen würden also unangetastet bleiben. So werde in der arabischen Welt die Demokratie den innerstaatlichen Frieden bringen, und das Prinzip der territorialen Integrität werde den Frieden zwischen den Staaten wahren. Die arabische Welt werde demnach in der ersten Hälfte unseres Jahrhunderts einen ähnlichen Weg nehmen wie Europa in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Grundlegender hatte der Westen nicht irren können. Wenn schon nichts anderes, hätte der westlichen Welt zumindest dies von vornherein zu denken geben müssen: Die arabische Welt hatte in der jüngeren Vergangenheit kein einziges Jahrzehnt ohne Krieg erlebt, keine einzige anhaltende Phase des Friedens, wie sie fast überall in Europa und der übrigen westlichen Welt schon zur Selbstverständlichkeit geworden waren. Dementsprechend weit lag dieser Teil der Welt in der politischen Bewusstseinsentwicklung zurück. Die Folge war absehbar: Der so genannte arabische Frühling war der Anfang großen Unglücks. So weit Hauser, und ich muss dem nichts hinzufügen. Nichts von dem, was er hier schreibt, ist überholt oder durch die Ereignisse widerlegt, im Gegenteil. Ich will hier erst einmal die Entwicklungen im ersten Jahrhundertviertel aus Hausers Sicht, aber mit eigenen Worten kurz rekapitulieren. Nicht für Ältere wie mich, die all 51 das noch gut in Erinnerung haben, aber für die Jüngeren, die sich hiervon vielleicht nur ein einfaches und einseitiges Bild haben machen können. Alles handelt hier vom, wie Hauser es nannte, tiefen Unglück in der arabischen Welt und davon, wie westliche Vorstellungen von Demokratie und Völkerrecht vor diesem Unglück versagten. Dabei betrachte ich die arabischen Staaten, so willkürlich ihre Grenzen noch immer gezogen sind, erst einmal je für sich. Das war zwar damals irreführend und ist es noch heute, aber es macht die Sache einfacher. Diese Staaten existieren ja zumindest dem Namen nach noch immer. Ägypten Nachdem Anfang 2011 der tunesische Autokrat Ben Ali außer Landes geflohen war, verloren kurz danach auch die Bürger Ägyptens die Geduld mit ihrer Staatsführung. In Kairo und anderen Städten kam es zu Massenprotesten gegen das seit drei Jahrzehnten herrschende scheindemokratische Mubarak-Regime. Die Lage war explosiv. Schließlich sahen selbst die ägyptischen Militärs keinen anderen Ausweg mehr, als Mubarak, eigentlich einen der Ihren, zu entmachten und es mit demokratischen Wahlen zu versuchen. Die Präsidentschaftswahl gewann ein islamistischer Kandidat, die Parlamentswahl gewann seine islamistische Partei. Das war nicht, was ein Großteil der Bürger, was das ägyptische Militär, was die ägyptische Beamtenschaft und was auch die westliche Welt sich erhofft hatten. Dieses Wahlergebnis spaltete das Land. Das Militär machte schließlich kurzen Prozess. Der demokratisch gewählte islamistische Präsident und die von Parlament gewählte islamistische Regierung wurden gewaltsam abgesetzt, ein einflussreicher General ließ sich mit Rückdeckung der Streitkräfte zum neuen Präsidenten wählen, viele hundert politisch aktive Islamisten wurden in Massenprozessen zum Tode verurteilt. 52 Damit herrschte de facto wieder ein Militärregime, nunmehr aber ein unverbrauchtes, vom Misskredit der Mubarak-Ära geläutertes und damit vorerst stabiles. Die kurze demokratische Episode erschien danach wie ein rasch bereinigter Fehltritt der jüngeren ägyptischen Geschichte. Die kurze Einlassung auf die Demokratie nach westlichem Muster hatte Ägypten keinen Schritt vorangebracht, auch nicht in der politischen Zivilisierung. Der Wille, es mit solcher Art Demokratie noch einmal zu versuchen, war damit auf absehbare Zeit erloschen. Libyen Irgendwann, das war leicht vorhersehbar, würde auch in Libyen ein Großteil der Bürger ihren Despoten nicht mehr ertragen können. Anfang 2011, nach über vierzigjähriger Gaddafi-Herrschaft, kam es, vom Osten des Landes ausgehend und mit verdeckter Unterstützung westlicher Regierungen, zu Protesten, die sich rasch zu einer starken Rebellenbewegung ausweiteten. Luftstreitkräfte mehrerer NATO-Staaten unterstützten die Rebellen mit zehntausenden Kampfflugzeugeinsätzen, natürlich in der Erwartung, den Übergang in eine geordnete demokratische Zukunft herbeizubomben. Die westliche Militärintervention - sie forderte mehr Todesopfer als der gesamte jahrzehntelange Terror des Gaddafi-Regimes - führte zum Sturz und zur Ermordung Gaddafis, aber danach versank das Land in blutige Anarchie. Statt zu einer blühenden Demokratie wurde Libyen zu einem innerlich zerrissenen, ohnmächtigen und regellosen, einem so genannten gescheiterten Staat. Auch in diesem Libyen waren die Bürger nicht vom Willen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit getragen. Welche Hilfe konnten westliche Staaten in dieser Situation noch leisten? Bald zeigte sich, dass keine der innerlibyschen Konfliktparteien der Nach-GaddafiZeit sich westlichen Werten verpflichtet sah. Für westliche Demokratisierungshilfe fehlte es also an geeigneten Adressaten. Damit 53 waren die in Libyen engagierten westlichen Staaten mit ihrem politischen Latein am Ende. Sie hatten das militärische Know-how gehabt, um einen Gaddafi stürzen zu helfen, aber ihnen fehlte das politische Know-how, um auf den Trümmern des Gaddafi-Regimes einen besser funktionierenden neuen Staat entstehen zu lassen. Was war hier unter Berufung auf westliche Werte erreicht worden? Die Antwort ist: weniger als nichts. Die Post-Gaddafi-Ära brachte den allermeisten Libyern weniger Sicherheit, weniger Wohlstand und weniger Lebensqualität als die Zeit der Gaddafi-Despotie. Und niemand schien zu wissen, wie dies zu ändern war. Syrien Der so genannte arabische Frühling führte in Ägypten zum Scheitern der Demokratie, in Libyen führte er zum Staatszerfall, aber eine noch viel größere Tragödie erlebte Syrien. In Teilen des Landes kam es zu Aufständen gegen die seit vier Jahrzehnten andauernde Despotie von Vater und Sohn Assad. Wie in Libyen, wollte der Westen hierin zunächst den Aufstand eines politisch heranreifenden Staatsvolkes gegen seinen Unterdrücker erkennen, einen Aufstand also, der Assad unweigerlich stürzen und aus Syrien eine funktionsfähige Demokratie machen würde. Anders als in Libyen, trauten NATO-Staaten sich hier aber nicht, militärisch zu intervenieren. Das militärische und politische Risiko erschien zu groß, auch weil das AssadRegime starke Verbündete hatte. Im anschließenden Bürgerkrieg zeigte sich, dass auch die Rebellion in Syrien alles andere war als der Aufstand eines im Widerstand gegen das Regime einigen Staatsvolkes. Das Land zerfiel in eine Region mit mehrheitlich regimetreuer Bevölkerung und Regionen, in denen andere Bürgerkriegsparteien erbittert um Macht und Vorherrschaft kämpften, fast alle mit verdeckter Unterstützung westlicher, arabischer oder anderer Staaten, 54 wobei die fundamentalistische sunnitische Organisation Islamischer Staat zum militärisch, finanziell und auch nach Anhängerzahl mit Abstand stärksten Akteur wurde. Auch hier brach mit der Rebellion alles andere an als Fortschritt in der politischen Zivilisierung. In diesem Bürgerkrieg kämpften Rebellen ebenso unerbittlich gegeneinander wie gegen das Assad-Regime, und all diese Kämpfe wurden mit äußerster Härte und Grausamkeit geführt. Dem Krieg fielen hunderttausende Syrer zum Opfer, Millionen flohen außer Landes, und fast die Hälfte der Bevölkerung, etwa zehn Millionen Menschen, wurde zu Flüchtlingen im eigenen Land. Auch hier verlief also alles ganz anders, als ein blauäugiger Westen es zunächst erwartet hatte. Ein syrisches Volk, das geeint in einem von Assad befreiten Syrien leben wollte, gab es nicht. Auch Syrien war ein Staat gewesen, der nur mit der eisernen Faust eines Despoten hatte zusammengehalten werden können und mit der Schwächung des Despoten unweigerlich zerfallen musste. Despoten wie Assad waren sich dessen immer bewusst, und ihre Herrschaftsmethoden waren immer auf diesem Wissen gegründet. Eben deswegen waren sie so lange gegenüber denkbaren Alternativen das kleinere Übel geblieben. Für ein Syrien mit einem geschwächten oder gar ohne einen Assad war der blutige Zerfall vorgezeichnet und damit die Entstehung neuer Staatsgebilde, deren Grenzen in langen Bürgerkriegen auszukämpfen sein würden. In einem Fall wie Jugoslawien war einigermaßen vorhersehbar gewesen, entlang welcher Grenzen es in Einzelstaaten zerfallen würde, und daher waren die Kriege zur Auflösung Jugoslawiens noch vergleichsweise glimpflich verlaufen. Im Fall Syrien aber waren die Vorstellungen über die Aufteilung syrischen Staatsgebiets viel verworrener. Diese Vorstellungen konkretisierten sich großenteils erst in einem Prozess grausamer konfessioneller und ethnischer Säuberungen, an dem als Täter und Opfer 55 Araber und Kurden, Sunniten und Schiiten, Alawiten, Christen und andere ethnische und konfessionelle Gruppen und Minderheiten beteiligt waren. Selten hat daher ein Staat im Bürgerkrieg eine so totale Zerstörung erfahren. Natürlich wäre jede politische Lösung dieses Konflikts für fast alle Beteiligten unvergleichlich glimpflicher gewesen. Aber wie Hauser sagte: Die verfügbare politische Phantasie - und auch die verfügbare Vernunft - war hierfür viel zu schwach, auch im Westen. Nach der Rebellion entstand auch auf syrischem Territorium nichts anderes als ein von kriegsmüden Kämpfern notdürftig gedeckeltes Pulverfass. Irak Die Tragödie Syriens, schon für sich genommen eine der schlimmsten des ersten Jahrhundertviertels, verschmolz mit der des Irak. Dessen Zerfall folgte einer ähnlichen Logik, er war von ähnlichen Gräueln geprägt, er forderte ähnlich viele Opfer, er überschnitt sich geographisch mit dem Zerfall Syriens, aber er hatte auf ganz andere Weise begonnen. Den Sturz des Despoten hatten westliche Streitkräfte besorgt. Die USA und Großbritanniens hatten den Irak unter falschem Vorwand angegriffen, dabei die irakischen Streitkräfte weitgehend ausgeschaltet, das Land besetzt, Saddam Hussein festgenommen und ihn von irakischen Staatsorganen hinrichten lassen. Die danach bis 2011 andauernde Besatzung des Irak war geprägt von ständigem Terror, allgegenwärtiger Gewaltkriminalität, von bürgerkriegsartigen religiösen und ethnischen Konflikten und immer wieder auch von Terroranschlägen auf westliche Besatzungstruppen. Als diese 2011 abzogen, war der Irak formell eine eigenständige Demokratie, die sich nach westlichen Vorstellungen stabilisieren sollte. Auch diese Illusion zerstob aber schon nach kurzer Zeit. Auch den Bürgern des Irak fehlte es am Willen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit. Der vorherrschende Wille war der Wille zur Trennung. 56 Auch im Irak waren die Motive der verfeindeten Bevölkerungsgruppen, ihrer Milizen und ihrer Geldgeber vielfältig und zeitweise schwer zu entwirren. Auch hier kämpften u.a. Araber gegen Kurden, Sunniten gegen Schiiten und sunnitische Gruppierungen gegeneinander. Dieser Bürgerkrieg erwuchs aber auch aus der Perspektiv- und Hoffnungslosigkeit einer Männergeneration, die nach der Saddam-Despotie über ein Jahrzehnt lang von Krieg, Besatzung, Terror und Bürgerkrieg geprägt worden und für die eine Sinnerfüllung ohne Feindbilder und Gewaltkonflikte kaum noch vorstellbar war. Auch dies trug dazu bei, dass die Terrororganisation Islamischer Staat so viel Einfluss und Macht gewinnen und so große Teile irakischen und syrischen Territoriums unter ihre Kontrolle bringen konnte. Dabei half ihr, dass sie mit der Errichtung eines sunnitischen Kalifats ein scheinbar klares Ziel in Sachen staatlichen Zusammenhalts und Staatsgrenzen vorgab. Hier mischten sich also, begünstigt durch die heillose Vorgeschichte, legitime Zusammengehörigkeitsbedürfnisse von Staatsbürgern auf mörderische Weise mit archaischem Religionsverständnis und niedersten Gewalt- und Racheinstinkten. So blieb vom Irak nur ein politisch, wirtschaftlich und auch kulturell gescheiterter Phantomstaat, auf dessen Trümmern sich dann im weiteren Bürgerkrieg mehrere eigenständige staatsähnliche Gebilde entwickelten. Ich will es hier bei diesen kurzen Skizzen zu einzelnen arabischen Staaten belassen und nicht auch noch auf kriegerische Auseinandersetzungen jener Zeit im Jemen und anderen arabischen Staaten eingehen. Praktisch nirgendwo in der arabischen Welt, auch nicht in Saudi-Arabien, den Golf-Emiraten und im arabischen Nordafrika, herrschte ein politisches Regime, von dem man erwarten konnte, dass es bis weit in die zweite Jahrhunderthälfte würde bestehen können. Hauserscher Weitblick zeigte: In der arabischen Welt spielten sich keine isolierten Dramen einzelner Staaten ab, dies war ein großes gesamtarabisches Drama mit wiederkehrenden Mustern. Vor 57 allem aber war es Teil des großen Weltdramas um falsch gezogene Staatsgrenzen und erzwunge Staatszugehörigkeiten. Als ich ein zweites und drittes Mal in den Hauserschen Aufzeichnungen darüber las, erlebte ich in Gedanken noch einmal die Nachricht vom Tod eines älteren Freundes aus der Studienzeit. Er war Journalist. Schon als Student ein ruheloser Geist, nach dem Studium ein Praktikum bei SPIEGEL, dann ein Jahr bei einer Presseagentur, dann beim Rundfunk, danach Freiberufler, spezialisiert auf Reportagen aus Krisengebieten. Wenn ein bekannter Fernsehjournalist in einem Krisengebiet getötet wird, erfährt davon die Welt, der Tod eines Freiberuflers ist den Medien selten eine Nachricht wert. Spiegel-Online, wo ich davon erfuhr, immerhin einen Vierzeiler. Ich war sehr traurig, aber ich verdrängte es schnell. Erst als ich dann Hausers Aufzeichnungen über die arabische Welt las, habe ich dazu noch einmal recherchiert. Im Netz verstreut gab es zum Tod meines Freundes Dutzende Beiträge. Er war im heftig umkämpften früheren Grenzgebiet zwischen Irak und Syrien getötet worden. Ein gewaltsamer Tod, so viel war klar, alles andere blieb im Nebel kriegs- und bürgerkriegstypischer Desinformation. Schiitische und sunnitische Milizen, Geheimdienste, ein US-Drohnenkommando, gewöhnliche Kriminelle, ein missgünstiger Kollege, ein enttäuschter arabischer Liebhaber, ein schießwütiger Polizist, all das waren mutmaßliche Täter. Hier gab es zu viele, die zu vieles zu vertuschen hatten und die, wo immer sich die Gelegenheit bot, Gegnern einen Mord in die Schuhe schoben. Wer behauptet, im arabischen Drama die Wahrheit zu kennen, der lügt, hatte sagte Hauser einmal gesagt. Hier begann ich es zu verstehen. Nur Eines war in diesem Drama klar: Die westliche Vorstellung, arabische Despotien würden sich in ihren bestehenden Staatsgrenzen zu friedlichen Demokratien wandeln, war kläglich gescheitert. Erst recht gescheitert war natürlich die Vorstellung, solche friedliche Demokratisierung ließe sich durch Militärintervention und Besatzung erzwingen. Wenn es eine erste plausible Lehre aus diesen Geschehnissen gab, dann konnte es nur diese sein: Demokratisierung und das 58 Festhalten an willkürlichen Staatsgrenzen waren nicht miteinander vereinbar. Aber fast die gesamte Staatengemeinschaft war von dieser Einsicht noch weit entfernt. Sie sah zu, wie die arabisch-muslimische Zivilisation zusammenbrach, wie die arabischen Bürgerkriegsstaaten in Hoffnungslosigkeit versanken und wie mit den Flüchtlingsströmen Armut, Entwurzelung und Elend auch deren Nachbarstaaten heimsuchte. Hier blieb nur die vage Hoffnung, dass sich irgendwann geläuterte Nachkriegsgenerationen nach neuen Regeln aus diesem Elend würden befreien wollen. So viel zu den Tragödien der arabischen Welt im ersten Jahrhundertviertel. Waren diese etwas anderes als die Fortsetzung des schleichenden Dritten Weltkriegs, der im 20. Jahrhundert in Afrika und Europa begonnen hatte? Nein. Hauser sah es schon damals so, ich erkannte es Jahre später. Der Versuch, der arabischen Welt die Demokratie aufzuzwingen, war gescheitert, und ebenso der Versuch, Frieden durch Festschreibung von Staatsgrenzen zu schaffen, durch das Dogma also der territorialen Integrität. Die westliche Welt ließ trotzdem nicht davon ab, dass die von den Kolonialmächten gezogenen Staatsgrenzen im Nahen Osten Bestand haben sollten. Diese Grenzen hatten schließlich fast ein Jahrhundert lang gehalten, Zeit genug, so meinte man, um unter Staatsbürgern den nötigen Zusammenhalt wachsen zu lassen. Aber auch hier zeigte sich, dass ein Jahrhundert eine kurze Zeitspanne sein kann, wenn es um den Willen und Unwillen zur gemeinsamen Staatszugehörigkeit geht. Auch nach einem Jahrhundert ohne Krieg und Bürgerkrieg kann politisch Trennendes, seien es ethnische, konfessionelle, kulturelle, sprachliche oder andere Differenzen, neu aufbrechen oder neu entstehen und einen Staat zerreißen. Je demokratischer ein Staat sich organisiert, desto anfälliger wird er dafür. So hat Hauser es damals in seinen Erinnerungen beschrieben: Solange ein autokratisches System stark geführt ist, ob mit repressiver Gewalt, mit Charisma oder mit beidem, wird die Staatsgrenzenfrage von den Bürgern selten gestellt, auch wenn der 59 spontane Zusammengehörigkeitswille eher schwach ist. Zu den vielen historischen Beispielen hierfür gehörten - zumindest zeitweilig - das osmanische Reich, die österreichisch-ungarische Monarchie, das Zarenreich und kurzzeitig wohl auch die Sowjetunion. Die Bürger solcher Regime entwickeln ein gemeinsames Untertanenbewusstsein, das sie über viele Differenzen hinweg miteinander verbindet. Eine Demokratie kann solche Art Gemeinsamkeit nicht bewahren. Wird ein solches autokratisches System demokratisiert, müssten sich daher staatstragende Gemeinsamkeiten neu formieren. Wenn dies innerhalb bestehender Staatsgrenzen gelingt, ist das ein Glücksfall. Solches Glück aber für selbstverständlich zu nehmen ist politische Brandstiftung. Die Grenzen im heutigen Europa, sagte Hauser in einem späteren Gespräch, seien über Jahrhunderte mit viel Blut gezogen worden, dies geschehe nun auch im Nahen Osten, und es sei dort noch längst nicht abgeschlossen. Solange falsche Grenzen mit Blut verteidigt würden, könnten richtige Grenzen nicht ohne Blutvergießen gezogen werden. So werde es im Nahen Osten weitergehen, und die demokratische Welt werde dabei weiter mitmischen, die USA, die NATO, Staaten der EU und sogar die Vereinten Nationen. Selbst wenn eine richtige Grenze einmal erkämpft worden sei, könne der Weg zum förmlichen Frieden noch sehr weit sein. Ein Beispiel wie Nordzypern zeige, wie die Welt Staaten, die nach der Dogmatik des Völkerrechts keine sein dürfen, mehr als ein halbes Jahrhundert ignorieren könne, nur um ihre Dogmen nicht ins Wanken zu bringen. Der schleichende Dritte Weltkrieg unserer Zeit werde daher neue gefährliche Provisorien hervorbringen und damit neue Altlasten für künftige Weltpolitik. Ich fragte Hauser, ob es vielleicht doch etwas übertrieben sei, von einem schleichenden Weltkrieg zu sprechen. Nein, sagte er damals, es sei ja schon jetzt ein Jahrhundertkrieg, und im Archiv könne sich jeder leicht zusammenrechnen, dass es auch nach den Opferzahlen ein wirklicher Weltkrieg sei. Trotzdem habe er Verständnis für jeden, der daran zweifele. Ein Dritter Weltkrieg vor aller Augen, und kaum jemand will davon 60 wissen, darüber reden und darüber schreiben, das könne doch eigentlich nicht sein, so habe er ja zu Anfang auch gedacht. Ob denn auch er mit niemandem darüber gesprochen habe, fragte ich. Bei der Arbeit fast nie, sagte er, nur ein einziges Mal, eher aus Versehen, als eine Redakteurin von ihm etwas zur Lage in Syrien und dem Irak wissen wollte. Da sei es aus ihm herausgerutscht: Das sei ein Stück Dritter Weltkrieg, und ob sie nicht einmal darüber schreiben wolle? Wie bitte?, habe sie gefragt, und er darauf: Doch, wir erleben einen schleichenden Dritten Weltkrieg. Da habe sie ihn wie einen Außerirdischen angesehen. Aber es werde schon nicht so schlimm wie der Zweite Weltkrieg werden, habe sie dann gesagt. Nein, ganz so schlimm nicht, habe er geantwortet, insofern könne man eigentlich beruhigt sein. Solchen Wortwechsel habe er sich nicht ein zweites Mal zumuten wollen. Dass dieser Dritte Weltkrieg ein Krieg um Staatsgrenzen ist und dass der Verlauf von Staatsgrenzen nie ein für alle Mal geregelt sein werde, dass also die Frage, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben wolle, ein ewiges Menschheitsthema sei, auch in Europa, das hatte er mir ja schon früher erklärt. Aber diese Erkenntnis war noch nicht die Lösung des Problems, das wusste natürlich auch Hauser. Konnte es überhaupt eine Lösung geben? Wie dachte Hauser darüber? Ich brauchte einige Zeit, bis ich mich traute, ihm diese Frage zu stellen: - Wie könnte denn dieser Dritte Weltkrieg beendet werden? - Er wird zu Ende sein, wenn die Staaten sich Regeln für die friedliche Korrektur von Staatsgrenzen haben. Er schwieg eine Weile, sah etwas verlegen an mir vorbei, als müsse er mir eine schmerzliche Wahrheit eröffnen. Dann sagte er: - Wird der Westen einmal die Größe haben, der arabischen Welt beim Aufbau einer anderen als der westlichen Demokratie zu helfen? 61 In diesem Moment schien es mir, als stellte er sich diese Frage zum ersten Mal. Aber das dürfte, wie ich später herausfand, ein Irrtum gewesen sein. Amerika Dass Hausers Aufzeichnungen eine Fundgrube gekonnter Übungen in Weitsicht waren, hatte ich nicht anders erwartet. Erstaunt war ich dann aber doch über die Breite seiner Themen und mehr noch darüber, wie sich fast alles in einen großen Zusammenhang fügte. Auch das, was er über Amerika schrieb. Innerhalb der westlichen Welt verlief das erste Jahrhundertviertel eher harmlos, wie eine Fortsetzung der geschichtslosen Zeit vor der Jahrtausendwende. So begann der Abschnitt, in dem zum ersten Mal von Amerika die Rede war. Und weiter: Man sollte Geschichtlichkeit, wie man sie aus der Vergangenheit kennt, sich und anderen nicht wünschen. Geschichte in diesem Sinne hatte fast immer mit Unfrieden und Leid, mit Unfreiheit, Diskriminierung, Irrglauben und Schuld zu tun. So gesehen, könnte man sich Geschichtslosigkeit wünschen. Die Geschichtslosigkeit westlicher Demokratien in den letzten Jahrzehnten war aber alles andere als eine Wunscherfüllung. Sie war das Ergebnis von Phantasie- und Tatenlosigkeit und von mangelnder Voraussicht. Amerika zum Beispiel. Das Land, das sich in seiner Geschichte immer als Vorbild oder sogar als Heilsbringer verstand, als Vorreiter der Befreiung von Monarchie und Despotie, der Verbreitung von Demokratie und als moralisch überlegene Weltund Supermacht, auch wenn es in dieser Rolle viel vermeidbares Unheil gebracht hat. Im Innern hat Amerika sich im ersten Jahrhundertviertel kaum gewandelt. Dieselben zwei Parteien und ihre Präsidenten wechselten einander im Regieren ab, und dies in demselben antiquierten Verfahren wie seit jeher. Schon dies ließ Fortschritte im politischen Bewusstsein kaum erwarten. Auch die Anschläge vom September 2001 führten nicht zu einer Neu-, sondern eher zu einer Rückbesinnung. Sie hatten Amerika in seinem nationalen Selbstbewusstsein 62 gekränkt und schufen ein ungekanntes Gefühl von Verletzlichkeit. Wie konnten wir, fragte man sich, wir, die einzige verbliebene Supermacht, mit so einfachen Mitteln so markerschütternd getroffen werden? Die politischen Reflexe waren: nicht in der Opferrolle verharren, die alte Unverletzlichkeitsgewissheit wiederherstellen und auch das alte Gefühl der Überlegenheit, beides möglichst entschlossen, möglichst rasch, beides mit den bekannten und vermeintlich bewährten Mitteln militärischer, technologischer und wirtschaftlicher Übermacht. Hieraus wuchs dann der Glaube, zu moralischer Prinzipientreue weniger denn je verpflichtet zu sein. Amerika sah sich moralisch legitimiert, einen Weltkrieg gegen den Terror zu führen und dabei ein improvisiertes Weltkriegsrecht anzuwenden, das u.a. eine globale Überwachung elektronischer Kommunikation und gezielte Tötungseinsätze auf fremden Staatsgebieten erlaubte. Die Frage aber, die nach der Tragödie vom 11. September am ehesten das politische Bewusstsein hätte voranbringen können, kam in Amerika niemandem in den Sinn: Warum ausgerechnet wir? Warum ziehen ausgerechnet wir, die wir eine so hohe politische Moral für uns beanspruchen, in Teilen der Welt solchen Hass auf uns? Und weil diese Frage ungestellt blieb, verhärtete sich nach diesen Anschlägen das politische Bewusstsein nicht nur in Amerika. Veränderungsdruck kam von woanders her. Amerika musste sich, so sehr es auch für den Weltkrieg gegen den Terror aufrüstete, der Rolle als einzige Weltmacht und einziger Weltpolizist nach und nach entwöhnen. Die Welt war zu groß und das globale Machtgefüge war zu vielfältig geworden, um mit den Mitteln der USA noch die weltpolitische Führungsrolle spielen zu können. Dieser Entzug vom Rauschmittel weltpolitischer Allmacht verstörte nicht nur Amerikas Politiker, es verstörte auch seine patriotisch gesinnten Bürger. Ein paar Absätze später nahm er den Gedanken so wieder auf: Ich fragte einen unserer Amerikakorrespondenten, ob es der politischen Zivilisierung Amerikas guttäte, wenn ihm die Bürde der Supermachtrolle genommen würde. - Vielleicht, sagte er, aber die Welt würde davon nicht besser. 63 - Warum?, fragte ich. - Weil es noch immer kein Land gibt, das besser auf die Welt aufpassen würde. - Braucht die Welt denn noch einen Aufpasser? - Unbedingt. Ich wusste, dass er Recht hatte, aber dieses schroffe Unbedingt überraschte mich. Ein Ja oder ein Leider hätte ich erwartet, und ich hätte dann fragen mögen: Wie lange noch?, aber dieses Unbedingt klang wie ein „Davon habt ihr Archivare doch keine Ahnung“. Kurz danach schickte er mir eine Mail: Denk auch an Russland. Ich wusste natürlich, was er meinte. Russland als die Supermacht, die erst recht keine mehr war und erst recht darunter litt. Die Weltmachtrolle ist eine Droge zuallererst für die Regierenden, aber sie wird es mit der Zeit auch für das Volk. Das geschwächte Imperium ist wie eine alternde Diva auf Entzug von Glanz und Ruhm. Es greift zu Ersatzdrogen. Wie die Diva gegen das Vergessenwerden notfalls Skandale inszeniert, so inszeniert das geschwächte Imperium Konflikte mit noch besiegbaren Feinden. Amerikas Irak-Krieg gehörte zu diesem Entzugsszenario und auch Russlands Tschetschenien-Kriege. Die beiden scheidenden Supermächte haben den Irak und Tschetschenien auf dem Gewissen, unter anderem. Sie haben den zeitigen Rückzug auf die bescheidenere weltpolitische Rolle, in der sie noch gebraucht wurden, verpasst, und viele Hunderttausende haben dies mit dem Leben bezahlt. Und schlimmer: Die beiden Supermächte haben damit die politische Zivilisierung im eigenen Land, aber auch in den Opferländern weit zurückgeworfen. Dass Konflikte wie die im Irak und in Tschetschenien auch gewaltlos lösbar sein würden, erschien nun unvorstellbarer denn je. In der Rückschau überrascht das nicht mehr, aber bevor ich es las, hatte ich es nirgendwo mit dieser Selbstverständlichkeit geschrieben gesehen. Hauser hatte es 64 mir ja schon erklärt: Archivare können sich leichter eine unabhängige Meinung bilden als andere. Sie müssen in ihrer politischen Meinung keine Rücksichten nehmen, nicht auf Leser, Politiker, Informanten, Verleger oder andere. Außerdem wissen sie mehr. Über Amerika im ersten Jahrhundertviertel schreibt Hauser noch vieles, zu dem ich aus eigenem Erleben nichts hinzuzufügen habe, zum Beispiel, wie die politische Rhetorik unter Obama etwas zivilisierter wurde, aber die Politik sich kaum änderte. Ein Schwarzer als Präsident, das habe das Bewusstsein in der Rassenfrage vorangebracht, aber in nichts anderem. Und dann auch, wie sich dies unter Obamas Nachfolgerin fortsetzte. Wieder Politik mit dem Blick in die Vergangenheit. Noch immer die verkrampfte Großmachtattitüde des Weltpolizisten, noch immer die Interventionsbereitschaft zur Verteidigung liebgewonnener, aber veralteter Dogmen und noch immer die Willkür im Umgang mit dem Völkerrecht, aber weder der Wille noch die Kraft, für eine Erneuerung veralteten Völkerrechts zu streiten. Um das zu leisten, schreibt er, müsste Amerika sich neu erfinden. Und weiter: Aber welche andere Möglichkeit hätte es gegeben? Wer sonst hätte bei Wahlen eine Mehrheit bekommen können? Und wie erginge es einem amerikanischen Präsidenten, der seinem Wahlvolk im politischen Bewusstsein vorübergehend enteilte? Weltpolitisches Sendungsbewusstsein und andere Rauschmittel tun noch immer ihre Wirkung. Erst wenn der Leidensdruck unerträglich wird, wächst die Bereitschaft zum Entzug, auch bei der Weltmacht Amerika. Noch leidet es zu wenig. Und dazu an anderer Stelle noch: Was passiert, wenn Amerika in der Weltmachtrolle von Staaten verdrängt wird, die wirtschaftlich, technologisch und militärisch aufholen, nicht aber in der politischen Zivilisierung? Von China und anderen? Man mag an die Folgen noch nicht denken, aber es wird so kommen. Seine Supermachtrolle wird Amerika nicht halten können, aber könnte es nicht auf andere Weise dominant bleiben? Könnte es eine Weltrolle spielen, die mehr auf moralischer Führungskraft gegründet ist als auf militärischer, wirtschaftlicher und technologischer? Auf 65 einem Know-how in gewaltfreier Konfliktlösung beispielsweise? Auf einem Vorsprung in Vermittlungs- und Problemlösungskompetenz ? Dafür müsste es allerdings ebenso schnell an moralischer Autorität gewinnen, wie es an militärischer und wirtschaftlicher Dominanz verliert. Das ist natürlich nur ein Traum. Ich weiß, was Leser solcher Texte einwenden würden. Meinungsstark und faktenarm, würden sie sagen, wo bleibt die nüchterne Neutralität eines Archivars? Parteiische Spekulation, die zu Recht im Archiv verstaubt und nirgendwo gedruckt wurde. Aber ich weiß eben: Mehr Faktenwissen als Hauser hatte damals kaum jemand. Fundierter hätte kaum jemand spekulieren können. Und Hauser hat ja nichts übertrieben, im Gegenteil. Ich bin natürlich kein AmerikaExperte, aber ich kann mich in das politische Bewusstsein vieler Amerikaner hineinversetzen. Ich war ein halbes Jahr lang Austauschschüler in Kalifornien, habe ein Semester an der New York University studiert - besser gesagt, verbracht -, und bei Graf habe ich zwei Seminare über Amerika besucht, eines über „Amerikas politisches System und seine Nahostkriege“. Ein ziemlich trockenes Seminar, wären da nicht Grafs gelegentliche messerscharfe Kommentare gewesen. Es war Sommersemester. Am letzten Seminartermin, einem heißen Hallenser Julitag, lud Graf uns in ein nahegelegenes Gartencafé ein. Ein Kommilitone referierte kurz über die politischen Entscheidungsprozesse 2011 vor den amerikanischen Luftangriffen auf Libyen. Dann übernahm Graf. Die offene Gartencaféatmosphäre beflügelte ihn. Sein Tonfall, seine Mimik, seine Wortwahl, alles war anders als gewohnt, schneidiger, selbstbewusster, aber auch mit einer ungewohnten Härte. Ob wir denn eine Vorstellung davon hätten, fragte er, mit welchem Bildungs- und Kenntnisstand Mitglieder des US-Kongresses Kriegsvollmachten erteilten. Natürlich hatte keiner von uns sich diese Frage je gestellt. - Dann informieren Sie sich mal hier, sagte er. Er notierte auf einer Serviette eine Internetadresse und ein Passwort und ließ sie herumgehen. Es war die Webadresse einer kleinen privaten Stiftung. 66 - Kein präzise empirische Studie, aber methodisch klug aufgebaut. Das Ergebnis ist schlüssig: Der Abstand zwischen dem Bildungsstand von Kongressmitgliedern und dem von Durchschnittsbürgern hat sich in den Jahrzehnten, die die Studie abdeckte, deutlich verringert. Insofern kann der Kongress immer weniger geistige Führung leisten. Keiner von uns reagierte. - Regt Sie das nicht auf? Graf sah sich in der Runde um. Wieder keine Reaktion. Schließlich sagte ich: - Ganz wohl ist einem dabei natürlich nicht. - Na, hoffentlich, sagte er. Es bedeutet doch: Mit Katastrophen wie dem Irak-Krieg oder der Untätigkeit in Sachen Klimaschutz ist weiterhin zu rechnen. Er ließ den Satz kurz auf uns einwirken. - Aber sie sollten sich die Studie ganz genau ansehen. Wie viele Stunden, Tage, Wochen, Monate, meinen Sie, müssten Parlamentarier sich auf Entscheidungen über Krieg und Frieden ober über Maßnahmen zum Klimaschutz vorbereiten? Wieder nur betretene Mienen. Für einen Moment schien Graf in Gedanken versunken. Dann fragte er: - Wie viel Zeit würden Sie für solche Entscheidungen brauchen? Wieder keine Antwort. - Mehr als für eine Seminararbeit oder weniger? - Mehr, sagten einige. - Mindestens einige Monate, sagte ich schließlich. - Zeit oder Arbeitszeit?, fragte Graf. - Reine Arbeitszeit natürlich. 67 - Und nun schätzen Sie mal, wie viel Vorbereitungszeit die Kongressabgeordneten sich für die Entscheidung über den Irak-Krieg genommen haben, vom Zeitunglesen natürlich abgesehen. In der Runde wieder nur Schulterzucken. - Die Studie sagt: Im Durchschnitt nicht einmal vier Stunden. Die meisten Abgeordneten haben außer Zeitungen und den Vorlagen ihrer Fraktion keine weiteren Quellen studiert. Mehr als zwei Dritteln der Kongressmitglieder reichte das für ein Ja zum Krieg. - Und die anderen?, fragte ein Kommilitone? Die Neinsager? - Die haben sich im Durchschnitt eine halbe Stunde mehr genommen. Einen Moment lang kostete Graf unsere stumme Überraschung aus. Dann sagte er: - Wenn man die Terminpläne von Parlamentariern kennt, kann einen das kaum überraschen. Wir fühlten uns alle ertappt. Während des ganzen Seminars war keiner von uns auch nur entfernt auf die Idee gekommen, sich solche Fragen zu stellen. - So funktioniert Demokratie, sagte Graf fast genüsslich. Und dann: - Und glauben Sie nicht, dass es in Deutschland wesentlich anders ist. Auch unsere Demokratie ist in Wahrheit eine Dilettantendemokratie. Dann stand er auf und wünschte uns allen entspannte Semesterferien. Fast schon im Weggehen sagte er dann noch: - Und glauben Sie erst recht nicht, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern wird. Ich muss gestehen, dass auch diese mahnenden Worte Grafs bei mir kaum Spuren hinterließen. Umso eindrücklicher kamen sie mir in Erinnerung, als zu Beginn des zweiten Jahrhundertquartals die Erosion der amerikanischen Demokratie immer 68 deutlicher wurde. Gründe dafür gab es viele. Mit dem Schwinden des Weltmachtstatus schwand auch der einende patriotische Überschwang. Die etablierten Parteien verloren weiter an Respekt und Niveau, und damit sank auch das Niveau der politischen Auseinandersetzung. Damit aber waren Tür und Tor weiter denn je für populistische Botschaften geöffnet. Es waren Populisten, die am trotzigsten an der Vorstellung eines wirtschaftlich, militärisch und moralisch dominierenden Amerikas festhielten. Sie lasteten Amerikas Machtverlust den etablierten Politikern an, und eine Zeitlang hatten sie damit großen Erfolg. Aber lange hielt dieser Erfolg nicht vor. Also stürzten Populisten sich auch in den USA auf das Thema, das europäischen Populisten die meisten Wählerstimmen brachte: die wachsende kulturelle, ethnische und wirtschaftliche Disparität. Lange Zeit beschränkten die Populisten sich darauf, ihren Einfluss in den etablierten Parteien auszubauen, aber dann zeichneten sich in immer mehr Regionen Chancen auf eigenständige Mehrheiten ab. Die logische Folge war, dass sich zwei kleine populistische Parteien gründeten, von denen die eine ihre Wähler von den Demokraten, die andere von den Republikanern abwerben wollte. Was blieb danach den beiden etablierten Parteien, als sich im Kampf um Wählerstimmen auf das Niveau der Populisten einzulassen? Was anderes als der Versuch, sich ihrerseits Mehrheiten auch durch offene Geringschätzung unbeliebter Minderheiten zu sichern, sich der Angst vor Überfremdung anzunehmen und so auf allen Seiten Ressentiments zu schüren? Noch verhinderte das Mehrheitswahlrecht eine Zersplitterung der Parteienlandschaft, aber ausschließen mochte sie kaum noch jemand. Es bahne sich an, warnten einige der nachdenklichsten Köpfe Amerikas, was im 20. Jahrhundert niemand mehr für möglich gehalten hätte: ein inneramerikanischer Kulturkampf. Welche Gruppen sich dabei in vorderster Front gegenüberstehen würden, ob dies Konservative und Liberale sein würden oder Arme und Reiche, christliche Fundamentalisten und islamische, Weiße, Schwarze, Hispanics und Asiaten, Protestanten, Katholiken, Juden und Muslime, Verteidiger und Gegner des Sozialstaats, der Todesstrafe, des privaten Waffenbesitzes, des Klimaschutzes und 69 der Atomenergie oder ob sich nicht ganz neue kampfbereite Wertegemeinschaften herausbilden würden, das war nicht absehbar. Dass aber alle Amerikaner sich in allen politischen Angelegenheiten Mehrheitsentscheidungen unterwerfen würden, wie auch immer sie ausfielen, und dass dies immer so bleiben werde, daran keimten erste Zweifel auf. Ich weiß nicht mehr, ob es Graf war, der dazu einmal sinngemäß diesen Kommentar gab: Es gebe viele innerlich zerrissene Staaten auf der Welt, aber bei mindestens ebenso vielen werde sich die innere Zerrissenheit erst noch zeigen. Die Welt werde noch lernen müssen, dass es ein Glück sei, wenn die innere Zerrissenheit eines Staates nichts Schlimmeres als gewöhnlichen Separatismus zur Folge habe, der ja relativ einfach, nämlich durch die Korrektur von Staatsgrenzen, zu befrieden sei. In vielen Ländern seien die Probleme noch viel komplizierter. Dem folgte eine Aufzählung von Staaten, die hiervon irgendwann betroffen sein könnten. Amerika war einer von ihnen. Israel und das historische Unrecht Warum hatte ich Hauser oft nicht auf Anhieb verstanden, wenn er über das Staatsgrenzenproblem sprach? Vielleicht, weil ich noch nicht ahnte, dass der Umgang mit Staatsgrenzen für ihn nur ein Beispiel für ein allgemeineres Problem war. Hauser glaubte, dass fast alle politischen Prinzipien Notbehelfe sind, dass fast alle ein Verfallsdatum haben, so fundamental sie vorübergehend auch erscheinen mögen. Würden sie dennoch als fundamental anerkannt, dann seien sie schwerlich noch ohne Blutvergießen zu erschüttern, egal, als wie unvollkommen, unzeitgemäß und konfliktträchtig sie sich im Lauf der Zeit auch erwiesen hätten. So sei es mit dem Dogma der der territorialen Integrität, das - so Hauser damals wörtlich - sich als dunkler Schatten über unser Jahrhundert gelegt habe, und so könne es sogar mit dem einfachen demokratischen Mehrheitsprinzip sein. Wäre ich Hauser in all dem von Anfang an gefolgt, wäre unsere Verständigung leichter gewesen. 70 Die Welt hat zu lange so getan, als komme der Wille, Staatsgrenzen zu korrigieren, nur von skrupellosen Staatsführungen. Er kommt natürlich auch von den Bürgern. Das Dogma der territorialen Integrität enthält den Bürgern Freiheiten vor. Es ist insofern ein Dogma der Unfreiheit, und es ist daher auch ein Dogma, das den Frieden gefährdet und Kriege und Bürgerkriege riskiert. Die Bürger wollen über ihre Staatszugehörigkeit möglichst frei entscheiden können, das sah Hauser glasklar, und er glaubte, dass der Kampf um diese Freiheit zu einem politischen Leitmotiv dieses Jahrhunderts werden würde. Würde es also bei kommenden politischen Gewaltkonflikten vor allem um diese Freiheit gehen? War das Zeitalter der Eroberungs-, Bestrafungs- und Präventivkriege der vergangenen Jahrhunderte vorbei, und hatte nun eine lange Ära des Kampfes für die freie Wahl der Staatszugehörigkeit begonnen? Das schien unausweichlich, aber noch war dies nirgendwo als Reformziel formuliert worden. Es hat lange gedauert, bis mir klar wurde, dass auch das Problem Israel hiermit zu tun hatte. Ich hatte das Israel- und Palästina-Problem immer für einen Sonderfall gehalten, und das ist es sicher auch. Nie war ich auf irgendein Dokument, einen Kommentar oder ein Ereignis gestoßen, das mir das Gefühl gab: Hier ist das Problem gründlich verstanden. Alle politischen Begriffe, alle Rhetorik, alle Theorie perlten daran ab. Das Problem schien zu kompliziert zu sein, als dass politisches Denken es erfassen, und natürlich erst recht zu kompliziert, als dass gewöhnliche Politik es lösen könnte. Zugleich schien es, dass die Welt und die Konfliktparteien, Israel, seine Nachbarstaaten und die Palästinenserorganisationen, sich mit der Unlösbarkeit des Problems im Grunde abgefunden hatten. Regelmäßig aufflackernder Terror, permanente Terrorangst, sich wiederholende begrenzte Kriege, permanent scheiternde, weil als oberflächlich erkannte Vermittlungsversuche anderer Staaten, auf all das waren die politischen Reflexe und die politische Rhetorik eingestellt. Der Konflikt und die Empörung der Konfliktparteien übereinander waren zur militanten Routine geworden. 71 Vor diesem Hintergrund verfestigten sich auch die konflikttreibenden Vorurteile. Dazu gehörte, dass die israelische Seite unter Berufung auf ihr überlegenes zivilisatorisches Niveau meinte, ein Terroropfer auf der eigenen Seite sei moralisch gegen Dutzende oder Hunderte Terroropfer auf der Gegenseite aufzuwiegen. Die Parteien verfielen so in gegenseitiges sprachloses Misstrauen. Der Friedenswille trat hinter die Angst zurück, in einem Friedensprozess könnte die Gegenseite einen unverdienten Vorteil erringen. Keine der Parteien entwickelte eine realistische Vorstellung davon, wie eine einvernehmliche Dauerlösung aussehen könnte. Und auf beiden Seiten galten Menschen, die auch nur in Gedanken neuartige Friedenskompromisse erkunden wollten, als Verräter. Was diesen Konflikt so einzigartig machte, ist aber noch etwas anderes. Es ist die Rolle des historischen Unrechts. Beide Konfliktparteien, Israelis wie Palästinenser, reklamierten für sich, dass ihre Militanz der Korrektur erlittenen historischen Unrechts dient. Beide Seiten sahen sich vor der Geschichte in der Opferrolle, und beide verlangten von der jeweils anderen, diese ihre Opferrolle anzuerkennen. Die Israelis leiteten hieraus her, dass der gewaltsam erkämpfte Status quo allenfalls ein moralischer Gleichstand sei, die Palästinenser, dass der Staat Israel ewig auf moralischem Unrecht gegründet bleiben werde. Natürlich ist das von beiden Seiten erlittene historische Unrecht unbestreitbar. Welche Rolle konnten die daraus hergeleiteten Ansprüche aber in einer Friedenslösung spielen? Wie waren sie zu bemessen, zu gewichten und möglicherweise gegeneinander aufzurechnen? Auch darüber habe ich mit Hauser einige Male gesprochen. Solange die Parteien noch kämpfen könnten, sagte er, würden sie hierum weiter kämpfen wollen. Zu einer friedlichen Aufrechnung könne es nur kommen, wenn das Kämpfen für beide Seiten offenkundig aussichtlos sei. Aber Hauser war kein Fatalist, er gab sich auch hierbei nicht ohne Hoffnung gebenden Gedanken zufrieden. Ich will ihn noch einmal direkt zu Wort kommen lassen, mit dem Gedächtnisprotokoll eines Gesprächs, das mir noch immer gut in Erinnerung ist: 72 - Es gibt ein Thema, sagte Hauser, um das ich sehr lange, bis vor wenigen Jahren sogar, in meinen Gedanken einen großen Bogen gemacht habe: historisches Unrecht. Das Thema war mir zu kompliziert. - Zu kompliziert?, fragte ich. Sogar dir? - Zu kompliziert oder zu brisant oder beides. Man kann darüber nicht offen reden oder schreiben, ohne sich Feinde zu machen. Man würde immer von irgendwem beschuldigt, für die falsche Seite Partei zu ergreifen. - Nicht von mir, das weißt du. - Natürlich, sonst säßen wir hier nicht zusammen. Ich fange mal so an: Die Welt ist voll von historischem Unrecht. Die Menschheitsgeschichte ist eine Unrechtsgeschichte. Je weiter ihr historisches Gedächtnis zurückreicht, desto stärker fühlen Völker, Volksgruppen, Ethnien, Glaubens-, Kultur- und Sprachgemeinschaften sich mit historischem Unrecht belastet. Desto eher sehen sie sich im Recht, selbst erlittenes oder von ihren Vorfahren erlittenes Unrecht gegen selbst begangenes neues Unrecht aufzurechnen. Das hat sich in der zivilisierteren Welt etwas abgemildert, aber ganz frei davon sind auch die Zivilisiertesten noch nicht. - Deutschland hat viel historisches Unrecht begangen. - Das zu seinem Glück nicht mit gleichem Unrecht vergolten wurde. Aber der Fall Deutschland zeigt auch, wie kompliziert das Thema Wiedergutmachung ist. Die Reparationen, die Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg auferlegt wurden, haben das Land überfordert. Das hat neue Kriegsbereitschaft geweckt. - Man darf mit Wiedergutmachungsforderungen nicht zu weit gehen? - Wer den Gegner vernichtet, bekommt von ihm nichts zurück, wer ihn schwächt, bekommt wenig. Klüger ist es, wenn man es dem Gegner gutgehen lässt. - Der sich dann aber seiner moralischen Verantwortung entziehen könnte. 73 - Ja, aber vollständige Wiedergutmachung kann man auch mit Gewalt nicht erzwingen. Die symbolische Wiedergutmachung ist ohnehin wichtiger. - Willy Brandts Kniefall in Warschau? - Ein Lehrstück für die Geschichtsbücher. Es hat viel mehr bewirkt als Milliarden an Wiedergutmachung. - Ein Lehrstück auch für Israel? - Vielleicht. Israel ist aber ein viel schwierigerer Fall. Dort kann es nur Frieden geben, wenn der Staat Israel sich dazu bekennt, das auch er auf historischem Unrecht gegründet ist. Erst wenn das einmal ausgesprochen ist, vor der Weltöffentlichkeit, glaubhaft unwiderruflich, werden Schritte zu einer Einigung überhaupt vorstellbar. Aber ebenso müsste natürlich die andere Seite das vom jüdischen Volk erlittene historische Unrecht anerkennen. - Der gemeinsame Kniefall eines Palästinenserführers und eines israelischen Präsidenten? - Etwas in der Art. - Ein Kniefall in Gaza für die Opfer israelischer Angriffe? Ein gemeinsamer Besuch in Auschwitz, Hand in Hand? Ein palästinensischer Gandhi neben einem israelischen Willi Brandt? Utopisch. - Vorerst, das weiß ich, aber einen anderen Weg zum Frieden gibt es nicht. Wenn die Symbolik geschafft ist, dann wird der Frieden nicht an ein paar Quadratkilometern strittigen Territoriums scheitern und nicht an einigen Milliarden Dollar Wiedergutmachung. Dann wird es auch viel Hilfe Dritter geben. - Warum sollte Israel ohne Zwang Wiedergutmachung zahlen? - Selbst die großzügigste israelische Wiedergutmachung würde nur einen Bruchteil dessen ausmachen, was Israel an Ausgaben für Kriegsbereitschaft erspart bliebe. 74 - Aber dass Israelis und Palästinenser sich über einen Geldbetrag einigen und dann innige Freundschaft ausbricht… - …wie zwischen Deutschland und Polen zum Beispiel, - das glaubst du doch selbst nicht. - Ja, hier ist eben alles noch viel komplizierter. Wirklich zur Besinnung werden beide Seiten erst kommen, wenn beide wissen, dass sie einander vernichten könnten. - Ein Gleichgewicht des Schreckens? - Wenn du so willst. Dann erst tritt die Frage in den Hintergrund, ob die andere Seite unverdiente Vorteile erlangt. Dann geht es um Lösungen, die allen Beteiligten nützen. Und dann könnte sogar die Suche nach allgemeinen Regeln beginnen, aus denen sich solche Lösungen ergeben. - Regeln für den Umgang mit historischem Unrecht? - Ja. Eine Aufgabe für die Staatengemeinschaft. Wenn die Staatengemeinschaft irgendwann das Dogma der territorialen Integrität aufgibt, dann ist sie so weit, auch Regeln für den Umgang mit historischem Unrecht zu entwickeln. - Berechnungsformeln für Entschädigungen? - Orientierungshilfen dafür, unter anderem. Man wird z.B. feststellen, dass jüngeres historisches Unrecht schwerer wiegt als älteres, an lebenden Generationen begangenes schwerer als an früheren Generationen begangenes. - Keine leichte Aufgabe für die Staatengemeinschaft. - Natürlich nicht. Deswegen wird sie auch nicht so bald gelöst werden. Nicht in deinem Jahrhundert. Mir stockte kurz der Atem. „Nicht in deinem Jahrhundert“, das kam so beiläufig und doch so endgültig und abweisend heraus. Das 21. Jahrhundert kurz abgefertigt als hoffnungsloser Fall, und ich als Teil davon. Ich schaffte es danach nicht, das 75 Gespräch wieder in Gang zu bringen. Wir tauschten noch ein paar holprige Sätze aus, bis er mich an der Tür verabschiedete. - Hat gutgetan, mit dir zu reden, sagte er noch, und dann zuallerletzt: Die kompliziertesten Probleme werden immer als letzte gelöst. Bevor Israelis und Palästinenser sich verständigen, muss erst einmal eine neue Ordnung in die arabische Welt kommen. Womit er natürlich u.a. meinte, dass die arabische Welt aus dem Dogma der territorialen Integrität herausgewachsen sein müsste. Nach diesem Gespräch habe ich den Israel-Konflikt umso aufmerksamer verfolgt. Um zur Besinnung zu kommen, hatte Hauser gesagt, müssten beide Seiten sich eingestehen, dass die jeweils andere Seite sie vernichten könnte. Das hieß: Vor der Bereitschaft zur gegenseitigen Verständigung muss die Fähigkeit zur gegenseitigen Vernichtung kommen. Ich wusste damals nicht, ob ich darauf hoffen oder es fürchten sollte. China und Indien Natürlich war spätestens im ausgehenden 20. Jahrhundert die kommende Dominanz Chinas in der Welt absehbar, aber vorbereitet hat sich die Welt darauf nicht. Für den Westen war China auch im ersten Viertel unseres Jahrhunderts fast noch ein Kuriosum. Ein kommunistischer Staat, beherrscht von einer kommunistischen Partei, mit einer höchst erfolgreichen kapitalistischen Wirtschaft, das erschien wie ein Widerspruch in sich. Fast alle kommunistischen Staaten dieser Welt waren am Ende des 20. Jahrhunderts wirtschaftlich kollabiert, und übrig blieben ein bitter armes Nordkorea, ein verarmtes Kuba und ein boomendes China, dessen Wirtschaftsleistung schon die der USA überholt hatte. Damals verfolgte ich das Geschehen in China nur beiläufig in den Medien. Ich malte mir die weitere Entwicklung etwa so aus: Chinas Wirtschaft war vom Joch der staatlichen Lenkung großenteils befreit, der Wohlstand war rasch gewachsen, aber 76 nun leide das Volk immer mehr unter dem Joch der politischen Bevormundung. Also sei nach dem wirtschaftlichen bald auch der politische Systemwechsel fällig, der Wechsel zur Demokratie nach westlichem Muster. Je schneller die Wirtschaft wachse, desto eher. Bis ich auch darüber mit Hauser sprach. Meine Ungeduld verstehe er, erklärte Hauser, aber es sei komplizierter, als ich meinte, und auch langwieriger. Manchmal gehe es aber doch sehr schnell, erwiderte ich, so überraschend schnell wie z.B. der Zusammenbruch der Sowjetunion und die Demokratisierung in Osteuropa. Aber Hauser sah es natürlich ganz anders. Ob unsere Art von Demokratie für dieses China überhaupt ein Segen wäre, sagte er - und dabei sah er mich an wie ein von seinem Schüler enttäuschter Lehrer - daran habe er seine Zweifel. Ich wisse doch, in wie vielen Ländern die Demokratisierung in einer Tragödie geendet habe, zumindest im ersten Versuch: Ägypten, der Irak, Libyen, die Ukraine und so weiter, Deutschland nach dem Ersten Weltkrieg nicht zu vergessen, und selbst Russland sei ja eine Scheindemokratie, die dem Einparteiensystem Chinas ähnlicher sei als westlichen Demokratien. Dann ließ er einen langen Monolog folgen. Auch China sei ein Staat, dessen Grenzen nicht für die Ewigkeit gemacht seien, schon weil sie im Lauf der Geschichte willkürlich und selbstherrlich gezogen wurden. Mehr als 100 Millionen Bürger des heutigen China gehörten Minderheiten an, die sich ihrem Staat nicht spontan verbunden fühlten, Uiguren, Tibeter und andere. Und auch die ethnischen Chinesen sprächen verschiedene Sprachen, auch wenn sie eine gemeinsame Schriftsprache hätten, und keiner wisse, wie loyal diese Sprachgemeinschaften einem chinesischen Zentralstaat gegenüber auf Dauer bleiben würden. Auch für China werde daher das Dogma der territorialen Integrität nicht ewig zu halten sein. Je überstürzter eine Demokratisierung komme, desto wahrscheinlicher sei es, dass das Land ungeordnet zerfalle. Auch auf dem Territorium Chinas könnten also irgendwann weitere 77 Episoden des Dritten Weltkriegs ausgetragen werden. Ob China in seinen heutigen Grenzen von demokratisch gewählten Mehrheiten auf Dauer friedlich regiert werden könne, sei mehr als ungewiss. Eine Demokratie nach westlichem Muster sei für dieses China womöglich eine noch schlechtere Staatsform als die kommunistische Einparteienherrschaft. Ich wandte natürlich sofort ein, dass es für Einparteiensysteme fast nur noch abschreckende Beispiele gebe. Es gebe aber auch abschreckende Beispiele für Mehrparteiensysteme, erwiderte Hauser, darüber seien wir uns ja einig. Außerdem sei der Unterschied zwischen einem Einparteiensystem und einem demokratischen Mehrparteiensystem viel geringer als allgemein angenommen. In Mehrparteiensystemen seien die Unterschiede zwischen den ernsthaft wählbaren Parteien ja immer geringer geworden. Ob er nicht doch etwas übertreibe, fragte ich. - Vielleicht, sagte er. Aber was etwas übertrieben ist, ist deswegen ja nicht falsch. - Ist nicht Indien ein Gegenbeispiel?, erwiderte ich. Müsste nicht, wenn er mit China Recht habe, Indien schon längt auseinandergefallen sein? Die Geschichte Indiens, antwortete er, sei doch alles andere als eine Erfolgsgeschichte der Demokratie. Als Demokratie sei Indien nie gut regiert worden, was einer der Gründe dafür sei, dass es wirtschaftlich so weit hinter China zurückbleibe. Außerdem habe Indien seit dem Zweiten Weltkrieg vier Kriege um den Verlauf von Staatsgrenzen geführt, drei Kriege mit Pakistan und einen Krieg mit China, und es habe mehrere separatistische Bewegungen in verschiedenen Teilen des Landes niedergeschlagen. Auch all dies seien Vorläufer des schleichenden Dritten Weltkriegs gewesen, und dieser werde sich auch in Indien noch fortsetzen, auch wenn er dort hoffentlich weniger gewalttätig ausgetragen würde als in anderen Teilen der Welt. Dann gab er mir noch einen kurzen Nachhilfeunterricht zur politischen Situation Indiens. Indiens Bevölkerung sei ethnisch, sprachlich und konfessionell etwa so 78 heterogen wie die des gesamten europäischen Kontinents. Dass dieses Indien zentralistisch regiert werde, sei nicht das Resultat eines spontanen Willens aller Inder. Die Autorität der indischen Zentralregierung werde daher auf Dauer ähnlich fragil sein, wie es bei einer vom Atlantik bis zum Ural zuständigen europäischen Zentralregierung der Fall wäre. Spätestens wenn die Bürger des heutigen Indiens die letzten Reste politischer Untertanenmentalität abgeschüttelt hätten, würden sie sich ernsthaft fragen, wer mit wem weiterhin in einem gemeinsamen Staat leben wolle. Dann aber gehe die Geschichte Indiens in seinen heutigen Grenzen ihrem Ende entgegen. Wann das sein werde, fragte ich. In diesem Jahrhundert, im nächsten, im übernächsten? Das, erwiderte er, komme darauf an, wie lange die Bürger dieser Welt sich in ihren Freiheitsansprüchen noch von alten Dogmen einschüchtern lassen. Dazu wage er keine Prognose. Ob er denn über die Zukunft Chinas schon einmal mit Chinesen und über die Zukunft Indiens mit Indern gesprochen habe, fragte ich. - Hast du schon einmal mit Deutschen über die Zukunft Deutschlands gesprochen? Auch das typisch Hauser: Eine Frage mit einer erhellenden Frage zu beantworten. Wie weit in die politische Zukunft denn Deutsche dächten, hätte er auch fragen können, oder: Wie weit denken Deutsche über die nächste Wahlperiode hinaus? Fragen, auf die die Antwort sich erübrigt. Aber meine Frage muss ihn doch auch nachdenklich gemacht haben. Kurz danach erzählte er mir, dass sich einige Monate vorher eine Chinesin bei ihm als Praktikantin beworben hatte. Vielleicht hätte er sie einstellen sollen, sagte er, vielleicht habe er da einen Fehler gemacht. Dabei sah er weit über meinen Kopf hinweg, als sei ihm gerade eine Erkenntnis gekommen, die mich nichts angehe. Aber dann, seinen Blick nun fest auf mich gerichtet: Pass auf, dass du nicht irgendwann solche Fehler machst. 79 Vielleicht wäre ich mit Tian, meinem späteren chinesischen Kollegen und Freund, nicht zusammengekommen, wenn diese Bemerkung Hausers nicht gewesen wäre. Und Europa? Hauser lebte allein. Manchmal fragte ich mich, ob auch das ein Grund für seine abgründige politische Skepsis sein könnte. War er am Ende nur ein grantelnder politischer Kauz, der sich von der Welt allein gelassen fühlte und die Welt dafür mit Geringschätzung bestrafte? Und mit wem außer mir teilte er überhaupt seine politischen Gedanken? Und könnte es mir später womöglich ähnlich gehen? Mit wem würde ich die Gedanken teilen können, die Hauser mir nahebrachte? Mit Constanze zumindest, darauf hoffte ich schon damals. Hauser ließ die Welt des frühen 21. Jahrhunderts gern wie ein einziges Krisengebiet erschienen. Aber war nicht - neben Amerika - wenigstens Westeuropa eine Ausnahme? Es gab schwere Wirtschaftskrisen in einigen europäischen Ländern, aber waren das nicht Nebensächlichkeiten, untergeordnete Randerscheinungen des Weltgeschehens und in der Geschichtsschreibung Europas allenfalls ein Fußnote wert? Würde nicht zumindest die jüngste Geschichte Westuropas davon überstrahlt bleiben, dass letztlich überall Demokratie und Frieden eingekehrt waren und ein einigermaßen stabiler Wohlstand erreicht war? Und davon, dass es eine Europäische Union gab, immerhin Trägerin des Friedensnobelpreises, deren Mitgliedsländer immer mehr politische Gemeinsamkeiten festschrieben? Und dass diese Union weit nach Osteuropa hineingewachsen war und weiter wachsen würde? Ja, meinte Hauser, mit der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts sei die Gegenwart natürlich nicht zu vergleichen, aber die Frage sei eben, ob dieser Fortschritt ausreiche. Für das Dreivierteljahrhundert nach dem Zeiten Weltkrieg reiche er wohl, auch wenn die Politik in dieser Zeit viel Unheil angerichtet oder tatenlos hingenommen habe. Noch lebten wir in einer Zeit, in der die Bürger Europas sich mit dem, was Politik leiste, letztlich zufrieden gäben. Er hoffe aber, dass das nicht so bleiben werde. 80 Ich fragte ihn, ob man solche Unzufriedenheit wirklich erhoffen oder nicht eher befürchten sollte. Viele an meiner Stelle hätten ihm sicher diese Frage gestellt, und von vielen hätte Hauser solche Frage sicher erwartet. Nicht von mir. Er stutzte, dann sah er mich mit einer Miene an, in der sich Überraschung, Enttäuschung und Streitlust mischten. Dann legte er los, in einem Tonfall, in dem ich ihn nie gehört hatte. Ob mir denn nichts wirklich nahegehe, nicht der überall lauernde Terror, nicht die großen Flüchtlingsdramen dieser Welt, nicht die unzivilisierten Parallel- und Gegengesellschaften in halbwegs zivilisierten Staaten, nicht der überall wachsende Einfluss junger populistischer Parteien, die ja noch viel schlimmer seien als die etablierten, auch in Deutschland. Aber dann, in Sekundenschnelle, war er wieder der souveräne, kontrollierte Hauser. Gefasst und ruhig sprach er davon, dass es ja in Europa Länder gebe, Griechenland unter anderem und auch Italien zähle er dazu, die in den letzten hundert Jahren fast nie ordentlich regiert worden seien. Und dass die Bürger sich dies hätten gefallen lassen, weil niemand ihnen Alternativen aufgezeigt habe. Fast überall seien politische Parteiensysteme zusammengebrochen, auch in Deutschland sehe er dies kommen. Überall hätten alte Volksparteien und ihre Politiker Macht an populistische Anlernlinge verloren, die außer rhetorischem Talent kaum etwas zu bieten hätten. Berlusconi sei der erste Gipfel dieses Desasters gewesen, und inzwischen schafften es immer mehr ahnungslose Populisten, die Tsipras, Le Pens, & Co., in höchste Staatsämter. Das politische Wunder unserer Zeit sei die Gelassenheit, mit der Bürger dies noch immer hinnähmen. Einen Hoffnungsschimmer sehe er allein darin, dass das Nichtwählen noch weiter zunehme, auch in Deutschland, und dass es sich von dem Unterschichtenphänomen, das es lange war, zum Ausdruck seriöser politischer Geisteshaltung entwickelt habe. Ich sah keinen Grund, ihm zu widersprechen. Aber woher nahm er die Gewissheit, mit der er immer wieder solche ungewöhnlichen Thesen vertrat? Dieses eine und 81 einzige Mal wagte ich ihn zu fragen, welcher politischen Richtung er denn früher einmal gefolgt sei. - Meinst du etwa, rechts oder links? Er winkte mit einer wegwerfenden Geste ab. So etwas, sagte er dann, sei ihm zum Glück erspart geblieben. Sonst wäre er auch als Archivar am falschen Platz. Aber ganz könne man sich nie davor schützen, sagte er dann, irgendeiner politischen Richtung zugerechnet zu werden. Zum Beispiel in der Zuwanderungsfrage. Die denkbar dümmste Antwort, da sei er ganz sicher, auf das demographische Desaster der Wohlstandsnationen sei es, die Geburtenlücke hauptsächlich durch Zuwanderung schließen zu wollen. Mit dieser Meinung stehe er aber weder rechts noch links, er stehe nur für langfristiges Denken, längerfristiges zumindest, als alle so genannten Rechten oder Linken es zeigten. Dann erklärte mir im Kontext Europa noch einmal das Problem der Staatsgrenzen, wie er es vorher zu anderen Weltregionen erklärt hatte: dass auch die EU-Staaten sich starre Staatsgrenzen verordnet hätten und dass sogar die EU sich immer mehr als Staatswesen mit festgeschriebenen Grenzen verstehe. Die EU habe insofern ihre eigene Entwicklung als Einbahnstraße angelegt, nicht ahnend, dass diese Einbahnstraße eine Sackgasse ist. Die zeuge von einem denkbar schwachen Vorstellungsvermögen für den Wandel politischer Bedürfnisse. So etwas sei noch nie und nirgendwo sehr lange gutgegangen und werde auch in Zukunft nirgendwo lange gutgehen. Aber die EU, wandte ich ein, sei doch eine Union demokratischer Staaten und damit ganz und gar auf demokratischen Prinzipien gegründet. Er meine doch sicher nicht, dass es mit der Demokratie nicht lange gutgehen werde. Das wisse er nicht, erwiderte er, aber das Beispiel EU zeige doch, wie wenig Orientierung das Demokratieprinzip für sich genommen biete. Die EU könne einmal das historische Projekt werden, das die Augen für die begrenzten Möglichkeiten der Demokratie öffne. 82 Mir schwirrte der Kopf. Hauser sah, dass ich keine Antwort herausbrachte, und fuhr unbeirrt fort: - Du hast ja Recht, über solche Dinge muss sich noch kein Bürger Gedanken machen und auch kein Politiker, der in Zeiträumen von ein paar Amts- oder Mandatsperioden denkt. Übrigens auch kein Journalist, der über das schreiben muss, was gerade seine Leser bewegt. Wer interessiert sich heute schon für die zweite Hälfte des Jahrhunderts? Auch darauf brachte ich natürlich keine Antwort heraus. - Und Schottland?, fuhr Hauser fort. Was sagst du eigentlich zu Schottland? - Ja, sagte ich, die Schotten geben keine Ruhe mit ihrer Unabhängigkeit, die Schotten sind ein Problem. Hausers Miene verzog sich. Dann, mit einer für ihn ganz ungewohnten Heftigkeit: - Unsinn. Das Problem sind doch nicht die Schotten. Er schloss kurz die Augen, als hielte er meine Ignoranz nicht aus, dann sah er mich an wie in Erwartung einer Entschuldigung, und dann, wieder gewohnt souverän und gelassen: - Oder meinst du, die Schotten dürften nicht unabhängig sein wollen? Dann hielt er einen kurzen Monolog über die Bedeutung des schottischen Unabhängigkeitsreferendums von 2014. Dieses Referendum sei zwar zu früh gekommen, um erfolgreich zu sein, trotzdem sei es der Beginn einer Zeitenwende gewesen. Aber wie es mit beginnenden Zeitenwenden so sei: kaum jemand bemerke sie, weil nur wenige sie bemerken wollten. Der Groschen falle dann erst Jahre, Jahrzehnte oder sogar Generationen später. Ob er sich damals denn wirklich ein unabhängiges Schottland gewünscht habe, fragte ich. Er sei kein Schotte, sagte er, ihm persönlich sei es egal, aber er habe den Schotten Umstände gewünscht, unter denen sie sich den Wunsch nach Unabhängigkeit ganz 83 ohne Ängste, ohne Missgunst und ohne organisierte Widerstände hätten erfüllen können. Das lag mir damals noch zu fern, um es sofort zu verstehen. Erst als ich später Hausers Gedanken zur schottischen Unabhängigkeit noch einmal in seinen Aufzeichnungen nachlas, kam mir dieses Gespräch wieder in den Sinn. Vielleicht ist es gut so. In diesem Moment hätte Hauser es kaum so schlüssig erklären können wie im folgenden Abschnitt seiner Aufzeichnungen, auch wenn dieser nur aus Stichwortnotizen besteht. Wahlbeteiligung Beim Referendum weit über 80%, so hoch wie lange nicht mehr bei demokratischen Wahlen. Das zeigt: Von der Frage, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben will, fühlen die Bürger sich stärker berührt als von allen anderen Wahlentscheidungen. Ist demnach die Freiheit, in dieser Frage direkt entscheiden zu können, nicht die elementarste aller politischen Freiheiten? Worüber, wenn nicht darüber, sollen Volksentscheide abgehalten werden? Eine wirklich reife Demokratie werden wir also erst haben, wenn Referenden über die politische Unabhängigkeit eine Selbstverständlichkeit sind. Das schottische Referendum war immerhin ein kleiner Schritt dahin. Vorgeschichte Die Schotten brauchten für ihr Referendum die Zustimmung der britischen Zentralregierung. Diese gab die Zustimmung nur mit einer Hinterlist. Die Referendumsfrage musste eine einfache Ja/Nein- Frage sein: Soll Schottland ein unabhängiges Land sein, ja oder nein. Eine unzumutbare Vereinfachung. Danach konnte London sich einigermaßen sicher sein, dass das Referendum scheitern würde. Wahlkampf Natürlich wurde im Wahlkampf getäuscht und getrickst, verharmlost und dramatisiert, aufgebauscht und heruntergespielt, wie man es bei Wahlen gewohnt ist. Die Unabhängigkeitsgegner waren dabei im Vorteil. Sie konnten Ängste vor vermeintlich unkalkulierbaren Risiken schüren, vor einer Aussperrung Schottlands aus der EU und aus 84 dem Währungsgebiet des britischen Pfundes und des Euro, vor einem Exodus internationaler Großunternehmen, vor militärischer Schutzlosigkeit, vor verfallenden Rentenansprüchen an die britische Rentenversicherung und generell vor Verarmung. Solche nebulösen Ängste dürften die Wahl entschieden haben. Dazu kam das Last-minute-Angebot der britischen Regierung, Schottland künftig etwas mehr politische Eigenständigkeit einzuräumen. Das andere Szenario Die Schotten haben der britischen Regierung die Zustimmung zum Referendum mühsam abgerungen. Es hätte auch anders kommen können. Eine selbstsicherere Zentralregierung hätte die Zustimmung vermutlich verweigert. Dann hätten die Schotten womöglich ein illegales Referendum abgehalten, das eine Mehrheit für die Unabhängigkeit ergeben hätte. Aber was wäre geschehen, wenn Schottland sich danach für unabhängig erklärt hätte? Wirtschaftssanktionen? Militärisches Eingreifen? Oder doch die Duldung der illegalen Abspaltung? Alles natürlich - nach herrschendem Politikverständnis - unvorstellbar. Es wäre also, so oder so, etwas zuvor Unvorstellbares passiert. Ein Gewinn für die politische Vorstellungskraft allemal. Schlussfolgerungen Natürlich ist die Frage der schottischen Unabhängigkeit nicht für immer vom Tisch. Das Referendum war insofern eine ermutigende Niederlage. Dass die britische Zentralregierung dem Referendum zugestimmt hat, könnte sich also als beispielgebendes historisches Ereignis erweisen. Natürlich werden Staaten und Staatenbündnisse, auch Organisationen wie die UNO und die EU, davon erst einmal nichts wissen wollen. Und natürlich wurden selbst die naheliegendsten Schlussfolgerungen unter den Teppich gekehrt. Zum Beispiel: Warum wollte die ukrainische Regierung den Bewohnern der Krim und des Donbass verweigern, was die britische Regierung den Schotten zugestanden hat? Warum also durfte es kein legales Unabhängigkeitsreferenden auf der Krim und im Donbass geben? Warum hat die ukrainische Regierung stattdessen Krieg im eigenen Land geführt? Warum haben die Staaten des Westens, warum hat auch Großbritannien sie darin noch großsprecherisch bestärkt? Warum haben sie Russland dafür bestrafen wollen, dass es solche Referenden unterstützt hat? Hoffnungslose Verstrickungen in Widersprüche. 85 Wie geht es weiter? Das schottische Referendum war ein politischer Tabubruch. Die Katalanen wollten ihnen darin folgen, auch sie wollten ein legales Referendum über die Unabhängigkeit, aber der spanische Staat hat es ihnen verwehrt. Dies aber hat das katalanische Unabhängigkeitsstreben eher gestärkt als geschwächt. Auch im Scheitern könnte das schottische Referendum also geholfen haben, das Selbstbestimmungsrecht der Bürger über ihre Staatszugehörigkeit zu stärken. Irgendwann sollte das Prinzip gelten: Grenzen sind zu verändern, wenn die Bürger es so wollen. Irgendwann muss dafür aber ein wegweisendes Beispiel gegeben werden. Wo, wenn nicht in Europa, sollte dies passieren? So weit Hausers Kommentare zum schottischen Unabhängigkeitsreferendum. In das gebundene Exemplar seiner Aufzeichnungen hatte er hierzu noch eine Ergänzung eingeheftet: Was kann alles geschehen, wenn Separatismus nicht mehr geächtet ist? Ist dieser Gedanke irgendwo zu Ende gedacht worden? Wenn die Bürger einer Minderheitsregion wie Schottland sich für unabhängig erklären dürfen, dann muss dies natürlich auch für Mehrheitsregionen gelten, beispielsweise für England. Dann könnte z.B. England seinen Austritt aus dem vereinigten Königreich erklären, was nichts anderes als der Hinauswurf von Schottland, Wales und Nordirland wäre. So etwas würde vielleicht nie geschehen, aber dürfte die Staatengemeinschaft es ausschließen? Wenn sie es mit der Freiheit und dem Selbstbestimmungsrecht wirklich ernst meinte, dürfte sie es nicht. Mir wurde schummrig bei dem Gedanken, was der Welt noch an politischer Bewusstseinsentwicklung bevorstand. Erstaunlich kurz war dann Hausers spätere Notiz zum ersten britischen Referendum über den Verbleib in der EU. Nicht die knappe Mehrheit für den Verbleib sei dabei das wichtige Ereignis gewesen, sondern dass es das Referendum überhaupt gegeben habe. Auch dafür habe nicht zuletzt das schottische Unabhängigkeitsreferendum den Weg bereitet. Wenn man dies weiterdenke, dann sehe man die Welt auf eine lange Epoche derartiger Unabhängigkeitsreferenden zusteuern. 86 Noch einmal Wirtschaft Hauser kam aus einer Lehrerfamilie und war gelernter Philosoph, seine späte Dissertation hatte er über „Spuren der Geschichte des utopischen Denkens im politischen Diskurs des ausgehenden 20. Jahrhunderts“ geschrieben. Constanzes Bildungshintergrund war ein ganz anderer. Ihre Eltern waren Gastwirte, und sie selbst hatte vor ihrem Ökonomiestudium eine Banklehre absolviert. Man hätte meinen können, hier würden zwei schwer verträgliche Mentalitäten aufeinanderstoßen, aber so war es nicht. Constanze kehrte fast nie ihr Wirtschaftswissen hervor und Hauser nie seinen philosophischen Hintergrund. Er sei vielleicht der letzte Philosoph, sagte er einmal, der in einem Archiv wie unserem arbeite, und selbst er würde wohl keinen gelernten Philosophen mehr einstellen. Die beiden hatten sich jahrelang offenbar gut verstanden, und warum es nicht immer so blieb, weiß ich bis heute nicht genau. Nicht alle hatten es mit Hauser so leicht wie ich. Hauser war kein Dogmatiker, aber so umgänglich er ansonsten war, so kompromisslos war er in seinem Berufsethos: Archivare müssten vollständig neutral sein, in der Archivarbeit dürfe man sich von keinen Neigungen und Abneigungen und keinen Schuld- und Verdienstzuschreiben auch nur im Geringsten beeinflussen lassen, sonst würde das Archiv, auch ohne dass die Beteiligten es wollten oder merkten, tendenziös, zumindest in Nuancen, und nicht einmal das sei tolerabel. Archivar sollte eigentlich nur werden, wer noch in keinem Konflikt eine Partei für alleinschuldig befunden und wer noch nie eine politische Partei gewählt habe. Er wusste, wie schwer selbst ihm diese Neutralität manchmal fiel, aber umso strenger war er hierin mit sich selbst und mit anderen. Hauser hatte wohl erwartet, dass Constanze als Ökonomin seinem Neutralitätsideal am ehesten entsprechen würde. Constanze war in Sachen Neutralität sicher nicht schlechter als andere Archivare, aber wohl auch nicht besser. Für Hauser war das eine Enttäuschung. Trotzdem hatte er Respekt vor ihr. In vielem dachten Hauser und 87 Constanze zumindest ähnlich, sie dachten sogar, was ich in meiner Anfangszeit im Archiv noch nicht ahnte, auf ähnlichem Niveau. Hauser glaubte nicht, dass sich in unserem Jahrhundert noch viel ereignen werde, zu dem der Schlüssel nicht in seinem ersten Quartal liege oder noch weiter in der Vergangenheit. Als Ökonomin sah Constanze die Dinge ähnlich. Nach der ersten Weltwirtschaftskrise in den vergangenen dreißiger Jahren, erklärte sie mir, habe fast ein halbes Jahrhundert lang die Überzeugung vorgeherrscht, dass die Wirtschaftsentwicklung vom Staat gelenkt werden müsse, danach fast ein halbes Jahrhundert lang der Glaube an die Selbstregulierung der Märkte. Dieser Streit habe irgendwann einmal geklärt werden müssen, und das sei nach der kleinen Weltwirtschaftskrise zu Beginn unseres Jahrhunderts wohl endlich der Fall. Heute weiß ich, dass es ganz so einfach nicht war, aber ich weiß auch, dass Constanze damit in wenigen Worten das Wesentliche getroffen hat. Deswegen versuche ich hier meinem Laiengedächtnis noch etwas abzuringen, das sie mir zu den Wirtschaftsproblemen des ersten Jahrhundertviertels erläutert hat: Die kleine Weltwirtschaftskrise der ersten Dekade habe als Bankenkrise begonnen, dann seien ihr in Europa Staatsverschuldungskrisen gefolgt und schließlich in großen Teilen Europas langwierige wirtschaftliche Strukturkrisen mit hoher Arbeitslosigkeit. Nach zehn Jahren hätten diese Krisen im Großen und Ganzen als ausgestanden gegolten, aber das sei ein Irrtum gewesen. Das sei nur so erschienen, weil Notenbanken und Regierungen alle Register der Symptomverschleierung gezogen hätten. Das Grundproblem sei eigentlich simpel. Die Vermögenden dieser Welt, Personen, Institutionen, Unternehmen und einige Staaten, hatten mehr Geldvermögen gebildet, als gewinnbringend angelegt werden konnte. Dies habe es in der Geschichte schon mehrfach gegeben, und die natürlichste Bereinigung solcher Krise sei ein Crash, in dem Geldvermögen vernichtet wird. Das sei ganz einfach zu erklären: Geldvermögen seien nichts anderes als Forderungen an Schuldner, und wenn Schuldner in einem Crash zahlungsunfähig würden, dann gehe überschüssiges Geldvermögen unter. Die 88 Zahlungsunfähigkeit von Schuldnern sei daher nicht etwa das Problem, dass es in der Krise zu vermeiden gelte, sondern es sei die Lösung. Zumindest sei es ein wichtiger Teil der Lösung. Überschüssiges Geldvermögen könne aber nicht nur in einem Crash vernichtet, es könne auch durch Inflation entwertet werden, die Wirkung sei letztlich die gleiche. Auch Inflation sei daher nicht das, was man in einer solchen Krise fürchten müsse, auch Inflation könne ein wichtiger Teil der Lösung sein. In einer solchen Krise führe daher alles Gerede von Inflationsgefahren in die Irre. Es sollte vielmehr von Inflationshoffnungen die Rede sein. Warum war das aber nicht der Fall? Constanzes dazu: Wie man für das richtige Maß Inflation sorge, das habe man damals nicht gewusst, was wiederum mit dem Festhalten an alten Dogmen zu erklären sei. Auch Ökonomen seien eben nicht gegen Ideologien und Vorurteile gefeit. Hier lag eine wichtige Gemeinsamkeit mit Hauser. Ähnlich wie Hauser die Politik blind an Dogmen wie der territorialen Integrität festhalten sah, sah Constanze Ökonomen, Finanzpolitiker und Zentralbanken in Dogmen der Crash- und Inflationsvermeidung verstrickt. Nach Hauser kann die Verstrickung in solche überholten Dogmen über Generationen oder Jahrhunderte andauern. Constanze war weniger pessimistisch. Ökonomen, meinte sie, seien eher pragmatisch, sie brauchten zur Überwindung alter Dogmen meistens nur eine Generation. Damals hielt ich das für glaubhaft. Ich will mich hier nicht zu weit in die Ökonomie hineinwagen, aber das Folgende scheint mir an dieser Stell einfach und verständlich genug zu sein. In neuerer Zeit, meinte Constanze, werde die Forderung nach Staatsentschuldung selbst in wirtschaftlichen Krisenzeiten wieder dogmatisch hochgehalten. Nach diesem Dogma sollten verschuldete Staaten auch in der Krise möglichst rasch ihre Schulden zurückzahlen, auch das sei ein notwendiger Beitrag zur Krisenbewältigung. Aber auch dies, meinte Constanze, sei falsch. Wenn ein Staat Schulden zurückzahle, 89 müssten die Empfänger das zurückerhaltene Geld anderswo anlegen, also in der Privatwirtschaft. Aber es herrsche ja gerade deswegen Krise, weil in der Privatwirtschaft nicht mehr genügend Geld rentierlich angelegt werden könne. Wenn ausgerechnet in der Krise zusätzliches Geldvermögen in die Privatwirtschaft dränge, dann werde die Krise dadurch weiter verschärft. Die Sanierung von Staatshaushalten könne in solcher Krise also alles noch schlimmer machen. Solche Gedanken, sagte Constanze damals, gälten allerdings noch als Ketzerei. Sie erschienen mir aber logisch schlüssig, erwiderte ich. Das sind sie auch, sagte sie. Zwischenstand Natürlich hatte ich in dieser Zeit noch immer ein anderes Bild von Politik als Hauser und natürlich auch ein ganz anderes, als ich es heute habe. Hätte ich schon als Dreißigjähriger einen Rückblick auf das erste Jahrhundertviertel zu schreiben versucht, wäre wenig Überraschendes dabei herausgekommen. Es gab einfach zu wenig, von dem ich damals überrascht oder gar entgeistert gewesen wäre. Ich war eben noch sehr jung. Wie hätte ich, frage ich mich manchmal, als junger Mann auf Gedanken zum ersten Jahrhundertviertel reagiert, wie sie hier aufgeschrieben sind? Das Meiste wäre mir ziemlich abwegig erschienen, und sicher auch den meisten anderen. Insofern hat es in den letzten 50 Jahren doch kleine Bewusstseinsfortschritte gegeben, nicht nur bei mir. Allein in der Entgeisterung, wie Hauser sie mir nach und nach vermittelt hat, liegt schon viel Fortschritt. Auch Hausers Entgeisterung über die Politik westlicher Staaten hat sich wohl erst beim Abfassen seiner Aufzeichnungen ganz entfaltet. Je näher er dem Ende seiner beruflichen Neutralitätspflicht kam, desto freieren Lauf wird er seinen kritischen Gedanken gelassen haben. Er gehört nicht zu denen, die in Staatsmännern wie Adenauer, de Gaulle, Kennedy, Brandt oder Schmidt seither unerreichte Vorbilder 90 sahen, und doch verkörperten die Spitzenpolitiker seiner Zeit für ihn einen Niedergang der politischen Kultur. Mit den Bushs, Blairs, Berlusconis und Sarkozys habe es begonnen, schreibt er in seinen Aufzeichnungen, einer Ära notorisch inkompetenter Politikdarsteller, die die geistige und moralische Orientierungslosigkeit von Demokratien verkörperten, und auch wenn es einige westliche Demokratien, darunter Deutschland, mit ihrem Führungspersonal weniger schlimm getroffen habe, habe doch auch dort nur niedriges politisches Mittelmaß geherrscht. Der schillernden Generation Berlusconi & Co. seien im allerbesten Fall biedere politische Handwerker gefolgt, auch in Deutschland. Daran werde sich auch nichts ändern, denn bei sinkendem Renommee der Politiker strebten immer weniger herausragende junge Menschen noch politische Karrieren an. Die Qualität des politischen Führungspersonals werde also immer prekärer, und das ausgerechnet in einer Zeit, in der politische Führung immer mehr Kompetenz, Mut und Phantasie erfordere. Und an anderer Stelle weiter: Die Führungsschwäche der Politik bewege immer mehr Bürger dazu, entweder den Wahlen fernzubleiben oder ihre Stimme Parteien zu geben, die statt politischer Problemlösungen nur diffuse Stimmungsmache zu bieten hätten. Weil zudem die Mittelmäßigkeit des politischen Personals den Eindruck vermittele, Politik könne eigentlich jeder, fühlten sich noch die ahnungslosesten Bürger berufen, in solchen Parteien mitzuwirken. Auch das ziehe das Niveau des politischen Denkens und Handelns weiter herunter. Führungsfiguren von historischem Rang bringe eine solche politische Kultur jedenfalls nicht hervor. Hausers Zusammenfassung: Politisch leben wir in einer Ära verschleierter Unfähigkeit. Für Hauser war das ausgehende erste Jahrhundertquartal in Westeuropa eine Zeit der Stagnation von Politik und politischem Bewusstsein gleichermaßen. Ich kann mich selbst davon nicht ganz ausnehmen. Wir waren umgeben von Krisenherden und einem schleichenden Dritten Weltkrieg, wirtschaftlich ging es schleppend voran, Politikmüdigkeit und Nichtwählen breiteten sich weiter aus, die etablierten Parteien verloren zunehmend Wähler an Rechtspopulisten oder wurden selbst populistischer, 91 die Entwicklung der EU war in einer Sackgasse, und die soziale Ungleichheit nahm weiter zu. Trotzdem verharrte das politische Bewusstsein in unserem Teil der Welt in schlafwandlerischer Selbstgerechtigkeit. War das die neue und, wie Hauser sie nannte, unheimliche Normalität, auf die wir uns für lange Zeit einzustellen hatten? Nach Hauser ließe die Demokratie nichts anderes erwarten. Eine der Schwächen der Demokratie sei, dass sie sich mit der Überwindung alter Dogmen systematisch schwertue, nicht nur beim Dogma der territorialen Integrität. Aber Hauser sah auch dies mit der denkbar größten Nüchternheit. Die Schuld an der politischen Stagnation trügen nicht, wie es in politischen Debatten immer wieder suggeriert werde, einzelne Politiker. Als Diener des Systems könnten diese nur in den Mechanismen des Systems denken und handeln, und diese Mechanismen ließen ihnen wenig Spielraum. Die Grenzen persönlicher Schuld seien daher gerade in demokratischer Politik sehr eng gesteckt. Aber selbst damit hatte Hauser sich vom politischen Bewusstsein seiner Zeit ziemlich weit entfernt. Die Unheimlichkeit der politischen Normalität spürten nur Wenige. Es gibt einen Politikernamen, der an dieser Stelle unbedingt genannt werden muss: Karl-Theodor zu Guttenberg. Als Studenten verbanden wir mit diesem Namen kaum eigene Erinnerungen, aber in Grafs letzten Vorlesungen spielte er eine wichtige Rolle. Guttenberg, so Graf, war genau der Mann gewesen, der den Anschein hätte wahren können, mit der deutschen Demokratie könne es so weitergehen wie bisher. Der Mann also, der noch einmal die Illusion hätte nähren können, dass Politik eigentlich ganz leicht sei. Der Mann, der selbst unüberwindbar erscheinende Schwierigkeiten mit unnachahmlicher Selbstverständlichkeit weglächelte und damit jeden Zweifel an der Stärke der Demokratie im Keim erstickte. In wirklich schwierigen Zeiten, so Graf, werde auch im demokratischen Deutschland irgendwann der Ruf nach einer starken Führungsfigur laut werden, z.B. einer deutschen Le Pen, und dann müsse Deutschland dankbar sein, wenn sich stattdessen ein Guttenberg anbiete. 92 Als ich Hauser einmal davon erzählte, schloss er an Grafs Gedanken ganz spontan an. Im Grunde habe schon Berlusconi in diese Politikerkategorie gehört, als eine Art Guttenberg der kulturellen Unterschicht, aber auch die Renzis, Tsipras, Orbáns & Co. gehörten dazu, zu den Politikern also, die ihren Dilettantismus und ihre Überforderung mit Elan, Charisma und Rhetorik geschickt überspielten. Gerade in schwierigen Zeiten werde die Demokratie immer wieder solche Figuren hervorbringen, und der Zufall würde darüber bestimmen, aus welchem politischen Lager sie erwüchsen. Auch Deutschland, sagte Hauser, werde irgendwann seinen linken oder rechten Guttenberg erleben, und vielleicht werde sich sogar der leibhaftige Karl-Theodor in der Politik zurückmelden. Das sei schon deswegen nicht unwahrscheinlich, weil Berufspolitiker, die unfreiwillig oder freiwillig aus der Politik ausschieden, sehr bald merkten, dass sie außer Politik nicht viel anderes könnten und - abhängig geworden vom Gefühl der eigenen Wichtigkeit - nicht viel anderes wollten. Insofern sei es, so Hauser, keineswegs ein Glück für Deutschland gewesen, dass Guttenberg seine politische Karriere wegen der Schummeleien bei seiner Doktorarbeit hatte abbrechen müssen. Das dicke Ende komme noch. So viel zur politischen Bewusstseinslage in Deutschland. Aber welches politische Bewusstsein herrschte anderswo in der Welt? Wie weit waren globale Gemeinsamkeiten in der politischen Zivilisierung gediehen? Natürlich hoffte man im Westen noch immer, dass der Rest der Welt zum westlichen Stand der politischen Zivilisierung weiter aufschließen werde. Selbst damit aber, so beschreibt es Hauser, wäre noch wenig gewonnen. Denn damit würde der Rest der Welt ja genau die Dogmen übernehmen, die für den schleichenden Dritten Weltkrieg und andere Katastrophen ursächlich seien. Aber der Stand der politischen Zivilisierung war natürlich von Land zu Land und auch innerhalb von Ländern höchst unterschiedlich. Auch die innerstaatlichen Entwicklungsunterschiede waren damals wie heute nach Generationen und teilweise sogar nach Jahrhunderten zu bemessen, was es u.a. unmöglich machte, mit rationalen Argumenten demokratische Wahlen zu gewinnen. Und wie schwer eine rationale 93 Verständigung zwischen Staaten sehr unterschiedlicher politischer Zivilisierungsniveaus sein kann, das hat sich auch in den gewaltsamen Konflikten des frühen 21. Jahrhunderts gezeigt. Am größten war das Gefälle der politischen Zivilisierung natürlich im Verhältnis zu islamistisch geprägten Staaten. Es spielt kaum eine Rolle, ob man hierbei die politische Gewaltbereitschaft von Islamisten mit dem Bewusstseinstand christlicher Kreuzzügler oder von Akteuren der beiden ersten Weltkriege vergleicht, ob man also den Zivilisierungsrückstand nach Generationen oder Jahrhunderten bemisst. In jedem Fall erfordert der politische Umgang mit solchen Entwicklungsdiskrepanzen einen zeitlichen Denkhorizont, der demokratischen Politikern fremd ist. Auch in Hausers Aufzeichnungen finden sich einige Anmerkungen zum politischen Bewusstsein von Islamisten. So zitiert er z.B. einen algerischen Fußballnationalspieler, der im Sommer 2014 vor der Weltöffentlichkeit bekundete, er und seine Mitspieler hätten bei einem Weltmeisterschaftsspiel „für alle Muslime der Welt“ gekämpft. Es sei natürlich besser, schreibt Hauser, Religionskämpfe würden symbolisch auf dem Fußballfeld ausgetragen als mit Waffengewalt, aber eine solche Äußerung könne doch so verstanden werden, dass sich im Sport ein globaler Religionskampf fortsetze. Man dürfe sich nicht wundern, wenn die Reaktionen hierauf nicht gerade auf hohem zivilisatorischem Niveau lägen. Die Auseinandersetzung mit dem politischen Islam lasse daher auch den Westen in der politischen Zivilisierung zurückfallen. Nicht der Islam an sich, aber doch der politische Islam stehe daher der politischen Zivilisierung der Welt im Weg. Aber würde auch der politische Islam womöglich doch ein kurzlebiges Bewusstseinsphänomen sein? War das nach dem Zusammenbruch des Sozialismus ausgerufene globale Ende der Geschichte vielleicht doch nur um eine oder zwei Generationen verschoben? Setzte die Welt nicht doch zum Endspurt der politischen Zivilisierung an, in den sich auch die noch rückständigen Teile der Welt bald einfinden würden? 94 Hausers Antwort war natürlich ein klares Nein. Allein die anhaltenden Kriege und Bürgerkriege um Staatszugehörigkeiten und Staatsgrenzen, schrieb er, straften solche Erwartung Lügen. Fortschritte in der politischen Zivilisierung sehe er bestenfalls im Schneckentempo kommen. Seine einleuchtende Begründung: Die politisch leidlich zivilisierten Staaten hätten einen immer geringen Anteil an der Weltbevölkerung. Diese Staaten würden daher auch in der Weltpolitik eine immer geringere Rolle spielen, zivilisatorisch weniger entwickelte Staaten dagegen eine immer größere. Im Weltdurchschnitt gesehen werde es schon deswegen mit der politischen Zivilisierung eher bergab gehen. Ich fragte ihn noch, was das für das Selbstbestimmungsrecht von Bürgern über ihre Staatszugehörigkeit und über Staatsgrenzen bedeute. Natürlich nichts Gutes, sagte er. Und dann überraschte er mich mit einem Gedanken, den ich zwar nicht auf Anhieb verstand, der mir später aber als einer der wichtigsten politischen Gedanken meiner Lebenszeit erschien: Die so empfundene Kälte des globalen Kapitalismus werde bei immer mehr Menschen ein Bedürfnis nach stärkeren politischen Gemeinschaftserlebnissen entstehen lassen, wozu auch die Solidarität in erstarkten staatlichen Solidargemeinschaften gehöre. Umso wichtiger werde dann aber auch die Freiheit werden, über die Zugehörigkeit zu solchen Gemeinschaften selbst zu entscheiden. Hauser sah, wie ich mich mühte, diesem Gedanken zu folgen. Es möge altmodisch klingen, sagte er dann, für manche sogar reaktionär, aber eine passendere Formulierung falle ihm dafür nicht ein: Im globalen Kapitalismus müsse der Staat mehr denn je politische Heimat sein. Mit Nationalismus und Patriotismus im alten Sinne, sagte er schließlich noch, habe das aber nichts zu tun. Konkret vorstellen konnte ich es mir in diesem Moment noch nicht, aber ich war erst einmal beruhigt. 95 2025 - 2049 Hilflose Demokratie, Neues Denken Parteienzuwachs Der Paukenschlag zum Auftakt des ersten Jahrhundertquartals war der Anschlag auf das World Trade Center gewesen, der Auslöser des Weltkriegs gegen den Terror, der ein Teil des schleichenden Dritten Weltkriegs war. Das zweite Jahrhundertquartal begann weniger aufsehenerregend. Nach der Jahrtausendwende war die Welt aus dem schönen Traum gerissen worden, mit der Vorherrschaft von Demokratie und Marktwirtschaft sei die Zeit ewigen Friedens und Wohlstands angebrochen. Dieser Traum war ausgeträumt, und die Erwartungen waren gedrückt. Statt mit einem Paukenschlag begann das zweite Jahrhundertquartal mit einem lang anhaltenden Trommelwirbel, der die Krisen der Zeit wie in einem großen politischen Welttheater aneinanderreihte. Aber man täte diesem zweiten Jahrhundertquartal Unrecht, wenn man nicht auch anerkennte, dass die Demokratie in dieser Zeit ihre beste Phase erlebte. Es gab Ausnahmen, es gab China, es gab noch Nordkorea, es gab muslimische Gottesstaaten und Emirate, es gab gescheiterte Staaten ohne etablierte Staatsordnung, es gab noch einige wenige bekennende Autokratien, aber immer weniger Staaten bekannten sich noch offen dazu, keine Demokratie im üblichen Sinne zu sein. Zumindest dem Schein nach orientierten sich mehr Staaten denn je am Beispiel westlicher Demokratien. Spätere Historiker dürften den Zenit der modernen Demokratie auf das frühe zweite Quartal des 21. Jahrhunderts datieren. Keine der Krisen, die das erste Jahrhundertquartal geprägt hatte, war zu Beginn des zweiten Quartals wirklich gelöst, einige Konflikte waren mit militärischen und diplomatischen Mitteln vorerst eingefroren worden, aber fast alle schrieben sich in den Anfängen des zweiten Quartals neu in die Weltgeschichte ein. Der schleichende Dritte Weltkrieg brachte sich in vielen Krisenherden in Erinnerung. Eine neue 96 Intifada in Palästina, opferreicher als alle bisherigen. Ein wieder aufflammender Bürgerkrieg im Norden Nigerias. Gewaltsame Konflikte zwischen Religionsgruppen in Indien. Terror in Pakistan. Brutale Unterdrückung von Widerstandsbewegungen in Ägypten, Algerien, den Golfstaaten, im Iran und anderswo. Fast die gesamte arabische Welt war weiterhin ein Pulverfass, und das würde, so schien es, zumindest eine weitere Generation so lang bleiben. Die Staatsgrenzenfrage war noch unendlich weit von einer Friedenslösung entfernt, viele Millionen Vertriebene sannen weiter auf Rückkehr und Rache. Die Flucht des jordanischen Königs aus dem eigenen Land war ein neues Menetekel für die gesamte arabische Welt. Erstmals formierte sich eine staatenübergreifende gesamtkurdische Bewegung in der Türkei, im Iran und auf den früheren Staatsgebieten des Irak und Syriens. Die Türkei spielte sich als die neue führende Ordnungsmacht des Nahen Ostens auf, mit den gleichen zynischen Methoden wie die einstmaligen Supermächte in Zeiten des kalten Krieges, mit militärischer Unterstützung also auch für unzivilisierteste Rebellen und Autokraten. Viele westliche Demokratien, besonders natürlich in Europa, wurden von wieder anschwellenden Flüchtlingsströmen bedrängt, was immer stärkere Bürgerproteste zur Folge hatte. Gescheiterte Staaten Afrikas wie Somalia, Libyen und andere hatten ihre Lage kaum verbessert. Die Schwäche vieler Demokratien ließ mafiöse Organisationen stärker werden denn je, in Mexico, Südamerika, Italien, Russland, der Ukraine und vielen anderen Staaten der Welt, und sie ließ weitere staats- und rechtsfreie Regionen innerhalb funktionierender Staaten entstehen. In großen Teilen der Welt waren Geldkapitalbildung und Verschuldung wieder außer Kontrolle und standen die Finanzmärkte wieder am Rand des Kollapses. Vor die Wahl gestellt zwischen Crash und Langzeitkrise, entschieden die Regierungen und großen Zentralbanken der Welt sich abermals für Letztere. Die strukturschwachen Staaten des Euroraums schlingerten weiter in wirtschaftlicher Stagnation. Die Europäische Zentralbank kämpfte immer noch einen verzweifelten Kampf, um diesen Staaten mit lockerem Geld aus der Krise zu helfen. Die Finanzmärkte wetteten wieder auf ein 97 Auseinanderbrechen der Euro-Zone, aber die EZB setzte dem abermals mit einer bedingungslosen Garantieerklärung für die Krisenstaaten des Euroraums ein vorläufiges Ende. EZB und europäische Regierungen präsentierten der Öffentlichkeit die schwelende Dauerkrise als das immer noch kleinstmögliche Übel und damit als Erfolg. Noch wollte die Mehrheit der Bürger ihnen glauben. All dem zum Trotz stand die westliche Demokratie in ihrem Zenit. In der Demokratie gehe eben alles langsam, sollte Hauser später sagen, sehr langsam sogar, und wenn sie untergehe, werde auch das sehr langsam geschehen, so langsam, dass die Menschen es nicht einmal als Untergang wahrnehmen. Oberflächlich gesehen war in der westlichen Welt die Lage zu Beginn des zweiten Quartals tatsächlich unauffällig, auch in Europa. Sicher, es gab neue gewalttätige Unruhen in französischen Migrantenvorstädten, in England und anderswo in Europa, aber daran hatte die Mehrheit der Bürger sich fast schon gewöhnt. Die Franzosen reagierten mit der Wahl einer rechtsextremen Präsidentin, die gegen die Krise aber außer unversöhnlicher Rhetorik nichts aufzubieten hatte. Wenn man genau hinhörte, war aber auch im demokratischen Westeuropa der politische Trommelwirbel wahrnehmbar, auch wenn er sich aus großenteils leisen Einzeltönen zusammensetzte. Die Parteiensysteme in den meisten Staaten waren weiter zerbröselt, und mit Ausnahme von Großbritannien war die Bildung von Regierungskoalitionen immer unberechenbarer geworden und das Wählen für die Bürger damit immer mehr zum Lotteriespiel. Die Wahlbeteiligung ging fast überall weiter zurück, teilweise sogar dramatisch, in immer mehr Ländern bis weit unter 50%. Fast überall gründeten rhetorisch begabte Charismatiker neue politische Parteien, darunter - zuerst in Deutschland - die Parteien der Lesben und Schwulen, die für ein immer noch anerkennungsbedürftiges Lebensgefühl standen, aber umso weniger für konkrete politische Inhalte. Ein wichtigeres Ereignis war die Gründung der ersten muslimischen Parteien. Muslimisch Soziale Union – MSU, diese Namensgebung der muslimischen Partei in Deutschland war ein geschickter Schachzug. In der Bundestagswahl 2029 verfehlte 98 sie mit 3,5% noch deutlich den Einzug in den Bundestag, aber ihr langfristiges Stimmenpotential lag natürlich deutlich höher. In den Altparteien begann man, die Koalitionsmöglichkeiten nach einem eventuellen Einzug der MSU in den Bundestag auszuloten. Die Schlussfolgerungen waren niederschmetternd. Dass die MSU schon damals bei renommierten Verfassungsrechtlern Gutachten bestellt hatte, die die 5%Hürde für muslimische Parteien für verfassungswidrig erklären würden, wusste in den Altparteien noch niemand. Die AfD, die Alternative für Deutschland, hatte schon lange vorher das Schicksal vieler populistischer Parteien ereilt, die Selbstzerstörung durch innere Spaltung. Ihr Gründer Bernd Lucke, der sich mit vergleichsweise seriösen Anliegen in das Abenteuer der Parteigründung gestürzt hatte, gestand am Ende ein, die Mechanismen im demokratischen Parteienwesen gründlich verkannt zu haben. Aber mit der Marginalisierung der AfD, die sich Bernd Luckes entledigt hatte, war die deutsche Parteienlandschaft keineswegs bereinigt. Als das Scheitern der AfD besiegelt war, gründeten sich die Deutschen Demokraten. Sie machten alles richtig, was der Gründer der AfD falsch gemacht hatte. Sie überstürzten nichts, sie nahmen nur Mitglieder auf, die sich in ihren Zielen und Vorurteilen weitgehend einig waren und ebenso in der Unterstützung ihres Vorsitzenden: Karl-Theodor zu Guttenberg. Schon in den ersten Umfragen nach der Parteigründung lagen die Deutschen Demokraten bei 8%. Wieder loteten die Altparteien die theoretischen Koalitionsmöglichkeiten aus. Die Lage war verzweifelter denn je. Aber erst einmal zurück zu Hauser, ohne dessen Beistand ich bei diesen Ereignissen die politische Orientierung wohl vollends verloren hätte. Viele von Hausers Erklärungen zum politischen Geschehen waren mir allerdings noch immer nicht auf Anhieb klar, und vieles hätte ich nicht einmal wiedergeben können, so geduldig er es mir auch erklärt hatte. Anders wurde es erst in den späten zwanziger Jahren. Bei einem Gespräch mit einem Studienfreund merkte ich plötzlich: Jetzt redest du ja fast wie Hauser. Ich hatte dem Freund von Hausers Gedanken zum Staatsgrenzenproblem erzählt. Er meinte, das sei doch altes Denken. Es gehe doch nicht mehr darum, wie 99 Staatsgrenzen zu korrigieren seien, das Ziel müsse doch sein, Staatsgrenzen überflüssig zu machen. Ja, sagte ich, das könne so sein, aber was tun in den tausend Jahren, bis es so weit ist? So ähnlich hätte Hauser es sagen können. Es war ein gutes Gefühl. Ich spürte: Ich kann schon argumentieren wie Hauser, ich muss mir Argumente wie die seinigen nicht mühsam abringen. Jetzt kommen sie mir auch spontan. Hauser war ein Chef, wie man ihn sich nur wünschen kann, vor allem seinetwegen habe ich die Arbeit im Archiv fast immer gemocht. Der Gedanke „nur“ - wie ich es zu Anfang empfunden hatte - ein Archivar zu sein, war nach zwei Jahren Archivarbeit längst verflogen. Aber soll man deswegen keine neuen Herausforderungen suchen? Will man deswegen, wie Hauser, den allergrößten Teil seines Berufslebens in ein und demselben Archiv verbringen? Das waren noch unfertige Gedanken, aber Hauser erahnte sie. Als wir einmal gemeinsam vor einem Monitor mit den Tücken der Archivsoftware kämpften, sagte er: "Man kann natürlich auch mit anderer Arbeit glücklich werden." Ein paar Monate später zeigte ein Freund mir das Stellenangebot der A-E-B-Stiftung, einer neuen parteinahen Stiftung in Berlin. Auch dabei ging es um Archivarbeit, aber nicht nur. Das Ganze würde also vielseitiger sein, dachte ich, und lebensnäher. Ich schickte eine Mail, bekam rasch eine vielversprechende Antwort, kurz danach die Einladung zum Vorstellungsgespräch. Auf der Fahrt nach Berlin Aufbruchsstimmung. Dann das Gespräch, mit Leuten, dachte ich, mit denen sich gut auskommen ließe. Eine Woche später die Einladung zu einem zweiten Gespräch. Wieder war die Stimmung gut, diesmal bekam ich ein konkretes Angebot. Ich hätte natürlich darauf vorbereitet sein sollen, aber ich war es nicht. Ich dankte höflich und versprach, mich bis zum nächsten Morgen zu entscheiden. Auf der Rückfahrt tauschte ich Dutzende SMS mit meiner Freundin, alle ihre Antworten ermutigten mich. Kurz vor der 100 Ankunft in Hamburg tippte ich ein: Soll ich's so abschicken: Dank für Ihr Angebot, das ich sehr gern annehme? Ihre Antwort: Genehmigt. Am nächsten Morgen bei Hauser das kleinlaute Bekenntnis, das ich gehen wolle. Aber bei Hauser keine Spur von Enttäuschung, auch kein Wort, um mich zum Bleiben zu bewegen. Hatte ich das vielleicht doch erwartet? Vielleicht darauf gehofft? Er hatte mich und meine Arbeit immer geschätzt, und nun kein einziges Wort des Bedauerns, nur dieser klare, offene, bejahende Blick. Ob er mir zu dem Wechsel wirklich rate, fragte ich ihn dann doch, und seine typische Hauser-Antwort war: Du könntest vom Regen in die Traufe kommen, aber auch das wäre eine unschätzbare Erfahrung. Wer war die A-E-B-Stiftung? Hauser, das offenbarte er mir kurz danach, wusste mehr darüber als ich. Um Mitarbeiter warb die A-E-B mit dem Slogan „Überparteilich für Deutschlands Parteien“. Parteinahe Stiftungen hatte es natürlich schon sehr lange gegeben, jede der größeren Parteien hatte ihre eigene, jede von ihnen strikt im Dienst ihrer Partei, und lange war es ihnen blendend gegangen. Aber in den zwanziger Jahren war es für die Stiftungen finanziell enger geworden. Mitte der Zwanziger beauftragten schließlich die beiden größten Stiftungen fast gleichzeitig eine Unternehmensberatung mit einer Kostenanalyse. Beide Stiftungen, ohne es zu wissen, dieselbe Firma. Die Feststellung der Berater: Die parteinahen Stiftungen machten zu fast 70% überlappende Arbeit, auch wenn sie ihre Ergebnisse verschiedenen Zielgruppen präsentierten. Ihr Vorschlag: Lagern Sie Archive und Recherche in eine gemeinsame Organisation aus, beschränken Sie sich dann auf die Aufbereitung von Ergebnissen in Ihrem Sinne. Genau so, aus schierer Geldnot, wurde es dann von den Unionsparteien und der SPD beschlossen. Auch die Grünen wurden in das Konzept eingebunden. Hausers bissiger Kommentar dazu: 101 - Die bestehenden Stiftungen schrumpfen zu Einrichtungen der gehobenen Propaganda. Vor zwanzig oder dreißig Jahren hätte es darüber einen Aufschrei gegeben, aber in eurer Generation nimmt man das ja gelassener. Und dann, im Ton respektvoller: - Warum sollte man sich auch über scheinbar Unabwendbares aufregen? Ob er denn wirklich meine, fragte ich dann, dass die Arbeit bei der A-E-B für mich eine unschätzbare Erfahrung sein würde. - Auf jeden Fall, sagte er. Am vorletzten Arbeitstag saß ich mittags allein in der Cafeteria. Jemand legte die Hand auf meine Schulter. Ich drehte mich um, sah das befreite Lächeln von Constanze. Ob dies mein vorletzter Tag sei, fragte sie. Und ob ich wirklich zu dieser Stiftung nach Berlin ginge. - Ja, sagte ich. Nur dieses peinliche, einfallslose Ja, sonst nichts. Constanze, die Cramer, hatte die Hand auf meine Schulter gelegt, mich befreit angelächelt, sich neben mich gesetzt, wollte mit mir reden, und mir fiel nichts anderes ein als ein Ja. Sie ließ mich endlose Sekunden warten, dann sagte sie; - Warst ein sehr guter Kollege. Das weißt du. Dann folgte ein langer, schnell gesprochener Monolog, als müsse sie sich beeilen, um mir, solange ich noch da bin, sagen zu können, was dringend zu sagen war. Sie habe gehofft, sagte sie, ich würde noch eine Zeit bleiben, aus demselben Grund, aus dem sie selber bisher geblieben war, wegen Hauser. Sie habe von Hauser bei Weitem nicht alles gelernt, was man von ihm lernen könne, aber sie wisse, dass er mir gegenüber offener und mitteilsamer gewesen sei, insofern sei ich ihr ein Stück 102 voraus, vielleicht sei ich deswegen schon jetzt bereit für Neues. Und ob ich wisse, an wen Hauser sie erinnere, natürlich an Graf, und ob auch ich manchmal noch an die Sache mit der Generation Sichtflug dächte. Darüber habe sie oft nachgedacht in den letzten Jahren, und inzwischen sei sie ziemlich sicher, dass Hauser in dieser Sache ganz ähnlich denke wie Graf. Irgendwann, vielleicht schon in zehn oder zwanzig Jahren, solle über diese unsere Generation einmal ein Buch geschrieben werden, und ob ich mir so etwas zutraute. Wir, sagte sie dann, sie und ich, seien beide nicht gerade typische Exemplare dieser Generation, was wir zum Teil Graf zu verdanken hätten, aber natürlich auch Hauser, und gerade deswegen sei ich möglicherweise der Richtige, um später einmal solch ein Generationenporträt zu schreiben. Wenn ich Hilfe dabei brauchte, könne sie versuchen zu helfen. Ich war verblüfft, geschmeichelt, geängstigt, eingeschüchtert, verlegen, alles zugleich, aber Constanze sah mich nur mit geradem, unaufgeregtem Blick an. Wer weiß, sagte ich nach einer Weile, aber so etwas sei in meiner Lebensplanung bisher nicht vorgesehen. In ihrer auch nicht, sagte sie, aber Generation Sichtflug sei doch schon einmal ein schöner Buchtitel. Ich war überwältigt von diesem Monolog, der mich den immer noch leicht irritierenden Klang ihrer Stimme völlig überhören ließ. Constanze, die Cramer, der ich mich immer unterlegen gefühlt hatte, der ich nie ebenbürtig sein würde, diese Constanze und ich, wir waren jetzt Kollegen auf Augenhöhe. Sie stand auf. - Wir verlieren uns nicht aus den Augen, sagte sie dann, zu mir herabsehend, dann beugte sie sich - das Unterlegenheitsgefühl flutete zurück - zu mir herunter und umarmte mich kurz. - Wir verlieren uns nicht aus den Augen, wiederholte sie. Versprochen? - Ja, sagte ich. Von mir aus versprochen. 103 Als ich mich von Hauser verabschieden wollte, lud er mich - es war das erste Mal für den Abend zu sich nach Hause ein. Nur auf ein halbes Glas Bier, meine Zeit sei ja jetzt, so kurz vor dem Umzug, sicher knapp, sagte er - wie immer in seiner freundlich nüchternen Art, aber diesmal mit einem beinahe herzlichen Lächeln. Hauser lebte in einer kleinen, bis an die Decken mit Büchern vollgestopften Dachgeschosswohnung eines wuchtigen, die umliegenden Gebäude leicht überragenden Altbaus in Eppendorf. Er habe, sagte er, fast immer allein gelebt. Das Alleinleben sei beileibe nicht leicht, dazu wolle er niemandem raten, aber als Alleinlebender habe man mehr Zeit zum Denken als andere, und das sei ein unschätzbarer Vorteil. - Und den hast du genutzt, sagte ich. Ich dachte oft, dein Vorsprung im Denken sei uneinholbar. Ich glaube, das Kompliment tat ihm gut. Er sagte nichts, sah mich nur abwartend an, so ruhig, als habe er unbegrenzt Zeit für mich. Dann führte er mich - es war Spätsommer - auf seine Dachterrasse, von wo wir weit über die Dächer der Stadt in die tiefe Abendsonne sahen. - Der weite Blick, sagte ich. Auch hier, zu Hause. - Hier übe ich ihn. - Üben musst du ihn nicht mehr. - Doch, den zu üben ist eine Lebensaufgabe. Genau das wollte ich dir noch sagen. In Berlin, bei deiner neuen Arbeit, wird es damit schwer werden. Wieder so eine Bemerkung von Hauser, die sprachlos machte, die ich danach lange vergaß, bis sie mir, fast auf den Tag genau zwei Jahre später, wieder in den Sinn kam, als wäre es gestern gewesen. 104 In Berlin kamen unsere Zwillinge zur Welt. Danach war es mit dem weiten Blick sowieso vorbei. Kinder sind ein großes, vielleicht das allergrößte Glück, aber auch Glück, das lernte ich schnell, kann, wenn es zu groß wird, eine Last sein. Hauser ließ seine Gedanken zu Hause ins Weite schweifen, meine Gedanken steckten im Alltag fest. Wenn die Zwillinge stundenlang schrien, waren sie dann ernsthaft krank, oder bekamen sie nur neue Zähne? Würde morgen der Durchfall ausgestanden, der Schnupfen kuriert sein? Würden wir Eltern uns womöglich bei den Kindern anstecken? Würde die Vertretung der Tagesmutter sie wirklich von der Krippe abholen kommen? Würden nächste Woche die Großeltern nach Berlin kommen und für ein paar Tage einspringen? Und wie lange würden wir, würde ich solches Leben schadlos durchhalten, ein Leben ohne Zeit für Gedanken, wie Hauser sie dachte? Wenig Zeit zum Nachzudenken zu haben muss aber kein Fluch, es kann auch ein Segen sein. Es kommt auf die Umstände an. In der Zeit in Berlin war es auch ein Segen. In die Arbeit bei der A-E-B-Stiftung fand ich schnell hinein. Alles war fast, wie ich es erwartet hatte, kein Grund zum Grübeln also, freundliche Kollegen und eine Arbeit, deren Sinn leicht zu fassen war. Parteinahe Stiftungen dienen Parteien, also tat die A-E-B es auch. Ich arbeitete nun also für politische Parteien, und so steckte ich mitten im politischen Leben der Republik. Tatsächlich lebensnäher, so empfand ich es, als bei Hauser im Verlagsarchiv. Ich könnte vom Regen in die Traufe kommen, hatte Hauser gesagt, aber nichts davon spürte ich. Nicht, bevor ich Mesäcker traf. Martin Mesäcker war achtundzwanzig, seit Schülerzeiten Parteimitglied der CDU, hatte Jura studiert und Parteikarriere gemacht, und er hatte schon beste Aussichten auf ein Bundestagsmandat. Rechts-, Innen- und Außenpolitiker sei er, so stellte er sich mir vor, als er seinen kurzen Dienst im Archiv antrat. Es habe gerade so gepasst, sagte er, dass er sechs Wochen bei der A-E-B arbeiten könne, fast ein Muss sei das für einen Politiker, der irgendwann einmal auch in Stiftungsangelegenheiten mitentscheiden werde. Und da er nun einmal hier sei, wolle er auch kurz ins Archiv hineinschnuppern. Ich merkte mir: Mesäcker, der Schnupperer. 105 Aber Mesäcker war auch ein begnadeter Rhetoriker. Einer, der zu fast allen politischen Themen eine Meinung hatte, zu allem, gefragt oder nicht, seine Meinung kundtat und dabei alle in Grund und Boden reden konnte. Ein Meister der rhetorischen Improvisation. Ein Sprechblasenartist, so nannte ihn ein Kollege, einer, der gelegentlich originell formuliere, aber nie mit einem originellen Gedanken aufgefallen sei und es auch nie tun werde. In Sachen Mesäcker war dieser Kollege, ein Sympathisant der Grünen, parteiisch, aber er hatte Recht. Behalte den Mesäcker im Auge, sagte er, der wird große Karriere machen. Danach war ich dankbar, Mesäcker kennengelernt zu haben. Es half mir, das Geschäft der Politik zu verstehen. Der Kontakt zu Hauser war schon zu Beginn meiner Berliner Zeit abgebrochen, aber darüber machte ich mir keine Gedanken. Natürlich gab es - auch in Berlin lag die Kopie seiner Aufzeichnungen zuhause immer auf meinem Schreibtisch - kurze Momente, in denen ich an ihn dachte, aber ich vermisste ihn nicht. Ich hatte ja nicht einmal Zeit dafür. Bis ich, nach fast zwei Jahren, an einem Herbstsonntag, wir waren zurück von einem Kurzurlaub an der Ostsee, die Post durchsah. Obenauf eine Ansichtskarte mit Alpenpanorama. Die Rückseite eng und schwer leserlich beschrieben. Hausers Schrift! In diesem Moment lebte alles wieder auf, waren die Gedanken wieder genau da, wo sie bei der letzten Begegnung mit Hauser gewesen waren. Hauser machte Urlaub in einer Almhütte in Tirol. Für den Urlaub, schrieb er, suche er sich Orte, an denen man einen klaren Kopf bewahrt, und dieser sei so einer. Ein paar klare Gedanken seien ihm oben auf der Alm schon gekommen, und vielleicht der wichtigste von allen sei: Ich könnte einmal sein Nachfolger werden. Verlier es nicht aus den Augen, stand darunter. Ich las diese Sätze ein Dutzend Mal. Nichts hätte mich mehr überrascht, nichts mehr erschreckt, nichts hätte mich mehr gerührt. Es war typisch Hauser. So kurz und knapp und klar formuliert, aber wenn ich darüber nachdachte, waberte eine Gedankenwolke durch den Kopf. War, was er mir schrieb, eine Prognose? War es 106 eine Warnung? War es ein Auftrag? Und was meinte er eigentlich mit „Nachfolger“? Nachfolger in seiner Art zu denken? Oder womöglich Nachfolger als Archivleiter? Oder beides? Er hätte es mir sagen oder er hätte es mir mailen können, dann wäre es eine Aufforderung zum Dialog gewesen, aber nun kam es als Postkarte, und ich war damit allein. Schließlich schickte ich ihm eine kurze Mail: Habe mich sehr gefreut über deine Postkarte. Wir sollten darüber reden. Die Antwort kam - ganz untypisch für Hauser - erst acht Wochen später. - Du wirst bald eine Einladung vom Verlag bekommen. Überleg dir gut, was du tust. Es geht, wie gesagt, um meine Nachfolge. Und ein paar Stunden später dies: - Egal, was und worüber du mit wem sprichst: besser kein Wort über mich. Am nächsten Tag ging ich zur Arbeit wie in Trance. Die Selbstverständlichkeit, mit der ich fast zwei Jahre lang meinen Dienst bei der A-E-B getan hatte, war dahin. Ich sollte mich um Hausers Nachfolge bewerben? Und wenn ja, wie war es dazu gekommen? Hauser hatte doch noch ein paar Berufsjahre vor sich. War er ernsthaft krank? Hatte er Fehler gemacht? Hatte er am Ende doch echte Feinde? Nichts davon mochte ich mir vorstellen. Wochen danach erfuhr ich von einem alten Kollegen die Vorgeschichte. Hauser habe sich Freiheiten herausgenommen, die man von einem Archivleiter nicht erwartet, auch nicht als angehendem Ruheständler. Die Verlagsleitung habe das offenbar als Chance gesehen, sie habe ihm rasches Ausscheiden mit großzügiger Abfindung angeboten. Viele hätten danach natürlich auf Constanze als Nachfolgerin gewettet. "Dass du dann ins Gespräch kamst, war eine taktische Meisterleistung von Hauser." Die Einladung des Verlags kam zwei Wochen später. Auf der Fahrt dorthin flimmerten die Gedanken. Warum ich? Wer sonst war im Rennen? Vielleicht doch auch Constanze? Arbeitete sie überhaupt noch im Verlag? Und wenn nicht, wäre sie, 107 eine gute Archivarin, erfahrener als ich, mir weit voraus in IT-Kenntnissen, eine kluge Ökonomin, nicht trotzdem die Bessere? Andererseits: hatte Hauser mir nicht immer das Gefühl gegeben, ich sei ihm mindestens so wichtig wie sie, die Cramer? Auf der Fahrt eine Achterbahn der Gefühle. Angst, Kleinmut, Hochmut, Nervosität, Stolz, zitternde Knie. Wollte ich die Stelle wirklich? War Hauser überhaupt damit glücklich gewesen? Du bist noch viel zu jung. Nein, du schaffst das schon. Die Chance deines Lebens. Nein, es könnten noch bessere kommen. Wollten wir überhaupt weg von Berlin? Du hast nichts zu verlieren. Sei zuversichtlich. Bleib gelassen. Dann das Gespräch. Sie empfingen mich zu dritt, Verlagsleiter, Personalchefin, Chefredakteur, in der obersten Etage. Ich brachte nur abgebrochene Sätze heraus. Wollte es mit selbstbewusstem Lächeln gutmachen, auch das misslang. Warum fragten sie so viel? Warum genügte ihnen nicht, was sie über mich, den früheren Mitarbeiter, schon wussten? Warum diese bleiernen Mienen? Warum schaute der Chefredakteur auf die Uhr? Wartete schon der nächste Bewerber? Am Ende dann, alle Zuversicht war längst dahin, die Frage: Sind Sie an der Position interessiert? Ich zuckte zusammen. Eine Routinefrage? Eine Ermutigung? Ich gab die dämlichste aller denkbaren Antworten: „Sie werden bestimmt einen Besseren finden.“ Die Drei sahen einander kurz an, nickten einander zu, Chefredakteur und Verlagsleiter schmunzelten. Dann die Personalchefin: „Das glauben wir nicht.“ Ich rang nach Luft. Dann - das sagte man mir später – sah ich mit einem ansteckend strahlenden Lächeln in die Runde. Die Personalchefin stand auf, dann die beiden anderen, dann auch ich, dann gaben wir einander die Hand. "Herr Schmidt,…", sagte die Personalchefin. "Ja?" "Nächste Woche bekommen Sie einen Vertragsentwurf." Dabei drückte sie meine Hand noch eine Spur fester. Sechs Wochen danach war ich zurück im Archiv. Es war wie eine Erlösung. Ich war jetzt der neue Hauser. 108 Was geht wie lange gut? Auf Hausers Aufzeichnungen stieß ich an meinem zweiten Arbeitstag als Archivleiter. Noch heute fühlt es sich an, als sei ich damals mit schlafwandlerischer Sicherheit auf sie zugesteuert, ohne von ihrer Existenz etwas geahnt zu haben. Aber dieses Gefühl trügt. Es war, auch wenn ich lange nicht daran glauben mochte, wirklich purer Zufall. Heute weiß ich, dass ich es Hauser gleich hätte sagen sollen. Damals war ich unsicher. Die Aufzeichnungen waren so unauffällig im Archiv platziert, als habe er sie späteren Findern vorbehalten wollen. Würde er also irritiert sein? Würde es ihm womöglich peinlich sein? Oder egal? Ich fand darauf keine Antwort. Nach ein paar Tagen stand dann für mich fest: Ich sage es nicht. Ihm nicht und niemand anderem. Vorerst. "Versuch nicht, der neue Hauser zu sein." Das war einer von Hausers ersten Sätzen, als wir uns wiedersahen. Ich hatte ihm Mails geschickt, Nachrichten auf die Mailbox gesprochen, aber erst Wochen nach meiner Rückkehr ins Archiv kam eine Antwort: Gratuliere zu allem, schrieb er, und wenn du irgendwann den Kopf wieder freier hast, sollten wir uns treffen. Als ich dann wieder vor seiner Wohnungstür stand, war mir, als wären seit dem letzten Mal nur Tage vergangen. Natürlich fragte er zuerst, wie es im Archiv gehe, und ich antwortete, ich müsse meine neue Rolle erst noch üben. Dann sagte er, ich würde vieles neu und anders machen müssen als er. Was denn das Neue sei, fragte ich, und er antwortete, das maße er sich nicht an zu wissen, wissen müsse ich es nun selbst. Ich müsse es zumindest immer besser wissen, schränkte er dann ein, und dann kam dieses: Versuch nicht, der neue Hauser zu sein. Wieder so ein Hauser-Satz zum Nachdenken. Eine Mahnung, natürlich, und vielleicht eine Warnung, dass man auch als Archivleiter scheitern könne. Aber es bedeutete auch: Von nun sei ich nicht mehr der junge Unerfahrene, der sich auf ihn verlasse, ich, Matthias Schmidt, würde nun ebenso eigene Wege gehen wie er früher. Und dann sagte er: "Du wirst viel mehr 109 kämpfen müssen, als ich es tun musste." Aber ich war noch zu naiv, um wegen solcher Äußerung besorgt zu sein. Am Ende des Gesprächs fragte ich, ob er sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Verlag nicht bedaure. "Nein" sagte er, "es war eine befreiende Niederlage." Wieder so ein fordernder Hauser-Satz. Ja, bedeutete es, sein Ausscheiden sei eine Niederlage gewesen, er habe sich tatsächlich unbeliebt gemacht, aber letztlich sei es eine Befreiung. "Ich bin ein freierer Mann denn je", sagte er, "und ich kann freier denken denn je." Und nach einer kurzen Pause: "Und ich tue es." Er sah mich an, als erwartete er einen Kommentar, aber was hätte ich antworten sollen? - Wer, fuhr Hauser dann fort, wenn nicht Pensionäre, ist in diesen Zeiten frei im Denken? Und wer, wenn nicht Pensionäre, soll in diesen Zeiten Neues denken? - Politisch, meinst du. - Ja, natürlich. Den Jüngeren ist die Zeit für freies Denken zu knapp geworden. - Also die Rentnerrevolution? Hauser lachte auf, lauter und tatsächlich befreiter, als ich es früher bei ihm erlebt hatte. - Darauf war ich noch nicht gekommen. Schöner Gedanke. Ich ging beschwingt nach Hause. Oder, kam mir unterwegs in den Sinn, zählte er auch mich zu den Jungen, die sich nicht die Zeit für unabhängiges Denken nehmen? Zählte er mich also zu der zukunftsblinden Generation Sichtflug, mit der Graf so verbittert abgerechnet hatte? Und wenn ja, war ich dann nicht wenigstens als Vater noch nicht einmal zweijähriger Zwillinge vorübergehend entschuldigt? Aber egal. Viel wichtiger war, dass Hauser nun - nicht mehr als Chef, sondern als Freund und mit altersweisem Widerspruchsgeist - wieder Mentor für mich würde sein können Genau so ist es dann gekommen, und so ging es bis weit ins zweite Jahrhundertviertel hinein. Auch meine Gedanken über diese Zeit wurden von langen 110 Gesprächen mit Hauser geprägt und von spontanen Einfällen, die er mir oft in kurzen Mails erläuterte. Ich fange hier an mit einem Gedanken, genauer: einer Frage, die Hauser in diesen Jahren besonders am Herzen lag. Was geht in der politischen Welt wie lange gut? Wie lange können welche politischen Regimes sich noch halten? Wie lange können welche Regeln der Politik noch funktionieren? Wie lange kann die politische Landkarte bleiben, wie sie ist? Wie stabil ist unser Land, wie stabil ist unser Staat? Wie stabil ist die Staatsordnung, die wir die demokratische nennen? Wie stabil sind andere Staatsordnungen? Wie stabil also ist unsere Welt, politisch gesehen? Und wann werden welche Veränderungen in welchen Teilen der Welt unabwendbar? Gelegentlich fragte er mich hierzu nach meiner Meinung. Zum Beispiel: Wie lange, meinst du, kann sich das kommunistische Regime in Nordkorea noch halten, wie lange das Regime in Kuba, wie lange das in China? Natürlich hatte ich darauf keine spontanen Antworten parat, und natürlich hatte Hauser selbst in solchen Fällen zumindest plausible Vermutungen. Wer hätte vor vierzig Jahren gedacht, fragte er, dass heute immer noch kommunistischen Parteien an der Macht sein würden? Und wie viel Zeit bleibt ihnen noch? - Nicht sehr viel, sagte ich. - Noch zwanzig Jahre? Oder dreißig? - So viel nicht. Hauser zögerte einen Moment, dann kam eine ausgefeilte Antwort. Nordkorea könne man sich wie eine straff organisierte Sekte vorstellen, und man wisse ja, dass Sekten jahrhundertelang überleben können, wie abstrusen Überzeugungen sie auch anhingen und welche Entbehrungen sie ihren Mitglieder auch zumuteten, und das selbst in Zeiten, in denen Sektenmitgliedern fast alle Informationen dieser Welt offen stünden. Wenn das Regime in Nordkorea sich geschickt genug anstelle, wie die Führung einer glaubensstarken Sekte eben, dann könne es sich noch jahrzehntelang halten. Vorausgesetzt, sagte er, es finde sich wieder ein charismatischer Sektenführer. 111 Den Fall Kuba sah er anders. Die Kubaner, meinte er, seien nie eine solche politische Sekte gewesen und würden es nicht werden. Trotzdem könne sich auch in Kuba die kommunistische Staatspartei noch lange halten, wenn sie ihre politische Botschaft dem politischen Bewusstsein der Bevölkerung anpasse. Genau das habe die kommunistische Partei Chinas in den vergangenen 30 Jahren ja getan, und zwar mit Erfolg, und wenn es dort vorerst so weitergehe, müsse das für China nicht die schlechteste Lösung sein. Den Fall Kuba sehe er ähnlich. Natürlich war ich bei solchen Szenarien ungeduldiger als Hauser, aber ich war zu unsicher, um Widerspruch zu wagen. Hausers breitete immer mehr solcher politischen Zukunftsszenarien aus, und kaum ein Teil der Welt blieb davon ausgenommen. Und immer wieder staunte ich, wie viel langsamer er kommende politische Entwicklungen einschätzte als ich. Im ersten Jahrhundertviertel sei doch viel geschehen, wandte ich einmal ein, warum solle es nicht so weitergehen. Darauf Hauser: Ja, es sei natürlich viel passiert, aber wenn man genauer hinschaue, dann sei es nicht viel Neues, von neuem Leid einmal abgesehen. Politik im ersten Jahrhundertviertel, gerade die Politik der etablierten demokratischen Staaten, habe fast immer versucht, Verhältnisse einzufrieren, so wie im 20. Jahrhundert beispielsweise der Zypern-Konflikt eingefroren worden sei. Das sei nicht immer, aber doch ganz überwiegend gelungen, und alles spreche dafür, dass es so weitergehen, dass die politischen Verhältnisse im kommenden Jahrhundertquartal sich ähnlich zäh entwickeln würden. Gerade ich, der ich doch nebenbei auch Historiker sei, müsse doch wissen, dass große politische Veränderungen erst nach langen Phasen von Stagnation möglich würden und, wie 1989, dann meistens unerwartet kämen, es sei denn, eine totale Erschöpfung durch Krieg oder Bürgerkrieg hätte den Weg für einen wirklichen politischen Neuanfang frei gemacht. Einen solchen Erschöpfungszustand, in dem es den Menschen wie Schuppen von den Augen falle und ihnen klar werde, was und wie viel sich ändern müsse, sehe er nicht kommen. In Sachen Staatsgrenzen und Staatszugehörigkeit seien die Dinge zwar ins Wanken gekommen, aber nicht wirklich voran. 112 Und dann: Was meinst du, wie lange es mit Europa, mit der EU, noch gutgeht? - Hoffentlich noch sehr lange, sagte ich. - Ich hoffe das nicht. Er machte eine Pause, als wolle er meine Verblüffung genießen. Nur Europa, sagte er dann, könnte der Welt ein Beispiel geben, wie gute Politik in komplizierten Verhältnissen gelingen kann. Im Nahen Osten sei alles noch viel komplizierter, aber umso wichtiger sei es, dass das Beispiel Europa keine Schwächen zeige. Das Europa, wie es ist, habe aber große Schwächen, auch seine einzelnen Staaten. Als Vorbild für den Nahen Osten tauge es daher noch nicht. Wo war Hauser mit seinen Gedanken gelandet? Bei einem anderen Europa, das aus anderen Staaten besteht? - Denkst du jetzt in Utopien?, fragte ich. - Kommt darauf an, was du darunter verstehst. - Utopien sind gescheiterte Denkexperimente. - Die alten Utopien waren es. Wir brauchen endlich bessere. Dauerkonflikt um Staatsgrenzen Ich war - da hatte Graf völlig Recht - in einer eher unbesorgten Generation aufgewachsen. Die meisten von uns meinten tatsächlich, dass die Menschheit politisch das Schlimmste hinter sich habe, auch ich, auch noch als Mitt- und Spätzwanziger. Dann kamen die Gespräche mit Hauser. Wenig von dem, worüber ich mit ihm diskutierte, hat mich so berührt wie seine Erklärungen zum Weltkrieg in Etappen, dem, wie er ihn manchmal auch nannte, Jahrhundertweltkrieg, den man auch deswegen einen Weltkrieg nennen muss, weil in ihn nicht nur Staaten mit umstrittenen Grenzen verwickelt sind. Verwickelt sind auch intervenierende Großmächte und all die anderen Staaten, die sich gegen oder auch für separatistische 113 Bewegungen in anderen Ländern engagieren, darunter damals Russland, die USA, einige Golfstaaten, der Iran und europäische NATO-Staaten, und auch die UNO und alle Carl Bildts dieser Welt. Auch nach meiner Rückkehr aus Berlin haben Hauser und ich darüber oft diskutiert. Am bis dahin schlimmsten Schauplatz dieses Krieges, dem Nahen Osten, hatten sich die Konfliktparteien, keine von ihnen endgültig besiegt, aber alle wirtschaftlich, militärisch und mental erschöpft, in einen Waffenstillstand gefügt. Hausers Prognose war, dass der Dritte Weltkrieg nun eine Pause machen werde. Der Grund sei aber natürlich nicht, dass die Staatsbürger überall in der Welt ihren Frieden mit ihrer Staatszugehörigkeit gemacht hätten. Der Grund sei, dass die Staaten dieser Welt entschlossener denn je für die Unveränderlichkeit ihrer Grenzen kämpften. Damit würden sie aber nur einen Pyrrhussieg erringen. Hauser benutzte damals mich, seinen Nachfolger, als Zuträger von Archivinformationen. Früher, als Archivar, erzählte er mir, habe er lange versucht, sich über die Konflikte um Staatszugehörigkeiten in der Welt auf dem Laufenden zu halten, über offene, schwelende und latente, nun wolle er diese Konflikte nur noch so gut wie möglich verstehen lernen. Umso dankbarerer war er, wenn ich ihm aus dem Archiv Informationen Thema zutrug, die hierfür wichtig sein können. In unseren Gesprächen streifte er dann immer wieder die Schauplätze realen und potentiellen Separatismus dieser Welt, Länder also wie China, Indien, Malaysia, Indonesien, Philippinen, Sri Lanka, Afghanistan, Russland, die gesamte Nahost-Region, den Südsudan, Algerien, Nigeria und andere afrikanische Länder, und natürlich auch immer wieder Schottland, Katalonien, Flandern, Südtirol, Estland und auch einige Balkanstaaten. Selbst dort, so Hauser, seien die Fragen der Staatszugehörigkeit ja nicht endgültig ausgekämpft. Man könne sich doch nicht um so viele Krisenherde gleichzeitig sorgen, gab ich einmal zu bedenken, auch nicht als engagierter Ruheständler, und er gab mir Recht. Es sei ja aber das Wesen dieses Weltkriegs, dass er an immer anderen Orten ausbreche oder aufflackere, und wenn die mächtigen Staaten dieser Welt sich immer 114 nur mit dem gerade akutesten Krisenfall befassten, dann sei für diesen Krieg ein Ende umso weniger absehbar. Zu einem Ende könne er erst kommen, wenn die Staatengemeinschaft ihn als ein Ganzes verstanden habe. Wenn ihm als Ruheständler das halbwegs gelinge, dann ja vielleicht auch anderen. Am meisten besorgt blieb Hauser um die Nahostregion, aber mindestens ebenso beschäftigte ihn Indien. Dass manche tatsächlich glauben machen wollten, Indien könne einmal so etwas wie die Schweiz Asiens werden, war für Hauser nicht nur abwegig, er fand es skandalös. Wer etwas von Geschichte, Kultur und Wirtschaft verstünde, müsse doch wissen, dass die Schweiz historisch, kulturell und wirtschaftlich ein sehr besonderer Fall sei, der sich auch bei gutem politischem Willen nicht auf andere Teile der Welt übertragen lasse. Wer dies ignoriere, der werde - das wisse ich doch - bei Konflikten um die Staatszugehörigkeit leicht zum politischen Brandstifter. So polemisch konnte Hauser manchmal sein, aber wenn, dann hatte er allen Grund dazu. Ich selbst hatte mich mit Indien bis dahin nur wenig befasst, ich wusste nicht einmal, dass in Indien etwa 100 verschieden Sprachen gesprochen werden. Ich wusste, dass Indien ein Vielvölkerstaat ist, aber was das für das politische Bewusstsein bedeutete, darüber hatte ich nie nachgedacht. Nach Hauser verharrten die vielen Ethnien Indiens politisch noch immer in einer Art postkolonialer Apathie. Irgendwann aber würden einige von ihnen sich zu fragen beginnen, ob sie nicht als unabhängige Staaten besser, freier und selbstbewusster würden leben können. Erst wenn der indische Subkontinent dies durchlebt habe, könne er in seiner Entwicklung ganz allmählich zu Europa aufschließen. Ich muss zugeben, dass ich dies damals für eine ziemlich verwegene Spekulation hielt. Wo Hauser dagegen Prognosen für kürzere Zeiträume anstellte, für eine, zwei oder drei Dekaden, erschienen diese mir meistens plausibel, auch die Prognose, dass der Dritte Weltkriegs für einige Zeit eingefroren sein werde. Auf meine Frage, wie lange Konflikte um Staatsgrenzen sich einfrieren ließen, antwortete er, dass das vor allem davon abhänge, wie unzivilisiert Staaten ihre Minderheiten zu behandeln wagten. Er 115 sei aber ziemlich sicher, dass das Dogma der Unverletzlichkeit von Staatsgrenzen noch ein paar weitere Jahrzehnte das Denken und Handeln der Staatengemeinschaft bestimmen werde. Aus dieser ideologischen Phalanx werde vorerst kein einflussreicher Staat ausscheren. Auf lange Sicht werde aber genau das immer mehr Bürger von ihren Staaten und von der Staatengemeinschaft entfremden, was eben auch in Gewaltbereitschaft und Terror münden könne. Die Welt werde in Sachen Separatismus daher weiter den Atem anhalten. An dieser Stelle brauchte ich eine Denkpause. Wir vertagten uns auf später. Flüchtlingsströme und territoriale Integrität Die Flüchtlingsströme aus arabischen und afrikanischen Krisenländern hatten sich Anfang des zweiten Jahrhundertquartals noch einmal verstärkt. In meiner Einstellung dazu hatte ich mich nie beirren lassen: Wenn Flüchtlinge ihr Leben aufs Spiel setzten, um dem Elend ihrer Heimtatländer zu entkommen, dann dürfe Europa sie nicht abweisen. Die Länder Europas, die wohlhabendsten zuallererst, müssten großherzig in der Aufnahme von Flüchtlingen sein und ganz generell großzügige Einwanderungsländer, und zwar auf Dauer. Das Ansinnen, legale und illegale Zuwanderung mit möglichst lückenlosen Überwachungs- und Zwangsmaßnahmen unterbinden zu wollen, entspringe niederen fremdenfeindlichen Instinkten. Ängste vor Überfremdung und vor dem Verlust nationaler Identität, Solidarität und Prosperität seien in diesem Zusammenhang unbegründet. Die Zuwanderer aus Krisenländern trügen, im Gegenteil, zum nationalen Wohlstand bei, und sie bereicherten die aufnehmenden Länder mit kultureller Vielfalt. Die großzügige Aufnahme von Flüchtlingsströmen sei also nicht etwa nur moralisch geboten, sie sei vielmehr in jeder Hinsicht als Chance zu sehen. So oder ähnlich musste man es sehen, wollte man sich nicht der Nähe zu anrüchigen rechten Populisten verdächtig machen. So sah ich es, und so sahen es alle, die sich für besonders aufgeklärte und moralisch gefestigte Demokraten hielten. 116 Natürlich mussten wir, die moralisch Gefestigten, uns vorhalten lassen, dass Deutschland nicht beliebig viele Flüchtlinge aufnehmen könne, so sehr Einzelschicksale auch zu Herzen gingen, dass die Politik also gar nicht anders könne, als Grenzen der Aufnahmebereitschaft zu setzen, notfalls mit staatlichem Zwang. Noch sahen wir anderen diese Grenzen aber in weiter Ferne. Es war Hauser, der mir auch in dieser Frage Neues zu bedenken gab. Vor der Not der Flüchtlinge, sagte er, dürfe man natürlich nicht die Augen verschließen, aber ebenso wenig vor der Not in den Herkunftsländern. Dort werde die Not noch größer, wenn immer mehr Flüchtlinge ihre Länder verließen. Die meisten Flüchtlinge seien für ihre Heimatländer potentielle Leistungsträger, Menschen also, die ihr Land voranbringen könnten. Moralisch geboten sei es daher, Flüchtlinge nur für möglichst kurze Zeit aufzunehmen und sie in dieser Zeit auf eine spätere konstruktive Rolle in ihrem Herkunftsland vorzubereiten. Diesem Gebot sei die Flüchtlingspolitik bisher nicht gefolgt. Schon dieser Hinweis half mir, etwas über den Tellerrand der immer gleichen Flüchtlingsdiskussion hinauszusehen. Viel wichtiger für mich war aber, wie Hauser mir dann die Augen dafür öffnete, wie die Flüchtlingsdramen mit dem Dogma der territorialen Integrität zusammenhingen. Natürlich kamen die meisten Flüchtlinge aus Krisenländern, und natürlich war die Krise dort am schlimmsten, wo Krieg, Bürgerkrieg und Terror herrschte, und natürlich ging es bei Krieg, Bürgerkrieg und Terror meistens auch um Fragen der Staatszugehörigkeit und Staatsgrenzen. Es ging darum, dass Menschen sich ihrem Staat nicht zugehörig fühlten, also einem anderen Staat angehören wollten, sei es einem neuen oder einem schon bestehenden. Es ging auch immer noch um die Korrektur von Staatsgrenzen und die Auflösung von Staaten, die vor langer Zeit von Kolonial- bzw. Siegermächten willkürlich geschaffen worden waren. Und es ging darum, dass die Staatengemeinschaft, angeführt von den Staaten des Westens, sich solchen Ansinnen widersetzte, auch mit militärischer Gewalt, und dass sie sich dabei auch auf das Dogma der territorialen 117 Integrität berief. So war es auch in den Herkunftsländern der meisten Flüchtlinge dieser Zeit, in Syrien, dem Irak und den gescheiterten Staaten Nordafrikas. Hauser formulierte es so: - Die meisten Flüchtlinge, die nach Europa drängen, fliehen vor Problemen, an denen europäische Staaten Mitschuld tragen. Historische und aktuelle Mitschuld. - Dann, sagte ich, muss Europa diese Schuld auch abtragen. - Ja, sagte er, europäische Staaten und mitschuldige. - Aber wie?, fragte ich. Muss Europa dann nicht noch viel mehr Flüchtlinge aufnehmen? Hauser schüttelte den Kopf. Das, sagte er, sei eben zu kurz gedacht, auch moralisch. Vorrangig sei etwas ganz anderes. Die Staaten des Westens müssten auf die Herkunftsstaaten der Flüchtlinge mit einer neuen Botschaft zugehen. Mit der Botschaft: Wir helfen euch, eure Landkarte nach euren Bedürfnissen neu zu ordnen. Wir helfen euch, in neuen Grenzen funktionsfähige Staaten aufzubauen. Auf der Grundlage eurer eigenen Kultur. Nur so, meinte er, ließen sich die Flüchtlingsströme auf Dauer eindämmen. - Aber wann, fragte ich, werden die Staaten des Westens solche Angebote machen? - Noch lange nicht, sagte Hauser. Sie wollen es nicht, und noch könnten sie es auch nicht. Bis dahin hatte ich Debatten über Flüchtlingsströme aus Krisenstaaten immer aufmerksam verfolgt, aber danach nicht mehr. Ich ertrug sie nicht mehr. Westliche Demokratien wehrten Flüchtlingsströme ab, für die sie selbst Verantwortung trugen, und niemand bekannte sich dazu. Die Debatten hierüber drehten sich im immer gleichen Kreis. Man versäumte nichts, wenn man sie mied. 118 Kurze Begegnung An Constanze dachte ich oft, wenn ich im Archiv an ihrem früheren Arbeitsplatz vorbeikam, und manchmal kamen mir dabei Gedanken, von denen ich meinte, dass Constanze sie besser hätte denken können als ich. Vielleicht hätte ich mich nie dazu aufgerafft, ihr ein neues Lebenszeichen zu senden, aber dann kam eines Tages diese schlichte Mail von ihr. Wir hätten uns ja lange nicht gesehen, schrieb sie, nächste Woche habe sie einen Termin ganz in der Nähe des Verlags, ob ich sie auf einen Tee treffen wolle, in ihrem früheren Lieblingsrestaurant am Kaiserkai. Natürlich wollte ich. Vier Jahre war es her, seit wir uns zuletzt gesehen hatten, und sie würde sich verändert haben. Wenn es bei irgendjemanden ganz sicher keinen Stillstand gab, dann bei Constanze. Wir trafen uns an einem frühen Nachmittag, und wir blieben bis kurz vor Mitternacht beisammen. Wir beide waren neugierig aufeinander, und wir beide - auch sie, das tat mir gut - ließen es einander spürten. Als Erstes hätte ich sie fragen mögen, wie sie meine Berliner Zeit im Archiv erlebt hatte, aber bevor ich mich das zu fragen traute, lenkte sie das Gespräch ganz von selbst darauf. Sie erzählte, wie Hauser sich in dieser Zeit immer weniger noch als der nüchterne, neutrale Archivar gegeben habe, fast so, als habe er unter dieser Rolle lange gelitten. - Nein, das hat er nicht, sagte ich. Er habe es aber sichtlich genossen, sagte sie, diese Rolle bald nicht mehr spielen zu müssen, und vielleicht habe er es sich irgendwann zu sehr anmerken lassen. Und dann: - Kann es sein, dass du hast ihm gefehlt hast in dieser Zeit? - Nein, sagte ich. Aber er hat mir gefehlt. Jedenfalls sei Hauser ihr gegenüber immer offener geworden, fuhr sie fort, wie er es vorher wohl mir gegenüber gewesen sei, und als sich sein vorzeitiger Abgang 119 abzeichnete, habe er mit ihr sogar offen darüber gesprochen, wie es mit Archiv denn weiterginge. - Über seine Nachfolge? - Ja, auch darüber. - Wolltest du nicht seine Nachfolgerin werden? Das hatten viele erwartet. Auch ich. - Hauser fragte mich einmal, ob ich mir das würde zumuten wollen. Ja, zumuten. So hat er es gesagt. Das Archiv werde nicht bleiben, was es ist, sagte er. Ein künftiger Archivleiter werde starke Nerven brauchen, die ich zwar sicherlich hätte, aber ich müsse sie ja nicht unbedingt im Verlagsarchiv verschleißen. - Und dann hat er mich als Nachfolger ins Spiel gebracht? - Er hat für dich gesprochen, weil er dich für den besten hielt. - Den besten, um in einem Archiv mit ungewisser Zukunft verschlissen zu werden? - Über die Zukunft des Archivs wusste auch er nichts Genaues. Vielleicht ahnte er nicht einmal, dass es dem Verlag finanziell schlechter ging. - Aber nur finanziell, sagte ich. Constanze schlug die Hände vors Gesicht, dann sah sie mich mitleidig an. Du redest von etwas, sagte ihr Blick, wovon du keine Ahnung ist, wir sollten besser das Thema wechseln. Dann winkte sie eine Kellnerin heran und bestellte noch einen Tee. Danach ließ ich sie erst einmal ihre eigene Geschichte erzählen. Dass sie mit ihrem Freund eine kleine Unternehmensberatung für Datensicherheit gegründet habe, wo sie als Frontfrau angefangen habe, was ihr nach den Jahren im Archiv aber schwergefallen sei, nun sei sie für Werbung, Akquisition und Strategie zuständig, das sei ja auch leichter wegen der Familie. - Familie?, fragte ich. Kinder? - Zwillinge. 120 - Zwillinge? Mir stockte der Atem. Du auch? Ich, wir, stotterte ich, meine Frau und ich... - Ihr auch? - Ja, wir haben auch Zwillinge. - Unsere sind gerade zwei geworden. - Unsere sind schon drei. - Schon drei?, sagte sie. Ja, wir waren etwas spät dran mit Kindern, mein Freund und ich. Dann lehnte sie sich weit zurück, als wolle sie etwas sagen, das keine Nähe verträgt, aber es kam nur ein warmherziges Lächeln. Zwillinge sind zu selten, als dass viele Zwillingseltern andere Zwillingseltern als Freunde haben könnten, mit denen sie über ihr Leben als Zwillingseltern reden können. Nun saßen wir, Constanze und ich, Beinahefreunde von früher, hier als befreundete Zwillingseltern beisammen. Die nächsten Stunden sprachen wir über nichts anderes, und wir genossen es. Zwillingseltern haben nicht sehr viele freie Abende im Jahr, und dass wir diesen Abend gemeinsam hatten, nahmen wir als großes Glück. Ich hatte mir natürlich vorgenommen, mit Constanze auch über Hausers Aufzeichnungen zu sprechen, aber dafür blieb wenig Zeit. Erst kurz bevor wir auseinandergingen, begann ich davon zu erzählen. Ich wünschte mir natürlich, sagte ich, dass auch sie diese Aufzeichnungen bald lesen werde, und dann fragte ich sie noch, ob sie es für einen Vertrauensbruch hielte, wenn ich ihr ohne Hausers Wissen eine Kopie schickte. - Was immer du tust, sagte sie, du kannst dich auf mich verlassen. Am nächsten Tag schnürte ich das Paket mit den Aufzeichnungen zusammen, und im letzten Moment legte ich noch diese kurze Notiz dazu: Letztes Gespräch mit Hauser: Die Welt wird wegen des Separatismusproblems noch den Atem anhalten. Es bleibt spannend. Dann brachte ich das Paket zur Post. 121 Scheidungsrecht für Staaten Ich hatte Hauser gedrängt, unser Gespräch über das Staatsgrenzenproblem fortzusetzen. Als wir uns wieder in seiner Wohnung trafen, meldete ich Widerspruch an. Die separatistische Gewalt werde weitergehen, habe er gesagt, aber das, sagte ich, gelte doch nicht für Europa. Hier seien die Zeiten separatistischen Terrors doch hoffentlich vorbei. Nordirland, das Baskenland und Südtirol seien längst keine Regionen des Terrors mehr, das Unabhängigkeitsstreben von Schotten und Katalanen sei von Anfang an gewaltfrei gewesen, und der Konflikt in der Ostukraine sei eingefroren. Zumindest in Westeuropa deute nichts auf einen Rückfall in separatistische Gewalt hin. Ja, bestätigte Hauser, wenigstens Westeuropa könnte vom Dritten Weltkrieg verschont bleiben. Aber dann, erwiderte ich selbstbewusst, könne man doch darauf hoffen, dass auch der Rest der Welt bald so weit sein werde. Dann tue die Politik doch genau das Richtige, wenn sie versuche, die Konflikte um die Staatszugehörigkeit erst einmal einzufrieren. Dann brauche man nur abzuwarten, bis sie ihre kriegerische Brisanz von allein verloren hätten. - Aber wie lange wird das dauern?, fragte Hauser. Für wie lange müssten solche Konflikte eingefroren werden? Hundert Jahre, zweihundert, fünfhundert, tausend? Das sei doch illusorisch. Der Weg des Friedens könne nur der offene Umgang mit solchen Konflikten sein, das volle Selbstbestimmungsrecht also über die Staatszugehörigkeit. Beinahe ebenso, erinnerte ich mich jetzt, hatte ich selbst schon einmal argumentiert, in einem Gespräch mit Freunden, und nun brachte Hauser mich wieder auf diese Gedankenspur. Ein bisschen hätte ich sogar Recht, sagte er dann, solange die bessere Lösung noch nicht auf dem Tisch liege, bleibe der Politik nicht viel anderes, als Zeit zu gewinnen. Aber diese Konflikte würden ihre Brisanz nicht von allein verlieren, auch nicht in Europa. Sie würden, im Gegenteil, immer brisanter werden, wenn das 122 Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit weiter so überheblich verwehrt werde. Den Katalanen zum Beispiel werde noch immer vorgehalten, sie seien noch nie unabhängig gewesen, sie hätten schon deswegen keinen Grund, es je zu werden, und sie dürften es ohnehin nicht, weil dies gegen die spanische Verfassung verstieße. Mit so dürftigen Argumenten lasse der Freiheitswille von Bürgern sich auf Dauer nicht unterdrücken. - Also wird es irgendwann doch auch in Europa wieder Unabhängigkeitskriege geben?, fragte ich. Vielleicht keine Kriege, antwortete Hauser, aber ganz sicher heftige Konflikte. Wer sich Freiheitsrechte erkämpfen wolle, der finde dafür letztlich die zu seiner Zeit und in seinem Land passenden Mittel. Das würden in Europa sicher andere Mittel sein als in der arabischen Welt. - Unabhängigkeitskriege ohne Waffengewalt?, fragte ich. - Vielleicht ohne Waffengewalt im herkömmlichen Sinn, sagte er. Europa könnte der Welt zeigen, wie man einigermaßen zivilisiert für die Unabhängigkeit kämpft. Das wäre dann auch das Zeichen, wie der Dritte Weltkrieg zu bändigen ist. Nur wenig anderes scheint Hauser in seinen späten Jahren so sehr beschäftigt zu haben. In seinem Alter müsse er sich allmählich auf das Wesentliche konzentrieren, sagte er am Ende unseres Gesprächs, und dabei zeigte er auf seine Bücherregale. Bei meinem ersten Besuch hatten die Bücher sich noch vor den Wänden scheinbar ungeordnet bis zur Decke gestapelt, nun war Ordnung eingekehrt. Manche Regale waren halb leer. Eine private Bibliothek sei ja wie ein Archiv, war Hausers Kommentar dazu, fast alles darin sei auf lange Sicht Ballast. Er könne den Ballast aber immer besser vom wirklich Wichtigen unterscheiden, also könne er auch immer mehr Ballast abwerfen. Seine Bücherregale würden sich nach und nach radikal leeren. Bis zum nächsten Besuch bei Hauser verging dann fast ein Jahr, aber wieder einmal war es fast, als führten wir ein Gespräch von gestern fort. Er bat mich herein und 123 zeigte mir mit stolzer Miene das einzige, halb leere Bücherregal, das noch in der Wohnung stand. - Meine Wissensschätze, sagte er mit einem hoch zufriedenen, befreiten Lächeln. Dann bückte er sich zum untersten Regalboden hinunter. - Und ich habe hier auch ein paar selbstgeschriebene Sachen… Seine Aufzeichnungen? Ich spürte, wie mein Gesicht rot anlief. Gleich passiert es, schoss es mir durch den Kopf, gleich musst du ihm offenbaren, dass du die Aufzeichnungen längst kennst, gleich musst du erklären, warum du es ihm bisher verschwiegen hast, gleich musst du beichten, dass du Constanze eine Kopie geschickt hast, gleich wirst du dich elend fühlen. Aber dann, dachte ich weiter, könnte ich ihm auch sagen, wie viel seine Aufzeichnungen mir bedeuten und dass es gut sei, mit ihm über manches, was ich darin gelesen hätte, auch geredet zu haben. Wenn das gesagt sei, würde alles andere leicht sein. Hauser griff sich vom untersten Regalboden einen kleinen Karton, öffnete ihn, holte zwei zusammengeheftete Textseiten heraus und überflog sie kurz. Ich warf einen kurzen unauffälligen Blick über seine Schulter. Nein, es waren nicht die Aufzeichnungen, nicht die aus dem Archiv. - Hier, sagte Hauser, und streckte mir die beiden Textseiten entgegen. Das ist mir vor Jahren in Sachen Unabhängigkeitsreferendum eingefallen. Kannst es zu Hause mal lesen. Ist allerdings etwas holprig geschrieben. Ich nahm mir die Seiten sofort vor, als ich zu Hause angekommen war. Leichte Lektüre war es nicht, da hatte er Recht. Hauser knüpfte darin an das schottische Unabhängigkeitsreferendum an, das nun schon fast zwanzig Jahre zurücklag. Ich gestehe, dass ich den Text mehrere Male lesen musste, um ihn halbwegs zu verstehen. Er erschien mir damals einfach zu weit ab von der Wirklichkeit. Ich gebe ihn hier trotzdem unverändert wieder: 124 Warum scheitern Unabhängigkeitsreferenden wie das in Schottland? Warum stecken andere Unabhängigkeitsbewegungen fest, auch in Europa? Der wichtigste Grund scheint mir dieser zu sein: Die Unabhängigkeitsfrage lässt sich in einem entwickelten Land nicht mehr sinnvoll in einer einzigen Ja/Nein-Frage zusammenfassen. Es geht ja darum, wer mit wem in einem gemeinsamen Staat leben will. Dies ist aber eigentlich ein Bündel von Fragen, die den Bürgern eigentlich einzeln gestellt werden müssten. Zum Beispiel so: Mit wem wollt ihr einen gemeinsamen Sozialstaat unterhalten? Mit wem gemeinsame Streitkräfte? Mit wem eine gemeinsame Währung? Mit wem ein gemeinsames Bildungssystem? Mit wem ein gemeinsames Rechtssystem? Mit wem einen gemeinsamen staatlichen Kulturbetrieb? Mit wem gemeinsame Nationalmannschaften? Mit wem ggf. eine gemeinsame repräsentative Monarchie? Mit wem ggf. eine gemeinsame Staatskirche? Mit wem wollt ihr gemeinsam welchen suprastaatlichen Organisationen angehören? Nur selten würde eine Mehrheit der Bürger auf alle diese Einzelfragen die gleiche Antwort geben. Welche dieser Fragen ließen sich dann aber in einem Unabhängigkeitsreferendum sinnvoll zusammenfassen? In den seltensten Fällen alle. Je höher der politische Entwicklungsstand, desto weniger. Wenn aber mehrere dieser Fragen getrennt gestellt werden müssen, sollte man diese dann zur gleichen Zeit stellen oder besser in größeren zeitlichen Abständen? Auch das ist eine wichtige Frage, und auch darauf hängt die Antwort von den Umständen ab. Klar ist nur: In Sachen Staatszugehörigkeit geht es nicht nur um das Wer will mit wem. Es geht auch um das Wer will was mit wem. Die Bürger können sich zum Beispiel in Sachen Währung, Verteidigung und Sozialstaat verschiedene Staatsgrenzen wünschen. Wenn sie sich irgendwann die Freiheit nehmen, hierüber selbst zu entscheiden, wird das die Welt grundlegend verändern. Die Frage der Unabhängigkeit als eine einzige Ja/Nein-Frage zu stellen wie damals in Schottland ist jedenfalls in einer hoch entwickelten politischen Kultur nicht mehr zeitgemäß. 125 Der Separatismus der Zukunft wird daher mit dem des zwanzigsten Jahrhunderts nicht mehr viel gemein haben, zumindest in Europa. Er wird übrigens auch geduldiger sein müssen. Staatsgrenzen verschiebt man nicht für eine Legislaturperiode, solche Entscheidungen haben einen viel weiteren Zeithorizont. Umso besser müssen sie vorbereitet sein. Trotzdem müssen die Bürger sich natürlich auch bei solchen Entscheidungen irren dürfen. Solche Entscheidungen müssen daher friedlich und möglichst einvernehmlich korrigierbar sein. Auch hierfür müssen plausible Regeln entwickelt werden. Das wird eine politische Daueraufgabe der Staatengemeinschaft sein. Vielleicht kann man es so zusammenfassen: In einer immer komplizierteren Welt muss auch Separatismus, muss auch die Teilung und Neuzusammensetzung von Staaten immer professioneller werden. Es müsste hierfür auch spezialisierte Politikberater geben, die bei der Trennung und Neuzusammensetzung von Staaten professionelle Hilfe leisten. Irgendwann wird es hierfür sogar ein eigenständiges Forschungs- und Lehrgebiet geben müssen. Natürlich wird auch eine hierauf spezialisierte Wissenschaft nicht unfehlbar sein und natürlich auch deren Anwendung nicht. Bei der Trennung, Neuabgrenzung und Neuzusammensetzung von Staaten werden Fehler passieren, und daher wird eine solche Wissenschaft auch eine Wissenschaft von der Wiederzusammenführung von Staaten sein müssen. So könnte sie sogar zur Königsdisziplin künftiger Politikwissenschaft werden. Hauser war sich offenbar völlig darüber im Klaren, auf wie wenig Verständnis solche Prognose zu seiner Zeit stoßen würde. Deswegen hat er noch diese kleine Verständnishilfe hinzugefügt: Dass die Teilung eines Staates nichts Verwerfliches ist, sondern etwas ganz Normales, daran werden die meisten Menschen sich schwer gewöhnen. Es ist nicht nur ein Einschnitt in der politischen Kulturgeschichte, es wäre auch ein tiefer Einschnitt in der Geschichte des Völkerrechts. Hier könnte vielleicht ein Vergleich mit der Geschichte des Ehescheidungsrechts helfen. Auch die Teilung eines Staates ist ja eine Scheidung, die Scheidung eines Staatsvolkes. 126 Es ist nicht lange her, dass Ehescheidungen noch nach Gesetz und Moral als verwerflich galten. Einer Scheidung sollte immer auch Schuld vorangegangen sein, und Schuld verdiente Strafe. Bei der Scheidung von Staatsvölkern herrscht noch immer ähnliches Denken. In großen Teilen der Welt hat sich das Bewusstsein in Sachen Ehescheidungen zum Glück gründlich gewandelt. Ehen zwischen unvollkommenen Partnern - also alle Ehen - können zerrüttet sein, ohne dass eine Schuld feststellbar wäre. Also werden Ehen aufgelöst, ohne dass nach Schuld gesucht würde. Sollte für Gemeinschaften von Staatsbürgern nicht das Gleiche gelten? Sollte nicht ein halbes Jahrhundert nach der Modernisierung des Ehescheidungsrechts endlich ein modernes Scheidungsrecht für Staatsvölker auf den Weg gebracht werden? Nichts anderes kann doch richtig sein Aber auch einem zeitgemäßen Scheidungsrecht für Staatsvölker müsste die Scheidungskultur zu einem gewissen Grad vorangehen. Nicht aus der Rechts-, sondern auch aus der Kulturgeschichte der Ehescheidung könnte daher die Staatswissenschaft etwas lernen. Auch wenn mir diese Notizen Hausers letztlich plausibel erschienen, habe ich mich damals wenig damit befasst, vielleicht auch deswegen, weil die Konsequenzen erst spätere Generationen betreffen würden. Vielleicht hätte ich mich hartnäckiger darein vertieft, wenn ich schon damals von Hausers späteren noch kühneren Gedanken zu diesem Thema gewusst hätte. Trotzdem habe ich mir in den Jahren danach oft diese Frage gestellt: Wie viel Dritter Weltkrieg wäre den Menschen durch ein solches Scheidungsrecht für Staatsvölker in der jüngeren Vergangenheit erspart geblieben? Und wie gründlich müsste die Demokratie reformiert werden, damit ein solches Recht überhaupt eine Chance bekommt? Auch das waren damals natürlich unzeitgemäße Fragen. Neues Denken in China Im ersten Jahrhundertquartal hatte es in Deutschland zwei Reformen gegeben, die deutlich aus dem Politikalltag herausragten. Zu beiden fiel die politische Entscheidung im Jahr 2011. Die eine dieser Reformen, die so genannte 127 Energiewende, war nicht viel anderes als ein Reflex auf die nukleare Reaktorkatastrophe in Fukushima. Die andere Reform dagegen war eine originäre politische Leistung, die dem damaligen Zeitgeist voraus war: die Abschaffung der Wehrpflicht. Durchgesetzt vom Verteidigungsminister Karl-Theodor zu Guttenberg. Es war die Leistung, die Guttenberg bei vielen in guter Erinnerung gehalten hatte. Guttenbergs politisches Comeback war perfekt inszeniert. Ein kluger PR- Berater hatte ihn lange genug vor einer überstürzten Rückkehr in die Politik gewarnt. Zehn Jahre Auszeit seien zu wenig, war der Rat gewesen, zwanzig Jahre seien besser. Guttenberg hielt fast 18 Jahre durch. Er hatte sich seine frische jugendliche Ausstrahlung bewahrt, seine Rhetorik war gereift, und hinzugekommen war eine Aura von Altersklugheit und Milde. Seine Berater hatten die Hauptzielgruppe für ihn klar abgesteckt: Frauen ab 30, Männer ab 40, mittlerer bis unterer Bildungstand. Sein politisches Programm: er selbst. Sein Persönlichkeitsprofil: ein fehlbarer Star, der sich zu den Fehlern seines Lebens bekennt. In dieser Rolle war er auf der politischen Bühne konkurrenzlos. Der zweite Parteitag der Deutschen Demokraten fand an Guttenbergs sechzigstem Geburtstag statt. Auch das eine perfekte Inszenierung. Die Delegierten lauschten seiner einstündigen Rede mit angehaltenem Atem. Sein Schlusswort: Wir werden dafür sorgen, dass Deutschland gegen die Deutschen Demokraten nicht mehr regiert werden kann. Dann eine Standing Ovation, die längste, hieß es, die es seit 80 Jahren bei einer Parteiveranstaltung in Deutschland gegeben habe. Die nächsten Umfragen sahen die Deutschen Demokraten als zweitstärkste Partei. Die SPD und die Grünen abgeschlagen, die Linke bei 8%, die AfD endgültig von der politischen Bühne verschwunden. Ein Jahr vorher hatte alles ganz anders ausgesehen. Die Linke und die Deutschen Demokraten hatten beide bei 5% gelegen, die Muslimisch Soziale Union bei 4%. Alle drei für die Altparteien lästige kleine Konkurrenten, alle drei als Koalitionspartner indiskutabel. Die naheliegende Lösung für die Altparteien: Das Wahlrecht ändern, aus der 5%-Hürde eine 6%-Hürde machen, um die Macht auf ein 128 Drei-Parteien-zu Kartell beschränken. Genau so geschah es. In den Medien gab es dafür neben harscher Kritik auch viel Zustimmung. Spätestens nach einem eventuellen Einzug der MSU in den Bundestag, so hieß es, könnte Deutschland auf Verhältnisse wie in der Weimarer Republik zusteuern, das Beste für das Land sei daher ein Mehrheitswahlrecht nach angelsächsischem Vorbild. Die Anhebung der 5%-Schwelle auf 6% sei immerhin eine zweitbeste Lösung. Die Antwort der Linken: Sie fühle sich nicht betroffen, ihr Wahlziel liege ohnehin weit darüber. Vor der Gesetzesänderung hatten die Altparteien mehrere verfassungsrechtliche Gutachten bestellt, die die Verfassungskonformität einer 6%-Hürde bestätigten. Die MSU reichte trotzdem Klage beim Verfassungsgericht ein. Die Medien und die anderen Parteien nahmen davon - im Nachhinein fast unerklärlich - kaum Notiz. Das war die Art von Petitessen, die den deutschen Politikbetrieb jener Zeit ausmachten, und in anderen Ländern des demokratischen Westens war es kaum anders. Dies allein war noch kein Grund, der Demokratie ihren damaligen Rang als beste unter den bestehenden Staatsformen abzusprechen. Dass dieser Rang einem Staat zukommen könnte, der noch immer als zutiefst undemokratisch galt, daran dachte niemand. Aber mindestens einen Fall lohnte es schon damals genauer anzuschauen: China. Hauser hatte es einmal einen Fehler genannt, eine chinesische Bewerberin nicht als Praktikantin für das Archiv eingestellt zu haben. Zehn Jahre später - Chinas Bedeutung in der Welt war weiter dramatisch gewachsen -, stand Tian in meinem Büro. Auch er Chinese, auch er wollte ein Praktikum machen, auch er war Historiker und obendrein Informatiker, und auch er arbeitete an seiner Dissertation. Wenn es zehn Jahre vorher ein Fehler gewesen war, einen chinesischen Bewerber abgelehnt zu haben, musste es jetzt nicht umso mehr gelten? Es war nicht so, dass der erste Eindruck von Tian mich überzeugt hätte. Außerdem hatten manche Leute im Verlag gegen Chinesen Vorbehalte. Chinesen seien potentielle Spione, so pauschal dachten immer noch einige, auch in der 129 Verlagsleitung. Bei uns im Verlag gebe es Informationen, die wir um keinen Preis in China verbreitet wissen wollten, und es könne ja sein, dass ein Bewerber aus China auf Spionage in Verlagsarchiven angesetzt sei. Sogar mir leuchtete das erst einmal ein. Aber was hätte Hauser dazu gesagt? Am Ende gab ein einziger Satz den Ausschlag. Wie lange er denn bei uns würde bleiben wollen, fragte ich Tian. - Solange Sie wollen, sagte er. In dem Moment war klar: Ich wollte ihn. Der Verlagsleitung erklärte ich, wir dürften vor einem Praktikanten doch keine Angst haben, nur weil er Chinese sei. Außerdem sei der Verlag immer mehr auf Verbindungen nach China angewiesen, auf Kontakte zu klugen Köpfen dort, zu politischen Organisationen und auch zu Verlagen, und so etwas baue man am besten ganz von unten auf, auch durch Einstellung von Leuten, die in China für uns später einmal wichtig werden könnten. Das überzeugte schließlich. Ich hatte nie vorher Chinesen näher kennengelernt, also war ich nicht frei von Vorurteilen. Chinesen, dachte ich, seien von hölzerner Höflichkeit, eher unnahbar, von, wenn überhaupt, sehr eigenem, für uns unzugänglichem Humor, Ironie sei ihnen fremd, Europäern gegenüber gäben sie sich verschlossen, und man wisse nicht recht, was davon spontan, was anerzogen und was durch Indoktrinierung zu erklären sei. Nicht viel anders gab sich dann Tian. Er arbeitete sich rasch ein. Fragen stellte er selten. Manchmal ertappte ich mich dabei, dass mich genau das misstrauisch machte. Oder, dachte ich dann, traute er sich nur nicht zu fragen? Wartete er darauf, dass erst einmal ich Interesse an ihm zeigte? War ich es also, der die Fragen stellen sollte? Als ich dann verstanden hatte, dass es so war, als ich ihn mit eigenen Fragen aus der Reserve lockte, kamen wir uns schließlich näher. Wann immer nun von der Redaktion Anfragen zu China kamen, auch zu politisch sensiblen Themen, zu chinesischen Dissidenten, regimekritischen Demonstrationen, korrupten Parteikadern, Menschenrechtsverletzungen, Gängelung 130 der Presse, Todesstrafe, rebellierenden Minderheiten oder Rüstungsausgaben, suchte ich nun das Gespräch mit Tian. Keiner dieser Fragen wich er aus. Natürlich wollte ich genauer wissen, was für einer dieser Tian war. Ein Dissident, dessen war ich sicher, konnte er nicht sein. Ein chinesischer Regimekritiker im Archiv einer bekannten deutschen Zeitschrift - so etwas wusste das chinesische Regime immer noch zu verhindern. Aber was für einer war er dann? Ein dem Regime blind Ergebener? Dafür war er zu klug. Ein Parteimitglied? Ihn danach zu fragen erschien mir zu indiskret. Ein unpolitischer Geist? Unwahrscheinlich bei einem Historiker. In dieser Zeit erschien im SPIEGEL ein Kurzbericht unseres China-Korrespondenten mit dem Titel: Wieder Demonstrationen in Hongkong. Viele chinesische Dissidenten unter Hausarrest. Am Morgen des Erscheinungstags platzierte ich diesen Artikel auffällig auf meinem Schreibtisch, dann rief ich Tian zu mir. - Hier, sagte ich, als er vor mir saß, und drehte den Artikel zu ihm hin. Neues aus Hongkong. Du hast es sicher verfolgt. Ja, sagte er nur. Sein Blick streifte den Artikel flüchtig, dann sah er für einen Moment verlegen zu Boden, hob den Kopf und sah mich mit festem Blick an, nun ganz ohne Verlegenheit. - Eure Staatspartei greift gegen Dissidenten ziemlich hart durch. - Die Polizei tut es, sagte er, nicht die Partei. Natürlich eine Ausflucht, dachte ich. Wie einstudiert. - Gibt die Partei nicht vor, wie die Polizei mit Dissidenten umgeht? Und wie euer Geheimdienst mit ihnen umgeht? Ich erschrak. Hatte ich ihn damit provoziert? Hatte ich zu viel riskiert? War die Chance auf ein offenes Gespräch über eine heikle Frage schon vertan? Tian deute nur ein Kopfschütteln an. 131 - Darüber weiß ich nicht so gut Bescheid. Seine Stimme klang ganz und gar gelassen, ganz und gar aufrichtig. War also all meine Vorsicht grundlos gewesen? Würde ich mit Tian doch ganz normal reden, vielleicht sogar streiten können, fast wie mit Kollegen aus westlichen Ländern? - Du weißt aber doch Bescheid über die Aufgabe eures Geheimdiensts. Er überwacht im Auftrag der Partei die Gesellschaft. Er will genau wissen, wer wo regimekritisch denkt und redet. Dafür muss er die Augen und Ohren fast überall haben. Muss nicht jeder in China damit rechnen, dass Geheimdienstler ihn beobachten? Tian nahm sich mit der Antwort viel Zeit. Dann sagte er ganz ruhig: - Ja, unser Geheimdienst arbeitet noch viel mit alten Methoden. Viele seiner Mitarbeiter können nicht anders. Aber er stellt sich sehr rasch um. - Auf die digitale Überwachung? - Ja. Amerika ist uns dabei allerdings noch immer weit voraus. Bei uns kommunizieren noch nicht alle Bürger elektronisch. Aber das ist natürlich das Ziel. - Um die ganze Bevölkerung elektronisch überwachen zu können? - Amerika ist darin für uns Vorbild. Ich wich seinem Blick aus. Wo hatte er das gelernt? Wo hatte er gelernt, verfängliche Fragen so routiniert zu parieren, wie ein in Talkshows gestählter, von Rhetoriktrainern geschliffener westlicher Politiker? Was für einer war er also? Doch ein Agent? Musste ich andere vor ihm warnen? Nein, sagte ich mir, sei nicht hysterisch, eine routinierte Antwort begründet noch keinen Verdacht. Aber was hatte er gemeint, als er "wir" und "uns" sagte, von "unserem" Vorbild Amerika sprach. Wir, war das China oder war es womöglich doch der Geheimdienst? Oder die Partei? Unsere Blicke trafen sich wieder. - Ja, sagte er, vorerst ist es so. 132 Vorerst. Vorerst eifert China in der digitalen Überwachung Amerika nach. Und dann? Wird China Amerika darin überholen? Wird es einen totalen elektronischen Überwachungsstaat schaffen? - Aber die Entwicklung wird natürlich weitergehen, sagte er dann. Ich nickte. Was hätte ich erwidern können? Natürlich wird die Entwicklung weitergehen, gerade in China. Wohin?, hätte ich noch fragen können, aber er hätte natürlich - so gut kannte ich ihn inzwischen -, geantwortet, dass auch er das nicht wisse. Am nächsten Morgen bat ich ihn wieder in mein Büro. Dass Chinas Geheimdienst nur dem Vorbild Amerika folge, das wollte ich nicht widerspruchslos hinnehmen. Es könne ja sein, sagte ich, dass chinesische und amerikanische Geheimdienste mit immer ähnlicheren Methoden arbeiten, aber in einem Einparteienregime spiele ein Geheimdienst doch eine ganz andere Rolle. In der Demokratie diene der Geheimdienst der Aufklärung, im Einparteiensystem, also in China, diene er der Unterdrückung. Ich biss mir auf die Zunge. Du provozierst ihn nicht, hatte ich mir vorgenommen, aber nun war es heraus. War er gekränkt? War er enttäuscht, beleidigt, zornig? Die Fassung würde er nicht verlieren, das war mir klar. Aber das Vertrauen? - Vielleicht hast du zum Teil Recht, begann er,… Hatte ich mich verhört? Ich hätte Recht, dass in China Unterdrückung herrscht? Nein, Dissident ist er nicht, dessen war ich nun sicher. Was aber dann? …aber Unterdrückung würde ich es nicht nennen. - Sondern? - Stabilisierung. China ist noch nicht ganz so stabil wie einige Demokratien im Westen. - Aber hat China solche Methoden der Stabilisierung wirklich nötig? 133 - Stell dir vor, sagte er, was passieren würde, wenn es das, was du Unterdrückung nennst, in China ab sofort nicht mehr gäbe. Bliebe es in China dann friedlich? Gäbe es dann sofort eine Demokratie, wie ihr sie habt? Würden die Chinesen das überhaupt wollen? - Da hoffe ich doch, sagte ich. - Es gibt viele Staaten, die ihre politischen Stabilisierungsmaßnahmen zu früh aufgegeben haben. Die zu früh versucht haben, im westlichen Sinn demokratisch zu werden. Mit furchtbaren Folgen. - Du glaubst also, dass eure so genannte Stabilisierung etwas Gutes ist? Auch all das, was euer Geheimdienst tut? - Im Prinzip ist es so. - Und wie lange soll es noch so weitergehen? - Nicht für immer. Das wissen die meisten inzwischen, auch in der Partei. Nicht für immer, das war mir wieder zu schwammig und zu routiniert. Aber jetzt war mir wenigstens klar, dass ich ihn nicht schonen musste, dass ich ihm auch Widerspruch und Streit zumuten konnte. - Vielleicht vierzig Jahre?, fragte ich. Ist China in vierzig Jahren darüber hinweg? - Kein Land der Welt hat sich in den letzten vierzig Jahren so stark entwickelt und verändert wie China. Das wird auch in nächsten vierzig Jahren so sein. Wieder so eine glatte Antwort. Ich setzte nach: - Ist China in vierzig Jahren eine westliche Demokratie? - Das kommt darauf an, was in vierzig Jahren aus der westlichen Demokratie geworden ist. Dabei reckte er den Hals, neigte den Kopf etwas nach hinten und sah mich leicht von oben herab an. Dann sagte er: 134 - Macht das Beste aus eurer Demokratie. Dann wird man sehen. So ging unser erster ernster Dialog aus. So saß er vor mir, Tian, sechs Jahre jünger als ich, und er argumentierte müheloser und schlagfertiger als ich, so mühelos wie routinierte westliche Politiker. Aber war es wirklich nur bessere Rhetorik? Oder hatte er womöglich auch die besseren Argumente? Gab es eine chinesische Dialektik, die dem westlichen Denken überlegen war? Tian machte sich über die Schattenseiten des chinesischen Regimes keine Illusionen, er beschönigte nichts, und doch sah er China ganz anders als wir. Natürlich war auch ich überzeugt, dass China endlich westlicher werden müsse, natürlich drängte ich ihm dies immer wieder auf, aber beeindruckt hat es ihn nie. Er gab mir dabei immer das Gefühl, dass ich meiner Sache viel zu sicher sei. Auch an einen anderen kurzen Wortwechsel hierüber erinnere ich mich noch gut. Ich sagte, in China müsse, das sehe er doch sicher auch so, die Zeit bald reif sein für den Übergang zu einem Mehrparteiensystem. - Das ist nicht unsere Lösung, sagte er. - Du meinst, es ist noch nicht eure Lösung? - So weit will ich nicht vorausdenken. So weit voraus kann niemand denken. Wieder so ein argumentativer K.o. Was hätte ich darauf erwidern können? Ich hatte eine ausweichende Antwort erwartet oder eine dogmatische, und dann entwaffnete er mich mit Bescheidenheit. So weit könne er nicht vorausdenken, so weit könne niemand vorausdenken, auch ich nicht, also müsse auch ich bescheidener sein, müsse zugeben, dass auch ich für Chinas langfristige Zukunft nicht die Lösung kenne. So, mit nur einem Satz, hatte er die Rollen zurechtgerückt: Er war der bescheidene, ich der allzu selbstsichere, der westlich-überhebliche Dialogpartner, der sich menschenunmögliches Wissen anmaßte. Wie weitsichtig Tian in politischen Dingen dachte, ging mir trotzdem erst sehr viel später auf. Enge Freunde wurden wir in dieser Zeit, in dem einen Jahr, das er im 135 Archiv verbrachte, noch nicht. Nie wären wir auf die Idee gekommen, wir sollten einmal private Zeit miteinander verbringen. Aber am Ende wussten wir beide, ohne dass es hätte gesagt werden müssen, dass wir einander nicht verlieren wollten. Kurz bevor Tians Zeit im Archiv zu Ende ging, erschien im SPIEGEL ein Essay unseres China-Korrespondenten über Chinas politische Entwicklungsperspektiven. Fast nichts von diesem Essay hätte vor Tians Argumenten Bestand gehabt. Wie aber wäre ein solcher Essay, fragte ich mich damals, von jemandem geschrieben worden, der sich mit Tian ernsthaft auseinandergesetzt hätte? Um mir das zu beantworten, habe ich damals einen solchen anderen Essay selbst entworfen, den ich Archivarseele, die ich noch immer bin - bis heute aufbewahrt habe. Ich war überrascht, wie wenig ich daran ändern musste, um ihn an dieser Stelle einfügen zu können. Etwas stimmt nicht im westlichen Denken über China. Auf den ersten Blick ist das Interesse an der politischen Entwicklung Chinas groß, und trotzdem sind die Kommentare zu China im Westen erstaunlich gleichförmig. Dafür kann es nur eine Erklärung geben: Es fehlt am Vorstellungsvermögen für Chinas Besonderheiten. Der Westen hat jahrzehntelang Chinas rasante Wirtschaftsentwicklung ungläubig bestaunt. Als dann klar wurde, dass dies kein Strohfeuer war, gegen Ende des 20. Jahrhunderts, wurde der Westen mit Chinas politischer Entwicklung immer ungeduldiger. Nach dem Kollaps fast aller anderen kommunistischen Regime sollte das chinesische nun bald folgen. China mit seiner Einparteienherrschaft und mit seiner großenteils immer noch staatlich gelenkten Wirtschaft sei doch, so die im Westen herrschende Meinung, ein offensichtlicher Anachronismus, die Überlebensjahre des Regimes müssten also gezählt sein. Jede noch so kleine Protestkundgebung und jede öffentliche Aktion von Dissidenten schien dies zu untermauern. 136 Anfang des Jahrhunderts, In den zehner Jahren und zu Anfang der zwanziger, schien die Ungeduld mit China sich beinahe erschöpft zu haben, aber sie kehrte zurück. Wie konnte es denn sein, fragte man sich nun wieder, dass die demnächst größte Volkswirtschaft und bald auch größte Militärmacht der Welt noch immer nicht den Verlockungen der westlichen Demokratie nachgab. Wie konnte es sein, dass das bevölkerungsreichste Land der Welt trotz seines enorm gewachsenen Wohlstands noch immer an seiner rückständigen Staatsordnung festhielt – der große weiße Fleck auf der Weltkarte der Demokratie. Natürlich gab es dafür Erklärungsversuche. China hatte mit seinen Reformen ein Wirtschaftswachstum entfacht, das in der Welt Seinesgleichen suchte. Die große Mehrheit der Chinesen war damit erst einmal zufriedengestellt. Nur ganz wenige Chinesen stellten sich überhaupt die Frage, ob es ihnen in einer Demokratie nach westlichem Muster besser ginge, und noch viel weniger antworteten darauf mit Ja. Die meisten Chinesen schienen ihr politisches System also der westlichen Demokratie vorzuziehen. Dagegen wünschte sich in demokratisch regierten Ländern niemand ein politisches System wie das chinesische. Wie war dieser Widerspruch zu erklären? Lag es einfach daran, dass die meisten Chinesen über die westliche Demokratie zu wenig wussten? So wollte man es im Westen natürlich gern sehen. Dass es so einfach nicht war, davon zeugte schon Chinas verblüffende Wirtschaftsentwicklung. Einige westliche Ökonomen sind überzeugt, dass Chinas Regime jahrzehntelang eine bessere Wirtschaftspolitik gemacht hatte, als demokratische Regierungen es seiner Stelle vermutlich getan hätten. Was, wenn diese Ökonomen Recht haben? Wäre das für Chinesen nicht schon Grund genug, ihr politisches System für das bessere zu halten? Ihr Einparteiensystem für besser als das westliche Mehrparteiensystem? Es ist wohl Zeit, sich im Westen ernsthaft diese Frage zu stellen: Wie viel schlechter ist ein Einparteiensystem als ein Zwei-, Drei- oder Vielparteiensystem? Die richtige 137 Antwort könnte eine böse Überraschung sein. Der Unterschied zwischen einem Einparteiensystem und einem Mehrparteiensystem ist nämlich geringer, als wir denken, und welches System das bessere ist, das kommt auf die Umstände an. Könnte es sogar sein, dass für das China unserer Zeit das Einparteiensystem tatsächlich das bessere ist? Und womöglich nicht nur für China? Die großen Nachteile von Einparteiensystemen liegen auf der Hand: Mangel an Wahlmöglichkeiten für die Bürger, Mangel an politischem Wettbewerb, Privilegierung von Parteimitgliedern und Diskriminierung von Parteikritikern, allenfalls formale Unabhängigkeit der Justiz. Aber um wie viel besser ist all dies im Mehrparteiensystem? Die Antwort ist ganz einfach: Der Unterschied zwischen Ein- und Mehrparteiensystem ist natürlich umso geringer, je ähnlicher im Mehrparteiensystem die konkurrierenden Parteien sind. Wer aber wollte noch bestreiten, dass in westlichen Demokratien die Parteien - zumindest die wählbaren einander immer ähnlicher geworden sind, von der politischen Rhetorik einmal abgesehen? Und dass sich daher im Mehrparteiensystem die praktische Politik durch Wahlen nur noch geringfügig ändern lässt? Sicher, auch davon gibt es Ausnahmen, aber im Regelfall ist es so. Was ändert sich im Leben von Amerikanern, wenn die politische Mehrheit von den Demokraten auf die Republikaner übergeht und umgekehrt? Was hängt für Deutsche davon ab, ob Christ- oder Sozialdemokraten oder Grüne die meisten Stimmen bekommen? Was ändert sich für Briten, wenn Tories und Labour einander ablösen? Die allseits bekannte Antwort ist: wenig. Dementsprechend wenig wäre daher für die Bürger Chinas mit dem Übergang auf ein Mehrparteiensystem noch gewonnen. Das mag so erscheinen, wird man im Westen einwenden, aber verglichen mit der chinesischen Einheitspartei ist das westliche Parteienwesen noch immer ein Hort der Vielfalt und der Wahlfreiheit. Aber wie ist dann zu erklären, dass China sich seit der 138 Mao-Ära so grundlegend gewandelt hat, und zwar auch im politischen Denken? Ich solle, sagte mir Anfang der dreißiger Jahre ein kluger Chinese, ein Parteimitglied wohlgemerkt, doch einmal den politischen Wandel Chinas in dieser Zeit mit dem Wandel der westlichen Demokratien vergleichen. Die westlichen Demokratien hätten sich in dieser Zeit kaum verändert. China dagegen habe sich enorm gewandelt, und bei diesem Entwicklungstempo werde es den Westen bald auch politisch überholen, wirtschaftlich und militärisch ja sowieso. Dann stellte er einen nüchternen Vergleich an: Am Ende des ersten Jahrhundertquartals habe China sich in seiner politischen Zivilisierung noch mit demokratischen Ländern wie Thailand verglichen, und solchen Ländern habe es sich damals schon überlegen gefühlt. Inzwischen seien die Ziele aber viel höher gesteckt. Mittlerweile sehe man sich in der politischen Kultur mit dem Westen auf Augenhöhe. Es ist höchste Zeit, sich im Westen hiermit ernsthaft auseinanderzusetzen. Zumindest ist es Zeit für die Frage, ob China sich in unserem Jahrhundert mit einem Mehrparteiensystem wirklich besser entwickelt hätte als mit seinem Einparteiensystem. Das Ja auf diese Frage bleibt einem doch im Halse stecken. Und könnte es sogar sein, dass ein Einparteien- gegenüber einem Mehrparteiensystem nicht nur für China Vorteile hat? Einen zumindest hat es, und der wiegt schwer: Das Einparteiensystem ist professioneller. Wo es nur eine Partei gibt, können politische Kader und Amts- und Mandatsträger sich langfristiger, ungestörter und damit wirksamer professionalisieren und spezialisieren. Das politische Personal ist dadurch zumindest tendenziell erfahrener, höher spezialisiert und damit fachlich kompetenter als in Demokratien. Diesen systemischen Vorteil haben Einparteienregimes früher kaum genutzt, aber das chinesische tut es. Es hat viel konsequenter als andere Regimes darauf reagiert, dass erfolgreiche Politik immer mehr Professionalisierung und Spezialisierung erfordert. Konsequenter, als westliche Demokratien es könnten. 139 Könnte also das Einparteiensystem für das heutige China tatsächlich die denkbar beste Staatsform sein? Wäre ein Übergang zum westlichen Demokratiemodell für China womöglich doch ein Rückschritt? Das scheint in China weiter die herrschende Meinung zu bleiben. Je mehr man sich in diese Frage vertieft, desto mehr Verständnis hat man dafür. So weit mein kurzer Text aus den frühen dreißiger Jahren. Damit war natürlich nicht gemeint, die westlichen Demokratien sollten sich irgendwann in Richtung des chinesischen Systems reformieren. Das lag mir damals völlig fern. Aber ob die Überlegenheit der westlichen Demokratie womöglich nur noch hauchdünn war, viel geringer jedenfalls, als man es sich im Westen eingestand, das war schon damals eine berechtigte Frage. Zu diesem Text hatte ich später einen kurzen Nachtrag verfasst, der aus heutiger Sicht fast Selbstverständliches beschreibt: dass wir uns von unserer Demokratie kein treffendes Bild machen konnten, solange wir uns ein falsches Bild von China machten. Die politischen Vordenker Chinas dachten in politischen Systemfragen viel pragmatischer, als man im Westen annahm. Sie stellen sich praktische Fragen wie diese: Welchen Entwicklungsländern ist es mit demokratischen Mehrparteiensystemen besser gegangen als uns? Indien etwa? Pakistan? Ägypten? Hatten nicht, als sie wirtschaftlich auf unserem heutigen Entwicklungsstand waren, Japan und Südkorea de facto auch Einparteiensysteme? Und sind die Japaner heute mit ihrem Mehrparteiensystem wirklich zufrieden? Ginge es uns Chinesen wirklich besser, wenn unsere politischen Kader von Politikern westlicher Art abgelöst würden? Die klügsten Köpfe Chinas scheinen darauf mit einem klaren Nein geantwortet zu haben. Der Westen denkt natürlich anders. Er bleibt dabei, dass der politische Systemwechsel Chinas überfällig sei. Man sollte Chinas Einparteienregime aber nicht 140 auf eine Stufe mit den Autokratien dieser Welt stellen. Es ist keine Militärdiktatur, es ist kein populistisches Regime, und es ist nicht die Herrschaft einer Gesellschaftsschicht, einer Ethnie, einer Religion, einer Konfession oder einer Ideologie. Chinas Staatspartei hat sich vielmehr zu einer fast unideologischen Staatsmanagementorganisation gewandelt. Trotzdem ist sie immer noch eine Massenorganisation, also in der Bevölkerung verwurzelt. Damit ist das chinesische Einparteiensystem ein historischer Sonderfall. Man könnte es sogar einen Glücksfall nennen. Es muss zu seinem Überleben viel weniger an niedere Instinkte der Bürger appellieren als populistische Autokraten, vielleicht sogar weniger als demokratische Parteien und Politiker. Wäre es ein Glück gewesen, wenn China den Übergang zu einer herkömmlichen Demokratie versucht hätte? Dagegen spricht schon, dass Teile Chinas dann Schauplätze des schleichenden Dritten Weltkriegs hätten werden können. Natürlich ist auch das chinesische Einparteienregime kein System für die Ewigkeit, so wenig wie die westliche Mehrparteiendemokratie. Irgendwann werden Chinas Bürger sensibler für dessen Schwächen werden. Es strahlt technokratische Kälte aus, und es bietet dabei nicht einmal den bescheidenen Unterhaltungswert demokratischer Wahlen und Mehrheitswechsel. Früher oder später werden die Bürger sich daher fragen, zu was dieses System denn diene außer wirtschaftlichem Wachstum, und sie werden darauf keine Antwort bekommen. Noch lässt sich dies - ich nenne es ein Sinndefizit - aber durch gutes technokratisches Staatmanagement kompensieren. Noch schafft auch die Aussicht, bald Bürger einer weltweit führenden militärischen Supermacht zu sein und zum Wohlstand Japans und Westeuropas aufzuschließen, Regimetreue. Schon um diese Aussicht nicht zu gefährden, würden die allermeisten Chinesen das Risiko eines Systemwechsels scheuen. 141 Dem Westen macht der Aufstieg Chinas natürlich immer noch Angst. Die NATOStaaten fürchten, China werde mit seiner militärischen Übermacht noch weniger zivilisiert umgehen, als sie selbst es bisher getan haben. Aber auch das ist altes Denken. Nicht nur militärisch, auch in der politischen Zivilisierung dürfte vom Vorsprung des Westens gegenüber China nicht mehr viel übrig sein. Dieser Text ist nun fast vierzig Jahre alt, und ich muss mir selbst das Kompliment machen, dass er noch immer nicht verstaubt klingt. Hauser hatte mir einmal gesagt, eine halbwegs wahrhaftige Geschichte unseres Jahrhunderts ließe sich nicht aus SPIEGEL-Artikeln zusammensetzen, eine wahrhaftigere Geschichte würde die Geschichte der Artikel sein, die sich niemand zu schreiben oder zu veröffentlichen getraut hat. Als ich ihm später einmal diesen Text über China zu lesen gab, meinte er, so ähnlich stelle er sich solche Artikel vor. Ich nahm es als ein höfliches Kompliment. Diesen Text habe ich damals - nach langem Zögern - auch Tian gemailt. Als Antwort schickte er eine winzige Computeranimation: ein kopfnickendes Strichmännchen. Eine Jahrhundertpartei? Würden die veröffentlichten SPIEGEL-Artikel für die spätere Geschichtsschreibung wirklich so wenig wert sein, wie Hauser es unterstellte? Überzeugt war ich davon noch nicht. Bei einem unserer immer seltener werdenden Treffen hakte ich nach. Der SPIEGEL mache doch Qualitätsjournalismus, wandte ich ein, und selbst wenn der SPIEGEL für die spätere Jahrhundertgeschichtsschreibung keine unentbehrliche Quelle sei, dann aber doch der deutsche Qualitätsjournalismus als ganzer. Nein, beharrte Hauser, er sei nicht einmal sicher, ob es in diesen Zeiten überhaupt wirklichen Qualitätsjournalismus gebe. Qualitätsjournalismus gedeihe am besten dort, wo es Qualitätspolitik gebe, und eine solche könne er nicht erkennen. 142 - Wieso das?, fragte ich. Gerade wenn die Politik versage, sei doch Qualitätsjournalismus gefragt, und zu mancher Sternstunde des Journalismus sei es ja gerade in der Auseinandersetzung mit schlechter Politik gekommen. Hauser nickte kurz. - Aber gerade das ist ja das Elend unserer Zeit, sagte er dann, dass die demokratische Politik dafür in Deutschland noch nicht schlecht genug ist. Sie erzeugt Lethargie, sie erzeugt Gleichgültigkeit, sie erzeugt Langeweile, aber sie ist immer noch nicht schlecht genug für kreative Empörung. Ich hätte den Gedanken so nicht formuliert, aber ich dachte sofort, dass Hauser wieder einmal Recht hatte. Wenn nicht schon lange vorher, dann traf dieser Gedanke zumindest jetzt den Nerv der Zeit, der zweiten Hälfte der dreißiger Jahre. Die Welt war weiter in Unordnung, der gesamte Nahe Osten immer noch ein Pulverfass mit umstrittenen Staatsgrenzen, die Populisten in Europa und Amerika weiter auf dem Vormarsch, ein Land wie Nigeria existierte nur noch auf dem Papier, Somalia, Libyen und andere afrikanische Länder waren noch immer gesetzlose Regionen, in Indien kam es in immer kürzeren Abständen zu gewaltsamem Aufruhr, China unterdrückte wieder aufflammenden Separatismus mit alter Härte, um die Ostukraine wurde so heftig gestritten wie je, Kosovo und Bosnien-Herzegowina waren de facto noch immer Protektorate, in den Pariser Immigrantenvorstädten brach in immer kürzeren Abständen Gewalt aus, der Kulturkampf in Amerika zwischen Liberalen und Ultrakonservativen wurde immer unversöhnlicher, Immigranten wurden in Amerika und anderen westlichen Staaten offener denn je angefeindet, die Europäische Union drohte wieder einmal auseinanderzubrechen, die separatistischen Bewegungen in Schottland, Katalonien und in osteuropäischen Ländern wurden immer stärker, die Beteiligung an demokratischen Wahlen erreichte ein neues Allzeittief, und in fast allen wohlhabenden Ländern hatte sich die Ungleichheit der Einkommens- und Vermögensverteilung weiter zugespitzt. Trotzdem fehlte es an, wie Hauser es nannte, kreativer Empörung, gerade in Deutschland. 143 Auch die sich seit Ende zwanziger Jahre in Deutschland und Europa ausbreitende Altersarmut änderte daran vorerst nichts. Nach sechzig Jahren verfehlter Familienund Bevölkerungspolitik war das Renteneintrittsalter auf 70 Jahre angehoben worden, die durchschnittliche gesetzliche Rente lag weit unter 40% des vorherigen Nettolohns, und immer mehr Rentner waren auf staatliche Grundsicherung angewiesen. Auch der Anteil der Erwerbstätigen, die von ihrem Arbeitseinkommen nicht leben konnten, war weiter stark gewachsen. Zugleich hatte, so schien es, die Steuer- und Abgabenbelastung der Erwerbstätigen das politisch durchsetzbare Höchstmaß erreicht, Armut ließ sich also durch mehr Umverteilung nicht weiter lindern. Deutschland und Staaten in vergleichbarer Lage waren dadurch ökonomisch erheblich geschwächt, damit ging auch ihr politischer Einfluss weiter zurück, und auch innenpolitisch war ihre Lage instabiler geworden. Politischer Sprengstoff wurde daraus aber noch nicht. Die Gewichte der politischen Parteien hatten sich massiv verschoben, aber ansonsten herrschte eine angesichts der Umstände schwer erklärliche Stabilität. Guttenbergs Deutsche Demokraten erreichten bei Wahlen stabile 20%, die Christdemokraten regierten abwechselnd mit der SPD und den Grünen als Koalitionspartnern, die Wahlbeteiligung hatte sich bei zunächst 55% stabilisiert. Missfelders politische Karriere steuerte in dieser Zeit unaufhaltsam auf höchste Ämter zu. Ernsthafte Konkurrenten, die ihm seinen Führungsanspruch bei den Christdemokraten hätten streitig machen können, gab es in seiner Generation nicht. Der alte Guttenberg und der junge Mesäcker waren die dominierenden Figuren der deutschen Parteienlandschaft. Ihre politischen Differenzen waren alles andere als unüberbrückbar, aber ihre Wähler, das wussten beide, hätten ihnen eine Zusammenarbeit nicht verziehen. Guttenberg hatte sich mit seiner Altersrolle als Star der politischen Opposition abgefunden. Dann kam, was in den Medien als eines der wichtigsten Urteile der letzten Jahrzehnte kommentiert wurde, aber damit in seiner politischen Bedeutung nicht annähernd erfasst war: Die Entscheidung des Verfassungsgerichts zum Wahlrecht. 144 Die Verfassungsrichter folgten dem Antrag der Muslimisch Sozialen Union auf ganzer Linie. Nicht nur die 6%-Schwelle für Bundes- und Landtagswahlen wurde für verfassungswidrig erklärt. Wie das Verfassungsgericht schon 2014 Klein- und Kleinstparteien den Zugang zum Europaparlament geöffnet hatte, so tat es das Gleiche nun für den Bundestag. In Deutschland, so die Begründung, gebe es mittlerweile auch kleine gesellschaftliche Gruppen mit fundamental eigenständigen Interessen, die aus der parlamentarischen Willensbildung nicht ferngehalten werden dürften, und die deutschen Muslime gehörten dazu. Die großen politischen Parteien waren vom Urteil natürlich tief getroffen. Die Unionsparteien und die SPD kündigten an, sie würden die Kandidaten für das Verfassungsrichteramt in Zukunft viel kritischer überprüfen. Offenen Protest gegen das Urteil wagten die Parteien aber nicht. Auch in den Medien wurde das Urteil eher neutral aufgenommen. Allein der SPIEGEL polemisierte: Verfassungsgericht legt die Axt an die deutsche Demokratie. Hausers Kommentar dazu: Ja, aber es hat die Axt an einen morschen Baum angelegt. Bei der anschließenden Bundestagswahl 2037 stieg die Wahlbeteiligung auf mittlerweile fast sensationelle 59%. Die MSU kam auf Anhieb auf 4,9%, größtenteils zulasten der SPD. Die einzige Regierungskoalition, die sich danach ohne Bruch von Wahlversprechen noch bilden ließ, war die Koalition aus CDU und Grünen. Die ganz und gar unscheinbare Nachricht, die kurz nach dem Wahlrechtsurteil des Verfassungsgerichts in einigen deutschen Zeitungen zu lesen war, hätte ich übersehen, wenn Hauser mich nicht bei unserem nächsten Treffen darauf aufmerksam gemacht hätte: Die Gründung der Neokraten. Genau genommen waren Die Neokraten nicht einmal eine Partei. Genau genommen waren sie ein politischer Verein, dessen Name an eine Partei denken ließ. Auch Hauser sprach die Gründung der Neokraten nur beiläufig an. Schau hier, sagte er und reichte mir den Vierzeiler der Süddeutschen Zeitung herüber, das könnte 145 interessant werden. Und nach einer kurzen Denkpause: Manchmal verbergen die wichtigsten politischen Ereignisse sich in einem Vierzeiler. Ich wartete, ob noch eine Erklärung folgen würde, aber er faltete das Blatt nur wortlos zusammen. Ich fragte - für mich noch heute unerklärlich - nicht nach. Später sollte Hauser die Gründung der Neokraten als das wichtigste politische Ereignis der ersten Jahrhunderthälfte bezeichnen. Das digitale Hiroshima Auch wenn Hauser Separatismus für vollständig legitim hielt, fragte er sich doch manchmal, ob in ihm nicht auch das Böse schlummere. Auch ein Hauser konnte sich eben in Widersprüche verwickeln. Dass das Böse sich weniger im Separatismus Bahn bricht als gerade im Kampf gegen denselben, diese Einsicht verdankte ich keinem anderen als Hauser, und es gab nichts, das sie widerlegt hätte. Natürlich ziehen separatistische Bewegungen oft auch gewaltbereite Kräfte an, aber wie die Geschichte des Separatismus immer wieder zeigt, ist die Gewaltbereitschaft auf der Gegenseite keineswegs geringer. Das Böse lauert eben überall, auch in der politischen Normalität, von der der Separatismus ein Teil ist. Vielleicht hatte Hausers Sorge um das Böse im Separatismus aber noch einen ganz anderen Grund. Er wusste, dass Staaten für neue Arten von Gewalt und Zerstörung anfällig geworden waren, auch durch Separatisten. Zuerst wusste ich damit noch wenig anzufangen. Die neue Verwundbarkeit von Staaten hatte für Hauser mit den Anschlägen auf das World Trade Center im September 2001 begonnen. Nie vorher, so sah auch er es, hatten so wenige Menschen mit so geringen Mitteln so viel Angst schüren und Staaten so verunsichern können. Hauser meinte, dass auch Separatisten sich früher oder später der jeweils neuesten Formen von Terror bedienen würden und dass der Welt daher eine lange Ära immer neuer Terrorängste bevorstehe. Dann erinnerte ich 146 ihn daran, dass die Aufgabe künftiger Politik ja sein müsse, den Separatisten das Motiv für Terror und Erpressung zu nehmen. Dass unsere alten Vorstellungen von der Verwundbarkeit von Staaten zumindest ergänzungsbedürftig waren, war eigentlich schon zu Beginn des Jahrhunderts klar. Schon damals war absehbar, dass man für Anschläge wie den auf das World Trade Center bald kein Flugzeug mehr würde entführen müssen, dass dafür demnächst bewaffnete Drohnen genügen würden und dass bald auch kleine Terrororganisationen sich solche neuen Waffen würden beschaffen können. Geheimdienste - Belege dafür fand ich später auch im Archiv - hatten aber natürlich schon viel weiter gedacht. Mit neuen Verwundbarkeiten hatte ich es bald auch selbst zu tun. Dass auch unser Archiv verwundbar, dass es vor digitaler Ausspähung nicht vollkommen sicher sein konnte und nicht einmal vor Zerstörung von Daten und Programmen, das wussten wir natürlich, aber die Gefahr erschien uns noch immer ziemlich abstrakt. Vielleicht hätte ich es als guter Archivleiter besser wissen müssen, vielleicht hätte ein anderer an meiner Stelle, vielleicht eine wie Constanze, es besser durchschaut. Ich hatte aber nicht die geringste Ahnung, was gegen solche Verwundbarkeit zu tun sei, und unsere IT-Spezialisten glaubten offenbar, alles im Griff zu haben. Niemand warnte mich, niemand mahnte mich, also tat ich nichts. Dann kam der große Hacker-Angriff. Warum ausgerechnet auf unser Archiv? Natürlich archivierten wir politisch Brisantes und Kompromittierendes, vieles also, womit Staaten, Organisationen, Parteien, Unternehmen, Politiker und Prominente verwundbar waren. Also gab es viele, die solche Daten am liebsten aus der Welt hätten, aber eben auch manche, die sie ans Licht der Öffentlichkeit bringen wollten. Wer davon hinter dem Angriff auf unser Archiv stand, wissen wir bis heute nicht. Wir meinen aber zu wissen, dass der Angriff von einer kleinen Zahl hoch begabter Hacker ausgeführt wurde. Sie müssen potente Geldgeber gehabt haben, aber die eigentlichen Täter waren offenbar ganz wenige. 147 Wir hatten Glück. Hätten die Täter nicht einen kleinen vermeidbaren Fehler gemacht, hätten sie die Daten unseres Archivs vor aller Welt ausbreiten können. Es wäre ein Fiasko für den Verlag gewesen, eine Bloßstellung zahlloser Persönlichkeiten und vieler noch angesehener Institutionen. Natürlich wollte der Verlag den Vorfall um jeden Preis geheim halten, aber es war ein Wettlauf mit der Zeit. Wir verloren ihn. Nach einer Woche wusste die ganze Welt: Das SPIEGEL-Archiv ist ausspähbar. Was konnten wir tun? Keiner hatte eine Strategie, wir vom Archiv nicht, die Redaktion nicht, die Verlagsleitung, der ganze Verlag nicht. Sitzungen Tag und Nacht, Vorwürfe, Gegenvorwürfe, Vorschläge, Gegenvorschläge, einer dilettantischer als der andere, dann nur noch Erschöpfung. Würde das Vertrauen in uns dahin sein? Würde niemand uns mehr geben wollen, was unser Blatt erst lesenswert machte: vertrauliche Informationen? War das der Untergang? Eine Zeitlang geschah gar nichts. Dann brach eine Lawine von Datenlöschanträgen über das Archiv herein, von überallher, von Regierungen, Parteien, Verbänden, Unternehmen, von Agenten prominenter Personen aller Sparten und Klassen und auch von älteren Politikern natürlich, die sich um ihr Bild in der Geschichte sorgten. Ja, unser Archiv wusste viel, sehr viel sogar, aber hier zeigte sich: Sie überschätzen uns maßlos. Wir fühlten uns immerhin geschmeichelt. Hätten wir uns denn kleiner machen sollen, als die Welt uns sah? Keiner bekam die Antwort: Wir haben nichts über Sie. Jeder bekam die Antwort: Sofern wir etwas über Sie haben, bringen wir es in die höchste Sicherheitsstufe. Viele ließen trotzdem nicht locker. Viele stellten Löschantrage in immer neuen Angelegenheiten, viele wollten Daten gelöscht haben, die wir nicht hatten und von deren Existenz wir uns nie hätten träumen lassen. Auch all diese Löschanträge archivierten wir natürlich, und damit bereicherten wir unser Archiv. Nach ein paar Monaten ebbte die Flut der Löschanträge endlich ab. Was blieb, waren die Ängste. Könnte Hackern demnächst gelingen, was diesmal nur fast gelungen war? 148 Vorsorgliche Löschanträge überrollten danach auch andere Zeitungsarchive, Internetportale, soziale Netzwerke, Behörden, Schulen, Universitäten, Unternehmen und sonstige Organisationen. Dann kam der Ruf nach weiterer Strafverschärfung für Hacker. Aber dann war es fast so schnell vorüber, wie es gekommen war. Die Öffentlichkeit ließ sich von Schlimmerem ablenken, von Dingen wie dem neuen Terror im Nahen Osten und in Indien und dem scheinbar ausweglosen Ausgang der Bundestagswahl. Keine Rede mehr vom drohenden Ende aller Datensicherheit, keine Rede davon, dass Medien, Regierungen und Historiker künftig von den Hackern dieser Welt mit gestohlenen Informationen überschüttet würden und Wahres von Falschem immer schwerer zu trennen sei. Wenn aber unser digitales Archiv von einem so kleinen Team fast gekapert worden war, was alles würden dann größere Teams anrichten können? Auch das trat in den Hintergrund. In den Jahren danach ließ der Verlag mich - "auch Archivare müssen ja mal raus" – mehrere Reisen zu Archiven anderer Verlage machen. Bei allen großen Verlagen waren Cyberabwehr und Datensicherheit zum Spitzenthema geworden, fast alle hatten ihre digitale Abwehr ähnlich aufgerüstet wie wir, aber sicher fühlten sie sich trotzdem nicht. Erst als ich ein paar hochkarätige Symposien über Hackerangriffe besucht hatte, wurde mir klar, wie weit Regierungen und staatliche Institutionen, Parteien und ihre Stiftungen, Ministerien, Kanzleramt, Geheimdienste, große Nichtregierungsorganisationen und die meisten Großunternehmen ihre Hackerabwehr schon ausgebaut hatten. Manche bauten dafür große eigenständige Antiterroreinheiten auf. Aber fast alle waren auch schon dabei, ihre Datenbestände zu bereinigen. Weil eben Shreddern nicht mehr helfe. "Was wir nicht mehr haben, kann uns niemand stehlen", war eine der neuen Devisen. Natürlich hatte ich schon seit meiner Studentenzeit die sporadischen Meldungen über Cyberattacken gegen Unternehmen, Kanzler, Präsidenten, Ministerien, Fernsehsender, Medienkonzerne und andere Organisationen beiläufig verfolgt, aber ich hatte dies als ein normales kriminelles Hintergrundgeschehen genommen. Nun erst begriff ich, wie weit der globale digitale Rüstungswettlauf schon 149 vorangeschritten war, mit Beteiligung von Staaten und von kommerziellen, kriminellen, politischen und privaten Organisationen. Die Cyberabwehr war noch immer Sache hochprofessioneller Spezialisten, von deren Tätigkeit sich kaum irgendjemand anderer ein Bild machte. Auch ich hatte noch keinen Gedanken daran verschwendet, dass daraus einmal eine veritable digitale Rüstungsindustrie werden würde. Aber schon auf den nächsten Symposien, an denen ich teilnahm, war die Rede von datensichernder Landesverteidigung. Dabei fiel mir wieder einmal eine Bemerkung von Hauser ein: Alle größeren Streitkräfte dieser Welt könnten nicht nur Verteidigung, sondern auch Angriff, also seien fast alle Verteidigungsministerien dieser Welt potentielle Angriffsministerien. Da wurde auch mir endgültig klar, was beim digitalen Rüstungswettlauf auf dem Spiel stand. Die Angreifer sind natürlich nicht nur Hacker, ob kriminelle, gekaufte oder Überzeugungstäter, es sind auch Staaten, und Staaten greifen nicht nur Unternehmen, sie greifen auch Staaten an. Hacker sind digitale Terroristen, Staaten würden digitale Kriege führen. Hacker würden im schlimmsten Fall ein digitales 9/11 anrichten, Staaten ein digitales Hiroshima. Zusammen mit Hauser rätselte ich darüber, welche Staaten zuerst zu solchen Tätern werden würden oder schon geworden waren. Gerade als Archivare hätten wir es aber längst besser wissen können. Wir hätten schon vor vielen Jahren im eigenen Archiv herausfinden können, dass das amerikanische Militär schon im Irak-Krieg systematische Cyberangriffe auf fremde Kommunikationssysteme ausgeführt hatte, und Hauser hätte sich erinnern können, dass die Vereinigten Staaten 2007 iranische Atomanlagen sabotiert und vorübergehend lahmgelegt hatten. Wir hätten auch herausfinden können, dass die Vereinigten Staaten schon Anfang des Jahrhunderts begonnen hatten, eine machtvolle Abteilung für Finanzkriegführung aufzubauen, und dass andere Staaten ihnen gefolgt waren. Es gab also längst Staaten, die die Geldund Finanzwirtschaft anderer Staaten massiv sabotieren und großenteils lahmlegen konnten, und auch dieses Finanzkriegs-Know-how ließ sich natürlich für andere 150 Cyberangriffe weiterentwickeln. Angriffe auf Verlage und Verlagsarchive waren ein Randgeschehen. Der Verlag vervielfachte in den folgenden Jahren den Aufwand für digitale Abwehr, und danach glaubte ich, das Archiv sei nun so gut wie unangreifbar geworden. Ich hatte daher das Werbeblatt für ein weiteres Seminar über Hackerabwehr schon wegwerfen wollen, als mein Blick noch auf den Namen des Veranstalters fiel: H. & C. Consulting Henrichs und Cramer. In kleiner Schrift darunter: Rolf Heinrichs, Constanze Cramer. Constanze Cramer? Natürlich, das konnte niemand anders sein als sie, als die Constanze, die ich schon lange nicht mehr gesehen und schon lange hatte wiedersehen wollen. Jetzt musste ich, um sie wiederzusehen, nur meine Anmeldung zum Seminar abschicken. Das Seminar fand in Berlin statt. Für die Seminarteilnehmer waren Zimmer in einem kleinen Hotel am Alexanderplatz gebucht, und dort waren wir - auf meine Anmeldung hatte Constanze sofort mit einer kurzen Mail geantwortet - für den frühen Abend vor dem ersten Seminartag verabredet. Als wir uns dann in der Hotellobby gegenüberstanden, erschrak ich. Wie sie in den sieben Jahren seit unserem letzten Treffen gealtert war! Hätte ich nur flüchtig hingesehen, hätte ich sie nicht wiedererkannt. Einen Moment lang schien es, als musterte auch sie Altersspuren in meinem Gesicht, aber dann war da nur ein herzliches Willkommenlächeln. - Matthias, sagte sie, endlich sehen wir uns wieder. Wir setzten uns an einen kleinen Tisch vor der Hotelbar und sahen einander sekundenlang wortlos an. - Wir zwei von der Generation Sichtflug, sagte sie dann mit einem amüsierten Grinsen. Sind wird das eigentlich noch immer? Ich zögerte. 151 - Ja, was sonst, gab sie dann selbst die Antwort. Wir haben an Lebenserfahrung gewonnen, aber viel klüger geworden sind wir vielleicht nicht. Wie konnte sie wissen, ob und wie viel ich über die Jahre klüger geworden war? Aber hatte sie nicht, dachte ich dann, an sich selbst, an ihre eigene Klugheit, schon früher einen höheren Anspruch gehabt als ich? Meinte sie nur, dass wir beide weniger klug waren, als es eigentlich nottäte? - Ja, sagte ich schließlich, wir sind beide keine Hausers. Hauser hat seine private Zeit mit Denken verbracht, wir mit unseren Zwillingen. Das ist der Unterschied. Sie stutzte. Dann beugte sich wortlos zu mir herüber, fast als wollte sie mir für diese Erklärung um den Hals fallen. Am nächsten Morgen saß mir eine andere Constanze gegenüber. Jetzt war sie die souveräne Seminarleiterin, ein paar Jahre verjüngt, makellos geschminkt, perfekte Frisur, elegant gekleidet, sachlich im Tonfall, kein privates Wort mehr. Stattdessen fing sie selbst vom Hackerangriff auf das Archiv an, und dann kam das Gespräch fast ohne mein Zutun auf das digitale Wettrüsten. Constanze war genau im Bilde. In ihrem Consulting- und Seminargeschäft, erklärte sie, würden immer mehr Fragen zum digitalen Wettrüsten gestellt, darauf müsse sie Antworten parat haben. Und dann weiter in fast dozierendem Tonfall: Das digitale Wettrüsten sei ein Wettlauf, bei dem niemand genau wisse, wer gerade in Führung liege. Deswegen könne sich niemand je ganz sicher fühlen, Staaten nicht, internationale Organisationen nicht, Unternehmen nicht, Verlage nicht und natürlich auch nicht deren Archive. Dieses Wettrüsten, fuhr sie fort, werde dem atomaren Wettrüsten immer ähnlicher. Hackerangriffe könnten, das wisse ich natürlich, umso mehr Schaden anrichten, je abhängiger die Opfer von elektronisch gespeicherten Daten seien. Noch könnten an diesen Daten nur paar Dutzend Staaten und Unternehmen Schäden von kriegerischer Dimension anrichten, aber es würden immer mehr, und jederzeit könnten neue Schurkenstaaten mit kriegstauglichen Cyberwaffen dazukommen. 152 Dabei werde die digitale Rüstungsindustrie natürlich immer mehr dubiose, käufliche und böswillige Gestalten anlocken, die irgendwann bereit seien, von der digitalen Verteidigung in den digitalen Angriff überzuwechseln, und selbst mafiöse Organisationen würden die weltweit hochbegabtesten Hacker mit Stargagen zu ködern versuchen. Die Welt wisse ja längst, was alles durch Cybersabotage lahmgelegt werden könne, vom Geldverkehr, Flugverkehr, der Telekommunikation, der Energieversorgung, von Atomkraftwerken, Aktienbörsen, der Wasserversorgung und der Verkehrslenkung über militärische Systeme bis hin zu Flugzeugen, Operationssälen, elektronisch gesteuerten Prothesen und Fütterungsanlagen in der Nutztierhaltung. Hilflose Ingenieure, Kaufleute, Banker, Ärzte, Militärs und viele andere, auch Privatleute natürlich, würden handlungsunfähig vor schwarzen Bildschirmen sitzen, im schlimmsten Fall natürlich alle zugleich. Hoch entwickelte Länder würden vorübergehend auf Lebensweisen zurückgeworfen, die die Jüngeren dort nie gekannt haben und nicht mehr beherrschten. Vergleichsweise, sagte Constanze, seien selbst die bösesten Cyberwaffen ja zivilisierte Waffen, sie ließen die meisten ihrer Opfer immerhin leben, aber sie machten sie hilflos. Wie man sich denn davor in Zukunft schützen könne, fragte ich. Ihre Antwort: Wir werden immer verwundbarer. Jedes Jahr, jedes Jahrzehnt etwas mehr. - Wer ist wir?, fragte ich. Die Bürger, der Staat, die Wirtschaft? - Friseure und Yogalehrer natürlich weniger, sagte sie mit einem sarkastischen Lächeln. Und dann: Der hoch entwickelte Staat ist am stärksten gefährdet, aber er ist natürlich auch die größte Gefahr. Was später als das digitale Hiroshima bezeichnet wurde, kam genau fünf Jahre danach. Dass schon seit Längerem nicht nur die USA, China, Russland, Indien und Großbritannien, sondern mindestens ein Dutzend weiterer Staaten andere Staaten mit einem Cyberangriff wirtschaftlich und militärisch lähmen konnten, war längst ein offenes Geheimnis gewesen. Aber würde je ein Staat einen solchen Angriff wagen? 153 Würde überhaupt je ein Staat ein plausibles Motiv dafür haben? Nein, war lange die gängige zuversichtliche Antwort gewesen, aber sie war eben falsch. Die richtige Antwort war: Wie die USA im August 1945 in Hiroshima das atomare Exempel statuiert hatten, würden sie irgendwann in diesem Jahrhundert einen exemplarischen digitalen Blitzkrieg führen. Eines ihrer Motive: sich noch einmal ihrer Weltmachtrolle zu vergewissern. Zuerst traf es Nordkorea, kurz danach das unberechenbar gewordene Katar, das mehr als zwei Jahrzehnte lang islamistische Terrororganisationen und Schurkenstaaten finanziell unterstützt hatte. Nach diesen beiden Attacken hatte endgültig der kalte Cyberkrieg begonnen. Wie siebzig Jahre vorher in den atomaren schlitterte die Welt nun in den digitalen Overkill. Und wie der vorige kalte Krieg eine Zeit geistiger und moralischer Erstarrung gewesen war, so auch diesmal. Können wir heute, zu Beginn des letzten Jahrhundertviertels, auf die Geschichte unseres kalten Krieges schon so distanziert zurückblicken, wie man Anfang des Jahrhunderts auf die Geschichte des kalten Atomkriegs zurückblickte? Natürlich nicht. Der erste Atomwaffeneinsatz war zumindest ein heilsames Inferno gewesen, das die Menschheit vor sich selbst hat erschrecken lassen. Das digitale Hiroshima war weder ein solches Inferno noch ein heilsamer Schock. Es traf mit Nordkorea einen rückständigen Staat, der die vorübergehende digitale Hilflosigkeit vergleichsweise leicht verkraftete. Noch immer sind im kalten Cyberkrieg die Beteiligten für nichts reif, das wenigstens einem Atomwaffensperrvertrag gleichkäme. Noch ist nicht einmal verwunden, wie wenig der Cyber-Blitzkrieg gegen Nordkorea bewirkt hat. Natürlich hatten die USA sich nicht träumen lassen, dass die Bürger Nordkoreas nach diesem Angriff enger denn je zusammenrücken würden, dass das Regime danach freiere Wahlen denn je veranstalten und dabei einen klaren Sieg erringen würde, dass die Angegriffenen sich danach als stolze Opfer feiern würden und der erfolgreiche Angreifer, die USA, am Ende blamiert sein würde, dass das ebenfalls angegriffene Katar sich mit Hilfe Chinas von dem Angriff rasch erholen und beide sich danach zu umso erbitterteren 154 Gegnern der USA wandeln würden. Nichts davon hatten die USA geahnt. Sie hatten seit dem Zweiten Weltkrieg viele echte oder vermeintliche Feinde nutzlos bekriegt, aber offenbar nichts daraus gelernt. Immerhin Eines war nach diesen ersten Akten von Cyberkrieg erreicht: Den USA und anderen digitalen Weltmächten dämmerte langsam: Verwundbar sind alle, aber am verwundbarsten sind wir selbst. Wir sind dem vordigitalen Leben gründlicher als alle anderen entwöhnt, also würden die Zerstörungen eines Cyberkriegs uns hilfloser machen als alle anderen. Also sind wir es, die sich am allermeisten vor einem solchen Krieg fürchten müssen. Als ich am Ende des Seminars mit Constanze darüber sprach, welche Veränderungen des zweiten Jahrhundertquartals wir am wenigsten vorausgeahnt haben, waren wir uns schnell einig. Es war die neue Verwundbarkeit. Und einig waren wir uns auch darüber, dass diese Verwundbarkeit bleiben würde. Sie würde immer wieder verdrängt werden, aber sie würde so wenig verschwinden wie die Atomwaffen und die atomare Bedrohung. Die Menschheit würde sich damit so gut es irgend geht arrangieren müssen. Constanze hatte zu dieser Zeit aber auch ganz andere Bedrohungsszenarien vor Augen. Eines der bedrohlichsten Szenarien sei, dass Staaten immer abhängiger von anderen Staaten würden, die über Monopole für weltweit immer knapper werdende Energieträger und Rohstoffe, für Metalle oder seltene Erden oder auch früher unerschöpflich geglaubten Stoffe wie Wasser, Sand und Holz verfügten. Die Frage werde daher sein, wie die Menschheit mit all diesen neuen Verwundbarkeiten, diesem neuen gegenseitigen Bedrohungs- und Erpressungspotential von Staaten umgehen werde. Sie fürchte, sagte Constanze, die Menschheit schlittere in diese neue Zeit so unvorbereitet hinein wie im 20. Jahrhundert in die Ära der Weltkriege und der Atomwaffen. Auch in ihrer Consultingpraxis sei sie nicht auf höher entwickeltes Bewusstsein gestoßen, allenfalls auf höher entwickelte Ängste. 155 Dann nannte sie ein Beispiel, das auch mich erschütterte. Cyberwaffen könnten künftig von Staaten genutzt werden, um von anderen Staaten Entschädigungen für vielerlei früher erlittenes Unrecht zu erpressen. Dabei gehe es nicht nur um Reparationen. Vorstellbar sei zum Beispiel, dass den bisherigen Industrie- und Wohlstandsstaaten eines Tages vorgerechnet werde, was sie mit ihren maßlosen klimaschädigenden Immissionen und mit ihrem maßlosen Ressourcenverbrauch anderen Nationen an Wohlstandschancen genommen hätten. Würden diese Nationen ihr Drohpotential im kalten Cyberkrieg ausschöpfen, dann werde die Welt in den schlimmsten bisher denkbaren kalten Krieg schlittern. Ich hatte keinen Grund zu widersprechen, ich konnte nicht einmal kluge Fragen dazu stellen. Aus reiner Verlegenheit fragte ich dann, was Hauser wohl dazu sagen würde, und auch darauf hatte Constanze eine Antwort. Hauser, sagte sie, würde fragen, ob die Demokratie uns hilft, diese Herausforderungen zu bewältigen. Wo denn die demokratischen Politiker seien, würde er fragen, wo die demokratischen Regierungen, die demokratischen Parteien und die internationalen Organisationen, die solchen neuen Herausforderungen gewachsen sind. - Und er würde sagen, dass er sie nirgendwo sehe? - Ja, und dass Wahlen daran nichts ändern. - Weil demokratische Parteien und demokratische Staaten damit systematisch überfordert sind? - Matthias, sagte Constanze, mit wem außer mit dir kann man solche Gedanken so zu Ende denken? Ich war etwas verlegen. War der Gedanke für sie hiermit zu Ende gedacht? Oder war dies wirklich als Frage gemeint? Sollte ich sagen: Mit dir? Oder: Danke für das Kompliment? Nein, beides nicht, dachte ich dann, und genau dabei fiel mir die einzig richtige Antwort ein: - Mit Tian, sagte ich. 156 Nun war ich es, der das Gespräch weiterführte. Ich erzählte ihr über meine Zeit mit Tian und darüber, wie er über die Demokratie dachte. Dass Demokratien mit einem Problem wie dem kalten Cyberkrieg überfordert sein mögen, aber, wenn Tian Recht habe, das chinesische Regime eher nicht. - Vielleicht, sagte ich, ist es China, das in der Befriedung des kalten Cyberkriegs einmal die führende Rolle spielen wird. - Glaubst du das wirklich?, fragte sie ungläubig. Ich erschrak. Hatte ich diesen Anschein erweckte? Ja, so hatte es wohl geklungen. Ich hatte einen von Tians Gedanken so selbstverständlich vorgebracht, als sei er mein eigener. Und ich schämte mich dessen nicht. Ich war sogar ein bisschen stolz darauf. - Dass auch hierfür die Lösung aus China kommen wird, sagte ich noch selbstbewusster, das dürfen wir nicht ausschließen. Flächengewinne der Demokratie Lässt sich der Fortschritt der politischen Zivilisierung auf der politischen Landkarte darstellen? Kann man diesen Fortschritt nicht einfach mit der Ausbreitung der Demokratie gleichsetzen, ihn also an den Veränderungen auf der Weltkarte der Demokratie ablesen? So einfach ist es natürlich nicht. Schon über die Frage, was man als Demokratie gelten lässt und was nicht, welche Staaten also im politischen Geschichtsatlas als Demokratien auszuweisen wären, gehen die Meinungen weit auseinander. Sind Staaten, in denen die demokratischen Verfahren praktiziert werden, in denen aber trotzdem Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Meinungsfreiheit missachtet werden, Demokratien? Gehören Staaten, deren Wähler die Macht in unzivilisierte Hände gelegt haben, auf die Weltkarte der Demokratie? Natürlich gehören sie dahin, aber viele wollen dies trotzdem noch immer anders sehen. Viele wollen eine Demokratie nur dann als Demokratie gelten lassen, wenn der demokratische Prozess in zivilisierte Politik mündet. Damit wollen sie den Demokratiebegriff schützen, aber 157 sie erschweren damit zugleich die Auseinandersetzung mit den Schwächen der Demokratie. Zählt man zu den Demokratien aber alle Staaten, die demokratische Verfahren praktizieren, dann zeigt ein Geschichtsatlas der Demokratie dies: Die Demokratie hat sich bis in die erste Hälfte des 21. Jahrhunderts hinein über den allergrößten Teil der Welt ausgebreitet, den größten Teil Afrikas und einen Teil der arabischen Welt eingeschlossen. Die einzige wirklich große Ausnahme war zur Mitte des Jahrhunderts noch China. Viel demokratischer konnte die Welt insofern zu dieser Zeit nicht mehr werden. Aber selbst China ist, so hatte schon Tian argumentiert, kein eindeutiger Fall. Für Tian war China eine Demokratie besonderer Art. In China herrsche zwar - de facto zumindest - die kommunistische Partei, China sei also ein Einparteienregime, aber die Partei repräsentiere dort das Volk. Er wisse natürlich, dass das früher und noch bis die jüngste Zeit anders gewesen sei, aber mittlerweile werde fast jeder Chinese, der es wolle, in die Staatspartei aufgenommen, und dort könne er politischen Einfluss nehmen. In einigen westlichen Demokratien müsse man sich, um wählen zu können, als Wähler registrieren lassen. Der Eintritt in die chinesische Staatspartei sei nicht mehr viel anderes als eine solche Registrierung. Ich wandte ein, in China seien nicht einmal zehn Prozent der erwachsenen Bürger Parteimitglieder, das chinesische System sei insofern die Herrschaft dieser Minderheit. Aber auch das ließ Tian nicht als Argument gelten. Auch in westlichen Demokratien, sagte er, befassten sich allenfalls zehn Prozent der erwachsenen Bürger halbwegs gründlich mit politischen Sachfragen, und Politik würde doch eher besser als schlechter, wenn nur diese zehn Prozent über sie bestimmten. Dazu fiel mir kein schlüssiges Gegenargument ein. Bei einem späteren Treffen habe ich auch darüber mit Hauser gesprochen. Sein spontaner Kommentar war: - Kluger Kopf, dieser Tian. 158 Hauser war eben immer noch für Überraschungen gut. Natürlich hatte ich von ihm etwas anderes erwartet. Vielleicht ein mitleidiges: Chinesen sind eben immer noch keine Demokraten. Oder ein sachliches: China ist eben noch nicht reif für die Demokratie. Stattdessen sagte er: - Über diesen Tian würde ich gern mehr wissen. Dann erzählte ich ihm, dass Tian das Einparteiensystem mit fast dem gleichen Argument gerechtfertigt hatte, das er, Hauser, mir vor langer Zeit einmal vorgehalten hatte. Wie Tian nämlich argumentiert hatte, dass die Politik im Mehrparteiensystem der Politik im Einparteiensystem immer ähnlicher werde, da ja im Mehrparteiensystem die Unterschiede zwischen den Parteien immer geringer würden; dass daher in vielen demokratisch gewählten Parlamenten - trotz allen verbalen Streits - die Meinungsvielfalt kaum größer sei als in der kommunistischen Partei Chinas; dass insofern das westliche System und das chinesische sich weit angenähert hätten, und zwar beiderseits, auch wenn man sich das im Westen nicht eingestehe. Hauser verfiel darauf in ein längeres Schweigen. - So, sagte ich schließlich, scheinen Chinesen noch immer zu denken, auch die klügeren unter ihnen. Wieder keine Antwort. - Tian, sagte ich, findet also das chinesische Einparteiensystem fast so gut wie unsere parlamentarische Demokratie. Gewagte These. - Nein, nein, sagte Hauser. Nein, gewagt ist es ganz und gar nicht. Es nur falsch formuliert. - Wie würdest du es denn formulieren? - Ich würde sagen: Unser Mehrparteiensystem ist fast so schlecht wie das chinesische Einparteiensystem. 159 Ich sah ihn wortlos an. Er schien es zu genießen, erwiderte meinen Blick und wartete. Dann sagte er: - Ja, das hätte auch ich bis vor Kurzem nicht so formuliert, aber man wird ja auch als alter Mann noch klüger. Unser Mehrparteiensystem ist fast so schlecht wie das chinesische Einparteiensystem. Dieser Satz hallt in meiner Erinnerung noch immer nach. Als wir dann auseinandergingen, sagte Hauser noch: - Lass den Kontakt zu diesem Tian nicht abreißen. Aber zurück zur Ausbreitung der Demokratie. War in den vierziger Jahren unseres Jahrhunderts nicht doch Wirklichkeit geworden, was fünfzig Jahre vorher als Ende der Geschichte bezeichnet worden war? War mit diesem Zustand die Geschichte der politischen Zivilisierung nicht so gut wie beendet? Würden die Staatsbürger dieser Welt sich nicht bald zurücklehnen können im Wissen: Ab jetzt wird das gleiche politische Spiel mit den gleichen Regeln für immer weitergespielt? Ja, es gab noch immer gescheiterte Demokratien, noch immer waren in demokratischen Staaten Staatsgrenzen und Fragen der Staatszugehörigkeit gewaltsam umkämpft, und noch immer gab es demokratische Staatsführungen, die mit Terrororganisationen kooperierten, noch immer stieß legitimer Separatismus auch in Demokratien auf staatliche Repression, noch immer herrschte in den meisten demokratischen Staaten extreme soziale Ungleichheit, noch immer gab es in vielen Demokratien wiederkehrende Perioden von Massenarbeitslosigkeit, noch immer gab es unter demokratischen Regierungen Staatspleiten, noch immer genossen Bürger demokratisch regierter Staaten großenteils nur elementarste Bildung, noch immer gab es in Demokratien Drogenkriege und noch immer waren viele demokratische Staatsapparate von Korruption und von organisierter Kriminalität durchsetzt. Noch immer konnte man sich also eine viel bessere Welt wünschen als die bestehende demokratische. Aber waren nicht zumindest die Spielregeln, nach denen die Welt weiter zu verbessern wäre, zu Ende entwickelt? Konnte man sich, wenn man 160 realistisch war, als Staatsbürger überhaupt Größeres wünschen, als Parlamentsabgeordnete und politische Amtsträger mitwählen zu dürfen? Nein, eigentlich nicht, im Großen und Ganzen wenigstens, so dachte auch ich damals. Natürlich waren die Möglichkeiten der direkten Demokratie, der Volksentscheide über politische Sachfragen also, nicht ausgeschöpft, aber ob etwas mehr direkte Demokratie die Politik wirklich besser machen würde, das wusste niemand genau. Ob es Besseres geben könnte als die bestehende Demokratie, die so genannte repräsentative also, die eine Parteiendemokratie ist, erschien insofern höchst zweifelhaft. Hauser hatte über die Demokratie einmal gesagt, sie sei in die Fläche gewachsen, aber nicht in die Tiefe. Darüber, wie eine vertiefte Demokratie aussehen könnte, hatte er nichts gesagt außer, dass wir uns davon dringend ein Vorstellung machen müssten. Er hatte natürlich Recht. Wie konnten wir uns auch mit der Demokratie, wie sie ist, abfinden, wo doch immer noch junge Demokratien tragisch scheiterten, wo die politische Zivilisierung in den meisten Demokratien kaum vorankam und Bürger in vielen demokratischen Staaten wieder Sympathien für die Autokratie entwickelten? Musste der Westen nicht wenigstens diesen Staaten, früheren Kolonien zum Teil, eine für sie geeignetere Staatsform finden helfen? Nichts davon war geschehen, und nichts davon zeichnete sich ab. Die meisten Demokratisierungsversuche in der arabisch-muslimischen Welt hatten in einem zivilisatorischen Fiasko geendet. Innerhalb der bestehenden Staatsgrenzen hätten hier hundertmal demokratische Wahlen abgehalten werden können, ohne dass damit innerstaatlicher Frieden gestiftet worden wäre. Kein Wunder also, dass so viele Bürger dieser Region immer noch so wenig Hoffnung in die herkömmliche Demokratie setzten. Worauf sonst aber hätten sich dort politische Hoffnungen gründen lassen? Dass irgendein weiser arabischer Staatsgründer die Weltbühne betreten und Wegweisungen geben würde, die der Westen nicht zu geben in der Lage 161 war? Das erwartete niemand. Kein Wunder also auch, dass die über Staatsgrenzen zerstrittene arabische Welt die Neuordnung mit den gleichen Mitteln versuchte wie früher Europa: mit erbittertem Krieg. Nirgendwo war in dieser Zeit klarer zu erkennen, wie wenig Demokratie und die Aussicht darauf Menschen vor Politikversagen schützten. Trotzdem blieb die westliche demokratische Welt weiter darauf fixiert, die Flächengewinne der Demokratie abzusichern und zu vollenden. Konzepte, die auf, wie Hauser es nannte, eine Vertiefung der Demokratie abzielten, waren nicht gefragt, und die neu gegründeten Neokraten, die als einzige im Sinne einer gründlich vertieften Demokratie argumentierten, machten immer noch kaum von sich reden. Daran änderte auch der desolate innere Zustand vieler etablierter Demokratien nichts und auch nicht die Tatsache, dass Anfang der vierziger Jahre die Wahlbeteiligung in fast allen etablierten Demokratien auf neue historische Tiefstände sank. Einen neuen Tiefststand erreichte auch das Niveau demokratischer Wahlkämpfe. Deutschland hatte immer noch das Glück, dass mit Guttenbergs Deutschen Demokraten eine vergleichsweise zivilisierte Partei das rechtspopulistische Wählerpotential einfing. Wer die Deutschen Demokraten zur Gefahr für die Demokratie aufbauschte, der konnte dabei nur verlieren. Im Wahlkampf 2041 nahmen die Altparteien sich daher die Muslimisch Soziale Union als Feindbild vor, und in ihrem verzweifelten Kampf um Aufmerksamkeit überboten sie sich dabei gegenseitig in polemischer Rhetorik. Es war das bis dahin unwürdigste Wahlkampfspektakel in der Geschichte der Bundesrepublik. Wankendes Vorbild Europa Früher hatte ich nie das Gefühl gehabt, als Archivar irgendwie anders zu sein als andere. Hätte mir - ein Beispiel nur - jemand gesagt, Archivare seien nicht gerade unterhaltsam, hätte ich geantwortet, dass wir uns manchmal als Kleinkunstbühne fühlten, die Archivwissen für die Redaktion aufführt. Aber die Archivarbeit hatte sich natürlich gewandelt, sie war noch nüchterner und sachlicher geworden als 162 immer schon. Niemand, der - wie ich früher - eigentlich Redakteur werden wollte, wäre noch auf die Idee gekommen, sich im Archiv zu bewerben. Aber ich mochte die Menschen, die zu uns kommen wollten. Wer waren denn auch die anderen, die uns Archivare für Langweiler hielten? Für mich waren es Menschen, die ihr Leben zu rastlos, zu gewollt und oft auch gekünstelt inszenierten, als Show, als Abenteuer oder auch als Talkshow. Im Archiv brauchten wir solche Leute nicht. Dann doch lieber Langweiler. Nicht das Übliche, dachte ich, und nicht, was wir brauchen, als ich die Bewerbung eines Klaus Mittermaier durchblätterte. Studium der Romanistik abgebrochen, diverse Praktika, kurzfristige Aushilfsjobs, zurzeit ohne Beschäftigung. Auf dem Foto die Haare zu einem kurzen Zopf gebunden, Fünftagebart, zerknittertes Hemd, Wolljacke. Gerade gut genug für eine Bewerbung als Kurierfahrer, dachte ich. Auffällig nur die Augen. Der Blick etwas gelangweilt, aber hintersinnig. Vielleicht war es das, was mich noch einmal hinschauen und einen zweiten Blick auf den Lebenslauf werfen ließ. Da sah ich: Ein Praktikum bei H. & C. Consulting. In Constanzes Firma. Vor zwei Monaten. Dann das Bewerbungsgespräch. Seine Fettleibigkeit gut unter lockerer Kleidung verborgen, etwas linkisch in seinen Bewegungen, aber keine Spur von Unsicherheit. Und dann die Stimme. Ein melodischer, auch im leisen Tonfall raumfüllender Klang. Der kurze Bart verbarg nicht ein angedeutetes Dauerlächeln, von dem man nicht wissen konnte, ob nicht auch eine Spur Herablassung darin lag. - Ich soll sie übrigens von Constanze Cramer grüßen. Ist ja eine enge Freundin von Ihnen. Das war einer seiner ersten Sätze. Constanze eine enge Freundin? Studienbekanntschaften, Ex-Kollegen, die einander respektierten und mochten, das waren wir, aber viel mehr doch nicht. Nun stand hier dieser Büroassistentenbewerber, dieser Klaus Mittermaier, und erklärte mir, dass sie meine enge Freundin war. 163 Als ich dann weiterfragte, kamen diese scheinbar perfekten, routinierten Antworten, mit einer Selbstverständlichkeit vorgetragen wie nach einem langen Bewerbungstraining, makellos und immer mit diesem verdeckten Mona-LisaLächeln. Wäre sein Aussehen nicht gewesen, hätte ich gedacht: ein gepflegter Bildungsbürger. "Danke für Ihren Besuch. Wir melden uns dann bei Ihnen." So knapp und sachlich beendete ich das Gespräch. Überzeugt hatte er mich nicht. Aber wie Millionen der Neugier auf das Geheimnis der Mona Lisa nachgeben, gab ich der Neugier auf diesen Mann nach. Zuerst schickte ich eine Mail an Constanze: Ob sie sich einen Klaus Mittermeier, den sie wohl kenne, als Archivmitarbeiter vorstellen könne. Zwei Tage lang ließ sie mich bangen, dann kam das erlösende: Wenn du Mut hast, dann nimm ihn. Wenn. Also doch eine Bedingung. Wie mutig war ich? Wie viel konnte und wollte ich als Archivleiter noch riskieren? Nein, großen Mut hatte ich nicht, aber die Neugier war umso stärker. Der Personalchefin erklärte ich es schließlich so: Das Archiv drohe langsam zu überaltern, auch im Archiv sollten wir uns dringend mit jungen Leuten verstärken, nicht unbedingt solchen, die so dächten wie die meisten anderen, aber solchen, die wüssten, wie die meisten Jüngeren dächten, und so einer scheine dieser Klaus Mittermaier zu sein. Mittermaier - ich nenne ihn ab jetzt Klaus - war nicht auf Jobsuche gewesen, um irgendwo lange zu bleiben, erst recht nicht in irgendeinem Archiv. Aber er blieb. Vielleicht hätte man ihn nirgendwo sonst lange ertragen, schon wegen seiner kleinen launigen Marotten. Im Archiv trug er meistens - "Empfehlung meines Orthopäden" Sandalen, aber manchmal tänzelte er auch barfuß summend und fast schwebend über die Büroflure. Ich hielt, solange ich konnte, eine schützende Hand über ihn. Klaus war ein Sonderling, aber seine Lieblingsrolle war die des gespielten NichtSonderlings. Wann immer jemand ein gängiges Vorurteil unkritisch wiedergab, 164 stimmte er eilfertig zu, manchmal beiläufig, manchmal emphatisch, immer in einem Tonfall, der jeden Zweifel zu ersticken schien, aber mit einer abgrundtiefen unterschwelligen Ironie. So konnte er noch die dürftigsten, ja absurdesten Argumente in täuschendem Wohlklang vortragen: - Nein, Parteien überzeugen mich nicht, aber zum Wählen braucht man ja keine Überzeugung. - Ja, die Kriege der NATO-Staaten haben die Welt verbessert. - Ja, für richtige Überzeugungen dürfen auch Glaubenskriege geführt werden. - Ja, ohne Euro auf Dauer kein Wohlstand. Die Schweiz und Norwegen werden noch ihr blaues Wunder erleben. - Ja, mit Spekulation lässt sich genug Geld verdienen, produziert werden muss nicht mehr. Selten war er um solche Antworten verlegen, am allerwenigsten zum Thema Europa. Der noch glühende oder auch der schon skeptische Europäer, das waren seine Paraderollen. Er beherrschte alle europapolitischen Denkschablonen und deren entlarvende Übertreibung. "Ja, ohne die EU hätte es auf deutschem Boden doch längst wieder Krieg gegeben - kurze Pause - Kriege gegeben." Solchen Sätzen ließ er, die Verblüffung des anderen genießend, ein dezent überlegenes Lächeln folgen. Von überragender Intelligenz war er nicht, aber er war ein begnadeter Bloßsteller, ohne jeden Anspruch, es besser zu wissen. Schon in den dreißiger Jahren war von dem glühenden Europäertum, das die Entwicklung der EU lange getragen hatte, nichts mehr zu spüren. Die Briten hatten sich von solchem Europäertum von Anfang an am wenigsten anstecken lassen, aber auch ihre Einstellung zur EU wurde immer distanzierter. Das zeigten auch die mittlerweile zwei Referenden über den Verbleib in der EU, den die Europaskeptiker der britischen Regierung abgetrotzt hatten. Auch das zweite Referendum ergab eine denkbar knappe Mehrheit für den Verbleib, aber zu erklären war dies - ähnlich wie seinerzeit beim schottischen Unabhängigkeitsreferendum - nur durch die 165 ängsteschürende Propaganda der Regierung und der etablierten Parteien. Auch nach diesen Referenden blieben die britischen EU-Skeptiker die gefühlte Mehrheit. Das Argument, dass in Europa die beiden Länder mit dem höchsten Wohlstand und der höchsten Bürgerzufriedenheit nicht der EU angehörten, war den EU-Skeptikern für den Wahlkampf zu spät eingefallen. Die EU hatte unterdessen weitere Staaten aufgenommen, zuerst Serbien, dann Montenegro und Mazedonien, danach Albanien, und für die Ukraine und Moldawien hatten Aufnahmeverhandlungen begonnen. Die Türkei, Armenien und Georgien sollten in einer weiteren Runde folgen. Schon vorher hatte eine langfristige Analyse gezeigt, dass bei Europawahlen die Wahlbeteiligung tendenziell umso geringer wurde, je größer die Zahl der Mitgliedsstaaten geworden war. Sie lag inzwischen bei nur noch 30%. Populistische Parteien, die meisten europaskeptisch, stellten im Europaparlament ein Drittel, Klein- und Kleinstparteien etwa ein Viertel der Abgeordneten. Berechenbare Mehrheitsverhältnisse gab es nicht, die meisten Abstimmungen gerieten zur Lotterie, Ministerrat und Regierungschefs trafen sich in immer kürzeren Abständen zu Krisensitzungen, und Entscheidungen, die der Zustimmung des Europaparlaments bedurften, wurden kaum noch getroffen. Europa verwaltete seinen Status quo. Die Politiker fühlten sich mit dieser EU weiterhin wohl, aber immer weniger Bürger taten es. Umfragen zeigten, dass die Bürger vieler europäischer Regionen nicht mehr EU-Bürger wären, wenn sie die Wahl hätten. Diese Wahl hatten sie aber nicht. Genauer gesagt, die Politiker gaben sie ihnen nicht. Oder doch? Gab es einen Trick, der das scheinbar Aussichtslose doch ermöglichen könnte? Konnte man sich zum Beispiel aus Europa hinauswerfen lassen? Es waren die Schotten gewesen, deren gescheitertes Unabhängigkeitsreferendum diese Möglichkeit hatte aufscheinen lassen. Gründet ihr euren eigenen Staat, so war den Schotten gedroht worden, dann seid ihr nicht mehr Mitglied der EU, und ihr werdet es vielleicht nie mehr werden können. Die Schotten konnten damals noch nicht das 166 Positive darin sehen und ließen sich von dieser Drohung einschüchtern. Aber die Saat separatistischer Neigungen, die auch den Ausstieg aus der EU suchten, reifte weiter heran. Separatistisches Streben nach staatlicher Eigenständigkeit kann auf kühlem Kalkül beruhen. Es kann darauf beruhen, dass Bürger einer wohlhabenden Region ihren Wohlstand nicht mehr mit Bürgern ärmerer Nachbarregionen teilen wollen. Aus solchem ökonomischen Kalkül entstehen aber keine Massenbewegungen, die den mühevollen Weg zur staatlichen Unabhängigkeit durchstehen würden. Separatistische Massenbewegungen müssen von Emotionen getragen sein. Ihnen geht es immer auch um Bedürfnisse nach politischer Identifikation. Im Europa der EU entstehen solche Bewegungen dort, wo weder der Nationalstaat noch das politische Europa diese Identifikation mehr schaffen. In Katalonien zum Beispiel. Spanier zu sein war für die meisten Katalanen eher Last als Lust, und die Zugehörigkeit zu Europa kompensierte dies nicht. Spanien legte dem katalanischen Unabhängigkeitsstreben immer neue Steine in den Weg, und es verschanzte sich dabei weiter hinter der Verfassung. Und weil all dies mit ausdrücklicher Billigung der EU-Partner geschah, wendeten die Katalanen sich mit ihren Aktionen schließlich direkt gegen Europa. Die Konsequenz war irgendwann unvermeidlich: Der Wahlboykott bei den Europawahlen. Ein kluger Schachzug war dies, klüger natürlich und von einer breiteren Mehrheit getragen als alle denkbaren militanten Aktionen. Wir Katalanen wollen nichts anderes als damals die russischsprachigen Ukrainer auf der Krim, war eines ihrer Argumente, aber wir wollen es ganz aus eigener Kraft. Wer ins EU-Parlament gewählt würde, war für die Katalanen sowieso unwichtig, so unwichtig wie für die allermeisten Europäer, also würden sie sich mit einem Boykott der Europawahl nicht schaden. Dieser Wahlboykott, das wussten die Katalanen natürlich, würde politisch erst einmal wenig bewirken, aber er würde ein starker symbolischer Akt sein. Er würde die Gegner der katalanischen Unabhängigkeit moralisch weiter in die Defensive drängen. 167 Es gibt wohl wenige Ereignisse, die das Denken über Europa in unserem Jahrhundert stärker verändert haben. Bei der darauf folgenden Europawahl schlossen sich die Schotten und in letzter Minute auch die Flamen dem Boykott an. Das Ergebnis übertraf die Erwartungen. In Schottland, Katalonien und Flandern lag die Wahlbeteiligung unter 20 %. Aber das war erst der Anfang. Den Europawahlen 2043 blieben nicht nur Separatisten demonstrativ fern, in ganz Frankreich, in ganz Deutschland und auch in anderen Ländern sank die Wahlbeteiligung auf unter 25%. Die Medien überschlugen sich in alarmistischen Kommentaren. Kann dieses EUParlament noch für die Bürger sprechen? Darf es überhaupt noch Entscheidungen treffen? Ganz Europa wartete darauf, dass ein Ruck durch die Institutionen der EU gehen würde, aber konkrete Vorstellungen von diesem Ruck schien es nicht zu geben. Dann, ein paar Jahre nach der Desasterwahl, kam das, was eine Zeitlang der Zweite Europäische Frühling genannt wurde. Dieser Frühling kam nicht spontan, er war ein politisches Artefakt. Es begann mit der fast zwei Jahre langen Imagekampagne für Europa, finanziert, wie sich später herausstellte, aus zweckentfremdeten Mitteln des EU-Haushalts und nationaler Regierungen und aus Spenden großer europäischer Industrie- und Handelsunternehmen und Banken. Die Kampagne wurde konzipiert von den besten und teuersten Werbeagenturen Europas, und sie wurde unterstützt von Prominenten aus dem Showbusiness und dem Sport, von einigen Schriftstellern und Intellektuellen und von Durchschnittsbürgern, die sich in Interviews als begeistere EU-Anhänger präsentierten. Die etablierten Parteien hatten dabei natürlich im Hintergrund die Fäden gezogen, und nun spielten sie das Spiel auch in vorderster Front mit. Sie ließen Eigenwerbung von denselben Agenturen und ihn ähnlichem Stil konzipieren wie die EU selbst. Es war eine Werbekampagne, wie man sie in der Politik noch nicht erlebt hatte, eine neue Mischung der Stile, humorvoll und doch seriös, populistisch und doch anspruchsvoll, konkret und doch nebulös, vulgär und einen Hauch elitär, bescheiden und doch selbstbewusst. Einer der Slogans: Wir trauen Ihnen vieles zu. Sie uns 168 auch?, darunter: Ihre EU-Kommission, dazu perfekt inszenierte Gruppenbilder strahlender Kommissare, einige mit ihren Kindern, vor einer ehrfurchtheischenden Landschaft oder städtischen Silhouette. Jeder Slogan, jedes Plakat, jedes Interview spielte gekonnt auf solch verschiedenen Ebenen. Ein gefundenes Fressen natürlich für Klaus, der auf den Fluren unseres Archivs Kollegen unvermittelt ansprach: Hey. Ich trau' dir viel zu. Dann wartete er, die Sekunde der Verblüffung für eine gnadenlos auffordernde Geste nutzend, bis der Kollege es herausbrachte: Ich dir auch. Die Kampagne funktionierte. Bei der nächsten Europawahl stieg zumindest in einigen Ländern die Wahlbeteiligung deutlich an. Wieder überschlugen sich die Medien. Europa blüht auf / Abgesang auf die EU abgesagt / Ohrfeige für die Europa-Nörgler, und so weiter. Ich selbst kenne viele, die sich von der Kampagne anstecken und zum Wählen mitreißen ließen. Und ich bekenne hier: Ich war einer von ihnen. Und ich nehme es mir heute noch übel. Andererseits: Hätte es irgendetwas verändert, wenn es diesen Anstieg der Wahlbeteiligung nicht gegeben hätte? Sehr unwahrscheinlich. Diese Kampagne hatte aber auch eine ungewollte Nebenwirkung: Sie trieb natürlich auch manche Europaskeptiker wieder an die Wahlurnen. Europaskeptische Populisten gewannen erstmals weit mehr als ein Drittel der Stimmen. Das verschlimmerte noch die Entscheidungsschwäche der EU-Organe, aber die Politik blieb dieselbe. Die EU und ihre Mitgliedsstaaten machten weiter, als wäre nichts geschehen. Der Europäische Frühling war fast so schnell vorbei, wie er gekommen war. Auch die dritte große Finanzkrise des Euro-Raums in den frühen vierziger Jahren änderte daran nichts. Fast zwanzig Jahre lang war die Wirtschaft in den EuroLändern einigermaßen stabil geblieben, und die Staatsverschuldung war nicht weiter ausgeufert. Aber nun brach wieder eine Krise aus wie Anfang des Jahrhunderts, eine Bankenkrise also, eine Staatsverschuldungskrise, eine Konjunkturkrise und in Teilen Europas dramatische Krisen einzelner Wirtschaftszweige. Auch diesmal waren die 169 südeuropäischen Staaten, wo sich die Jugend-Massenarbeitslosigkeit der vorherigen Krise gerade erst zurückgebildet hatte, am schlimmsten getroffen. Aber auch diese neue Krise nahmen die allermeisten Bürger noch mit erstaunlichem Gleichmut hin. Ich hatte es zuerst anders erwartet, aber dann hatte ich das Glück, auch darüber mit Constanze reden zu können. Constanze erklärte es mir so: Die Wirtschafts- und Währungskrisen unseres Jahrhunderts seien nicht weniger schlimm als frühere, aber Regierungen und Zentralbanken hätten gelernt, sie zeitlich zu strecken. Gestreckt und damit quasi verdünnt würde so auch die Empörung der Bürger. Zwischen Wirtschaftskrisen und politischen Krisen gebe es daher keinen so engen Zusammenhang, wie es früher vielleicht der Fall gewesen sei. Es klang zu einfach, als dass es mich auf Anhieb überzeugte, aber je länger ich darüber nachdachte, desto mehr leuchtete es mir ein. Und es erklärte nicht nur die politische Folgenlosigkeit der jüngeren Wirtschaftskrisen. Könnte es nicht, dachte ich, fast ein politisches Prinzip unseres Jahrhunderts sein? Früher hatten Krisen die Bereitschaft geweckt, sich auf Neues einzulassen, in unserem Jahrhundert gibt es nur noch schleichende Krisen, nach denen alles bleibt, wie es war. Wir leben nicht nur im Jahrhundert schleichender Wirtschaftskrisen und eines schleichenden Weltkriegs. Alle politischen, wirtschaftlichen und sozialen Krisen unserer Zeit werden so weit gestreckt, dass sie der politischen Phantasie keine zündenden Impulse mehr geben. Könnte demnach das Drama dieses Jahrhunderts darin bestehen, dass es - zumindest in der westlichen Welt - zu Dramen nicht mehr fähig ist? Ich wurde mir immer sicherer: Kaum etwas hilft besser als diese Formel, unser Jahrhundert zu verstehen. Zu dieser Formel passt natürlich, dass die erste Jahrhunderthälfte zu Ende ging, ohne dass europapolitisch irgendein altes Dogma in Frage gestellt, geschweige denn über Bord geworfen worden wäre, also auch ohne Antwort auf die Frage, wie weit die EU sich noch erweitern sollte oder ob sie es - ohne Autorisierung durch die Bürger - mit der Erweiterung schon viel zu weit getrieben hatte. Auch die weiter zunehmende Stärker europaskeptischer Populisten hatte noch nicht das Zeug zum Drama. Man 170 hätte annehmen können, dass Populisten und Separatisten in Europa einen politischen Schulterschluss versuchen würden, aber auch dazu kam es nicht. Dafür waren den Separatisten die politischen Botschaften der Populisten zu anrüchig und zu diffus, den Populisten die separatistischen Forderungen zu konkret. Stabile politische Mehrheiten jenseits der etablierten Parteien zeichneten sich nicht ab. Das politische Europa hatte es sich in seiner Sackgasse bequem gemacht. Der europäische Separatismus brodelte unter der Decke alter politischer Dogmen und Interessen, und der schleichende Dritte Weltkrieg fand woanders statt. Aber wie lange konnte das noch gutgehen? Ich gebe zu, dass auch ich lange dem rat- und tatenlosen Zeitgeist verfallen war. Was gab es auch zu erwarten? Was zu befürchten? Wo keimten Veränderungen auf? Wohin hätte man seine Antennen richten, wo hätte man Neuem auf die Spur kommen können? Auch im Archiv hatten wir nicht das Gefühl, eine für Deutschland und den Westen irgendwie spannende Epoche zu dokumentieren. Vielleicht hätte ich diese Zeit anders erlebt, wenn ich wenigstens bis zur Jahrhundertmitte noch so intensive Gespräche mit Hauser hätte führen können wie vorher. Hauser blieb auch als gealterter Pensionär ein wacher Geist, aber er beobachtete nicht mehr mit der früheren Unerbittlichkeit und Schärfe. Er blieb dankbar, wenn ich ihn besuchte, aber die Zeit, in der er Fragen stellte, die es einem wie Schuppen von den Augen fallen ließ, diese Zeit war nun vorbei. Eine von Hausers späten tiefsinnigen Fragen war diese gewesen: Ob man nicht irgendwann einmal werde fragen müssen, was aus Europa würde, wenn man mit der europäischen Einigung noch einmal ganz von vorn anfangen könnte, unbelastet von alten Dogmen. Auch er wisse natürlich nicht genau, was dann geschehen würde, aber ganz sicher sei, dass dann etwas ganz anderes entstehen würde als das, was ist. Sicher gebe es Errungenschaften, die niemand aufs Spiel setzen wolle, aber für die Bürger stünden die alt gewordenen europäischen Institutionen nicht unter Denkmalschutz. Auch politische Institutionen hätten so etwas wie eine natürliche Lebensdauer und er, Hauser, sei überzeugt, dass das politische Europa über seine 171 natürliche Lebenserwartung schon weit hinaus sei. Viel konkreter hat Hauser sich dazu nicht ausgelassen, aber Eines stand für ihn fest: Irgendwann werde mit dem Aufbau eines politischen Europa noch einmal von vorn begonnen werden. Ich war gerade mit solchen Gedanken zur Zukunft Europas beschäftigt, als eine Mail von Tian auf meinem Handy erschien. Tian? Ich sah ungläubig auf das Display. Wirklich Tian, mit dem ich über fünfzehn Jahre lang keinen Kontakt gehabt hatte? Ja, er war es wirklich. Er schickte nur ein paar nüchterne kurze Sätze, kein Wort über damals, kein Wort über die fünfzehn Jahre seit unserem letzten Kontakt, nur dies: Bin gerade auf einem Kongress in Boston. Melde mich wieder. Herzlich. Tian. Auch Hauser hatte sich früher gefragt, was aus diesem Tian wohl einmal werden würde, und er war tief enttäuscht, dass der Kontakt zu ihm abgebrochen war. Nun von Tian dieser Zweizeiler. Immerhin: Melde mich wieder. Meine ersten Gedanken: Was würde er mir zu sagen haben? Welches Leben führt er heute, welche Arbeit macht er, wie denkt er, was weiß er über sein Land, das wir nicht wissen? Und wenn, würde er darüber reden können? Würde er es wollen? Fühlt er sich als freier Bürger? Denkt er politisch inzwischen wie wir, wie westliche Demokraten? So ging es mir eine halbe Nacht durch den Kopf. Am nächsten Tag war mir klar: Meine Phantasie war mit mir durchgegangen. Tian war immer noch Chinese, China war immer noch China, es war noch immer ein Einparteienstaat, und China war noch immer Tians Heimat. Eine Abrechnung mit dem chinesischen System, das Bekennerschreiben eines Dissidenten im westlichen Geist, so etwas würde von ihm natürlich nicht kommen, und auch nichts darüber, ob, wie und wo sich in China möglicherweise Umbrüche anbahnten. Nichts von all dem, was man sich im Westen schon immer von vertraulichen Kontakten zu Chinesen voreilig erhofft hatte. Andererseits war Tian nicht irgendwer. Etwas würde er zu sagen haben. Mehr als viele Grüße aus Boston. Aber was? Am Tag darauf dann die zweite Mail. Ein langer, sorgfältig formulierter Text. Mailt man so in China?, fragte ich mich. Aber viel anders waren auch die Mails nicht 172 gewesen, die er früher im Archiv verschickt hatte. Altmodisch, dachte ich, aber bewahrenswert. Ich war erleichtert. Lieber Matthias, deine letzte Nachricht habe ich vor 15 Jahren bekommen, und ich habe sie nie beantwortet. Nimmst du meine Entschuldigung dafür an? Ich hatte immer gehofft, wir würden bald wieder miteinander reden können, ganz unter uns. Das ist besser als mailen. Ich durfte jetzt zu einem Sinologenkongress in Boston reisen, und ich halte hier einen kleinen Vortrag über das chinesische Gesundheitswesen. Das ist eigentlich nicht meine Spezialität, aber ich wurde dafür ausgesucht. Erinnerst du dich noch an deine Frage "Was geht wie lange gut"? Wenn es um politische Regimes und Dogmen gehe, sagtest du, dann müsse man sich immer fragen, wie lange es damit noch gutgehe. Ich arbeite jetzt an einem Institut, das sich mit europäischer Politik beschäftigt. Genauer gesagt, mit der Zukunft Europas. Manche sind hier um Europa sehr besorgt. Sie glauben, dass die europäischen Institutionen nicht mehr lange stabil bleiben. Einige Kollegen meinen, dass die europäische Union in ein paar Jahrzehnten zerfallen wird. Wenn aber nicht einmal mehr das demokratische Europa stabil bleibt, sagen sie, dann hätte das Folgen für die Stabilität der ganzen Welt, vielleicht auch für China. Deswegen beschäftigen wir uns an unserem Institut jetzt sehr intensiv mit Europa. Darüber würde ich gern mit dir reden. Soll unser Institut dich einmal nach China einladen? In drei oder vier Jahren sind wir hoffentlich so weit, dass wir dir die richtigen Fragen stellen könnten. Vielleicht könnten wir uns auch vorher einmal treffen, nur wir zwei. Übernächstes Jahr darf ich vielleicht wieder nach Europa reisen. Herzlich Tian. 173 Eine Mail in chinesischem Geist, dachte ich, und das wir nicht negativ gemeint. Die Mail hatte eine sorgfältig formulierte Antwort verdient, das wusste ich, aber ich war gerade in Eile. Ich schickte Tian nach wenigen Minuten nur diese kurze Antwort: Sehr gern zu zweit. Wann? Wo? Herzlich, Matthias. Ein Fehler natürlich. Ich hätte warten sollen. Ich hätte später antworten sollen, erst wenn ich Zeit haben würde für eine ausführliche Mail, wie er sie sicher erwartete. Ein Gebot der Höflichkeit. Ich hätte mich nicht hinreißen lassen dürfen zu diesem hektischen, lapidaren, auf jede Höflichkeitsfloskel verzichtenden, eben typisch europäischen Zweizeiler. Von Tian kam keine Antwort. Aber diese eine Mail von ihm war schon aufregend genug. Ein Institut in China stellte also Prognosen zu Europa für die kommenden Jahrzehnte an. Ausgerechnet in China. Wurde irgendwo und von irgendwem in Europa versucht, für Europa so weit vorauszudenken? Womöglich nirgendwo, dachte ich, und von niemandem, von Politikern ohnehin nicht und auch nicht von Wissenschaftlern. Wer in Europa würde schon ein Institut beauftragen, Prognosen zum Zerfall der Europäischen Union anzustellen? Ganz anders also in China? Ausgerechnet in dem Land mit der rückständigen Einparteienherrschaft und dem, wie wir es im Westen noch immer sahen, rückständigen Bewusstsein, ausgerechnet dort machte man sich über Europa viel weiterreichende Gedanken als in Europa selbst? War China gerade dabei, Europa und den gesamten Westen in seiner politischen Voraussicht zu überholen? Oder hatte es das längst getan? Plante es für eine Zukunft, an die der Westen noch kaum zu denken wagte? Wappnete man sich dort für Probleme und Aufgaben, die man im Westen noch immer nicht ernst nahm? Nichts anderes ließ sich aus Tians Mail doch herauslesen. Ich dachte daran, wie Tian, den ich früher so klug, so vertraut und doch auch etwas rätselhaft erlebt hatte, sich in den mehr als fünfzehn Jahren entwickelt haben musste. 174 Und je länger ich daran dachte, desto glaubhafter erschien es mir: Ja, dieser Tian ist einer von denen, die, wenn sie es denn dürfen und sollen, weit über ihre Zeit und den Zeitgeist hinausdenken können, den Zeitgeist des eigenen Landes und anderer Teile der Welt. Und dieser Tian schickt mir nun eine solche Mail, fast als spreche er damit für ganz China. War dieses China mit seinem rückständigen Einparteienregime, das noch nicht einmal eine offene Gesellschaft im westlichen Sinne geworden war, war dieses China womöglich zukunftsfähiger als der demokratische Westen? Ja, dachte ich, warum eigentlich nicht. Diese eine Mail von Tian hatte mir die Augen dafür geöffnet. Hatte die politische Kultur des Westens ihre führende Rolle in der Welt schon verspielt? Am Tag danach meinte ich mich an eine frühere Äußerung von Tian zu erinnern, die ich damals nicht sehr ernst genommen hatte. Das chinesische Einparteienregime sei noch nicht liberal, hatte er gesagt, es sei vielleicht auch immer noch korrupter als manche westliche Demokratie, aber es sei mittlerweile sehr professionell geworden und auch weitsichtig. Was hatte er damit gemeint? Wahrscheinlich doch dies: Dass der Denkhorizont chinesischer Politik nicht von Legislaturperioden geprägt ist, dass deswegen viele Politiker in China langfristiger dächten als Politiker in westlichen Demokratien und dass sie andere, nämlich Leute wie Tian, noch langfristiger vorausdenken ließen. Als ich seine Mail noch einmal Wort für Wort durchlas, formte sich dieser Gedanke immer klarer in meinem Kopf: Würde es mit dem chinesischen Regime vielleicht doch noch viel länger gutgehen, als man es im Westen annahm? Vielleicht sogar länger als mit der EU? Oder noch kühner gedacht: womöglich länger als mit den westlichen Demokratien? Welches politische System in welchem Teil der Welt wird also am längsten überleben? Noch in der Minute davor hätte ich keine Sekunde gezögert: Jede Wette auf die westliche Demokratie, jede Wette auf Europa. Nun wusste ich: Es ist völlig offen. 175 Das Elend der Parteien Wie konnte ich ernsthaft gedacht haben, das chinesische Einparteienregime könnte länger überleben als die westliche Demokratie? Wie hatte diese eine Mail von Tian, meinem früheren Praktikanten, mich dazu anstiften können? War Tian mir in seinem politischen Denken so weit voraus? Dachten er und dachten Kollegen an seinem Institut mittlerweile vorausschauender, als selbst die nachdenklichsten und kritischsten Geister im Westen es taten? Ich versuchte mich an frühere kurze Gespräche mit Tian zu erinnern, in denen es um die westliche Parteiendemokratie ging. Hatte er womöglich schon damals, in seiner Praktikantenzeit, ähnliche Gedanken gehabt, und hatte ich sie nur nicht beachtet, weil Tian, so hellwach und hoch interessiert er immer wirkte, sich doch mit eigenen Meinungen immer zurückhielt und, wenn er denn Meinungen äußerte, sie oft mit seiner Gestik und Mimik im selben Moment zurückzunehmen schien? Weil er nie Meinungen anderer offen in Frage stellte, sondern allenfalls durch verhaltenes Schweigen? Aber dann erinnerte ich mich, dass Tian damals zumindest einmal eine sehr direkte und fast indiskrete Frage gestellt hatte: - Sind viele von euren Redakteuren in einer politische Partei? Es klang, als hätte er lange darauf gewartet, diese Frage stellen zu können, so überstürzt kam sie heraus. Ich sah ihn überrascht an. - Manchmal hat man den Eindruck, setzte er nach. Was sollte ich antworten? Dass ein politischer Redakteur gewisse Informationen am ehesten von einem Parteifreund bekommt, und dass der eine oder andere schon deswegen Parteimitlied sei? Aber warum wollte Tian es überhaupt wissen? Warum so dringend, dass er dieses eine Mal so direkt zu fragen wagte? - Darüber wird hier nicht gesprochen, sagte ich. Das ist Privatsache. - Du weißt es nicht? 176 - Nein. Er sah mich ungläubig an. - Die meisten sind in keiner Partei, sagte ich schließlich. Er nickte kurz, dann wandte er den Blick ab, als müsse er nachdenken. - In China, sagte er dann, beobachten wir die Parteien genau, auch die deutschen. - Wer ist "wir"?, fragte ich. Er druckste verlegen. - Wen meinst du mit "wir"? Wieder keine Antwort. - Bist du Parteimitglied?, fragte ich dann kurz entschlossen. Die Frage, die ich ihm natürlich schon lange hätte stellen mögen. - Ja, sagte er schließlich. Ich bin in der Partei, aber nicht aktiv. Er sagte es entspannt und ganz und gar glaubwürdig. Ein passives Parteimitglied, einer der dazugehört, der Bescheid wissen will, aber nicht politisch aktiv sein will. Das passte. Von da an gingen Tian und ich vertrauter miteinander um. Tian hatte zum ersten Mal etwas über sich offenbart, und wir hatten ein Thema, zu dem wir beide mehr voneinander wissen wollten. Wir haben danach nie mehr als ein paar Sätze über politische Parteien ausgetauscht, aber wie Tian über Parteien dachte, das kann ich hier trotzdem in einem kurzen fiktiven Dialog zusammenfassen, den wir, dessen bin ich heute ganz sicher, so oder ähnlich hätten führen können, wenn ich die Chance dazu beherzt genug ergriffen hätte. - Was weiß man denn in China über die deutschen Parteien? 177 - Dass sie immer weniger Mitglieder haben. Dass es bei euch keine Volksparteien mehr gibt. Unsere Partei ist darüber sehr besorgt. - Chinas kommunistische Partei macht sich Sorgen über den Mitgliederschwund deutscher Parteien? - Ja. Wir sehen, dass es bei euch die klügsten Köpfe nicht mehr in die Parteien zieht. Für eine Parteiendemokratie ist das schlimm. Ihr werdet von Parteien regiert, denen es an klugen Köpfen fehlt. - Selbst wenn es so wäre: Unsere Parteiendemokratie funktioniert immer noch besser als euer Einparteiensystem. - Wirklich? Bei uns sind die meisten klugen Köpfe noch immer in der Partei. - Noch? Kluge Köpfe wie du sind bei euch noch Parteimitglieder? Was meintest du mit "noch"? - Wenn die klügsten Köpfe nicht mehr in der Partei sind, dann kann ein Einparteiensystem sehr gefährlich werden. Darüber denkt man in China ernsthaft nach. - Kluge Köpfe in der Partei denken darüber nach? - Ja. - Solange die klugen Köpfe noch in der Partei sind. Und was, wenn sie es irgendwann nicht mehr sind? - Das muss eben verhindert werden. - Und wenn das nicht gelingt? - Ich glaube, dass es gelingt. Aber wenn es nicht gelänge, dann könnte das System nicht so bleiben, wie es ist. - Dann kommt in China die westliche Demokratie? Dann bekommt ihre ein Parteiensystem wie unseres? - Mit Parteien, denen es an klugen Köpfen fehlt? Das hoffentlich nicht. 178 Wenn Tian und ich diesen Dialog in genau diesen Worten geführt hätten, hätte ich dann schon viel früher so kritisch über unsere Demokratie gedacht wie heute? Nicht unbedingt. Etwas hätte sich in mir gesträubt, diesen Gedanken ganz zu Ende zu denken. Den Gedanken, in China seien die klügsten Köpfen noch Parteimitglieder, in den westlichen Demokratien nicht mehr. Bedeutete das nicht, dass China den Westen schließlich auch in der politischen Vernunft überholen würde? Als Einparteienregime? Damals für mich noch undenkbar. Heute weiß ich, dass Tian uns betriebsblind gewordenen Demokraten des Westens damals in seiner Parteienkritik weit voraus war. Wir würden es heute nur anders formulieren. Wenn wir heute sagen, die Klugheit der Köpfe in den Parteien habe mit den wachsenden Anforderungen nicht Schritt gehalten, dann klingt es etwas harmloser. Aber ein vernichtendes Urteil über den demokratischen Parteienstaat ist es trotzdem. Es fällt umso vernichtender aus, als mit dem Aufstieg populistischer Parteien die Durchschnittsklugheit im Parteienwesen noch weiter gesunken ist. Die Klügeren und Nachdenklicheren unter den Bürgern wurden dessen natürlich zuerst gewahr. Die absehbare Folge davon war, dass die Wahlbeteiligung, die bis dahin in bildungsfernen Schichten am niedrigsten gewesen war, allmählich auch unter Bildungsbürgern stark zurückging. Wählen und Nichtwählen tauschten so in der politischen Werteskala nach und nach die Plätze. Hatte es früher geheißen, die Nichtwähler machten es sich zu einfach, wurde eben dies nun immer häufiger den Wählern nachgesagt. Dies hatte bei den Europawahlen begonnen, nun galt es auch bei nationalen Parlamentswahlen. Es war noch nicht die herrschende Meinung, aber es waren längst nicht mehr nur Kabarettisten und Karikaturisten, die das Thema ausweideten, auch immer mehr Kommentatoren und Moderatoren legten die Scheu davor ab. Bei uns im Archiv war es natürlich kein anderer als Klaus, der mit den Wählern seine Scherze trieb. Nach einer Wahl erschien er im Archiv mit einem bemalten Pappschild, darauf ein Selbstporträt mit zerknirschter, schuldbewusster Miene, darunter in großer nervöser Handschrift: Ich habe gewählt. Dass auch das "Bekennerschreiben" eines Wählers Klaus M., das als Leserbrief im SPIEGEL 179 veröffentlicht wurde, von keinem anderen als "unserem" Klaus sein konnte, war bald ein offenes Geheimnis. Natürlich gab es danach auch in der Wahlbeteiligung weiterhin ein Auf und Ab. Neue Populisten konnten immer wieder auch neue Wählerschichten gewinnen und damit die Wahlbeteiligung vorübergehend steigern. 2041 lag sie in Deutschland wieder über 50%, aber der nachfolgende Absturz war umso tiefer. Nach der Wahl 2049 war dann zum ersten Mal auch in den etablierten Medien ganz unverhohlen von einer Krise der Demokratie die Rede. Es war auch das Jahr, in dem in unserer Redaktion ganz ernsthaft über die moralische Wahlpflicht diskutiert wurde. Dann erschien diese unsägliche Kolumne, die allen Ernstes die Einführung einer gesetzlichen Wahlpflicht forderte. Ein gefundenes Fressen natürlich für alle Satiriker: "Politikverdrossenheit ab jetzt verboten." Der Niedergang der Parteiendemokratie verlief, wie wir heute wissen, in Deutschland noch vergleichsweise glimpflich. In Italien kollabierte das Parteiensystem in den vierziger Jahren ein weiteres Mal, wieder waren es neue Populisten, blutige politische Laien, die die Wirren dieser Zeit am besten für sich zu nutzen wussten, und wieder wurde das Niveau der Politik und die durchschnittliche Kompetenz von Politikern dadurch weiter gedrückt. Das altbekannte Spiel setzte sich mit neuen Darstellern fort, wie zum Beweis, dass die Lehren der Geschichte im demokratischen Parteienstaat nichts fruchten. Auch in Amerika ergriffen in dieser Zeit neue Populisten die Chance, sich im Parteiensystem festzubeißen, auch dort ließ dies die Wahlbeteiligung zwischenzeitlich ansteigen, aber auch dort nur, um einen umso tieferen Absturz folgen zu lassen. Deutschland war in Sachen Populismus bis dahin einen fast moderaten Sonderweg gegangen, und dies setzte sich fort. Die Deutschen Demokraten, noch immer geführt von Guttenberg, der mit altersmildem Charme seiner populistischen Botschaft generationenübergreifende Wirkung verlieh, gehörten unter den demokratischen Populisten dieser Welt zu den vergleichsweise vernünftigsten. "Eure Populisten möchten wir haben", so hatte ein italienischer Journalist es in einem Interview einem 180 unserer Redakteure gesagt, und dieses Zitat machte in ganz Europa die Runde, auch als Titelgeschichte des SPIEGEL. Guttenberg hatte bei den Deutschen Demokraten in der Tat Erstaunliches vollbracht. Sein Gespür für politische Stimmungslagen war legendär, und er hatte es mit zunehmendem Alter weiter perfektioniert. Wie er als junger Verteidigungsminister eine fast noch unterschwellige Meinungsströmung genutzt hatte, um in einem politischen Coup die Abschaffung der Wehrpflicht durchzusetzen, verstand er es jetzt, heranreifende Themen frühzeitig für die Deutschen Demokraten zu besetzen. So verknüpfte er die Themen Volksentscheid und Einwanderung listig zu einem programmatischen Angebot. Bürger entscheiden über Einwanderung, das war der Slogan, auf den die anderen Parteien nur mit fast hilflosem Gestammel reagieren konnten. Und es war nicht nur ein Slogan. Guttenberg verlieh ihm mit konkreten Forderungen Substanz. Volksentscheide über Migrantenquoten sollten regelmäßig stattfinden, in Abständen von fünf bis zehn Jahren. Die Partei empfahl dazu Quotenkorridore für Bürger europäischer und außereuropäischer Länder und für Religionsgemeinschaften. Für Muslime wurde eine Quote von 6% - 8% der Bevölkerung genannt. Der Staatsvertrag zwischen Bund und Ländern, der die Einhaltung der Migrantenquoten regeln sollte, war im Parteiprogramm der Deutschen Demokraten ausformuliert. Dass dieser Staatsvertrag mit EU-Recht unvereinbar war, wusste jeder. Auch dies war natürlich eine gekonnte politische List. Damit gewann Guttenberg viele weitere Europaskeptiker für sich, ohne sich selbst als Europaskeptiker ausgeben zu müssen. Dass Guttenberg trotzdem nicht zu den Populisten gehörte, die ihr politisches Profil an den niederen Instinkten ihrer Anhängerschaft ausrichteten, zeigte sich im Umgang mit der Muslimisch Sozialen Union. Schon die Gründung der MSU hatte er ausdrücklich begrüßt, und später hatte er mehrfach die politische Rolle der MSU in der deutschen Demokratie gewürdigt. Auch andere demokratische Parteien, argumentierte er, hätten Extremisten in ihren Reihen gehabt und erst recht unter ihren Wählern, besonders in ihren Anfängen, das habe auch die MSU in ihren Reihen nicht 181 verhindern können. Guttenberg äußerte sogar Verständnis dafür, dass viele Muslime sich als Mobbingopfer des Westens und der neueren Weltgeschichte fühlten. Er räumte ein, dass der Islam eine missbrauchsträchtige Religion sein, aber missbraucht worden seien im Lauf der Geschichte doch auch das Christentum und die Demokratie. Damit brach Guttenberg eine deutschlandweite Debatte los, in der er ein gutes Vierteljahrhundert nach der Debatte über die Putin- und Russlandversteher - von den Altparteien und den Medien als Terroristenversteher verleumdet wurde. Seine politischen Gegner glaubten, dass Guttenberg damit auch in seiner eigenen Anhängerschaft seinen Ruf verspielte, aber sie täuschten sich gründlich. Guttenbergs Anhänger brauchten nur etwas Zeit, um ihm auch in diesen Gedanken zu folgen. Danach war er unangefochtener denn je. Die Zeit der alten, von den Altparteien noch immer gepflegten politischen Eindeutigkeiten war eben endgültig vorbei, und Guttenberg hatte auch dafür das weitaus beste Gespür gehabt. In der Einwanderungsdebatte klammerten die Altparteien sich derweil noch immer an das Argument, von hohen Migrantenquoten profitiere Deutschland auch ökonomisch, aber auch dies parierte Guttenberg bravourös. Das Einwanderungsproblem sei nicht in ökonomischen Kategorien zu diskutieren, predigte er, sondern ausschließlich in kulturellen. Deutschland solle um solche Migranten werben, die sein kulturelles - das Wort zivilisatorisch mied er - Niveau höben, aber ausschließlich um solche. Die konkrete Forderung: Einwanderer sollten keinen Sprach-, keinen Bildungs- und keinen beruflichen Qualifikationsnachweis erbringen, sondern einen kulturellen. Der hintersinnige Slogan dazu: Wir wollen keine Migranten, die wir integrieren müssen, wir wollen Migranten, von denen wir lernen können. Darauf abgestimmt war auch seine Argumentation in der Familienpolitik: Für eine Geburtenrate, die das Überleben des Landes auch ohne massive Einwanderung sichere, sei kein Preis zu hoch. Diesen Preis müssten die fortpflanzungsunwilligen Nicht-Eltern den Kindern und Eltern eben zahlen, wie hoch er auch sei. Guttenberg 182 wusste natürlich, dass er damit keine politischen Mehrheiten erringen, aber eine große Minderheit umso stärker an sich binden konnte. Guttenberg hatte damit immerhin erreicht, dass nun über Einwanderungs-, Bevölkerungs- und Familienpolitik in anderem Geist und anderer Sprache als bisher gesprochen wurde, in einer klareren und offeneren Sprache vor allem, und dass damit natürlich auch anders gedacht wurde. Damit hatte Guttenberg den Deutschen Demokraten einen politischen Status verschafft, der ihn einen weiteren politischen Coup riskieren ließ: den Verzicht auf öffentliche Parteinahme zu allen anderen Themen. Aus Inkompetenz, sagten ihre politischen Gegner. Aus Bescheidenheit, sagten sie selbst. Aus realistischer Selbstbeschränkung, so sagten es immer mehr politische Kommentatoren. So wie Hauser sah es damals keiner: als ein Schlüsselereignis in der Geschichte der politischen Parteien. Ich fragte mich schon damals, was geschehen würde, wäre Guttenberg zwanzig Jahre jünger gewesen. Nicht weniger als ein politischer Erdrutsch, dessen bin ich heute fast sicher. Aber auch wenn er jünger wirkte, als er war, waren seine aktiven Tage doch gezählt, und in Einem waren die Deutschen Demokraten eben doch eine populistische Partei wie alle anderen: Sie standen und fielen mit ihrem Anführer. Guttenberg war eine der prägenden politischen Figuren der dreißiger und vierziger Jahre, aber er hatte eben doch nur eine Nebenrolle. Er war vor allem der große Koalitionsverhinderer. Mit den von ihm geführten Deutschen Demokraten wollte ebenso wie mit der MSU - keine der Altparteien koalieren. Aber jede Regierungsbeteiligung, jedes Ministeramt hätte Guttenberg ohnehin nur an Glanz verlieren lassen. Der große Profiteur dieser erstarrten Parteienkonstellation war Martin Mesäcker. Die christlichen Unionsparteien waren fast durchgehend stärkste politische Kraft geblieben, immer wieder fiel ihnen daher die Regierungsbildung zu, und immer wieder war es Mesäcker, meine flüchtige Arbeitsbekanntschaft von der A-E-BStiftung, dem die Kanzlerschaft angetragen wurde. Aufdrängen musste er sich nicht. 183 Er war weit und breit der Einzige, der neben einem Oppositionsführer Guttenberg rhetorisch und charismatisch keine allzu traurige Figur abgab. Intellektuell waren er und Guttenberg etwa auf Augenhöhe. Nie wurden in Mesäckers Zeit die Unionsparteien von mehr als einem Siebtel der Wahlberechtigten gewählt. Trotzdem gelang es ihm, eine Ära zu prägen wie nur wenige Politiker nach dem Zweiten Weltkrieg. Die Ära Adenauer, die kurze Ära Brandt, dann die Ära Kohl, die Ära Merkel, und nun, nach einer wechselhaften Übergangszeit, die Ära Mesäcker. Er war das politische Gesicht mindestens einer Generation, auch, wie Constanze es in einem ihrer fatalistischen Momente sagen sollte, unserer Generation, der unverbesserlichen Generation Sichtflug, von der auch er ein Teil war. Geprägt hat er aber natürlich vor allem das politische Bewusstsein der Folgegeneration. 17 Jahre Kanzlerschaft Mesäcker, davon 16 Jahre in wechselnden Koalitionen, ein knappes Jahr in einer von den Deutschen Demokraten tolerierten Minderheitsregierung, die Guttenberg später als den größten Fehler seiner politischen Karriere bezeichnen sollte. Für zwei Schüler- und Studentengenerationen war Mesäcker die Inkarnation des Politischen, routiniert, rhetorisch souverän und nicht unsympathisch, vor allem aber taktisch gewieft. Die Hinterlassenschaft seiner Ära: 17 Jahre Regieren ohne Risiko. Wie fast alle seine Vorgänger hatte Mesäcker sich in Erfüllung seines Amtseides ganz darauf konzentriert, unmittelbaren Schaden vom Deutschen Volk abzuwenden. Dass eines Tages der größte politische Schaden darin liegen könnte, sich auf solche Art Schadensbegrenzung konzentriert zu haben, kam natürlich einem Mesäcker nie in den Sinn. Auch Hauser kannte natürlich meine Geringschätzung für Mesäcker, und natürlich war auch er alles andere als Mesäcker-Fan. Aber auch in Sachen Mesäcker bewahrte er mich schließlich vor einer zu einfachen Sicht der Dinge. Er verstehe durchaus meine Geringschätzung, erklärte er, aber man müsse sich doch auch fragen, welche andere Person an Mesäckers Stelle, als Kanzlerin oder Kanzler, man denn wesentlich höher achten würde. - Fällt dir spontan jemand ein?, fragte er. 184 Ich zögerte. - Spontan also nicht. - Notfalls Guttenberg, sagte ich. - Notfalls. Das wären also schon zwei der besten? Er wartete meine Antwort nicht ab. Das sei eben genau das Problem, dass wir nur die Mesäckers und Guttenbergs hätten und deren mindere Pendants aus den anderen Parteien. Und solchen Leuten, fuhr er fort, sollten wir als Wähler die Politik anvertrauen? Nicht eine bestimmte politische Aufgabe, sondern die Politik schlechthin und damit den Staat? Das sei vielleicht die große politische Illusion unserer Zeit, dass es überhaupt Menschen gebe, die einer solchen Aufgabe noch gewachsen seien. Wir müssten im Rückblick doch erkennen, dass wir es immer weniger, vielleicht sogar nie, mit wirklichen Bundeskanzlern zu tun gehabt hätten, sondern eher mit Kanzlerdarstellern, die der Öffentlichkeit vortäuschten, sie wüssten über alles Bescheid, worüber sie redeten und entschieden. Auch Mesäcker sei ein solcher Kanzlerdarsteller und als solcher nicht schlechter als alle anderen, egal aus welcher Partei. Ich widersprach nicht, aber meine Einstellung zu Mesäcker änderte sich erst sehr viel später. Erst in seinen letzten Amtsjahren mischte sich in meine Geringschätzung auch etwas Mitgefühl. Ich will hier nicht das ganze Panorama des demokratischen Parteienwesens im 21. Jahrhundert ausbreiten, aber ein paar wichtige Entwicklungslinien der Zeit vor der Jahrhundertmitte will ich doch erwähnen. Die Gründungsmythen der alten Parteien waren zu dieser Zeit ausnahmslos zerronnen. Labour war keine Arbeiterpartei mehr, die christlichen Demokraten keine Christenpartei, die Sozialdemokraten fanden für ihre sozialen Grundsätze und die Liberalen für ihre Liberalität keine zeitgemäßen Begriffe mehr, und konservativ waren auf ihre Weise fast alle geworden. Die Namen der alten Parteien hatten jegliche Aussagekraft verloren, und deren Politikangebote waren de facto zu Personalangeboten geschrumpft. Die etablierten Parteien waren 185 bestenfalls noch biedere Staatsverwalter mit aufgesetzter programmatischer Rhetorik. Damit aber unterschieden sie sich immer weniger noch von den populistischen Parteien. Anfang des Jahrhunderts hatte es in den meisten Ländern noch als selbstverständlich gegolten, dass die Parteienlandschaft aus einem stabilen Block etablierter Altparteien und einer schillernden Szene kurzlebiger populistischer Parteien bestand, zu der damals Phänomene wie Le Pens Front National, Beppe Grillos Fünf-SterneBewegung in Italien, Die deutsche Piratenpartei, die Alternative für Deutschland, die Partij voor de Vrijheid, Podemos in Spanien und die europakritische United Kingdom Independence Party gehörten. Der Niedergang der Altparteien ließ den Wählern dann spätestens in den vierziger Jahren nur noch die Wahl zwischen Pest und Cholera, zwischen ausgemergelten Altparteien und opportunistischen Populisten. Keine der wählbaren Parteien stand mehr für nachhaltige Kompetenz in der Bewältigung langfristiger Aufgaben, und dies in einer Zeit, in der Politik es immer mehr mit langfristigen Aufgaben zu tun bekam: Umweltpolitik, Energiepolitik, Friedenssicherung, Migrationspolitik, Sozialpolitik, Bevölkerungspolitik, Geldpolitik, Finanzpolitik, Entwicklung des Rechtssystems, Weiterentwicklung internationaler und und suprastaatlicher Institutionen, Neubestimmung von Staatsgrenzen und anderem. Der große politische Stimmungseinbruch der späten vierziger Jahre hätte daher niemanden überraschen sollen. Parteien, Regierungen und der Parteienstaat wurden mit immer bissigerer Häme überzogen, von kritischen Medien und vereinzelt sogar im Staatsfernsehen, und politische Inkompetenz wurde gelegentlich schon von johlenden Massen auf den Straßen, mit Massenhupkonzerten organisierter Autocorsi und im Internet in hämischen Massenshitstorms angeprangert. So geschehen nach einem fünfmaligen Scheitern des Europaparlaments an der Wahl eines Parlamentspräsidenten und nach dem Auseinanderbrechen frisch gebildeter Regierungskoalitionen in einem halben Dutzend EU-Staaten. Wer seinen 186 demokratischen Parteienstaat nicht mehr respektieren konnte, wollte sich wenigstens noch über ihn amüsieren. Ich war nie Mitglied einer politischen Partei, aber in meiner Arbeit bei der parteinahen Stiftung in den zwanziger Jahren war ich dem Parteienwesen eine Zeitlang doch sehr nahe gewesen. Damals war ich noch nicht so weit, die Kompetenz demokratischer Parteien so grundsätzlich in Frage zu stellen, wie ich es in den vierziger Jahren zu tun begann. Damals hielt ich es noch für völlig normal, dass Parteien vorgaben, das Ganze der Politik zu beherrschen. Nichts lag mir ferner als die Frage, ob in Parteien hierfür denn genug Kompetenz versammelt sei. Welche maßlose Selbstüberschätzung und welche Blindheit für die Größe der Aufgabe in diesem Anspruch lag, darüber begann ich - von Hauser angestiftet - erst viel später ernsthaft nachzudenken. Natürlich habe ich mich dabei nicht zu einem Anhänger von Einparteiensystemen gewandelt. Tians Argumente hatten mich überzeugt, dass Chinas Einparteienregime für China eine bessere Lösung sein könnte als die westliche Parteiendemokratie, aber es gab natürlich Gegenbeispiele. Kuba war unter der Einparteienherrschaft der Castros und ihrer Nachfolger wirtschaftlich und intellektuell dahingesiecht, und noch weitaus schlimmer war es Nordkorea ergangen. Ich weiß natürlich, was Tian dazu gesagt hätte. Es gebe doch auch Länder, hätte er gesagt, die von demokratischen Mehrparteienregimen ruiniert würden. Es komme also auf die Umstände und auf die menschlichen Akteure an. China habe eben das Glück gehabt, dass seine Führung dynastisches und dogmatisches Denken schneller und gründlicher überwunden habe als andere Einparteienregime. Oder Tian hätte, wie er es später tatsächlich einmal tat, den Vergleich mit der römischen Kurie gezogen: Die Minen um ihren Generalsekretär versammelter kommunistischer Politbüromitglieder hätten ihn früher oft an die Minen um den Papst versammelter Kurienkardinäle erinnert. Das sei Geschichte. Im Vatikan seien diese Bilder die gleichen wie immer und sie stünden für das gleiche Denken wie immer. In China seien die Bilder inzwischen andere, und 187 sie stünden vor allem für ein anderes Denken. Auch darin zeige sich die Wandlungsfähigkeit von Chinas Einparteienregime. Aber was halfen solche Überlegungen im Umgang mit dem schwächelnden westlichen Mehrparteiensystem? Und was halfen auch die Gedankenspiele einiger westlicher Intellektueller, die noch immer darüber sinnierten, dass die direkte Demokratie, wie sie in hellenischen Stadtstaaten vor zweieinhalbtausend Jahren praktiziert worden war, der modernen Demokratie konzeptionell überlegen sei? Diese klassische Demokratie war ein gutes Modell für kleine Stadtstaaten mit den politischen Anforderungen der damaligen Zeit, aber mehr nicht. Wir leben in einer Zeit schleichender politischer Langzeitkatastrophen in einem leistungsschwachen demokratischen Parteienstaat mit einem zerbröselnden Parteiensystem. An wen und gegen wen konnten wir uns wenden, um eine bessere Politik zu bekommen? Steckten wir in einer Falle, die wir noch nicht einmal verstanden hatten? Ähnlich hatte Hauser es mir früher nahegelegt, aber meine Gedanken hierzu drehten sich jetzt im Kreis. Die Demokratie als Falle? Der Gedanke war eine Herausforderung, aber wozu führte er? Ich konnte diesen unfertigen Gedanken nicht für mich behalten. Ich machte Klaus vorsichtige Andeutungen dazu, und ich fragte Constanze, was sie mit dem Gedanken anfange könne. Klaus zeichnete - auch das konnte er - eine wunderbar witzige Karikatur von der über gutgelaunten Bürgern zuschnappenden "Demokratiefalle", und von Constanze kam erst einmal nur das Kompliment: interessanter Gedanke. Aber dann tauschten wir nach und nach kurze Mails aus, aus denen sich langsam ein zusammenhängendes Argument bildete. Es war Constanze, die es schließlich so zusammenfasste: Wandeln politische Regime sich von allein, wenn die Zeit es erfordert? Die Lehre der Geschichte ist natürlich eine andere. Wo hätte ein politisches Regime sich je aus höherer Einsicht selbst abgeschafft und selbst ein zeitgemäßes Nachfolgeregime installiert? Für solche Regimewechsel bedarf es der Rebellion. 188 Über Jahrhunderte hat sich der Gedanke etabliert, dass Rebellionen dazu dienen, autokratische Regime jeglicher Art, seien es Diktaturen, Monarchien oder kommunistische Regime, zu überwinden und zur Demokratie überzuleiten. Wozu sonst sollten Rebellionen noch dienen? Was aber, wenn sich irgendwann herausstellt, dass auch das, was wir Demokratie nennen, nicht mehr zeitgemäß ist? Sollten die Bürger dann rebellieren? Und wenn ja, gegen wen? Gegen von ihnen selbst gewählte Regierungen? Das könnten sie natürlich tun, aber was anderes könnten sie damit bewirken als Neuwahlen - die dann aller Voraussicht nach wiederum nur überforderte Regierungen hervorbrächten? Genau dies ist die Falle, in der wir als Demokratiebürger stecken. Wir könnten immer nur gegen von uns selbst gewählte Regierungen rebellieren, aber dies würde wieder von uns selbst gewählte Regierungen ähnlicher Art hervorbringen. Statt offen zu rebellieren, warten wir daher geduldig bis zur nächsten regulären Wahl. Was immer wir also tun: Wir festigen damit eine Demokratie, die ihrer Zeit nicht mehr gewachsen ist. Wir sind gefangen in einem System, das sich selbsttätig reproduziert. Aber so kann und wird es nicht bleiben. Wir Bürger könnten im späten 21. Jahrhundert ein erstes Zeichen setzen, das darüber hinausweist. Wir könnten uns Wahlen, die immer wieder überforderte Regierungen hervorbringen, systematisch verweigern. Die Botschaft des Nichtwählens wäre dann: Wir werden erst dann wieder wählen, wenn wir mit unserer Stimme Größeres bewirken können, bis hin zu einem Regimewechsel. Je weniger von uns noch zur Wahl gingen, desto eindringlicher wäre diese Botschaft. So hat Constanze es - fast im Hauserschen Stil - auf den Punkt gebracht. Sie hatte schon früher einige Male Gedanken, an die Hauser oder auch ich uns mühsam herangetastet hatten, in eigene Worte gefasst, und dann stand solcher Gedanke plötzlich mit unerwarteter Selbstverständlichkeit im Raum. Schon dass sie unsere Demokratie als Regime bezeichnete, war ein erhellender Bruch mit unserem 189 politischen Sprachgebrauch. Natürlich, es war nicht die Zeit für offene Rebellion, aber würde das ewig so bleiben? Noch einige Prozente weniger Wahlbeteiligung und irgendein einschneidendes Ereignis, für das uns noch das Vorstellungsvermögen fehlte, und die Zeit für große Veränderungen wäre nah. Hundertjahrfeiern Eine Zeitung muss mit der Zeit gehen, sie muss sich verändern können, das kann kein vernünftiger Mensch bestreiten. Auch der SPIEGEL hatte in seiner Geschichte kleine Metamorphosen erlebt, nicht nur die Aufteilung in Print- und Onlinemagazin. In den frühen vierziger Jahren lagen dann neue große Veränderungen in der Luft, das spürten wir alle. Untrügliche Vorboten waren Streitigkeiten im Management und der Redaktionsleitung. Unsere zwei Chefredakteure hatten einige Jahre ziemlich gut zusammengearbeitet, scheinbar unbehelligt von Verlagsleitung und Eigentümern, nun aber herrschte offener Kampf. Die angespannte Stimmung war überall zu spüren, auch im Archiv. Das sichtbarste Konfliktsymptom war der Streit um Kiesewetter, einen unseren beiden Chefredakteure. Kiesewetter war ein großer Themenfinder, aber auch ein streitbarer und meinungsstarker. Der Konflikt war ihm lieber als der Kompromiss, gerade bei politischen Themen. Am Ende stritt nicht nur Kiesewetter gegen andere im Verlag, man stritt im Verlag über Kiesewetter. Die Verlagsleitung gegen ihn, eine Eigentümerfraktion für ihn, Kiesewetter gegen den anderen Chefredakteur, die meisten Redakteure gegen Kiesewetter, viele für ihn, die Eigentümer- und Redaktionsfraktionen gegeneinander. Nur das Archiv konnte sich aus den Kämpfen noch heraushalten. Es gab noch andere umkämpfte Personalien, aber auch dahinter steckte Streit um die Sache. Beide Chefredakteure, so schien es zuerst, waren Verlegenheitslösungen, Kompromisse, auf die sich Eigentümer und Verlagsleitung mühsam hatten einigen können. Beide kamen aus der eigenen Redaktion, beide hatten als Redakteure solide und unspektakulär gearbeitet, aber bei manchen Menschen erwachen eben in 190 Führungspositionen schlummernde Neigungen. Zum Beispiel ein starker Führungswille oder eine persönliche Mission. Bei Kiesewetter war es die Mission. Der SPIEGEL, meinte Kiesewetter, sei eine solide Zeitschrift, aber nicht mehr als das, über die Auflagenverluste der letzten dreißig Jahre dürfe man sich nicht wundern. Was nottue, sei eine Rückbesinnung auf Zeiten, in denen der SPIEGEL ein Leitmedium gewesen sei, ein unverwechselbares sogar, und zur Unverwechselbarkeit gehöre nun einmal Meinungsstärke. Auch Meinungsstärke schütze nicht unbedingt vor weiterem Auflagenverlust, aber sie schaffe eine umso treuere Leserschaft, auf die der Verlag langfristig bauen könne. Nur so könne der SPIEGEL überleben. Für die Verlagsleitung und die Mehrheit der Eigentümer war das Ketzerei. Der SPIEGEL heiße nicht umsonst SPIEGEL, insistierten sie, sein Name sei auch Programm. Der SPIEGEL solle ein Spiegel des Zeitgeschehens sein, alles andere sei Anmaßung. Die Welt mit einer politischen Zeitschrift verändern zu wollen, wie Kiesewetter es sich womöglich vorstelle, das sei veraltetes Denken. Er meine nicht, hielt Kiesewetter dagegen, dass der SPIEGEL die Welt verändern solle, aber dass man in manchem doch auch anders denken könnte, als es gerade Mode sei, und das zu zeigen sollte eine Aufgabe des SPIEGEL sein. Nur wenn der SPIEGEL echte Kontroversen anstoße, werde er in aller Munde sein, nur dann würden die Menschen auf den SPIEGEL wieder wirklich neugierig werden, nur dann könne er zu alter Stärke zurückfinden. Den späten Guttenberg beispielsweise mehr als ein Jahrzehnt lang immer nur als ausländerfeindlichen Terroristenversteher abgetan zu haben, sei zu simpel gewesen, in manchem habe Guttenberg sich doch zu einem ernst zu nehmenden Querdenker entwickelt. Auch die Auseinandersetzung mit der Muslimisch Sozialen Union, mit der Frage vor allem, ob die MSU eine Bereicherung der deutschen Demokratie sei oder nur eine muslimische Spielart billigen Populismus, sei im SPIEGEL viel zu oberflächlich geblieben. Viel schlimmer noch: In den großen Fragen von Frieden und Freiheit habe der SPIEGEL sich stur an Verfassung und Völkerrecht geklammert, auch da, wo Verfassung und Völkerrecht offensichtlich im 20. Jahrhundert steckengeblieben seien. Und eine so neuartige und 191 originelle Erscheinung auf der politischen Bühne wie die Neokraten sei dem SPIEGEL nicht einmal eine Erwähnung wert gewesen. Es war ein klassischer Streit ums redaktionelle Prinzip, wie er schon in vielen großen Redaktionen und Verlagen ausgetragen worden war. Dieser Streit war unausweichlich, aber Mitte der vierziger Jahre kam er höchst ungelegen. Der SPIEGEL war 1947 gegründet worden, für 2047 stand die Hundertjahrfeier an. 100 Jahre SPIEGEL, das waren 100 Jahre deutsche Pressegeschichte, und da der SPIEGEL lange der prominenteste journalistische Begleiter deutscher Politik gewesen war, waren es auch 100 Jahre deutsche Demokratiegeschichte. Die Vorbereitung der Feierlichkeiten begann zweieinhalb Jahre vorher. Kanzler Mesäcker würde kommen, das war klar, die Bundespräsidentin, eine gute Hundertschaft sonstiger höchster deutscher Politprominenz und höchste politische Prominenz natürlich auch aus viele anderen Ländern, dazu führende Literaten und Wissenschaftler, die für den SPIEGEL geschrieben und ihm Interviews gegeben hatten, und Kultur-, Medien- und Sportprominenz, über die der SPIEGEL berichtet hatte. Mit möglichst niemandem sollte die Redaktion es sich daher in dieser Zeit verscherzen. 100 Jahre SPIEGEL, das sollte ein Fest ohne Misstöne sein. Der SPIEGEL sollte sich als Jubilar in der eigenen Geschichte sonnen und das von ihm gespiegelte Deutschland mit ihm. Eigentümerfraktionen, Verlagsleitung, Redaktion und Redaktionsleitung verordneten sich nach zähen Gesprächen einen langen Waffenstillstand. "100 Jahre SPIEGEL" wurde eine große Inszenierung. Natürlich wurde dabei mit dem Blick in die Vergangenheit gefeiert, und die vergangenen hundert Jahre wurden dabei weichgezeichnet. Man wollte Erfolgsgeschichten hören, und man bekam sie. Es war eine hoch professionelle, spektakuläre und doch harmonische Veranstaltung, und die Stimmung war so gut, dass dieser eine bitterböse Coup fast nur gutgelauntes Schmunzeln auslöste: Mehrere Male tauchte bei den Feiern eine beklemmende menschliche Gestalt in ominöser Verkleidung auf. Ein schwergewichtiger graubärtiger Greis mit schütterem Haar, fahlem Gesicht, schleppendem Gang, 192 gestützt auf einen Rollator, wie todgeweiht. Auf Brust und Rücken ein weißes Pappschild. Die Aufschrift: Ich und der SPIEGEL, geb. 1947. Darunter: Gleich viel hinter uns, gleich viel vor uns. Als ich zum ersten Mal an der Gestalt vorbeiging, ahnte ich nichts, beim zweiten Mal kam ein Verdacht auf, beim dritten Mal wusste ich: Es ist Klaus. Kein perfektes Inkognito, aber kaum jemand schaute genau hin. Er hatte sich Aufsehen gewünscht, er hatte fast Kopf und Kragen riskiert, aber sein Coup verpuffte in der Feststimmung. Der SPIEGEL als ausgemergelter Greis, diese Anspielung kam nicht an. Dass Klaus ein glühender Kiesewetter-Fan war, offenbarte er mir erst später. Für den zweiten Tag der Jubiläumsfeier hatte der SPIEGEL frühere Mitarbeiter aus aller Welt eingeladen. Man wollte sich als Weltunternehmen präsentieren, und dafür brauchte man Gesichter aus aller Welt. Auch aus China kam eine kleine, vierköpfige Delegation. Einer der vier war Tian. Dass Tian an diesem Tag nach Hamburg kommen würde, hatte ich erst wenige Tage vorher erfahren. Die Genehmigung für seine Teilnahme, erklärte er mir später, hätten die Behörden buchstäblich in letzter Minute erteilt. Natürlich hatten wir uns dann verabredet. Nach der Veranstaltung hatten wir einen ganzen Tag für uns, und dazu hatte ich auch Constanze eingeladen. So wurde wahr, was viele Jahre ein vager Wunsch von mir gewesen war: ein Treffen mit Constanze und Tian und ein gemeinsamer Besuch von uns Dreien bei Hauser. Auf den ersten Blick erkannte ich Tian kaum wieder. Wir hatten uns zu lange nicht gesehen. Er war fülliger geworden, sein Haar war im Stirnbereich schütter, und er trug eine markante Brille. Aber schon nach wenigen Sätzen sprachen wir miteinander fast wir früher. Wir mussten nicht anfangen, wo wir vor vielen Jahren zu diskutieren aufgehört hatten, wir beide ahnten, wo der andere in seinem Denken inzwischen angekommen sein könnte, er mit seinen sechsundvierzig Jahren, ich mit meinen einundfünfzig. Constanze sagte fast nichts, sie hörte aufmerksam zu, als wolle sie 193 kein Wort verpassen. Beinahe rührend sei es gewesen zwischen Tian und mir, sagte sie später, und für sie ein großer Gewinn. Tian wollte mit mir auch ausführlich über den SPIEGEL sprechen. Er sei gerade für einige Jahre ans Medieninstitut der Partei delegiert worden, in führender Stellung, wie er mit verlegenem Stolz erklärte, und an diesem Institut würden Konzepte für die Zukunft der chinesischen Presse entwickelt. China, das sei sicher, brauche eine neue Art von Nachrichtenmagazin, und das Institut habe sich in der Welt nach Vorbildern umgeschaut. Er selbst habe den SPIEGEL ins Gespräch gebracht, der stehe jetzt ganz oben auf der Favoritenliste, und dazu gebe es sogar schon ein positives Signal von der Parteiführung. - Etwa ein chinesischer SPIEGEL als Parteiorgan?, fragte ich. Nein, sagte Tian, das natürlich nicht, es solle ein unabhängiges Nachrichtenmagazin sein, ähnlich wie der SPIEGEL eben, und es werde ganz ähnlich berichten dürfen wie der der SPIEGEL und auch ebenso kritisch. China nehme es mit der Pressefreiheit ernst. Das, erwiderte ich, sei aber noch keine Pressefreiheit wie uns. Bei uns könne die Presse, wenn sie wolle, natürlich viel kritischer berichten als derzeit der SPIEGEL. Vielleicht werde der SPIEGEL das bald auch selbst tun. - In China sind wir erst einmal zufrieden, sagte Tian, wenn wir einen chinesischen SPIEGEL bekommen wie euren jetzigen. Was aus dem SPIEGEL in Deutschland einmal würde, das werde man in China dann in Ruhe beobachten. Ich wusste, dass Hauser seit Längerem ein ziemlich zurückgezogenes Leben führte. Mit dem Besuch von uns Dreien, Constanze, Tian und mir, wollte ich ihm einen Dienst erweisen. Er sei, auch wenn er zurückgezogen lebe, alles andere als ein einsamer alter Mann, hatte er mir einmal gesagt, seine Gedanken seien treue Begleiter, die ihn vor dem Gefühl des Alleinseins bestens schützten. Aber Constanze, das wusste ich, würde er gern wiedersehen, und über Tian hatte ich ihm zu viel erzählt, als dass er sich nicht auch auf seinen Besuch freuen würde. So saßen wir 194 dann am nächsten Vormittag zu viert in Hausers Wohnzimmer. Es begann ein wenig steif. Tian hörte uns drei anderen eine Zeitlang stumm zu. Dann fing Hauser an, Tian Fragen über China zu stellen. Fragen, die andere bei einer ersten Begegnung sich nicht zu fragen getraut hätten, aber Hauser stellte sie auf so entwaffnend offene Art, dass Tian sofort Vertrauen fasste. Hauser hörte Tians Antworten mit höflicher Aufmerksamkeit zu. Dann, nach einer kurzen Bemerkung zum deutschen Parteienwesen, brachte er das Gespräch wie beiläufig auf Chinas kommunistische Partei. Irgendwann werde die Partei ihre Rolle in Staat und Gesellschaft sicher noch einmal überdenken müssen. - Ja, das stimmt, wir selbst machen uns Sorgen um die Partei, sagte Tian. Ein Satz, der Hauser so fühlbar die Ohren spitzen ließ, dass Constanze und ich einander erstaunt ansahen. - Unsere Partei, fuhr Tian fort, wird euren Parteien immer ähnlicher. - Wie denn das?, fragte Hauser. - Unsere Partei hat immer weniger Mitglieder, und sie gewinnt zu wenig kluge Köpfe. Hauser senkte kurz den Blick, sichtlich verblüfft, dann sah er mich an, dann Constanze, dann, fast hörbar nachdenkend, schwieg er, dann dieser Satz: - Dann hat China jetzt wohl die Nachteile des Mehrparteien- und des Einparteiensystems vereint. Ich war irritiert. Hausers Tonfall war leicht herausfordernd gewesen, unzumutbar herausfordernd, glaubte ich, für Tian. Aber auch im hohen Alter hatte Hauser in manchem noch immer das sicherere Gespür. Tian sah ihn lange mit hellwacher, verständnisvoller, beinahe herzlicher Miene an. Schließlich sagte er: - Genau das ist unsere Sorge. Das können wir natürlich nicht zulassen. Von dem Moment an war es, als wären die beiden längst vertraute Gesprächspartner. 195 Natürlich, sagte Hauser, dass die Partei in China ebenso hinter den Anforderungen der Zeit zurückbleibe wie das Parteienwesen bei uns, das dürfe nicht sein. Aber wie man denn in China eine solche Entwicklung aufhalten wolle, die auch die westlichen Demokratien bisher nicht aufhalten konnten. Tian holte mit seiner Antwort weit aus. Chinas kommunistische Partei habe fast zwei Generationen gebraucht, um sich vom Maoismus zu lösen und eine moderne Staatsverwaltungspartei zu werden. In den kommenden zwei Generationen werde China noch einmal einen ähnlich weiten Weg zurücklegen müssen, vielleicht sogar einen noch viel weiteren. Noch gebe es in der Partei genug Menschen, die sich darüber im Klaren seien. Deswegen lasse die Partei nach Anregungen für ihre eigene Veränderung suchen. - Wir beobachten auch, sagte er dann, wo sich bei euch Neues entwickelt. Wir beobachten zum Beispiel eure Neokraten. Ich warf Constanze und Hauser erstaunte Blicke zu. Neokratische Gedanken in China? Nichts hätte mich mehr überrascht. Mit den Neokraten hatte auch ich mich bisher kaum befasst. Ausgerechnet in China schauten Leute wie Tian viel genauer hin? Hauser zeigte keine Spur von Überraschung. Er sah Tian an und lächelte. - Alle Achtung, sagte er. Ich wünschte, ich wäre noch jung genug, um zu erleben, was ihr in China daraus macht. Nach der Hundertjahrfeier des SPIEGEL lebten die Streitigkeiten im Verlag wieder auf, aber weniger heftig, als alle es erwartet hatten. Zumindest wurde weniger Streit in die Öffentlichkeit getragen. Ein Grund dafür mag gewesen sein, dass bei manchen die Gedanken schon zur nächsten großen Hundertjahrfeier vorauseilten: Hundert Jahre Grundgesetz. Mai 2049. Eigentümer und Verlagsleitung wollten den SPIEGEL 2049 noch einmal auf großer Bühne gefeiert sehen, dieses Mal als das Medium, das die Normen des Grundgesetzes hundert Jahre lang unbeirrt hochgehalten habe. Die Planungen für ein 196 Sonderheft in Millionenauflage begannen schon Ende 2047, die Planungen für Veranstaltungen im Verlagshaus und im Kongresszentrum kurze Zeit später. Das Veranstaltungsprogramm des SPIEGEL, so der Plan, sollte alle anderen Feiern zum Verfassungsjubiläum überragen. Zuerst wagte niemand dagegen offenen Widerspruch. Nur Kiesewetter, das sprach sich langsam herum, war dagegen. Natürlich machte er sich damit noch mehr Feinde. Er habe zu wenig dafür getan, warf die Verlagsleitung ihm später vor, Deutschland mit SPIEGEL-Artikeln auf das Verfassungsjubiläum einzustimmen. Kiesewetter sah die Rolle des SPIEGEL ganz anders, aber vorerst hielt er still. In Gedanken war ich auf seiner Seite. Das Verfassungsjubiläum war natürlich alles andere als ein Jahrhundertereignis, es war eben nur ein Gedenktag. Der Grund, warum hier trotzdem davon die Rede sein muss, ist Klaus. Bei der Hauptveranstaltung im Verlagshaus versuchte er wieder einen großen Auftritt. Wieder inkognito. Wieder in der Verkleidung als Hundertjähriger, wieder als aschfahler Sterbenskranker, wieder mit Rollator, wieder mit einem umgehängten Pappschild. Darauf in großer Schrift: Gleich alt, gleich stark: ich und das Grundgesetz. Dieses Mal hielt sein Inkognito nicht. Ein aufmerksamer Redakteur erkannte ihn. Kurz darauf wurde Klaus von Ordnungskräften aus dem Verlagshaus gedrängt. Am nächsten Tag wurde ich von der Verlagsleitung vorgeladen. Was für Mitarbeiter ich denn im Archiv beschäftigte. Welche Personalpolitik ich denn in all den Jahren betrieben hätte und warum ich einen Mann wie Klaus nicht viel früher durchschaut hätte. Was ich zu tun gedächte, um solche personellen Fehlgriffe in Zukunft zu vermeiden. Und schließlich: Klaus sei fristlos entlassen. Dann drückten sie mir das Kündigungsschreiben in die Hand. Ich überflog es kurz und nickte nur. Eine ordentliche Abfindung bei sofortigem Ausscheiden. Ein Angebot, das einer wie Klaus nicht ablehnen würde. Immerhin hatte er einen starken Abgang gehabt. Er war unser Farbtupfer im manchmal etwas grauen Archivalltag gewesen. Einer von denen, die mir die Gewissheit gaben, dass Archivarbeit lebensnah war. Noch wusste ich 197 nicht, wie vieles er vor mir verborgen hatte, aber ich vermisste ihn vom nächsten Tag an. Sinnstiftungsversuche 100 Jahre Verfassung, das bedeutete auch hundert Jahre Verfassungsschutz, und wen der Verfassungsschutz damals schon als vermeintliche Feinde von Freiheit und Demokratie ins Visier genommen hatte, das ahnte zu diesem Zeitpunkt selbst beim SPIEGEL noch niemand. Während also der SPIEGEL seelenruhig die Verfassung und sich selbst feierte, dokumentierten wir im Archiv weiter so seelenloses Zeitgeschehen wie die aktuellen Episoden des Dritten Weltkriegs in Afrika und die schwelende Krise des Parteienwesens in Deutschland. Die MSU war mittlerweile zu einer der mitgliederstärksten Parteien des Landes gewachsen, aber auch zu einer der zerstrittensten. Türken und Nichttürken in der Partei bekämpften einander unerbittlich, und nichttürkische Gruppen kämpften ebenso unerbittlich gegeneinander. 2048 dann der große Finanzskandal, aufgedeckt vom Verfassungsschutz. Die Partei finanzierte sich zu 80% mit verdeckten Spenden aus muslimischen Ländern, zwei Drittel davon aus der Türkei, der Rest größtenteils aus Saudi-Arabien und Katar. Dabei hatten innerparteilichen Fraktionen ihre je eigenen Geldgeber. Der Verfassungsschutz rechnete daher mit einem baldigen Auseinanderbrechen der Partei. Aber noch geschah nichts. Die Abgeordneten der MSU hatten keinen erkennbaren Einfluss auf Regierung und Gesetzgebung. Insofern nützte die MSU bis dahin niemandem, aber sie richtete auch keinen Schaden an. Trotzdem war sie natürlich für viele ein rotes Tuch. Allein der Stil der innerparteilichen Machtkämpfe machte vielen Angst, und der Finanzskandal tat ein Übriges. Parteien und überwiegend auch die Medien rieten trotzdem zur Gelassenheit. Die MSU werde nach ihren unvermeidlichen Flegeljahren früher oder später eine Partei wie jede andere werden. Andere hielten sie bereits für eine fast normale Partei, eine ganz normal zerstrittene, die sich nur noch die Streitroutine der 198 anderen Parteien aneignen müsse. Manche dagegen wollten die MSU noch immer vom Verfassungsgericht verbieten lassen. Einige wenige sahen es noch grundsätzlicher: Die MSU sei offensichtlich nicht regierungsfähig, daher brauche Deutschland endlich ein Parteiengesetz, dass offenkundig nicht regierungsfähige Parteien von Parlamentswahlen ausschließe. Ein Parteiengesetz, das dies nicht tue, verletze Grundrechte, sei also verfassungswidrig und müsse vom Verfassungsgericht für nichtig erklärt werden. Für kurze Zeit wurde hierüber auch in den Medien debattiert, und dabei wurde die Frage der Regierungsfähigkeit grundsätzlicher gestellt. Regierungsfähigkeit müsse man nicht nur von Parteien verlangen, argumentierten einige, sondern natürlich auch von Politikern. In einem Land wie Deutschland seien für zahllose, auch vergleichsweise einfache berufliche Tätigkeiten Befähigungsnachweise erforderlich, aber das Land regieren dürfe jeder. Das Grundgesetz verbiete das zwar nicht, aber ob es mit dem Geist des Grundgesetzes vereinbar sei, diese Frage dürfe man doch einmal stellen. Das Ansinnen, Regierungsfähigkeit justitiabel zu machen, war natürlich nicht nur formaljuristisch unschlüssig, sondern auch hoffnungslos naiv. Regierungsfähigkeit ist keine Eigenschaft, über die Gerichte objektiv entscheiden könnten. So sah auch ich zuerst diese Initiative. Bis ein Archivmitarbeiter mir den Text der Verfassungsbeschwerde gegen das Parteiengesetz auf den Tisch legte. Lies mal, sagte er, es ist clever gemacht. Ich überflog den Text flüchtig, sah mir dann die Namen der Kläger an. Ein knappes Dutzend, einige bekannte Namen dabei, ausnahmslos alte Herren. Drei davon mit Professorentitel. Einer von ihnen: Graf. Unser alter Professor Graf! Wenn Graf unterschrieben hat, dachte ich sofort, dann muss etwas daran sein, dann kann die Klage nicht ganz so naiv sein, wie es schien, und dann ist sie womöglich auch zulässig. Und genau so war es. Die ganze Klageschrift war eine hintersinnige List. Das Kalkül der Kläger: Wenn die Klage zugelassen wird, dann haben wir schon 199 gewonnen. Dann wird die Klage zwar abgewiesen, aber es wird dafür eine Begründung geben. Und auf nichts anderes als diese Begründung hatten die Kläger es abgesehen. Graf erlebte den Fortgang des Verfahrens nicht mehr, aber es wurde für mich so etwas wie Grafs Vermächtnis. Die Klage wurde - eine großzügige Rechtsauslegung der Richter - tatsächlich zugelassen, und sie wurde wie erwartet abgewiesen. Aber die Urteilsbegründung wäre für Graf, hätte er sie noch erlebt, ein stiller Triumph gewesen. Regierungsfähigkeit, so das Gericht, sei zwar objektiv schwer zu fassen, aber die Klage sei nicht schon deswegen abzuweisen, weil Regierungsfähigkeit ein unbestimmter Begriff sei. Die Kläger hätten dazu durchaus Überlegenswertes vorgetragen, auch wenn sich daraus ergebe, dass keine der im Parlament vertretenen Parteien regierungsfähig sei. Abzuweisen sei die Klage aus anderen Gründen. Parlamente sollten die gesellschaftliche Realität abbilden, daher hätten auch Parteien wie die MSU zu Recht im Bundestag ihren Platz. Dass zu Wahlen nur regierungsfähige Parteien zuzulassen seien, ergebe sich dagegen weder aus dem Buchstaben noch dem Geist des Grundgesetzes. Auf eine solche Feststellung hatten Graf und seine Mitstreiter es angelegt: Selbst wenn keine der ins Parlament gewählten Parteien regierungsfähig sei, entspreche das dem Geist des Grundgesetzes. Man konnte, ja man musste dies auch so verstehen: Mit dem Grundgesetz und dem Parteiengesetz sind der politischen Inkompetenz in Parlament und Regierung Tür und Tor geöffnet. Genau das war es, was Graf schwarz auf weiß haben wollte. Auch Hauser zeigte sich von dem Urteil natürlich tief beeindruckt. Er nannte es einen Offenbarungseid der Parteiendemokratie. Was geht wie lange gut? So hatte Hauser immer wieder die Frage nach der Lebenserwartung von Staaten, von politische Regimes, politischen Ideologien und am Ende sogar von Religionen gestellt. Der Grundgedanke ist fast banal: Wenn 200 Menschen sich an etwas gewöhnt haben, halten sie möglichst lange daran fest, auch an ihren Überzeugungen, an ihrer Macht, ihren Aufgaben, ihrem Wohlstand, ihren Vorbildern, ihren Identifikationsfiguren, ihrem Glauben. Trotzdem kommt bei all dem irgendwann doch die Zeit des schmerzlichen Wandels. Dabei sind wir es oft selbst, die liebgewonnenen Gewohnheiten den Boden entziehen. Wir stellen als Bürger Anforderungen, denen alte Regimes, alte Vorbilder, alte Identifikationsfiguren und alte Dogmen nicht mehr gewachsen sind. Oder wir verlangen nach Produkten, die mit der gewohnten Art von Arbeit nicht mehr produzierbar sind. Oder wir verändern die Welt mit neuen Bedürfnissen, um irgendwann erschrocken festzustellen, dass die so veränderte Welt nicht mehr zu unseren alten religiösen Überzeugungen passt. In all solchen Fällen kann es so, wie es war, nicht mehr lange gutgehen. Seit ich Hausers Nachfolger geworden war, waren inzwischen mehr als zwanzig Jahre vergangen. Am Abend vor seinem 81. Geburtstag hatte er eine kurze Mail verschickt, mit der er den "wohlmeinenden Glückwünschen meiner lieben Freunde zuvorkommen" wollte. "Ich habe mir schon im Namen von euch allen ganz herzlich gratuliert. Dafür danke ich euch". Hauser in seinem neunten Lebensjahrzehnt in Höchstform. Er hatte sich mit allem Floskelhaften, auch mit allen üblichen Glückwunschritualen, immer schwergetan, und nun fand er dafür klarere Worte denn je. Aber war ich nicht einer der wenigen, über deren realen Glückwunsch er sich dennoch freuen würde? Zwei Tage danach, als mir die rituelle Glückwunschpflicht abgelaufen schien, rief ich ihn an. Ich brauchte, sagte ich, ganz dringend den altersweisen Rat eines über Achtzigjährigen, und ich wisse nicht, wer sonst mir solchen Rat geben könnte. Am nächsten Tag trafen wir uns in seiner Wohnung. Zum ersten Mal fiel mir auf, dass die Jahre auch in seinem Gesicht tiefe Spuren hinterlassen hatten. Die Augen hatten sich weiter in ihre Höhlen zurückgezogen, und von der leichten Aura der 201 Unsterblichkeit, die er früher für mich immer ausgestrahlt hatte, war nichts geblieben. Ich war irritiert, und ich verbarg es nicht. - Du bist auch nicht gerade jünger geworden, sagte er. Ja, dachte ich, natürlich. Ich war eben noch in einem Alter, in dem man viel mehr an das Altern der Älteren denkt als an das eigene. - Es tut ja nicht weh, sagte er, im Gegenteil. Man soll sich beim Altern zusehen und seinen Frieden damit machen. Damit waren wir fast schon beim Thema, über das ich mit ihm hatte reden wollen. Vergänglichkeit. Was geht wie lange gut? Was hat wie lange Bestand? Ich glaubte, sagte ich, auch der Verlag sei in den letzten Jahren gealtert, vielleicht schneller denn je. Man könne nicht wissen, wie lange es mit dem Verlag noch gutgehe, auch er wisse es natürlich nicht, aber vielleicht könne er meinen Gedanken darüber doch auf die Sprünge helfen. Hauser sprach langsam und zögernd, aber am Ende war es genau wie früher. Ich erzählte ihm von den kleinen und großen Konflikten, von Kiesewetter und seiner schwierigen Lage, von den Gerüchten über Investoren, die den Verlag übernehmen wollten, und natürlich vom Streit über das Archiv. Dass die Verlagsleitung das Budget des Archivs Jahr für Jahr schmälere und dass so die Qualität des Archivs nicht zu halten sei. Und dass, viel schlimmer noch, neuerdings die Redaktion sich das Archiv einverleiben wolle. Das Archiv diene der Redaktion, so argumentierte u.a. der zweite Chefredakteur, niemand wisse besser als die Redaktion selbst, wie dies zu geschehen habe, und die Redaktion wisse daher auch am besten, wo und wie das Archiv Kosten sparen könne. Die Ausbildung ausländischer Praktikanten z.B. sei ein Luxus, den ein Verlagsarchiv sich in der heutigen Zeit kaum noch leisten könne, damit könne man anfangen. Dann erzählte ich ihm, dass ich gerade ein halbes Jahr vorher ausländische Praktikanten aus Schweden, England, Norwegen und Marokko eingestellt hatte. 202 - War das womöglich schon ein entscheidender Fehler?, fragte ich. Nein, meinte Hauser, ein Fehler müsse das nicht gewesen sein, ich könne der Verlagsleitung doch zeigen, dass man von ausländischen Praktikanten auch lernen könne, viel sogar, und dass sie manchmal sogar für die Themenfindung der Redaktion nützlich sein könnten. - Fällt dir ein Beispiel ein?, fragte ich. Hauser überlegte nur kurz, dann kam - immer noch der alte Hauser eben - dies: - Du hast also Praktikanten aus Schweden, Dänemark, Norwegen und Marokko? - Ja, unter anderem. - Alles Monarchien. Wenn das Zufall ist, dann ein glücklicher. Lass deine Praktikanten Material über die Monarchie in ihren Heimatländern sammeln. Dann schlägst du der Redaktion eine große Geschichte über Sinn und Unsinn der Monarchie mitten im 21. Jahrhundert vor, Schwerpunkt repräsentative Monarchie in Europa. So zeigst du, dass ein unabhängiges Archiv sein Geld wert ist, und du zeigst, was deine ausländischen Praktikanten wert sind. Gebt euch nicht auf. Natürlich eine grandiose Idee. Die Zukunft der Monarchie, das würde mindestens ein Thema für eine große Titelgeschichte sein, vielleicht sogar für eine große Artikelserie. Mit Titeln wie "Glanz und Elend der Windsors", mit kritischen Porträts der gekrönten Häupter Europas, von Felipe über William, Hakon und Victoria bis zu Frederik. Dazu der Vergleich mit einer Monarchie, in der der Monarch noch Macht über Staat und Volk hat wie in Marokko. Schließlich die Frage: Was wäre, wenn die Monarchie und die Monarchen verschwänden? Nach einer solchen Story würde die Redaktion das Schicksal der Monarchien mit kritischen Artikeln weiter begleiten, ein ergiebiges Thema für Jahrzehnte. - Ja, sagte ich zu Hauser, der Sache werde ich nachgehen. Und natürlich werde ich für die Unabhängigkeit des Archivs kämpfen. 203 Ein paar Wochen später setzte ich mich mit meinen Praktikanten aus monarchistischen Ländern zusammen und mit einem Engländer und einer Spanierin, zwei altgedienten Kollegen vom Archiv. Ich stellte ihnen die Aufgaben so: Was weiß unser Archiv über die Monarchie in eurer Heimat? Was sollte unser Archiv über diese Monarchien noch wissen? Wie findet ihr es heraus? Mit welchen Methoden? Aus welchen Quellen? Wir entwickelten rasch eine Strategie, angefangen mit Methodenfragen. Aber dann fingen wir ganz von selbst an, unsere Meinungen über die Monarchie auszutauschen. Für die Spanierin und den Engländer war sie ein lächerlicher Anachronismus, für den Norweger und die Dänin "der Stoff, der unser Land zusammenhält". Aber wir wollten es nicht einfach bei diesem Dissens belassen. Wir beschlossen, ihn zu dokumentieren. Wir wollen eine umfassende Dokumentation über die Monarchie im 21. Jahrhundert erstellen, dazu gehörte auch eine Dokumentation ihrer Akzeptanz, und zu dieser Akzeptanz konnten wir uns auch uns selbst befragen. Aber dafür mussten wir uns erst einmal über unsere eigene Meinung im Klaren sein. Nach einigen Wochen waren wir so weit, dass ich den anderen präzisere Fragen stellen konnte. Ich fing so an: - Wie hoch wäre die Wahlbeteiligung, wenn die Bürger über die Beibehaltung der Monarchie abstimmen könnten? Sehr hoch, meinten alle. - Wie wäre die Wahlbeteiligung, wenn die Bürger den Monarchen selbst wählen könnten? Antwort wieder, auch beim Engländer und bei der Spanierin, unseren beiden Monarchieverächtern: sehr hoch, So fing es an, und ich ahnte schon, dass wir damit etwas Unabsehbares angestoßen hatten. 204 Wir waren uns rasch darüber einig, warum bei Abstimmungen über die Monarchie und über Monarchen so viel mehr Bürger teilnehmen würden als bei normalen Wahlen. Weil hierbei die Bürger genau wüssten, was sie mit ihrer Stimme bewirken. Sie wüssten: Es geht nicht um schwer durchschaubare Politik, es geht um Gefühle, um Zu- und Abneigung, um Orientierung, um Identifikation. Die Monarchin bzw. der Monarch ist eine Identifikationsfigur. Es geht also darum, dass es in einer immer komplizierteren Welt noch etwas Einfaches, Übersichtliches geben soll, das dennoch alle angeht. Politisch mag eine repräsentative Monarchie nur Zierrat sein, aber sinnlos ist sie nicht. Im Gegenteil. Ich fragte, ob das denn nicht ein Widerspruch sei: Die repräsentative Monarchie als Zierrat zu erkennen, aber sie dennoch so ernst zu nehmen. Eine Antwort war: Wenn wir die Politiker nicht mehr ernst nehmen können, dann wollen wir wenigstens noch unsere Monarchen ernst nehmen. So tastete ich mich mit meinen Fragen langsam weiter voran. Als Nächstes: - Verstehen eure Monarchen etwas von Politik? Darauf alle außer dem Marokkaner: Nein. - Sehen eure Landsleute das auch so? - Ja. - Trotzdem sind eure Monarchen immer noch Staatsoberhäupter. Macht das noch Sinn? Darüber hatte noch keiner ernsthaft nachgedacht. Bei unserem nächsten Treffen wagte ich schließlich diese Frage: - Wäre es nicht besser, wenn eure Monarchen gar nichts mehr der Politik zu tun hätten? Wenn sie z.B. nur noch Aufgaben in der Kultur und im Sport hätten und vielleicht als Zeremonienmeister kollektiven Gendenkens? 205 Die meisten in der Runde waren verblüfft. Aber dann nahm der Schwede als erster den Gedanken auf. Ganz verkehrt sei das wohl nicht, sagte er. Die schwedische Königin im Parlament, das sei im Grunde eine Peinlichkeit. Dann die Spanierin: An den Gedanken müsse man sich erst einmal gewöhnen, aber irgendwie sei er logisch. Dann die Dänin: Für Dänemark könne er sich das nicht vorstellen. Der Glanz der Monarchie strahle immer noch auf den gesamten Staat ab, auf Parlament und Regierung und damit auch auf die Parteien. Daher brauchten Parteien und Politiker weiterhin die Monarchie. Dann der Engländer: Wenn von der Monarchie noch Glanz auf die Politiker abstrahle, dann sei das unverdienter Glanz. Die Trennung von Staat und Monarchie sei ehrlicher, und es sei höchste Zeit dafür. - Aber wann könnte sie Wirklichkeit werden?, fragte ich. Darauf die Dänin und der Norweger: in zwei bis drei Generationen. Der Engländer und die Spanierin: Darüber sollten wir in zwanzig Jahren nochmal reden. Zumindest nachdenken könnten wir darüber aber schon jetzt, sagte ich bei einem nächsten Treffen. Stellt euch vor, Politik und Monarchie würden endgültig entkoppelt. Die Monarchie wäre nur noch ein Identifikationsangebot an die Bürger, finanziert durch eine eigene Steuer. Würde dann der Respekt vor den Monarchen nicht sogar wachsen? Und könnten sich für eine solche ganz und gar unpolitische Monarchie nicht sogar vormalige Antimonarchisten begeistern? Keiner in der Runde widersprach. Ich war nicht sicher, ob es wirklich stillschweigende Zustimmung war. Ich wartete eine Weile, dann wagte ich die entscheidende Frage: - Und wenn es eine solche Art Monarchie gäbe, würden die Bürger sich dann nicht irgendwann wünschen, ungeliebte Monarchen abwählen zu können? 206 Wieder kein Kommentar, nur einige ratlose Blicke. Dann fing der Engländer an zu nicken. Dann die Spanierin. Dann der Schwede. Schließlich nickten sie alle, ein stummes, klares Ja von allen, außer vom Marokkaner. - Dann wäre die Monarchie, sagte ich, zugleich entpolitisiert und demokratisiert. Der Marokkaner sah mich fassungslos an. Die anderen warteten ab, sahen einander fragend an, dann kam, vom Engländer zuerst, wieder ein zögerndes Nicken. Dann sagte der Engländer: - Wenn wir eine solche Monarchie hätten, eine unpolitische Wahlmonarchie, würde man uns darum nicht sogar beneiden? Neid auf die Monarchie? Auf eine repräsentative Wahlmonarchie? Ein kurzes Erstaunen bei allen, dann ein zufriedenes Schweigen. Ihre Monarchien, das wussten sie, wurden in anderen Teilen der Welt schon seit Längerem belächelt, und nun ließ sich der Spieß womöglich umdrehen. Ihre belächelten Monarchien ließen sich womöglich in Gebilde umwandeln, um die die Welt sie beneiden würde. In sinnstiftenden demokratischen Zierrat. Ein wohltuender Gedanke Was hatten wir da angestoßen? Wo waren wir in unserer kleinen Runde gelandet? Ganz und gar nicht, wie ich zu Anfang erwartet hatte, im Konsens, dass die repräsentative Monarchie ein überflüssiger Anachronismus sei. Einig waren wir, dass nur noch wenige Erbmonarchen das Identifikationsbedürfnis der Bürger besser erfüllen, als gewählte Politiker es an ihrer Stelle täten. Eine Lösung des Problems: die repräsentative Wahlmonarchie. Wir überlegten, welchen Monarchen wohl als ersten die Abwahl drohen würde. Die meisten von uns tippten auf Felipe, William und Viktoria. Das waren nur Gedankenspiele, aber sie machten zumindest Spaß. Und auch darüber waren wir uns schnell einig: Wahlmonarchie sollte Spaß machen. Umso ernster, sagte der Engländer, würden die Bürger dann die eigentliche Politik nehmen. 207 Allein wegen dieser klugen Bemerkung hatte sich die ganze Mühe für mich schon gelohnt. Aber waren all solche Gedanken nicht doch utopisch? War es realistisch, dass eine Demokratie sich je eine solche Wahlmonarchie schaffen würde? Hatte nicht zumindest die Dänin damit Recht, dass Parteien und Politiker das in seinem Land verhindern würden? Und war damit dann nicht auch in anderen Ländern zu rechnen? Auf absehbare Zeit schon, auch darin waren wir uns einig, aber selbst das brachte uns nicht vom Thema ab. In den folgenden Monaten steuerte jeder ein Stimmungsbild zur Monarchie in seinem Land bei, darunter viele kleine Beiträge u.a. aus Onlineforen, Blogs und kleinen Lokal-, Schüler- und Studentenpublikationen. Ich stellte daraus einen, wie ich meinte, aufsehenerregenden Auszug für die Redaktion zusammen, mit der Frage, ob hier möglicherweise ein großes Thema heranwachse. Einige Wochen danach stand im SPIEGEL eine kurze Notiz mit der Überschrift: Antimonarchisten in Europa im Aufwind? Es war ein Versuchsballon, mehr nicht. Niemand griff das Thema auf, nicht einmal in Leserbriefen. Für die Chefredaktion das Signal: Kein Leserinteresse. Damit war das Thema für viele Jahre erledigt. Erst ein Vierteljahrhundert später erschien dann die große SPIEGEL-Titelgeschichte über Sinn und Unsinn der repräsentativen Monarchie. Ich hatte gehofft, sie würde den Titel bekommen, den ich damals in unserem kleinen Kreis vorgeschlagen hatte: Gewählte Sinnstifter - Neuerfindung der repräsentativen Monarchie?. Aber andere hatten dazu natürlich ihre eigenen Ideen. Kleine Staatsreparaturen Als die erste Jahrhunderthälfte zu Ende ging, hatte ich fast zwanzig Jahre als Archivleiter hinter mir, und natürlich hatte diese Zeit mich geprägt. Andere mögen in dieser Zeit ein aufregenderes Leben gehabt haben, aber meines war ausgefüllt. Ich bin - das Archivardasein macht es einem leicht - ein Familienmensch geworden, und 208 das allein ist ein großes Glück. Vielleicht hatte ich zu Anfang erwartet, dass sich in unserem Archiv ein erbauliches und aufregendes Vierteljahrhundert widerspiegeln wird, aber es kam anders. Enttäuscht war ich darüber nicht. Dieses Vierteljahrhundert aus der Perspektive eines Archivars beobachten zu können hat für vieles entschädigt. Im Lauf der Zeit habe auch ich mir angewöhnt, Einfälle und Gedanken zum Zeitgeschehen zu notieren, wenn auch nicht so gründlich, so präzise und so kühn wie Hauser. Auch ich wollte mir ein Bild davon machen, wie sich das Bewusstsein unserer Epoche entwickelt und das Bewusstsein meiner Generation, der Generation Sichtflug. Ich habe den schleichenden Dritten Weltkrieg beobachtet und ihn zu verstehen versucht, und ich habe über die Beschränkungen der Demokratie nachgedacht. Die Demokratie löst nicht die Probleme unseres Jahrhunderts, das war der eine Schlüsselgedanke, zu dem Hauser mich angestiftet hatte. Die Generation Sichtflug fand sich damit ab, das war der zweite. Der dritte: Das politische Bewusstsein der Welt steckte fest in den Dogmen des zwanzigsten und früherer Jahrhunderte. Der vierte schließlich: Die Demokratie hilft nicht, ein fortgeschritteneres Bewusstsein zu formen, sie tut das Gegenteil. Aber schon diese Gedanken, so einfach und klar sie auch erschienen, gaben mir manchmal das Gefühl, die Bodenhaftung zu verlieren. In der letzten Woche der ersten Jahrhunderthälfte lud Hauser mich in seine Wohnung ein. Er würde wissen wollen, glaubte ich, was ich Neues über den Verlag wisse, über die internen Intrigen und über den drohenden Eigentümerwechsel, über den in den Medien spekuliert worden war. Aber kein Wort darüber. Es ging ihm um frühere Themen. Er wollte sich, so schien es mir, vergewissern, dass ich nichts von dem vergessen hatte, worüber wir früher so ausgiebig diskutiert hatten. - Erinnerst du dich, begann er, wie wir vor zwanzig Jahren darüber sprachen, dass noch zivilisatorische Entgleisungen bevorstünden? Damals wolltest du nichts davon wissen. So pessimistisch wolltest du nicht sein. 209 - Ich war noch ziemlich jung. - Und heute?, fragte er. Glaubst du heute, dass es zivilisatorische Entgleisungen geben wird? Ich sah etwas verlegen zu Boden. Ich wusste, dass es eine rhetorische Frage war, auf die er selbst würde antworten wollen. - Ich fürchte es, sagte ich in unbestimmten Tonfall. Dann breitete Hauser noch einmal das ganze Szenario der Gefährdungen aus, der die globale Zivilisation noch immer ausgesetzt war. Dass die Welt immer noch von dreierlei Arten politischer Kultur beherrscht sei, von archaischen, fundamentalistischen und veralteten demokratischen. Dass die Epoche der Religionskriege, der blutigen ethnischen Konflikte und auch der Kriege und Bürgerkriege um Staatsgrenzen und Staatszugehörigkeiten auch jetzt, zur Mitte unseres Jahrhunderts, noch längst nicht beendet sei. Dass im zwanzigsten Jahrhundert der Schock der Weltkriege und das Erschrecken über das atomare Zerstörungspotential die politische Zivilisierung vorangebracht hätten, dass diese seither aber stagniere. Dass zugleich immer neue menschengemachte Gefährdungen entstanden seien und weiter entstünden wie Umweltbelastungen und Ressourcenverknappungen, und dass all das eigentlich zivilisiertere Weltmächte denn je erfordere, die aber nirgendwo zu erkennen seien. Sorgen müsse man sich auch darum, dass die Bevölkerung in den weniger zivilisierten Teilen der Welt immer noch viel schneller wachse als in den zivilisierteren - ein Land wie Nigeria habe inzwischen mehr Einwohner als die USA -, was die Welt als ganze natürlich in der Zivilisierung herunterziehe. Und zu denken gebe doch auch, dass die politisch vergleichsweise zivilisierten, also die westlichen Länder mehr Flüchtlinge, legale und illegale, aus weniger zivilisierten Ländern aufnähmen denn je, wodurch sie sich immer mehr rückständiges politisches Denken ins Land holten, auch fundamentalistisches und archaisches. Auch dies 210 schwäche die Fähigkeit der westlichen Welt, Vorbild in der politischen Zivilisierung zu sein, und das bedeute für die Welt als ganze natürlich nichts Gutes. Bis hierhin hatte Hauser mich mit festem Blick angesehen, eindringlich fast, als fürchte er, ich würde seinen Gedanken nicht folgen. Jetzt lehnte er sich entspannt zurück und sprach leiser, als würde sein Gegenüber ihm ohnehin nicht ganz folgen. Er wüsste gern, sagte er, wie Historiker im 22. Jahrhundert über unsere Epoche schreiben würden. Als Optimist müsse man hoffen, dass in hundert Jahren auf die politische Zivilisierung von heute zurückgeblickt werden wird, wie wir heute auf die Zivilisation des frühen Mittelalters zurückblicken. Er würde alles dafür geben, das in Gedanken vorwegnehmen zu können. Natürlich wusste Hauser, dass auch er mit seinem geübten Blick ins Weite nicht ein Jahrhundert vorausdenken konnte. Von seinem Realitätssinn hatte er nichts eingebüßt. Noch immer beobachtete er genau, wie sich das politische Bewusstsein veränderte, und er machte sich darüber weniger Illusionen denn je. Eine seiner Feststellungen war: Es werde mindestens eine weitere politikmüde Generation geben, die nur zur Wahl gehen werde, wenn dies gerade besonderen Unterhaltungswert habe. Es könne sogar sein, dass meine Generation im Vergleich zur nachfolgenden als relativ engagiert gelten werde. Als wir uns dann nach all dem schließlich an der Tür verabschiedeten, sagte er: - Ich hoffe, ich habe dir nicht zu viel zugemutet. - Ich wünschte, du hättest in manchem Unrecht, sagte ich, aber ich wüsste nicht, wo. Am nächsten Tag lud ich mich bei Hauser zu einer Fortsetzung des Gesprächs ein. Auch wenn all das, so begann ich, was er vom Vortrag gesagt hatte, richtig sei, seien in westlichen Demokratien grundlegende Reformen doch nicht völlig ausgeschlossen. Wo er denn das größte Veränderungspotential sehe. - Natürlich in den angelsächsischen Ländern, sagte er mit einem süßsauren Lächeln. Natürlich im Versuch, den Staat als Unternehmen zu führen. 211 Damit meinte er die damals so genannte neue Privatisierung, den ideologischen Favoriten dieser Jahre. Dass der Staat, wie er ist, mit seinen Aufgaben irgendwie überfordert ist, das war schon in vielen westlichen Ländern in aller Munde, und natürlich wurde erst einmal versucht, die Schlussfolgerungen daraus nicht ausufern zu lassen. In den USA und Großbritannien folgerte man: Wo gewählte Politiker überfordert sind, sollen Manager deren Arbeit tun. Immerhin wurde nun auch erstmals systematisch nach Überforderungssymptomen bei Politikern gesucht. Die Ergebnisse waren erschütternd, aber sie wurden der Öffentlichkeit nur häppchenweise vermittelt. Ich muss zugeben, dass auch mir das Konzept der neuen Privatisierung nicht abwegig erschien. Müllabfuhr, Gefängnisse, Brief- und Paketbeförderung, Telekommunikation und vieles mehr, was einstmals in staatlicher Hand gewesen war, waren in den meisten Ländern längst privatisiert, und kaum jemand wollte dies noch rückgängig machen. Warum nicht konsequent in diese Richtung weitergehen? Warum nicht Staatsmanagementorganisationen - so genannten SMOs - für viel umfassendere staatliche Aufgaben schaffen? Warum nicht kommunale Staatsmanagementorganisationen schaffen, so genannte KSMOs, die ganze Kommunen verwalten? Warum nicht regionale Staatsmanagementorganisationen, die Landkreise, Länder, Provinzen, Departments oder Grafschaften verwalten? Und schließlich: Warum nicht auch nationale Staatsmanagementorganisationen schaffen, die den Staat auf der nationalen Ebene verwalten - im Auftrag gewählter Politiker oder auch im direkten Auftrag der Bürger? Und warum sollte es nicht international und global tätige SMOs geben, die in einen internationalen Wettbewerb um Staatsmanagementaufträge treten? Warum sollten z.B. die Sarden, wenn sie sich im italienischen Staat schlecht verwalten fühlen, nicht eine Schweizer Staatsmanagementorganisation mit der Verwaltung Sardiniens betrauen können? Ähnliche Ideen waren in Sardinien schon Anfang des Jahrhunderts einmal aufgekommen. 212 Die Grundidee war gewöhnungsbedürftig, aber unplausibel war sie nicht. Es ist im Zweifel besser, den Staat in die Hände hoch professioneller Staatsmanager zu geben als in die Hände von Laienorganisationen, wie politische Parteien es nun einmal sind. Trotzdem wurde die Idee zu Anfang natürlich - sogar in Teilen der angelsächsischen Welt - als skurril abgetan. Aber in dem Maße, wie auch reale demokratische Politik, die realen Parteien und die realen Politiker den Bürgern immer skurriler erschienen, gewann das Konzept der SMOs an Zustimmung. Zuerst nur unter Wissenschaftlern, aber dann auch zunehmend bei Bürgern. Niemand sah in den SMOs Heilsbringer, aber viele trauten ihnen zu, ihre Sache wenigstens etwas besser zu machen als Parteien und Parteipolitiker. Ich diskutierte diese Idee mit Hauser später noch mehrere Male, und ich war erstaunt, wie viel Respekt er ihr schließlich doch entgegenbrachte. Sie zeige zumindest, sagte er, dass Veränderungen am politischen System denkbar sind, an die noch vor zehn Jahren kaum jemand zu denken wagte. - Aber sind das Verzweiflungsakte, fragte ich, oder Wegweiser in die Zukunft der Demokratie? - Wegweiser zu einer Notlösung, sagte er. Immerhin. Zu Hause versuchte ich, den Gedanken ein Stück weiterzuspinnen. Würden Staatsmanagementorganisationen irgendwann als Interimsverwalter die Geschäfte abgewirtschafteter und abgewählter Königshäuser übernehmen können? Kein wirklich wichtiger Gedanke, sagte ich mir, aber auch kein unvernünftiger. Viel wichtiger, dachte ich dann, könnte dieser sein: Würden künftige global tätige Staatsmanagementorganisationen vorübergehend so genannte gescheiterte Staaten oder Teile davon verwalten können? Ein noch sehr unfertiger Gedanke damals, aber einer, so schien mir, der weitergedacht werden könnte. 213 2050 – 2074 Globale Erschöpfung Mächtige Senioren Dass die Rentner irgendwann rebellisch würden, war seit Ende der dreißiger Jahre absehbar gewesen. Überraschend war für mich nur, dass es so spät kam. 2052 gründete eine Senioreninitiative in Berlin die neue Partei Interessengemeinschaft Senioren - Partei der reiferen Jahrgänge. Kurzform: IG SENIOREN. Der Name war klug gewählt. Die IG SENIOREN wollte nicht eine Partei des Alters sein, sondern der Reife. Und sie wollte eine Partei der Reiferen sein, also derer, die sich etwas reifer fühlten als andere. Und vielleicht sollte auch dies im Parteinamen anklingen: Die IG SENIOREN fühle sich reifer als die, von denen sie regiert wurden. Auch ich als später Mittfünfziger fühlte mich angesprochen. Zu Anfang war ich unsicher. Ich betrachtete mich im Spiegel und fragte mich, ob ich wirklich in das Gesicht eines Mannes der reiferen Jahrgänge schaute. Blitzte da nicht doch noch ein Rest jugendlicher Verwegenheit auf? Und hatten nicht schon zwei gleichaltrige Freunde, Segler der eine, Biker der andere, über die IG SENIOREN herablassende Bemerkungen gemacht? Ja, beides traf zu. Aber ich hatte schon länger darüber gegrübelt, wie lange mein Arbeitsleben wohl noch dauern würde, und ich hatte mein Einkommen im Fall eines unfreiwilligen Ruhestands überschlagen. Das Ergebnis war ernüchternd. Ich würde im Alter deutlich ärmer sein, als ich es mir früher erhofft hatte. Danach war auch mir klar: Die Senioren in Deutschland hatten guten Grund, ihre politischen Interessen zu bündeln. Und die reiferen Jahrgänge machten 40% der Bevölkerung aus. Nicht alle davon würden die IG SENIOREN wählen, aber deren Wählerpotential wurde auf 15% bis 25% geschätzt. Parteigründungen gelingen immer noch am ehesten dann, wenn sie ein Empörungspotential aufgreifen. So war es auch hier. Zwei Ereignisse hatten das Empörungspotential der Älteren wachsen lassen. Das eine war die Ankündigung der Unionsparteien, dass das Rentenalter demnächst auf 72 Jahre angehoben werden 214 müsse. Das andere Ereignis war eine von den Deutschen Arbeitgeberverbänden beauftragte Studie zur Leistungsfähigkeit älterer Arbeitnehmer. Ein Ergebnis der Studie war, dass Siebzigjährige im Durchschnitt 40% weniger leistungsfähig seien als 50-jährige. In manchen Berufen sei der Abstand zwar niedriger, in anderen dagegen noch höher. Fast alle Älteren, so die Studie, beanspruchten aber trotzdem das gleiche Arbeitsentgelt wie die jüngeren Kollegen. Das Fazit der Arbeitgeber: Die meisten Älteren seien überbezahlt, und es würden immer mehr. Das aber könnten viele Unternehmen sich nicht mehr leisten, es untergrabe ihre Wettbewerbsfähigkeit. In Sachen Beschäftigung älterer Arbeitskräfte dürfe die Politik daher nicht zu viel erwarten, es sei denn, die Alten übten massiven Lohnverzicht. Die Studie empörte natürlich fast alle älteren Arbeitskräfte, und die Empörung zog sich durch fast alle Medien. Von Gefälligkeitsgutachten war die Rede, von der Korrumpierbarkeit von Wirtschaftswissenschaftlern und von einer Kriegserklärung der Unternehmen gegen ältere Arbeitnehmer. Damit war schon klar: Wenn die IG SENIOREN es einigermaßen geschickt anstellte, dann würde sie bald fest in der deutschen Politik etabliert sein. Dann aber wäre die deutsche Parteienlandschaft endgültig hoffnungslos zersplittert. Dann wäre endgültig das Ende der relativen politischen Stabilität gekommen, von der Deutschland lange profitiert hatte. Einige Monate nach Gründung der IG SENIOREN fragte ich Constanze, was sie davon halte. Verständnis habe sie ja für die Empörung, sagte sie, aber jetzt helfe das nichts mehr, jetzt ereile die Generationen Sichtflug ihr Schicksal. Geholfen hätte es nur, wenn die Rentner von heute sich schon vor 40 oder 50 Jahren politisch engagiert hätten, vor allem natürlich bevölkerungspolitisch. Nun aber sei dies eines der Probleme, die die Politik ein halbes Jahrhundert lang verschlafen habe. Dann fragte ich sie noch, was sie von dem Gutachten der Arbeitgeber halte. Ob die Leistungsfähigkeit im Alter wirklich so zurückgehe. 215 - Es ist bitter, sagte sie, aber es ist so. Wie sie das denn wissen könne, fragte ich. Ob sie dafür Belege habe. Das nicht, sagte sie, aber es entspreche ihrer Erfahrung. Etwas in mir sperrte sich gegen diese Gedanken, die Constanze mir in so knappen Worten vorgehalten hatte. Musste ich mich wirklich auch damit noch befassen? Hauser, Tian, nun auch Constanze - hatten sie mich nicht in ein Gedankendickicht verstrickt, das mir langsam den Atem nahm? War nicht alles viel zu kompliziert geworden? Hatte ich mich hoffnungslos verzettelt? Und schließlich kam mir noch in den Sinn: Müssten die meisten Politiker es nicht ganz ähnlich empfinden? Zum Glück war es ein lauwarmer Sommerabend. Ich ging ich auf den Balkon, legte mich auf den Liegestuhl, schloss die Augen und ließ mich von den letzten Strahlen der untergehenden Abendsonne wärmen. Aber auch das half nicht. Nach wenigen Minuten waren meine Gedanken wieder bei dem Gespräch mit Constanze, und ich fing an, in mich hineinzuhorchen. Wie viel von meiner Leistungsfähigkeit hatte ich als später Mittfünfziger schon eingebüßt? Wie viel würde ich noch einbüßen, wenn ich weitere 15 Jahre als Archivleiter arbeitete? Könnte ich die gleiche Arbeit in 15 Jahren überhaupt noch tun? Und würde ich es wollen? Und würde der Verlag es wollen? Oder würde der Verlag schon bald einen Jüngeren an meine Stelle setzen wollen, der den Zenit seiner Leistungsfähigkeit noch vor sich hat? Weiter kam ich mit meinen Gedanken nicht. Eine Stunde später, kein Sonnenstrahl erreichte mehr meinen Balkon, weckte mich die beginnende Abendkühle. Ich meinem Kopf spürte ich nur Leere, und es tat mir gut. Neue Hoffnungsträger Zu Beginn der zweiten Jahrhunderthälfte gab es unscheinbare Ereignisse, die den Keim des Neuen in sich trugen. 216 Dass in der Politik vorausschauender und kühner gehandelt werden müsse denn je, das war kein neuer Gedanke, aber neu war, dass einige Wenige sich ganz diesem Gedanken verschrieben. Eine Handvoll Menschen nur, die noch nicht einmal große Ideen hatten, aber jeder von ihnen ragte auf seine Weise heraus, in Tatkraft oder in Reichtum oder in beidem. Auch dass Reiche oder Superreiche Stiftungen gründen, um sich als politische Wohltäter darzustellen, war nichts Neues. Davon gab es schon in der ersten Jahrhunderthälfte vermutlich mehr als in der gesamten vorherigen Menschheitsgeschichte. Stifter verfolgen dabei aber nicht nur uneigennützige Ziele. Viele versammeln in ihren Stiftungen politische, kulturelle und wissenschaftliche Prominenz, deren Glanz und Renommee auf sie abstrahlen soll. So kommen in solchen Stiftungen üblicherweise die üblichen Verdächtigen zusammen, zu einem nicht geringen Teil ehemalige hohe Amtsträger, in ihren Meinungen leicht berechenbare Persönlichkeiten also, denen sich dort für ihre vorhersehbaren Meinungen noch einmal ein Forum bietet. Bei den Stiftern und anderen engagierten Reichen, von denen hier die Rede sein soll, war es ganz anders. Sie hatten ganz anderes im Sinn, als bestehenden Stiftungen noch eine gleichartige hinzuzufügen. Die große Zeit des Katalanen Xavi Puig waren die dreißiger Jahre gewesen. Puig, ein exzentrischer Modedesigner, geboren 1992, hatte als junger Mann in Barcelona ein kleines Modeunternehmen gegründet, hatte in den zwanziger Jahren mit seiner Mode wie kaum ein anderer den Nerv der Zeit getroffen und in den Dreißigern den zweitgrößten Mode-Onlinehandel der spanisch- und portugiesischsprachigen Welt aufgebaut. 2048 verkaufte er sein Unternehmen an die von den Samwer-Brüdern gegründete deutsche Zalando. Nun war er hundertfacher Multimillionär im vorzeitigen Ruhestand. Puig hatte sich um Politik in seinem Leben wenig gekümmert. Er war Pazifist, ansonsten interessierte ihn nur Eines wirklich: Die Unabhängigkeit Kataloniens. Diesem Ziel vor allem wollte er für den Rest seines Lebens dienen, er wusste nur nicht, wie. Also zweigte er von seinem Reichtum erst einmal ein paar Millionen für 217 eine neue Stiftung ab. Ihr Name: Fundació per a la Independència Política. Das Weitere, hoffte Puig, würde sich dann schnell ergeben. In der ersten Märzwoche 2051 veranstaltete die Stiftung ihr erstes offenes Seminar. Das Thema: Unabhängigkeitsbewegungen in Europa vom 19. Jahrhundert bis heute. Dass bei diesem Seminar auch der junge Kanadier Robert Yang auftauchte, war einer jener Zufälle, über die Historiker später einmal schreiben, dass sie die Welt hätten verändern können. Robert Yang war studierter Anthropologe, Anfang dreißig, finanziell unabhängig. Ein geborener Aktivist. Einer, der nur wenige Sätze brauchte, um Menschen zu überzeugen, dass er Wichtiges zu sagen habe. Einer, der andere mit seiner Begeisterung mitreißen konnte. Ein grandioses Talent auch als Politiker, aber dafür, hieß es, habe er sein Talent nicht verschwenden wollen. In einem seiner ersten veröffentlichten Artikel hatte Yang sich mit der Geschichte des Club of Rome befasst. Dieser habe im vorigen Jahrhundert viel für die öffentliche Bewusstseinsentwicklung getan, das verdiene allerhöchsten Respekt, aber man müsse auch eingestehen, dass er die politische Praxis kaum beeinflusst habe. Die Welt sähe anders und besser aus, wenn die Politik auf den Club of Rome gehört hätte, aber das habe sie nicht getan. Eigentlich habe der Club of Rome sich das von vornherein denken können. In seiner Wirkungslosigkeit sei der Club of Rome nämlich, so Yang, ein Beispiel von vielen, genauer gesagt, ein Beispiel für fast alle anderen. Die letzten hundert Jahre hätten gezeigt, wie erschütternd wenig vergleichbare zivilgesellschaftliche Initiativen für die politische Praxis bewirkt hätten. In solchen Organisationen halte man viele Reden zum Fenster hinaus und schreibe unendlich viele engagierte Texte, aber wer höre dabei eigentlich zu? Wenn politische Entscheider überhaupt auf solche Initiativen hörten, dann täten sie es nur pro forma. Die Welt brauche daher keinen neuen Club of Rome und auch keine neuen Initiativen wie Attac, Occupy und ähnliche. Zivilgesellschaftliches Engagement müsse ganz neu gedacht werden. 218 Seine Schlussfolgerung war bestechend, aber vorerst auch abstrakt. Immer noch und immer wieder würden moralisch zwingende politische Forderungen - an oberster Stelle sah er den Klimaschutz - auch von demokratischen Regierungen, Parlamenten und Parteien zumindest grob vernachlässigt. Das zeige, dass diese Adressaten Jahrhundertaufgaben wie dem Klimaschutz generell nicht gewachsen seien, moralisch oder fachlich oder in beidem nicht. Daher müsse man sich überlegen, ob man sich an diese Adressaten überhaupt noch wenden solle. Nein, war Yangs Antwort, man müsse viel grundsätzlicher ansetzen. Man müsse erst einmal dafür kämpfen, dass kompetentere politische Adressaten geschaffen werden, und das heiße: für einen Wandel der politischen Ordnung. Dies würde zwar ein langwieriger Kampf sein, aber wenigstens einer, der Wirkung verspricht. Auf dieses Ziel, auf eine grundlegende Reform des Staates also, sollte zivilgesellschaftliches Engagement daher vorrangig gerichtet sein. Mit dieser anspruchsvollen Botschaft begann Yang seine Mission. Er gab ihr einen kühnen Namen: World Upgrade. Musste nicht, wer seiner Mission einen solchen Namen gibt, größenwahnsinnig sein? So dachten zu Anfang viele, aber Yang strahlte alles andere als Größenwahn aus. Fast jeder andere wäre wohl mit einem Projekt wie World Upgrade belächelt worden. Yang nicht. Yang war nicht nur ein begnadeter Aktivist, er war auch ein begnadeter Stratege. Er wusste, dass hinter fast jedem politischen Engagement eine Ideologie lauerte. Wer eine zivilgesellschaftliche Organisation zu schnell aufbaue, war sein Credo, der versammele um sich einen Flickenteppich politischer Vorurteile. Daher legte er sich strenge Regeln auf. Zwei der wichtigsten: Lass die Organisation langsam wachsen. Und: Rede vorerst nie vor mehr als zehn Personen und nur ausnahmsweise vor Leuten, die älter sind als du selbst. Erstaunlich, wie lange er sich daran hielt. Yang war gelernter Umwelt- und Klimaaktivist, aber nun hatte er eine kompliziertere Botschaft. Unsere alten politischen Adressaten hören uns nicht zu, also brauchen wir 219 neue - diese Botschaft riss die Zuhörer auch aus Yangs Mund nicht gerade von den Stühlen. Zu oft konnte er auch Fragen hierzu nicht überzeugend beantworten, zu oft waren Zuhörer seiner kleinen Seminare enttäuscht. So war es ihm gerade wieder in London ergangen. Was dann geschah, beschrieb Yang 15 Jahre später in seiner mit viel Selbstironie geschriebenen frühen Autobiographie "Mal eben die Welt verändern" so: Nach dem Seminar in London, im Hotel, stieß er zufällig auf die Website von Puigs Stiftung. Fundació per a la Independència Política, Stiftung für politische Unabhängigkeit, das klang vielversprechend. Für politische Selbstbestimmung hatte Yang sich schon lange interessiert. Aber verschlossen, überlegte er jetzt, die politischen Entscheider nicht auch hiervor die Augen? Verweigerten sie sich nicht auch dem zivilgesellschaftlichen Engagement für politische Unabhängigkeit? Hatten seine Word Upgrade und die Fundació per a la Independència Política es also letztlich mit dem gleichen Problem zu tun? Würden sie einander daher nicht sinnvoll ergänzen und stärken können? Auf der Website von Puigs Stiftung war für den Abend das Seminar über europäische Unabhängigkeitsbewegungen angekündigt. Eine Gelegenheit, dachte Yang sofort, die er sich nicht entgehen lassen dürfe. Sein nächstes Reiseziel war Paris, nun buchte er kurz entschlossen um für einen Zwischenstopp in Barcelona. Vom Flughafen El Prat fuhr er direkt zum Seminargebäude der Stiftung. - Ist Xavi Puig hier?, fragte er ohne Umschweife, als er kurz vor Seminarbeginn eintraf. So machte er es überall. Er war keiner, der sich hintanstellte, keiner, der sich in zweiter Reihe einordnete. Kontakte knüpfte er immer auf höchster Entscheidungsebene. - Ja, war die Antwort, warten Sie, er wird gleich hier sein. Yang hatte sich auf das Gespräch mit Puig minutiös vorbereitet. Gleich nach der Begrüßung lobte er die Zielsetzung von Puigs Stiftung. Er selbst sei vor allem 220 Umwelt- und Klimaschutzaktivist, aber die Website der Stiftung habe ihm die Augen für ein ganz anderes Themenfeld geöffnet. Dann, nach diesem einleitenden Lob, forderte er Puig schon heraus. Er frage sich allerdings, fuhr er fort, ob eine Bewegung, die Unabhängigkeitsbewegungen unterstütze, nicht auch eine Gefahr sei. Eine solche Bewegung trage womöglich dazu bei, Grenzkonflikte zu schüren, und Grenzkonflikte seien im Lauf der Geschichte selten friedlich verlaufen. Das wisse er natürlich, antworte Puig seelenruhig, aber gerade das sei doch ein schlimmes Politikversagen. Seine Stiftung solle helfen, den Gründen für dieses Versagen auf die Spur zu kommen. Wenn das gelinge, dann würden sich Grenzkonflikte leichter friedlich lösen lassen. - Ganz hervorragend!, fiel ihm Yang dann ins Wort. Genau das hatte ich mir von Ihnen erhofft. Dabei sah er Puig mit festem Blick in die Augen und reichte ihm die Hand. Ein Händedruck, wie um Freundschaften zu besiegeln. Yang nahm Puigs überraschten Blick auf. Er müsse das natürlich erklären, fuhr er dann fort. Zwischen zwei großen globalen Anliegen, seinem und Puigs, Klimaschutz und politischer Unabhängigkeit, sehe er eine elementare Gemeinsamkeit, und er sehe sogar, dass die Klimaschutz- und Unabhängigkeitsbewegungen global zusammenwachsen könnten. Beide Anliegen prallten an ihren politischen Adressaten, an den Regierungen und Parlamenten dieser Welt, fast folgenlos ab. Die Adressaten, die diese Anliegen in Politik umsetzen, müssten daher erst noch geschaffen werden. Daher müssten Unabhängigkeits- und Klimaschutzbewegungen, müssten also sie beide, Puig und er, mit dem Engagement ganz unten anfangen, bei politischen Systemfragen. Von da an duzte er Puig: - Xavi, aus deiner Stiftung kann etwas ganz Großes werden. Lass uns zusammenarbeiten. 221 Puig winkte ab. Als Systemveränderer fühle er sich bisher nicht, dafür sei er auch schon zu alt. Dass ein so großes Ziel erreicht werde, werde er ohnehin nicht mehr erleben. Darauf Yang: - Kommt es denn darauf an? Wer Großes bewegen will, muss auch über die eigene Lebenszeit hinausdenken. Puig fand noch einige anerkennte Worte, lobte Yang für seine mutige Zielsetzung und dankte ihm für sein Kommen. - Wir bleiben in Kontakt, konnte Yang noch sagen, und ihm dabei seine Visitenkarte von World Upgrade zustecken. Yang verließ das Seminar vorzeitig - am nächsten Morgen musste er den ersten Flug nach Paris erreichen - und ließ sich in sein kleines Hotel nahe dem Parc Güell fahren. Als er in die Hotellobby eintrat, klingelte sein Handy. Puigs Stimme. Ob Yang so spät am Abend noch etwas Zeit für ihn habe. Natürlich, sagte Yang. Soviel du willst. Eine Viertelstunde später trafen sie sich in der Hotelbar. Dabei strahlte der alte Puig Yang so energiegeladen an, dass alle Müdigkeit sofort verflog. Puig war ein Mann von südländischer Redseligkeit. Ganz anders Yang. Er war ein guter Redner, aber auch ein begnadeter Zuhörer. Er wusste genau, wann stilles Zuhören am besten half, wann das Reden, wann das Fragenstellen. Gezielt fragen, dann gut zuhören, so machte er auch jetzt: - Vom Modeunternehmer zum Kämpfer für politische Unabhängigkeit, das ist wirklich eine großartige Lebensgeschichte. Wie kam es dazu? Genau das Thema, dem Puig am wenigsten widerstehen konnte. Eigentlich, begann er, habe er Modedesigner werden wollen, besser gesagt, Modeschöpfer, nicht irgendeiner, sondern ein großer, ein katalanischer, also ein 222 großer katalanischer Modeschöpfer. Er habe den Menschen mit seiner Mode etwas geben wollen, das sie stolz macht, etwas, mit dem sie ihr Lebensgefühl ausdrücken können, ihre Individualität, ihre Zugehörigkeit zu ähnlich gestimmten Menschen, mit dem sie sich aber auch von anderen abgrenzen könnten. Diese Bedürfnisse, sagte er, spielten eine immer größere Rolle, weil die Welt ansonsten immer anonymer und gleichförmiger werde. Wirklich gute Mode helfe, diesen Bedürfnissen auf vergnügliche Art nachzukommen. Als Modedesigner sei er dann aber leider nicht gut genug gewesen. Gut sei er schon gewesen, aber es habe einfach zu viele gegeben, die noch besser waren. Wenn er gute Mode schon nicht kreieren könne, habe er sich dann gesagt, dann wolle er wenigstens mit ihr handeln. Eine zweitbeste Lösung, wenn auch weit ab von seinen früheren Lebensträumen. Seinen großen Lebenstraum habe er sich also nicht erfüllt, aber immerhin ein Milliardenvermögen gesammelt, und nun wolle er das tun, was andere reiche Unternehmer auch getan hätten: sich mit seinem Geld einen anderen Traum erfüllen. Yang wundere sich vielleicht, fuhr er fort, wie er, Puig, von der Mode auf die politische Unabhängigkeit gekommen sei, aber je älter er geworden sei, desto wichtiger sei ihm die Frage der Unabhängigkeit geworden. Und irgendwann habe er dann auch verstanden, wie viel Unabhängigkeitsbewegungen und Mode miteinander gemein hätten. Dabei sah er Yang an, wie um sich dessen Verblüffung zu vergewissern. - Das musst du mir genauer erklären, sagte Yang. Mode, sagte Puig, sei, wie gesagt, eben nicht etwas rein Individuelles, mit Mode drückten Menschen auch Zugehörigkeiten und Abgrenzungen aus. Mode verbinde Menschen, aber sie unterscheide sie auch. Und genau darum gehe es auch bei Unabhängigkeitsbewegungen, auch der katalanischen. Es gebe ein Zusammengehörigkeitsgefühl der Katalanen, wozu auch das Gefühl gehöre, keine 223 Spanier zu sein oder wenn, dann anders als die eigentlichen Spanier. Die Katalanen wünschten sich, dass dies auch in der Politik seinen Ausdruck finde. Dieses Bedürfnis der Katalanen, sagte er dann, - er nannte es ein Bedürfnis nach Identifikation - sei überhaupt nichts Aggressives, es sei im Gegenteil etwas ganz und gar Friedliches, aber dieses Bedürfnis nicht ausleben zu dürfen schüre nun einmal Unmut, und anderswo in der Welt sei ja zu beobachten, wie leicht solcher Unmut aggressiv werden kann. Sein Traum sei, dass Staatsbürger Zusammengehörigkeit und Abgrenzung künftig überall auf der Welt so harmlos und friedlich ausleben könnten, wie Menschen es mit der Mode täten. Dann würde der Staat im besten Fall wie ein Verein Gleichgesinnter, in dem niemand gegen seinen Willen Mitglied ist. Dann könnten alle Bürger sagen: Hier ist das Staatsoberhaupt, die politische Identifikationsfigur, die Armee, die Währung, der Sozialstaat, die wir uns ausgesucht haben. Yang schloss kurz die Augen und nahm sich eine Denkpause. Dass Mode und politische Unabhängigkeit sich so zusammendenken ließen, verblüffte sogar ihn, aber unsympathisch war ihm der Gedanke nicht. - Aber, fragte er dann - und dabei sah er Puig mit hellwachem Blick an -, welche Rolle spielt bei all dem das Geld? Puig schmunzelte. - Eine immer größere, sagte er. Für große politische Veränderungen war früher meistens Gewalt nötig. Heute versuchen wir es ohne Gewalt. Stattdessen ist aber immer mehr Geld nötig. Dir wird es nicht anders gehen. Puig legte seine Hände flach auf die Knie und sah Yang schweigend an, als habe er gesagt, was er ihm an diesem Abend hatte sagen wollen. Dann stand er auf und reichte Yang beide Hände zu einem herzlichen Abschied. Über Puigs "Dir wird es nicht anders gehen" grübelte Yang noch auf dem Weiterflug nach Paris. Dass Katalanen, Schotten, Flamen und andere Europäer wohl kaum zu den Waffen greifen würden, um ihr politische Unabhängigkeit zu erkämpfen, das war 224 klar, aber über die Rolle des Geldes in politischen Veränderungsprozessen hatte er noch kaum nachgedacht. Natürlich, auch das wusste er, hatten die Veränderungsverweigerer es im Zweifel leichter. Sie konnten den Staatsapparat für sich einspannen, sie beherrschten die Regierungen und Parlamente, sie beeinflussten die Medien und sogar Verfassungsgerichte. Wer Veränderungen wollte, der musste dem etwas Wirkungsvolles entgegensetzen. Aber was? Puig schien überzeugt, dass das ohne Einsatz von viel Geld unmöglich war. War also Yangs eigene globale Initiative schon aus Geldmangel aussichtslos? So aussichtslos wie die zahllosen kleinen und großen zivilgesellschaftlichen Initiativen, denen Yang sich bis dahin konzeptionell überlegen fühlte? Mit Zweifeln solcher Art plagte ein Yang sich nicht lange. Noch vor der Landung in Paris kam ihm der Gedanke: War Puigs Bemerkung vielleicht ein verstecktes Angebot? Meinte er: Wenn du, Yang, irgendwann merkst, dass du ohne viel Geld mit deiner globalen Initiative nicht vorankommst, dann melde dich? Ausschließen mochte Yang das nicht. Aber wie sollte er es anstellen? Würde er einfach Puig bitten, eine Millionensumme auf das Konto von Global Upgrade zu zahlen? Nein, wusste er, so einfach durfte er es sich nicht machen. Puig, dem Ex-Unternehmer, würde er ein Konzept präsentieren müssen, kein theoretisches, sondern ein Handlungskonzept. Eines, das sich nicht in Protest erschöpft. Schon nach wenigen Tagen hatte Yang einen ersten Aktionsplan ersonnen. Aber Ungeduld zeigen, überlegte er, das würde jetzt der größte Fehler sein. Puig würde nach ihrem Treffen erst einmal seine Gedanken sortieren müssen, und vielleicht würde er noch Fragen haben. Yang entschied sich abzuwarten. Nach ein paar Wochen schickte Puig ihm diese Mail: Lieber Robert, ich brauchte Zeit, über deine Ideen nachzudenken. Inzwischen frage ich mich, warum ich nicht schon selbst darauf gekommen war. Ja, wir brauchen für unsere Anliegen auch in der Frage der politischen Unabhängigkeit - neue politische Adressaten. 225 Besseres also als Regierungen, Parlamente und Parteien, wie wir sie bisher haben. Das ist - ich scheue den Begriff noch immer - die Systemfrage. Bin aber sehr gespannt, was aus diesem Gedanken noch wird. Einige Tage später mailte Yang zurück: Der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung würde es sicher helfen, wenn das politische Unabhängigkeitsstreben weltweit mehr Anerkennung fände. Ob es nicht überlegenswert sei, dass auch Puigs Stiftung global tätig werde, dann natürlich mit einem englischen Nahmen, als Foundation for Political Self-Determination. Mit Konkreterem, schloss Yang, melde er sich später. Yang traute seinen Augen nicht, als er schon nach wenigen Tagen Puigs Antwort bekam: - Einverstanden mit Foundation for Political Self-Determination. Du musst es aber selbst auf den Weg bringen. Geld steht bereit. Ganz, das war Yang klar, hatte er Puig damit noch nicht für sich gewonnen. Er schickte erst einmal - aus Peking, er sei gerade unter Zeitdruck - eine kurze Dankesmail, die das Gefühl der Verbundenheit stärkte. Das Konkretere, zu dem er Puig auf später vertröstet hatte, konnte auch ein Yang nicht über Nacht zu Ende denken, dafür hatte er sich mit den Problemen der politischen Unabhängigkeit noch zu wenig befasst. Er brauchte Monate, bis er schließlich darauf stieß, dass schon für die Referenden über politische Unabhängigkeit neue Konzepte gebraucht würden. Unabhängigkeitsbewegungen, das verstand er jetzt, mussten auch ohne Mithilfe des Staates Referenden über die Unabhängigkeit abhalten können, wann immer sie wollten. Und dies würde natürlich am leichtesten mit Online-Referenden möglich sein. Für solche neuartigen Online-Referenden würden, wenn sie mindestens so genau und mindestens so fälschungssicher sein sollten wie herkömmliche Wahlen, ein neues Verfahren und eine neuartige Software zu entwickeln sein. Yang wusste, dass für solche Softwareentwicklungen indische Firmen die günstigsten und vielleicht auch 226 die besten sein würden, und zwei solche Firmen kannte er. Eine davon gehörte Prabas, einem Studienfreund aus Standford. Er nahm sofort mit beiden Firmen Kontakt auf. Schon ein paar Wochen später wusste er, dass eine erste Testversion mindestens zwei Millionen Dollar kosten würde. Wäre Puig, überlegte er, nicht mit dem Vorschlag zu begeistern, Katalonien zur Testregion für eine solche neue Software zu machen? Ja, so schien alles zusammenzupassen. Er schickte Puig dazu eine lange Mail. Und wieder antwortete Puig sehr rasch: Für die Gründung der Foundation for Political Self-Determination stelle er eine Million Dollar, für die Entwicklung der Referendums-Software weitere zwei Millionen bereit. Das sei ein knappes Tausendstel seines Vermögens, und so viel sei ihm der Versuch allemal wert. Zwei plus eine Millionen! Ein paar hunderttausend hatte Yang für sein Global Upgrade Projekt bisher eingesetzt, und nun plötzlich die Aussicht auf so viel Geld. Seine Gedanken überschlugen sich. Was würde jetzt alles machbar sein? Aber er wusste auch: Er musste kühlen Kopf bewahren. Auch Puig war eigentlich ein kühler Kopf, aber in ihm steckte immer noch viel unternehmerische Ungeduld. In einer Mail an Yang schrieb er: - Glaubst du, dass politische Unabhängigkeitsbewegungen bald eine Selbstverständlichkeit werden könnten? Yangs knappe Antwort: Ja. Aber für dich als früheren Unternehmer und mich als früheren Anthropologen bedeutet bald vielleicht nicht das Gleiche. Rentnerrevolution? Menschen altern in Schüben. Es gibt diese Momente, wo man in den Spiegel schaut und bemerkt, dass man plötzlich älter geworden ist, dass plötzlich Falten sind, wo nie welche gewesen waren, und graue Haare, wo man sie nie gesehen hatte. Aber es geschieht auch, dass man Freunde gleichen Alters trifft und denkt: Mein Gott, sind 227 die alt geworden, und dass man sich danach selbst im Spiegel anschaut und denkt: Wie viel älter als ich sehen die aus, die Gleichaltrigen, die Freunde von früher. Mein Gott, wie ist sie gealtert, das war auch mein erster Gedanke, als ich Constanze nach einigen Jahren wiedersah. Wenn ich früher Hauser getroffen hatte, war es für mich immer eine Bestätigung meines Jungseins gewesen, aber das Jüngersein fühlte sich in seiner Gegenwart immer auch an wie Unreife. Und Constanze? War sie seit unserer letzten Begegnung wirklich viel schneller gealtert als ich, und wenn, war sie mir dann auch in Reife weiter enteilt? Ich sah noch einmal genauer hin. Mein Gott, wie gereift sie aussah! Aber wie unreif war es von mir gewesen, etwas anderes zu erwarten. Wir waren ja wirklich alt. Sie war dem Rentenalter noch einige Jahre näher als ich, aber auch ich war nicht mehr weit davon entfernt. Plötzlich kam mir die Erinnerung an ein Gespräch mit Hauser, in dem er über die Freiheit des Denkens im Ruhestandsalter gesprochen hatte. Wer, wenn nicht Pensionäre, ist in diesen Zeiten frei im Denken?, so ähnlich hatte er es gesagt. Und weiter: Wer, wenn nicht Pensionäre, soll in diesen Zeiten Neues denken? Dann hatte ich gefragt, ob er etwa an eine Rentnerrevolution denke, und er hatte geantwortet, dass das ein schöner, ein konstruktiver Gedanke sei. Und nun waren wir, Constanze und ich, fast genau in dem Alter, in dem Hauser die Gendankenfreiheit des Alters gepriesen und die Rentnerrevolution einen konstruktiven Gedanken genannt hatte. Ich musterte Constanze erneut. Ja, sie strahlte eine Reife aus fast wie Hauser damals. Und ich? War ich auch nur im Entferntesten in eine solche, eine hausersche Rolle hineingewachsen? Nein, dachte ich dann, das bist du nicht, und nein, du kannst es nicht. Aber dann auch: Sollte ich es vielleicht, in aller Bescheidenheit, doch noch versuchen? Würde Hauser das nicht sogar hoffen? Constanze und ich saßen im Restaurant des kleinen Hotels in Charlottenburg, in dessen Nachbarschaft ich in meinen jungen Berliner Jahren gewohnt hatte. Ich ließ 228 sie erzählen. Wie ihr Leben sich in den letzten Jahren verändert hatte, wie für ihre Firma die Konkurrenz immer erdrückender geworden, wie ihre Beratungen immer weniger gefragt gewesen seien und danach auch ihre Seminare, und wie schließlich ihr Mann an Parkinson erkrankt sei. - Nein, keine Panik, auch kein Mitleid, sagte sie dann harsch, als sie meinen bestürzten Gesichtsausdruck sah. Mitleid sei das Letzte, was auch ihr Mann sich wünsche, mit seiner Krankheit gehe er souverän um, ja geradezu bravourös. Ihr Blick sagte mir, dass sie darauf keine Antwort wolle. Sie hielt kurz inne, dann erzählte sie, dass sie seit einigen Jahren nur noch als Coach für Führungskräfte aus Wirtschaft und Wissenschaft arbeite. Wie das denn gehe, fragte ich, wie man so schnell einen solchen Sprung vom Seminargeschäft zum Coaching schaffe. Ihre Antwort: Das sei eine Frage der Willenskraft. Dabei horchte ich auf ihre Stimme. Solange ich sie kannte, war die Stimme ihre große und vielleicht einzige Schwäche gewesen. Nun klang sie anders. Noch immer unverwechselbar, aber nun passte die Stimme zu ihrem gealterten Gesicht. Immer noch markant, auch immer noch etwas aufreizend, aber mit einem Klang, der auch an Altersmilde denken ließ. Sie musterte mich, als läse sie meine Gedanken. - Ja, sagte sie dann, ein halbes Jahr Stimmentraining. Leicht war es nicht. Wir sahen einander eine Weile mit vertrautem Schmunzeln an, dann erzählte sie weiter, von ihren Klienten, von deren inneren Einsamkeit, der viele nicht gewachsen seien, vom gegenseitigen Mobbing in Führungsetagen, vom Mobbing durch Untergebene, von der Angreifbarkeit der meisten Führungsentscheidungen und vom Balanceakte zwischen Entscheiden- und Sich-absichern-Müssen. - Und die Wissenschaft?, fragte ich. Bei deinen Klienten aus der Wissenschaft ist es sicher anders. 229 Anders schon, sagte sie, aber auch anders, als man es von außen vermute. Dann erzählte sie vom sich ausbreitenden Burnout im vermeintlich beschaulichen Elfenbeinturm der Wissenschaft, von der gegenseitigen Sprachlosigkeit zwischen wissenschaftlichen Glaubensrichtungen und vom üblichen Leidensweg in der wissenschaftlichen Politikberatung, der meistens vom Stolz auf das Gefragtsein über die Einsicht in die eigene Wirkungslosigkeit letztlich zur Resignation führe. Aber irgendwann, sagte ich, komme doch auch für ihre Klienten aus Wirtschaft und Wissenschaft das, was Hauser die Gedankenfreiheit des Alters nannte. Ob das nicht Hoffnung mache. Ob da nicht ein großes Potential an Kreativität und auch ein großes Hoffnungs- und Sinnpotential lägen, auch wenn diese nur selten genutzt würden. Ob nicht gerade die von ihren Pflichten befreiten Führungskräfte aus Wirtschaft und Wissenschaft offen für das Neue seien und sogar Neuem den Weg bereiten könnten. Das, sagte Constanze, wisse sie nicht, aber noch falle diese Vorstellung ihr schwer. Als wir uns am nächsten Morgen zum Frühstück trafen, brachte ich das Gespräch dann noch einmal auf die Freiheit des Denkens im Alter, und ich erzählte ich ihr, wie Hauser dreißig Jahre vorher den Gedanken einer Rentnerrevolution gestreift hatte. - Rentnerrevolution? Sie sah mit einem befreiten Lächeln an. Ja, ein schöner Gedanke. Meinte er es ernst? - Es kam spontan, aber ein bisschen ernst war es ihm. Sie sah mich mit ihrem selbstbewussten, einschüchternden Constanze-Cramer-Blick an, fast wie damals. - Dann wären wir jetzt dran, oder?, fragte sie in herausforderndem Tonfall. Müssen wir jetzt das Neue denken? - Ausgerechnet, sagte ich. Constanze schloss für einen Moment die Augen, dann wechselte sie in einen sehr sachlichen Tonfall. 230 Auf jeden Fall, sagte sie, wachse den Älteren in unserer alternden Gesellschaft immer mehr politische Verantwortung zu, schon weil sie die Mehrheit seien. Wenn diese Mehrheit kaum Neues zu denken wage, dann sei es kein Wunder, wenn die Jungen politisch resignierten. Ob sie denn meine, fragte ich, dass sich an der politischen Gleichgültigkeit der Jüngeren nichts ändern lasse. - Wie denn?, fragte sie. Die Jüngeren sehen das politische Übergewicht der Älteren, sie ahnen die Überforderung der Politiker, und außerdem spüren sie ihre eigene Überforderung als Bürger. Was bleibt ihnen also, als abzuwarten, wie lange alles noch einigermaßen gutgeht? - Ist das wirklich dein Rat an die Jüngeren? Wäre das auch dein Rat an deine Zwillinge? Nein, sagte sie, aber noch wisse sie keinen besseren Rat. Später habe ich mich gefragt, wie anders dieses Gespräch wohl verlaufen wäre, wenn wir damals schon gewusst hätten, dass ein junger tatkräftiger Kanadier in der Welt unterwegs war, um eine globale Bewegung für politische Systemreformen aufzubauen, und dass ein schwerreicher Katalane ein Vermögen für die Weiterentwicklung politischer Unabhängigkeitsbewegungen gestiftet hatte. Gefreut hätte es uns sicher, aber allein deswegen hätten wir die Zukunft noch nicht viel rosiger gesehen. Das Yang-Konzept Robert Yang hatte seiner World Upgrade einen großen Namen gegeben, aber er tat dennoch alles, um sie erst einmal klein zu halten. Als er mit Puig in Kontakt kam, hatte die Bewegung kaum mehr als 100 registrierte Mitglieder in fünf Ländern. Yang wollte keine Mitläufer, er wollte Leute, die begeistert sind und ihre Begeisterung weitertragen. Er war überzeugt: Wenn die Bewegung fokussiert bleiben wolle, dürfe 231 ihre Mitgliederzahl sich jedes Jahr höchstens verdoppeln. Sein Ziel: in sechs Jahren etwa 6000 engagierte Mitglieder sammeln. Danach werde die Bewegung sich ganz von selbst ausbreiten, oder sie werde untergehen. Yang - das unterschied ihn von den meisten politischen Aktivisten - war nicht nur ein großes Organisationstalent, er erwies sich bald auch als Finanzstratege. Puigs Millionen waren ein Anfang, aber brauchte eine Bewegung wie World Upgrade nicht noch viel mehr Geld? Und verdiente sie es nicht? War sie nicht etwas viel Größeres und Wichtigeres als die vielen kleinen Start-up-Unternehmen der Internetbranche, die von superreichen Geldgebern mit Millionen überschüttet worden waren? Natürlich war sie es, daran glaubte Yang, und er würde ihr alles nötige Geld beschaffen. Yang hatte in Stanford studiert. Einer seiner Professoren lehrte dort über die anthropologischen Grundlagen von Staatsverfassungen. Wie wichtig Erkenntnisse über die Natur des Menschen für das Verständnis von Staatsverfassungen sind, damit befasste man sich damals nur in kleinsten akademischen Zirkeln. In den Seminaren hierüber trafen sich nur wenige Studenten. Hier lernte Yang, der angehende Anthropologe, Claude Halsdorf kennen, einen Jurastudenten aus Luxemburg, der sich auf Völkerrecht spezialisierte. Yang und Halsdorf wurden enge Freunde. Halsdorf arbeitete nach seinem JuraAbschluss zuerst beim Europäischen Gerichtshof, dann für die Europäische Kommission, dann wechselte er zu einer Großkanzlei in London, zu deren Klienten auch große Kapitalanleger gehörten. Nach nur zwei Jahren, kurz nach seinem 34. Geburtstag, machte Halsdorf sich dann selbstständig. Er meinte, genug Kontakte zu Großanlegern geknüpft zu haben, und auf diesen Kontakten wollte er seine eigene Kanzlei aufbauen. Halsdorfs war ein Mann von eigensinnigem und doch wohltuend unscheinbarem Auftreten. Hager, blass, mittelgroß, kräftiges langes, leicht gewelltes Haar, DreiTage-Bart, krawattenlos, schwacher Händedruck. Ein gefragter Vortragsredner wäre 232 nie aus ihm geworden, aber umso gefragter war er als Ratgeber in kleiner Runde. Wenn es, wie meistens bei ihm, um sehr große Geldsummen ging, verlangte er Stargagen wie Prominente für Vorträge in großen Sälen. Er sprach mit leiser, angenehm weicher, aber auch dünner Stimme, die zu Millionen- und Milliardenbeträgen nicht zu passen schien, aber auch im Flüsterton verlieh er seinem Rat großes Gewicht. Eingeweihte nannte ihn bald den Milliardärflüsterer. Im Umgang mit den Egomanen, die seine Milliardäre fast allesamt waren, war seine Unscheinbarkeit ein großer Vorteil. Seine Klienten spürten: Da ist einer so willensstark wie wir, aber er stiehlt uns nicht das bisschen Show, zu dem wir selbst fähig sind. Und wir können ihm vertrauen. Er ist clever, aber vor seiner Cleverness müssen wir nicht auf der Hut sein. Er spürt Ideen und Konzepte auf, und er legt sie uns zu Füßen. Dass sein Freund Halsdorf sich einen Ruf als Milliardärflüsterer erworben hatte, davon erfuhr bald auch Yang. Puigs Millionen für die Software für Unabhängigkeitsreferenden, das hatte sich inzwischen herausgestellt, würden nicht annähernd reichen. Sie würden reichen für eine Demo-Version für ein Probereferendum, aber das war Yang natürlich zu wenig. Also dachte er über neue Geldquellen nach. Puigs Millionen hatten geholfen, aber eine globale Bewegung könnte irgendwann auch Milliarden brauchen. Was lag also näher als ein Kontakt zu Halsdorf? Yang und Halsdorf trafen sich dann in London, in einem kleinen Konferenzraum am Flughafen Heathrow. Beide waren auf der Durchreise, ihnen blieben nur wenige gemeinsame Stunden, aber es war ein herzliches Wiedersehen. Yang erzählte über die Entwicklung von World Upgrade und davon, wie Puig ihm schon nach der ersten Begegnung ein paar Millionen Sponsorengeld angeboten hatte. Danach schob er Halsdorf den Vorentwurf einer Weltbroschüre über World Upgrade hin. - Schau's dir mal an. Für einen Juristen vielleicht etwas zu kühn, aber so ähnlich soll es werden. 233 Halsdorf blätterte die Seiten kurz durch, fing dann an zu lesen, stellte wenige kurze Fragen, dann legte er die Blätter wieder vor sich auf den Tisch. - Noch kühner, als ich es von dir erwartet hatte. Hoch interessant. Ob Halsdorf sich vorstellen könne, fragte Yang, dass ein europäischer Milliardär sich dafür interessieren würde, als Sponsor. Aber im selben Moment hob er die Hände, wie erschrocken über sich selbst, als wolle er die Frage zurücknehmen. Nein, sagte er dann hastig, so direkt meine er das nicht, aber einen zweiten Puig könne das Projekt trotzdem gut gebrauchen. - Ich verstehe, sagte Halsdorf. Dann lehnte er sich für eine Denkpause zurück. Dann, nach langem Überlegen, fragte er Yang, ob es nicht in den USA und Kanada genug Milliardäre gebe. Einen zweiten Puig vermute er in Amerika aber nicht, antwortete Yang. Halsdorf lehnte sich wieder weit zurück, dann nahm er den Prospektentwurf wieder auf und las ihn noch mehrmals sorgfältig durch. Dann sagte er: - Für europäische Milliardäre passt es so nicht. Dafür müssten wir es gründlich überarbeiten. Dann zog er einen Filzstift aus der Jackentasche. - Darf ich?, fragte er. Er setzte sich neben Yang und fing an, mit dem Filzstift Streichungen, Anmerkungen und Korrekturen zu machen. Dann holte auch Yang einen Stift heraus, und auch er beugte sich über den Entwurf, der bald von Anfang bis Ende mit Markierungen, mit Frage- und Ausrufezeichen, mit Kommentaren und Ergänzungen übersät war. In weniger als einer halben Stunde entwarfen die beiden eine völlig neue Broschüre. Noch eine halbe Stunde später gab Halsdorf seine Zusage. Ja, er werde mit einigen Superreichen in Europa über Yangs Projekt sprechen. 234 Garantieren könne er natürlich für nichts, sagte er, es kämen ohnehin nicht viele Superreiche dafür in Frage. Die gealterten Milliardäre des frühen Internetzeitalters seien an Innovationen nicht mehr besonders interessiert, schon gar nicht an politischen, aber bei einigen Wenigen sei es vielleicht einen Versuch wert, vielleicht sogar bei den beiden noch lebenden Samwer-Brüdern. Zu dieser Zeit wusste ich von World Upgrade, von Yang und Puig und Halsdorf noch immer nichts. Hätte ich etwas gewusst, hätte ich natürlich sofort mit Hauser darüber reden wollen. Zwischen Yangs und Hausers Gedanken gab es schon auf den ersten Blick Gemeinsamkeiten, und erstaunliche Gemeinsamkeiten gab es, wie ich später herausfand, auch mit den Ideen der Neokraten. Verfolgten also diese immer noch winzig kleine deutsche Organisation und Yangs World Upgrade ganz ähnliche Ziele? Und war diesen beiden damals noch unscheinbaren Initiativen womöglich gemein, dass ihre Bedeutung erst sehr viel später erkannt werden würde? Uninformiert wie ich war, konnte ich mir damals noch nicht einmal diese Frage stellen. Noch mehr Ideologiefreiheit Schon wenige Wochen nach unserem Gespräch über die Gedankenfreiheit des Alters mailte Constanze mir: - Bin nächste Woche wieder kurz in Hamburg. Können wir uns treffen? Constanze, die Vielbeschäftigte, dachte ich, ihre Zeit wird knapp sein. Ich schlug ein Treffen in der Mittagszeit vor, in der Nähe des Verlagsgebäudes. Ihre Antwort: Gern, sagte sie, aber etwas mehr Zeit als für ein Geschäftsessen sollten wir uns schon nehmen. Es war ein warmer Herbsttag, wir saßen am Wasser in den Elbarkaden der Hafen City, und Constanze begann in aller Ruhe zu erzählen. Von der sich langsam verschlimmernden Krankheit ihres Mannes, vom langsamen Sterben ihrer gemeinsamen Firma und von der kleineren und vorsichtshalber barrierefreien Wohnung, in die sie umgezogen seien. Und dann auch von der gewonnen freien Zeit, 235 die sie nun sinnbringend nutzen wolle. Sie habe jahrelang Führungskräfte beraten, nun denke sie darüber nach, wo sonst ihr Rat noch nützlich sein könnte. - Im Verlag, sagte ich spontan, wäre guter Rat dringend nötig. Ich biss mir auf die Zunge. Mit den Problemen des SPIEGEL hatte ich sie nicht belästigen wollen. Aber sie sah mich sofort mit hellwachem Blick an, als hätte sie genau darauf gewartet. - Ich weiß, dass es dem SPIEGEL nicht gutgeht. - So heißt es, sagte ich. Die Bilanzen sollen miserabel sein, aber wer kann das schon genau nachprüfen? - Ich kann es, sagte sie. Ich kann eine Verlagsbilanz lesen. Gib mal dein Tablet. Sie suchte ein paar Minuten im Internet, dann sagte sie: Hier, der Geschäftsbericht. Dann vertiefte sie sich wortlos in das Zahlenwerk. Schließlich sagte sie: - Dem Verlag geht es wirklich schlecht. Er muss sich selbst sanieren, oder ein anderer wird es tun. - Irgendein Investor? - Ja. Und dann wird nichts bleiben, wie es war, auch das Archiv nicht. Wir hätten im Archiv aber schon sehr viel verändert, sagte ich, wir hätten in den letzten zwanzig Jahren ein Drittel des Personals eingespart, aber das beeindruckte sie nicht. Jeder Unternehmensberater, antwortete sie, werde uns vorrechnen, dass es mit noch weniger Personal ginge und auch mit weniger Inhalt. Man dürfe, sagte ich, aber doch nicht nur ans Sparen denken. Die Zeitschrift lebe doch zuallererst von ihrer Qualität. - Investoren gehen immer an die Grenzen des Möglichen, erwiderte sie, auch in Sachen Qualität. Einen Schöngeist wie Hauser als Archivleiter könne sich heute kein Verlag mehr leisten. 236 Was hätte ich antworten sollen? Wir gingen eine Weile schweigend nebeneinander her. Schließlich sagte ich: - Aber du bist nicht gekommen, um mit mir über die Zukunft des Verlags zu sprechen. - Wenn ich an den Verlag denke, sagte sie, dann denke ich immer auch an Hauser. Und daran, dass es Leute wie Hauser auch in Zukunft geben muss, nicht in Archiven, aber anderswo. - Es gibt ihn ja noch. - Aber wie lange noch? Und wer soll dann dafür sorgen, dass seine Gedanken nicht untergehen? Und wer könnte versuchen, seine Gedanken weiterzudenken? Darüber habe ich viel nachgedacht. Sie sah mich mit fast verlegener Miene an. - Könnten wir es vielleicht versuchen?, fragte sie dann. Zu alt sind wir dafür noch nicht. Sie sah mich auffordernd an, aber ich brachte kein Wort heraus. Constanze und ich in der Rolle des altersweisen pensionierten Hauser? Nein, dachte ich, ich würde es nicht können, natürlich nicht, und daher würde ich es auch nicht wollen. Und selbst wenn, für wen würden wir es tun? Würde uns jemand ernst nehmen, wie wir Hauser ernst genommen hatten? - Wir werden schon Leute finden, sagte Constanze, die sich dafür interessieren. Du hältst deine Kontakte, ich halte meine. Und jeder von uns kümmert sich um das, wovon er genug versteht. Ich erst einmal um Ökonomisches. Überzeugt war ich nicht. Hausers Gedankenflügen hatte ich oft nur mühsam folgen können, und nun sollte ich seine Gedanken weiterdenken können? Undenkbar. Aber dann hörte ich mich sagen: - Einen Versuch wäre es vielleicht wert. 237 Constanzes lächelte zufrieden. - Aber dann machst du den Anfang, sagte ich. Zum Beispiel über Ökonomie im Sinne Hausers? - Einverstanden, sagte sie. Ich schicke dir bald einen kleinen Text. Es dauerte bis nach dem Jahreswechsel, bis ich Post von ihr bekam mit einem Text zur Wirtschaft in unserem Jahrhundert. Keine leichte Kost für ökonomische Laien wie mich, aber er soll hier trotzdem seinen Platz haben: Wie Wirtschaftspolitik im 21. Jahrhundert funktionieren könnte Niemand versteht die Wirtschaft, zumindest nicht die ganze. Eine neue Erkenntnis ist das nicht, aber sie wird noch immer zu wenig beachtet. Alle wünschen sich eine innovative, immer produktivere Wirtschaft. Eine solche Wirtschaft braucht Wettbewerb. Wettbewerb zwingt Menschen und Unternehmen, ihre Möglichkeiten auszuschöpfen. Er zwingt sie, an die Grenzen des Beherrschbaren zu gehen, aber zwingt sie auch, an diesen Grenzen Halt zu machen. Wer diese Balance nicht findet, geht in der Wirtschaft irgendwann unter. Unternehmen beispielsweise, die zu passiv sind oder zu innovativ. Dieser Balanceakt hört nie auf. Insofern ist eine dynamische Wirtschaft in einer produktiven Dauerkrise. Das hat natürlich auch Folgen für die Wirtschaftspolitik. Je dynamischer und innovativer eine Wirtschaft ist, desto schwerer ist sie auch für Wirtschaftspolitiker zu durchschauen. Desto mehr wird auch die Wirtschaftspolitik zu einem Balanceakt. Desto größer ist für Wirtschaftspolitiker das Risiko, zur Lenkung der Wirtschaft zu wenig tun oder zu viel oder das Falsche. Man könnte meinen, für die Lenkung einer immer komplizierteren Wirtschaft müssten eben immer kompliziertere Regeln geschaffen werden. Aber je komplizierteren Regeln die Wirtschaftspolitik folgt, desto schwerer ist sie beherrschbar und desto fehleranfälliger wird sie. 238 Die Wirtschaftspolitik unserer Zeit muss also versuchen, das zunehmend Unbeherrschbare und Unbegreifliche nach beherrschbaren und begreiflichen Regeln zu lenken. Die große Gefahr ist, dass Zentralbanken und Wirtschaftspolitiker sich und ihre Regeln überschätzen. Verantwortungsvolle Geld- und Wirtschaftspolitik muss sich daher immer auf hinreichend einfache Regeln stützen. Auch wenn solche einfachen Regeln gelegentlich zu Fehlern führen, dürfen sie nicht durch kompliziertere neue Regeln ersetzt werden. Dann müssen vielmehr neue einfache Regeln her, die weniger fehleranfällig sind. Wie zum Beispiel hält man die Inflation im Zaum, ohne dabei die Wirtschaft in Krisen zu stürzen? Wie vermeidet man Deflation und Stagnation, ohne Inflation zu schüren? Wie lässt sich die Konjunktur stabilisieren, ohne damit den Keim für die nächste Krise zu legen? Wie stabil lässt sich die Konjunktur auf Dauer überhaupt halten? Nach welchen einfachen Regeln ist bei all dem vorzugehen? Um wie viel komplizierter, wie viel schwerer beherrschbar wird Wirtschaftspolitik zum Beispiel, wenn ein Währungsgebiet erweitert wird? Wann und wo wurden mit der Ausweitung der Euro-Zone die Grenzen der Beherrschbarkeit überschritten? Es scheint immer noch, als würden Regierungen und Zentralbanken sich diese Fragen nicht ernsthaft genug stellen, als würden sie nach neuen Regeln, die zugleich einfach und gut sind, noch immer nicht ernsthaft suchen. Sie wursteln weiter jenseits der Grenzen der Beherrschbarkeit. Die Folgen: u.a. die zwei großen Finanzmarktund Währungskrisen in der ersten Jahrhunderthälfte und jahrzehntelange Massenarbeitslosigkeit in europäischen Krisenstaaten. Aber lassen sich all diese Probleme nicht doch damit erklären, dass Politiker den weisen Rat von Wirtschaftstheoretikern in den Wind schlagen? Hätte nicht z.B. eine bei den renommiertesten Theoretikern der Ökonomie gesammelte Weisheit ausgereicht, um die Wirtschaftspolitik auf einen besseren Weg zu bringen? Leider nicht. 239 Müssen wir uns dann mit ähnlichen Krisen auf unabsehbare Zeit abfinden? Sind die menschlichen Möglichkeiten in der Wirtschaftspolitik erschöpft? Nein, auch das nicht. Wäre die Wirtschaftspolitik nur halb so kreativ wie die Wirtschaft selbst, dann ginge es uns allen besser. Viel hinreichend Einfaches ist in der Wirtschaftspolitik noch nie erprobt oder, obwohl denkbar, noch nicht einmal gedacht worden. PS: Ich weiß, wie abstrakt das in dieser Kürze klingt, gerade für ökonomische Laien, und wie plakativ für andere. Aber ich hoffe, es macht wenigstens neugierig. Nicht für dich - du weißt es längst -, aber für andere werde ich trotzdem noch dies hinzufügen müssen: Die Wirtschaft sorgt nicht von selbst für gerechte Verteilung von Wohlstand, im Gegenteil. Auf dem Arbeitsmarkt sind in den letzten hundert Jahren Niedrigstlöhne und Spitzengehälter immer weiter auseinandergedriftet, und damit ist auch das Vermögen immer ungleicher verteilt. Daher fordern viele noch immer eine andere Wirtschaft, eine mit weniger Markt, weniger Wettbewerb, weniger Kapitalismus. Das ist ein großes Missverständnis. Keine Art von Wirtschaft schafft von sich aus Wohlstand und Gerechtigkeit für alle. Die Wirtschaft schafft ungerechten Wohlstand, und für dessen gerechte Verteilung kann nur der Staat sorgen. Er tut es aber nicht. Wir brauchen also keine andere Wirtschaft, was wir brauchen, ist ein anderer Staat. Es wäre schon ein großer Fortschritt, wenn darüber nicht mehr gestritten werden müsste. Wenn Einigkeit darüber herrschte, dass der große Versager unserer Zeit nicht die Wirtschaft ist, also auch nicht der so genannte Kapitalismus. Der große Versager ist der Staat. Hätte ich damals schon von Yang gewusst, wäre mir natürlich gleich der Gedanke gekommen: Yang und Constanze wären sich hierüber rasch einig. Und Constanze, so alt sie auch ist, ließe sich ebenso rasch für Yangs Bewegung gewinnen. 240 Wenige Tage, nachdem Constanzes Brief gekommen war, rief Hauser an. Er hielt sich nicht mit Vorreden auf, als hätten wir gerade erst miteinander gesprochen. Es ging um seine alten Aufzeichnungen. Er glaube, sagte er, irgendwo im Archiv stehe davon noch ein Exemplar, und wenn, dann solle ich es vernichten. Dieser Text sei überholt. Er werde demnächst versuchen, seine Aufzeichnungen zu überarbeiten und zu ergänzen. - Versprochen?, fragte er dann. - Ja, sagte ich, wenn das Exemplar noch da ist. Wann er die Neufassung schaffe, sagte er dann, und ob, das wisse er nicht, aber er wolle es versuchen, um in seinem letzten Lebensabschnitt mit sich im Reinen zu sein. Wir sollten uns demnächst wieder einmal treffen, sagte er dann noch. Er werde sich melden, wenn die Sonne wieder höher stehe. Im Frühjahr. Die Krise der Archive In den Jahren nach der Jahrhundertmitte herrschte im Archiv eine ungewohnte Ruhe. Es war beileibe keine ereignisarme Zeit, aber es schien, als sei den Redakteuren das ungeduldige Wissenwollen ausgetrieben. Oberflächlich war alles wie vorher, waren Anfragen ans Archiv brandeilig wie immer, gaben sich die Redakteure fordernd wie immer, und doch war es, als breite sich langsam eine nüchterne Routine aus. Es waren in der Tat Jahre, in denen auch die Welt in eine unaufgeregte Routine zu verfallen schien und die SPIEGEL-Leser mit ihr. Natürlich versuchte die Redaktion immer wieder, wenigstens kleine politische Aufreger zu produzieren, aber meistens wirkten sie gekünstelt. Als Archivar kann man solche Zeiten anders erleben, wenigstens dann, wenn man sich den Hauserschen Blick ins Weite bewahrt. Für mich war es trotz allem fast eine 241 aufregende Zeit. Je mehr Routine sich in der Archivarbeit breitmachte, je unaufgeregter das Tagesgeschäft war, desto freier war der Kopf für Gedanken, die über das Tagesgeschäft hinausgingen. Von den großen Problemen der vergangenen Jahrzehnte war keines wirklich gelöst, das Krisengeschehen der Welt legte nur eine kurze Pause ein. Der Dritte Weltkrieg war abgeebbt, aber könnte er sich danach nicht als Jahrhundertkrieg fortsetzen? Im Archiv arbeitete seit Kurzem Tilman, ein Büroassistent, der Klaus in vielem ähnlich war. Schon als er sich vorstellte, dachte ich: So einer täte dem Archiv gut, ein lustiger Krauskopf mit funkelnden Augen und eulenspiegelhafter Mimik. Es war Tilman, der dann im Archiv die etwas gedämpfte Stimmung dieser Jahre gelegentlich auffrischte, sei es mit seinen entlarvenden Bemerkungen, mit seiner clownesken Gestik oder mit kleinen gekonnten Selbstinszenierungen. Eines Tages schwebte er mit einem dünnen wallenden Umgang durch das Archiv, dessen Berührung man im Vorbeigehen kaum vermeiden konnte. - Wozu das?“, fragte ich. - Der Mantel der Geschichte, sagte er. Und als ich ihn ratlos ansah: - Oder die Illusion davon. So viel Zeitgeist, so viel Trübnis, so viel Trost in so wenigen Worten. Genau dafür hatten wir Tilman, dafür brauchten wir ihn. Nach solchen Szenen war es, als trügen wir alle im Archiv ein unsichtbares Lächeln im Gesicht. Je ereignisärmer die Zeit, desto mehr Fragen stellt man sich. Fragen zum Sinn des eigenen Tuns. Zum Sinn und zur Bedeutung des Archivs. Zu seiner Vergangenheit und seiner Zukunft. Wie hatte sich das Archiv in den letzten Jahrzehnten verändert? Welche Veränderungen standen bevor? Welche Bedeutung würde das Archiv in zehn oder zwanzig Jahren noch haben? Würde es, wenn die Redaktion immer kurzatmiger agiert, als ruhender Gegenpol immer wichtiger? Oder würde es immer weniger gefragt sein? Würde die Redaktion sich immer weniger noch bemühen, ihre Beiträge 242 auf archivarisches Wissen zu gründen? Würde auch im SPIEGEL die tagesaktuelle Leserresonanz immer mehr Gewicht bekommen, auf Kosten der Seriosität, der archivarischen Fundierung? Ich weiß natürlich, dass auch die Geschichte unseres Blattes keine Geschichte lupenreiner Seriosität ist. Wie Hauser es einmal sagte: Ein Archiv sammelt Material nicht nur über Menschen und Organisationen, sondern auch gegen sie. Schon früher wurde vom Archiv nicht nur solide Faktenarbeit erwartet, sondern auch Beihilfe zu Verdächtigungen, Verunglimpfungen, Bloßstellungen und zum politischen Rufmord. Das Archiv musste helfen, journalistische Aufreger zu konstruieren, Skandale zu unterfüttern, Empörung zu schüren. Archivare könnten sich kaum dagegen wehren, hatte Hauser gesagt, in diesem Sinne als Mittäter eingespannt zu werden, was allerdings in den letzten Jahrzehnten weniger geschehen sei als vor seiner Zeit. Er erzählte von den Haudegen der Redaktion im späten 20. Jahrhundert, die stolz auf sich waren, wenn sie politische Gesinnungsgegner zur Strecke gebracht oder es zumindest versucht hatten, mit welchen Mitteln auch immer. Sehr viel besser, sagte er, sei es aber auch im ersten Jahrhundertviertel nicht gewesen, als gegen so genannte Putinversteher, Separatistenversteher, Islamistenversteher, Terroristenversteher und andere journalistischer Kleinkrieg geführt wurde, wofür auch im Archiv Rückendeckung angefordert wurde. Ich solle mich in Acht nehmen, sagte er dann, auch im Umgang mit Archiven habe es nur kleine zivilisatorische Fortschritte gegeben, auch im Journalismus sei das Eis der Zivilisierung noch immer dünn, und je mehr die Verlage wirtschaftlich unter Druck gerieten, desto brüchiger werde es. Es wäre natürlich naiv oder vermessen, einen Zusammenhang zwischen dem politischen Weltgeschehen und dem Geschehen im Verlag zu vermuten, aber genau dieses Gefühl hatten viele von uns. Es war, als nutzte der Verlag die Atempause der Weltgeschichte, um seine eigene Geschichte aufzumischen. Dass der ältere unserer beiden Chefredakteur bald gehen würde, wussten wir alle. Zwei zehrende Jahrzehnte im Amt hatten ihn erschöpft. Ein jüngerer musste her, die Gerüchteküche quoll über mit Namen von Kandidaten, alle zwischen Anfang vierzig 243 und Anfang fünfzig. Dann der große Coup. Der neue Mann war ein alter. Berenberg. Ausgerechnet Berenberg. Redaktionsmitglied seit fünfundzwanzig Jahren. Der Mann, der sich als Jungredakteur mit Polemik gegen Querdenker aller Art hervorgetan hatte, gegen Separatistenversteher, Demokratieskeptiker und andere. Der dann, als der Gegenwind stärker wurde, als Mitläufer in der Redaktion abgetaucht war, als Spezialist für unauffällige Themen. Nun war er ganz oben. Nicht weil er sich geändert hätte, sondern weil die Zeiten sich geändert hatten. Nun erntete er den Lohn für seine lange Unauffälligkeit. Nun hatte er es den wenigen noch übrigen Querdenkern von damals gezeigt: Eure Zeit ist vorbei, meine Zeit ist gekommen. Alle wussten, dass auch Kiesewetters Zeit nun bald vorbei sein würde. Ein Querdenker wie er in der Chefredaktion, das war schon jetzt gefühlte Vergangenheit. Wer aber hatte diese Entscheidung getroffen? Wer waren Berenbergs Unterstützer? Die Mehrheit der Redakteure? Damals noch unwahrscheinlich. Die Verlagsleitung? Schwer vorstellbar. Was also war Berenbergs Ernennung vorausgegangen? Wovon war sie die Folge? Oder war sie eher ein Vorbote? Wer sprach in diesen Zeiten eigentlich für die Eigentümer? Wir waren ein paar Jahre vorher Aktiengesellschaft geworden, und nun stand bei der Familie des Gründers ein Generationenwechsel an. Keiner der Erben war noch auf Einfluss im Verlag aus. Aber nichts würde sich verbessern, das wussten alle, wenn die zerstrittene nächste Generation das Erbe antreten würde. Wurde schon über den Verkauf verhandelt? Gab es Interessenten, die das Blatt nach einem Führungswechsel ganz würden übernehmen wollen? Lauter Gerüchte. Sechs Monate später der nächste Coup. Die Entlassung des Verlagsleiters. Wir hatten uns nicht unbedingt gemocht, der Verlagsleiter und ich, aber wir hatten Respekt voreinander, menschlichen und auch Respekt vor der Arbeit des anderen. Ich wusste: Ein Archiv wie unseres gedeiht nur in einem gut geleiteten Verlag. Er wusste: Journalismus auf unserem Niveau braucht ein gutes Archiv. Wir beide sahen uns als Teile des großen und guten Ganzen. 244 Weitere fünf Monate später der Paukenschlag. Der Verkauf. Der neue Hauptaktionär ein globaler Investor. Eine neu geformte amerikanisch-chinesische Medienholding. Deren Hauptaktionäre: Amazon und eine Tochtergesellschaft von Alibaba. Dass an dieser Tochtergesellschaft von Alibaba der chinesische Staat eine Sperrminorität besaß, erfuhr ich erst viele Jahre später. Die Aktienmehrheit hatte die Medienholding damit noch nicht, aber sie hatte die Macht im Verlag, und einen kleinen Teil der Macht hatte damit auch China. Der SPIEGEL würde nun ein anderes Blatt werden, das war klar, mit Ablegern in vielen Sprachen, vielleicht eine Art Welt-Zeitschrift. Aber besser würde er nicht werden, wenigstens nicht in meinem und unserem Sinne. Oder waren „wir“ inzwischen eine Generation nostalgischer Träumer, die sich den neuen Sachzwängen des Zeitschriftenwesens störrisch verweigerten? Der neue Verlagsleiter gab sich zurückhaltend. Er wolle das Unternehmen erst einmal gründlich kennenlernen, natürlich vor allem die Menschen im Unternehmen, verkündete er bescheiden, und so gewann er Sympathien. Nach drei Monaten bat er mich zum Einzelgespräch. Die neuen Anteilseigner, begann er, wünschten sich natürlich ein weiterhin erfolgreiches Unternehmen. Kurze Pause. Und ein wachsendes, fuhr er mit ruhiger Stimme und bedeutungsschwerer Miene fort. Daher stehe natürlich alles auf dem Prüfstand. Wieder eine Pause. Dann: Wir hoffen dabei auf Ihre Unterstützung. Ich schrumpfte auf meinem Stuhl zusammen. Wenigstens war er ehrlich. Routiniert, bedrohlich, aber ehrlich. - Den SPIEGEL, fuhr er fort, gibt es seit über hundert Jahren. Die Frage ist, ob er immer mit der Zeit gegangen ist. Diese Frage, das wissen Sie, müssen wir uns in allem stellen, was wir tun. Es ist eine Überlebensfrage. Er rückte seine Brille zurecht und sah mich mit entwaffnend offenem Blick an. - Wenn wir uns darüber einig sind, dann werden wir gut zusammenarbeiten. 245 So weit das Vorgespräch. Zwei Wochen später trafen wir uns wieder. Diesmal kam er, eine Geste immerhin, zu mir ins Büro. Er habe sich die Zahlen genauer angesehen, begann er. Und dann: - Ich will nicht lange drumherum reden. Ich glaube auch, es überrascht Sie nicht. Das Archiv des SPIEGEL ist zu groß und zu teuer. Es ist personell überbesetzt. Es dauerte eine lange Schrecksekunde, bis ich antworten konnte. - Meinen Sie das wirklich?, stammelte ich. Wie viel zu teuer, sagte er, das wisse er noch nicht genau, aber im Verhältnis zur Redaktion sei das Archiv auf jeden Fall überdimensioniert. Deutlich größer als bei vergleichbaren Zeitschriften, das habe er gründlich recherchiert. Vieles von dem, was das Archiv dokumentiere, sei demnach entbehrlich. Einen endgültigen Plan habe er nicht, aber man müsse mit einer Verkleinerung um mindestens ein Viertel anfangen. Danach sehe man weiter. Dann sagte er: - Den genauen Plan dafür machen Sie, und Sie führen natürlich auch die Gespräche mit den Mitarbeitern. Je früher, desto besser. - Überflüssig ist hier keiner, erwiderte ich hastig. Alle dienen hier der journalistischen Qualität. Er sah mich einen Moment lang prüfend an, als überlege er, ob ich noch Schonung brauchte. Dann hob er den Kopf. Nein, bedeutete es, schonen wolle er mich nicht. - Die Zeiten haben sich eben geändert. Die Frage nach der Qualität eines Blattes muss man heute nüchterner stellen als noch vor zehn Jahren. Nüchterner, das heißt vor allem: aus der Sicht der Leser. Wir können nicht in eine Qualität investieren, von der die Leser wenig merken. Vom Beitrag des Archivs zur Qualität des Blattes merken die Leser so gut wie nichts. - Woher wissen Sie das denn? 246 - Das ist die Meinung in unserer Investorengruppe. Wir wissen auch, dass der Inhalt des Archivs sich zunehmend mit dem von Online-Quellen überschneidet, die jedermann zugänglich sind. Das haben wir anderswo untersucht. - Bei uns bisher nur zu einem kleinen Teil, sagte ich. - Es wird auf jeden Fall immer mehr. - Aber das zu bekommen, sagte ich, was nicht schon bei Wikipedia und sonstwo zu lesen ist, wird immer schwerer. Dafür brauchen wir nicht weniger Leute, sondern eher mehr. - Streiten wir uns nicht über Kleinigkeiten, sagte er. Wir müssen uns über die Richtung einig sein. Denken Sie darüber nach. Er erhob sich. - Die fetten Jahre sind nun einmal vorbei. Dann verließ er den Raum mit selbstbewusster Siegermiene. An der Tür drehte er sich noch einmal um. - Ach ja, das hätte ich fast vergessen. Hier ein kurzes Memo der neuen Anteilseigner für unsere Führungskräfte. Lesen Sie es in Ruhe durch. Ich blieb erschöpft sitzen. Dann nahm ich mir einen Textmarker, begann zu lesen und markierte dabei diese Stellen: - Wir wollen nicht elitär sein. - Wir maßen uns nicht an, die Leser zu formen, wir formen das Blatt nach den Wünschen der Leser. - Wir wollen noch mehr Leser erreichen. Wenn nötig, mit neuen Inhalten, neuem Stil. - Wir wollen unsere Kosten senken und unsere Kapazitäten besser auslasten. - Wir helfen den Publikationen unserer Unternehmensgruppe in anderen Teilen der Welt, aber wir lernen auch von ihnen. - Wir nutzen die globalen Synergien der Unternehmensgruppe. 247 Ja, es war endgültig klar: Die alten Zeiten, gut oder schlecht, fett oder mager, sie waren vorbei. Ich verließ das Büro mit starr geradeaus gerichtetem Blick. Niemand sollte mir in die Augen sehen, niemand meine Stimmung spüren. In der Eingangshalle sah ich dann von Weitem Kiesewetter, und ich schaute kurz zu ihm hin. Auch er mit starrem Blick, auch er wollte niemandem in die Augen sehen, aber für eine Sekunde trafen sich dann doch unsere Blicke. Diese eine Sekunde genügte. Abschied von Hauser Politischer Qualitätsjournalismus setze genau genommen Qualitätspolitik voraus, hatte Hauser einmal gesagt. Ich hatte diese Bemerkung nicht sehr ernst genommen, aber nun begann ich sie besser zu verstehen. Qualitätsjournalismus, das waren für Hauser nicht nur gut geschriebene, gut gemeinte und engagierte Artikel. Es war nicht nur das Anschreiben gegen offenkundige politische Versager und Schurken. Es war auch nicht das aufmerksame skeptische Begleiten mittelmäßiger Politik. Zu wirklich hoher Qualität, meinte Hauser, werde der politische Journalismus erst herausgefordert, wenn die Politik hohe Maßstäbe setze, mindestens aber hohe Ziele verfolge. Eine solche Politik hatte unsere Generation nicht erlebt, und sie war nicht absehbar. Dass der SPIEGEL von globalen Investoren übernommen wurde, deren Qualitätsansprüche sich am globalen Mittelmaß orientierten, war in solchen Zeiten nur folgerichtig. Um das, was nach der Mitte der fünfziger Jahre in der Welt geschah, journalistisch zu begleiten, reichte Mittelmäßigkeit vollkommen aus. Die Weltgeschichte hatte in den frühen fünfziger Jahren eine kurze Verschnaufpause eingelegt, danach lebten die verdrängten politischen Probleme dieser Welt sämtlich wieder auf, manche davon intensiver denn je. Der - nun zumindest in den Medien immer offener als solcher benannte - schleichende Dritte Weltkrieg, dessen Hauptschauplatz in den vierziger Jahren Nordafrika gewesen war und der dort u.a. 248 zum Zerfall Nigerias geführt hatte, hatte seine Brennpunkte nun in Asien. In Indien verging kein Jahr ohne gewaltsame Konflikte mit ethnischen und religiösen Minderheiten. Auch Iran, Myanmar, Indonesien, die Philippinen, Pakistan, Malaysia, Afghanistan und andere asiatische Staaten waren Schauplätze heftiger innerstaatlicher Konflikte. China hielt seine aufrührerischen Minderheiten mit Beschwichtigungsrhetorik, aber in der Sache so unnachgiebig wie je in Schach. Zugleich unterstützte es militante chinesische Minderheiten in anderen ostasiatischen Staaten. Eine ganz ähnliche Politik betrieb Russland, wenn auch mit martialischerer Rhetorik. Noch immer verstanden russische Politiker nicht, dass ihr Land aus seiner inneren Krise nur herausfinden würde, wenn es sich von erdrückendem Ballast befreite wie den immer noch viel zu hohen Militärausgaben und womöglich auch von aufsässigen Minderheiten. Statt dessen ging Russland mit rücksichtsloser Waffengewalt gegen neue separatistische Bewegungen im Süden des Landes vor, und zugleich schürte es neue separatistische Neigungen bei den zehn Millionen Russen bzw. deren Nachkommen, die bei der Auflösung der Sowjetunion ungewollt zu Bürgern nichtrussischer Staaten geworden waren. Diesen Menschen, so die russische Regierung, sei Unrecht angetan worden, das nun, nach mehr als einem halben Jahrhundert, endlich korrigiert werden müsse. Die westliche Welt reagierte hierauf wieder mit militärischen Drohgebärden. Dass es aber auch in dieser Frage letztlich um verwehrte politische Selbstbestimmung ging, war unter westlichen Politikern immer noch ein Tabu. Auch in der arabischen Welt war keiner der schwelenden Konflikte wirklich gelöst. Die von dort ausgehenden terroristischen Aktivitäten lebten mit neuer Intensität auf, und der so genannte Krieg gegen den Terror, den der Westen schon in den dreißiger Jahren fast gewonnen geglaubt hatte, wurde mit nie dagewesener Intensität weitergeführt. Angespannte innerstaatliche Ruhe konnten in der arabischen Welt weiterhin nur die autokratischen Regimes sicherstellen, die sich auf eine so einschüchternde Militärmacht stützten wie Ägypten, Saudi-Arabien oder Algerien. In 249 Europa führten in dieser Zeit die Spannungen in den Migrantengettos zu den bisher schwersten gewalttätigen Auseinandersetzungen. Selbst in seriösen Medien war immer häufiger von Bürgerkriegszuständen die Rede. In den USA war das auffälligste politische Ereignis dieser Zeit das Auseinanderbrechen der Partei der Republikaner. Der radikalkonservative populistische Flügel hatte sich weiter radikalisiert und innerparteilich eine knappe Mehrheit erlangt. Nach heftigen innerparteilichen Machtkämpfen spalteten sich die Radikalkonservativen schließlich als eigenständige Partei ab, als Neue Republikaner. Neue und alte Republikaner waren aber machtbewusst genug, um nur in den Wahlkreisen Kandidaten gegeneinander aufzustellen, in denen sie ohnehin chancenlos waren. Der Wahlkampf zu den Kongresswahlen 2058 wurde dann eine der schmutzigsten Schlammschlachten der amerikanischen Demokratiegeschichte. Trotzdem einigten Neue und alte Republikaner sich nach der Wahl auf gemeinsame Mehrheiten gegen die Demokraten in beiden Kongresskammern. Bei den nachfolgenden Kongress- und Präsidentschaftswahlen 2060 war die Wahlbeteiligung die mit Abstand niedrigste der US-Geschichte. Im Europa der EU war die politische Stimmung nicht besser. Bei den Wahlen zum Europaparlament lag die Wahlbeteiligung 2059 bei 34% und 2064 bei 33%. Nach dem frühen Austritt Griechenlands zeichneten sich nun auch in Italien und Großbritannien erstmals parlamentarische Mehrheiten für einen EU-Austritt ab. In anderen EU-Ländern, darunter Deutschland, die Niederlande, Österreich und abermals Großbritannien, forderten starke Bürgerbewegungen Volksabstimmungen über die EU-Mitgliedschaft. Sie beriefen sich darauf, dass die EU nie das Recht der Bürger auf Selbstbestimmung über ihre EU-Zugehörigkeit formell anerkannt habe und damit die Bürger in ihren Freiheiten fundamental einschränke. Die politische Zusammenarbeit der EU-Staaten war auf Gebieten wie der Außenpolitik nie viel mehr als ein Ritual gewesen war, nun bestand sie nur noch auf dem Papier. Um europäischen Prinzipien und Interessen mehr politisches Gewicht zu verleihen, hatten daher Deutschland, Frankreich, die Beneluxländer und die 250 skandinavischen Länder Kooperationsverfahren geschaffen, die mit denen der EU offen konkurrierten. Die politische Parteienlandschaft war in Deutschland konturloser geworden denn je. Die Muslimisch Soziale Union hatte sich nach erbitterten internen, auch von ihren ausländischen Geldgebern angetriebenen Machtkämpfen ihrer radikalsten Flügel entledigt, ihre Wahlergebnisse hatten sich danach bei 6% stabilisiert. Die etablierten Altparteien hatten sich Guttenbergs Deutschen Demokraten, die zwischenzeitlich zur zweitstärksten Partei aufgestiegen waren, rhetorisch immer mehr angenähert und damit deren weiteren Aufstieg gebremst. Auf dem Parteitag der Deutschen Demokraten im Frühjahr 1956, wenige Monate vor seinem Tod, hielt Guttenberg seine letzte große innerparteiliche Rede. Darin warb er um Verständnis für Menschen, die in der politischen Zivilisierung noch vergleichsweise rückständig seien. Deren Empfindlichkeiten, deren Minderwertigkeitsgefühl und deren Fremdsein in der westlichen Welt seien Tatsachen, die man annehmen müsse. Man dürfe diesen Menschen nicht belehrend und mit Überlegenheitsgefühl, man müsse ihnen empathisch begegnen und auf deren Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen. Trotzdem bleibe er gegenüber jeglicher Zuwanderung weiterhin skeptisch. Der Grund hierfür liege aber nicht bei den Migranten, er liege bei den Deutschen selbst. Denn je mehr zivilisatorisch rückständige Migranten ins Land kämen, desto mehr Deutsche meinten, auch sie dürften sich in der Anstrengung des Zivilisiertseins gelegentlich Pausen gönnen. Solche Zuwanderung mache daher aus einem potentiellen Vorbildstaat einen mittelmäßigen Staat wie viele andere. Sein Resümee: Deutschland ist nicht reif für die Immigration. Damit meinte Guttenberg nicht viel anderes als mit seiner früheren Aussage, Deutschland brauche Immigranten, von denen es lernen könne. Die Formulierung aber, dass Deutschland nicht reif sei, verprellte einen Großteil seiner Parteifreunde und seiner Wähler. Bei den folgenden Wahlen blieb der Stimmenanteil der Deutschen Demokraten unter 20%. 251 Eine Folge hiervon war, dass sich noch mehr Wahlberechtigte vom Politikbetrieb abwandten. Bei der Bundestagswahl 2057 sank die Wahlbeteiligung auf ein neues Allzeittief von unter 39%. Die Unionsparteien erhielten 25%, die SPD 19%, die Deutschen Demokraten 18%, die Grünen 15%, die Linke und die MSU je 6%, sonstige Parteien 11% der abgegebenen Stimmen. Neben den von den Parteien strikt ausgeschlossenen Koalitionsmöglichkeiten waren nur noch Notkoalitionen möglich. Schließlich einigten sich SPD, Grüne und die Muslimisch Soziale Union auf eine von den Linken tolerierte Minderheitskoalition, die nur zwei Jahre lang hielt und mit der Ausschreibung von Neuwahlen endete. Bei diesen Wahlen sank, im Herbst 2059, die Wahlbeteiligung weiter auf nunmehr 37%. Das Wahlergebnis verschob sich dabei geringfügig zugunsten der Unionsparteien. Die danach gebildete Koalition hätte noch zwei Jahre vorher als Sensation gegolten: Die Unionsparteien mit den Deutschen Demokraten und den Grünen. Zu dieser Zeit gab es in fast keiner der alten westlichen Demokratien mehr eine Regierungspartei bzw. -koalition, die von mehr als einem Fünftel der Wahlberechtigten gewählt worden wäre. Regierungen und Parlamente konnten sich daher nur noch schwer des Verwurfs erwehren, sie seien nicht demokratisch legitimiert. Sie wehrten sich schließlich immer häufiger mit dem Argument, die Wähler seien eine kompetente Minderheit, die von Politik mehr verstehe als die Nichtwähler. Also sei es im Interesse aller, wenn diese Minderheit über die Zusammensetzung von Parlamenten bestimme. Dieses Argument war aber von der Realität längst überholt. Das Nichtwählen war bei Bildungsbürgern längst ebenso verbreitet wie in bildungsfernen Schichten. Vielleicht hätte sich in dieser Zeit politisch mehr verändern können, wenn vorher neue Parteien und Bewegungen die politische Bühne betreten hätten. Aber die Neokraten traten 2057 und 2059 nicht zur Wahl an. Und Yangs Bewegung hatte in Deutschland zu dieser Zeit noch nicht einmal 1000 Mitglieder gewonnen. Mitten in diesem trüben politischen Szenario, im Januar 2058, kam die Nachricht von Hausers Tod. Mein erster Gedanke war: Eine gute Zeit, diese Welt zu verlassen. 252 Früh genug auch, um den Niedergang des Archivs nicht mitzuerleben, den Hauser vorausgeahnt hatte. Vielleicht hatte er es so entschieden. Er hatte die politische Welt bis zuletzt mit hellwachem Geist beobachtet, und sie würde ihm nicht den Gefallen tun, sich noch zu seinen Lebzeiten in besserer Verfassung zu zeigen. Tiefe Trauer empfand ich über Hausers Tod nicht. Er hatte mich oft mit Gedanken bedrängt und manchmal auch überfordert, die ich als Last empfand, wie sehr er damit auch Recht hatte, und ich hatte mich dabei immer in seinem Schatten gefühlt. Sein Tod hatte daher, dazu bekenne ich mich, für mich auch etwas Befreiendes. Trotzdem hatte er mir in einer Welt, in der es geistige Heimat nirgendwo mehr zu geben schien, doch so etwas wie geistiges Heimatgefühl gegeben. Bei der Todesnachricht kam mir natürlich auch gleich das letzte Gespräch in den Sinn, das wir miteinander geführt hatten. Es war - wieder einmal - um die Frage gegangen, ob es mit der menschlichen Zivilisierung weiter bergab gehe und ob er in dieser Hinsicht immer noch Fatalist sei. Eigentlich schon, sagte er, dazu stehe er, aber man dürfe auch die kleinen Hoffnungsschimmer nicht übersehen. Ein kleiner Hoffnungsschimmer sei für ihn das Gespräch gewesen, das wir, er und ich, mit Tian geführt hatten. Wenn einer wie Tian in China kein absoluter Einzelgänger sei, dann könnte die kommende Talsohle der menschlichen Zivilisierung, von China ausgehend, bald durchschritten sein. Ich fragte, was er unter bald verstehe. Vielleicht schon in der übernächsten Generation, sagte er, vielleicht schon um die Jahrhundertwende. Zwei Tage nach Hausers Tod erschien eine kurze Notiz im SPIEGEL, fünf knappe sachliche Zeilen. Hauser sei ein Meister des Details gewesen, ein Mann mit dem Fleiß einer Biene und dem Gedächtnis eines Elefanten. Das war nicht verkehrt, unterschlug aber natürlich Wichtigeres. Aber es gab in der Redaktion offenbar niemanden, der über dieses Wichtigere schreiben konnte und schreiben durfte. In der Woche darauf war die Trauerfeier. Hauser hatte sie nicht gewollt, aber der Vertrauteste seiner Verwandten, ein Neffe, hatte es schließlich doch anders 253 entschieden. Wir machten diese Feier nicht für Hauser, sagte er, wir machten sie für uns und für andere, die sich von ihm verabschieden wollten. Auch deren Wunsch zähle nun, und das sei gewiss auch in seines Onkels Sinn. Die Trauerfeier fand in Hamburg in der Kapelle des stimmungsvollen Nienstedtener Friedhofs statt, auf dem Hausers Geschwister begraben waren. Die Kapelle war knapp zur Hälfte besetzt. Ich war verspätet, kam erst hinein, als der Neffe seine kurze Ansprache gerade begonnen hatte. Hausers Asche sei anonym verstreut worden, wie er es sich gewünscht habe, wir kämen hier zusammen, um unsere Trauer um ihn für einen Moment zu teilen und gemeinsam die Erinnerung an ihn wachzuhalten. Viel mehr sagte er nicht. Ich hörte kaum zu. Was wäre, dachte ich, wenn Hauser hier in einem Sarg dabei wäre? Was wäre, wenn er dort dem Reden und Denken der Trauernden zuhörte? Wie wäre es, wenn er seinen eigenen Nachruf aus dem Sarg heraus vortrüge? Skurrile Gedanken, aber ich konnte sie nicht unterdrücken. Ich war als letzter in die Kapelle gekommen und wollte als erster gehen. Als ich mich schon dem Ausgang zuwandte, legte sich von hinten eine Hand auf meine Schulter. - Geh nicht weg. Wir haben auf dich gewartet. Constanzes Stimme! Ich drehte mich abrupt um. Wir schauten einander wortlos in die Augen. Wie traurig sie ist, dachte ich, wie alt sie ist, und dann, wie schön sie ist. Keine Tränen, bei ihr nicht und bei mir nicht, und wir wussten voneinander, warum. Mit Hauser war alles gut. Wir umarmten wir uns kurz, dann zog sie mich beiseite. - Bitte, bleib hier stehen. Die Trauergäste zogen an uns vorbei, einige bekannte Gesichter, einige wenige nickten mir zu. Dann kam Klaus. Klaus, der Schelm des Archivs, den ich erst nach Hausers Zeit eingestellt hatte, der also Hauser gar nicht begegnet war. Klaus streckte mir wortlos die Hand entgegen, sah mir in die Augen, als müsse zwischen uns nichts gesagt werden, ging weiter. Dann Tilman. Er zwinkerte mir im Vorbeigehen zu, ich nickte, dann erst sah ich unter seinem halboffenen dunklen Wintermantel ein dünnes 254 Gewand, das mir bekannt vorkam. Es war der "Mantel der Geschichte", mit dem er an einem unserer Archivalltage ein kurzes Glanzlicht gesetzt hatte. Ich wollte zurückzwinkern, aber er war schon vorbei. Dann kam Kiesewetter auf mich zu. Er blieb stehen, drückte meine Hand. - Ich weiß, sagte er, wie schwer es für dich ist. Aber gönnen wir Hauser das Glück, im rechten Moment gegangen zu sein. - Ja, sagte ich. - Ein großes Glück für mich war, den SPIEGEL rechtzeitig verlassen zu müssen. Ich wünsche dir ähnliches Glück. Dann erst ließ er, meinem überraschten Blick ausweichend, meine Hand los und verschwand. Ich war noch wie benommen Kiesewetters Worten, als ich plötzlich in ein fremdes starres Gesicht sah, ein asiatisches. Dann versuchte das Gesicht ein kurzes Lächeln. Tian! War er aus China gekommen, um mit uns um Hauser zu trauern? Wir sahen einander eine Weile wortlos an. Im selben Moment tat Constanze einen Schritt auf Tian zu, fasste ihn am Arm, drehte sich zu mir und sagte: - Wir sind beide deinetwegen hier. Weil wir wissen, was Hauser dir bedeutet hat. Tians Rückflug ging schon am nächsten Morgen, und natürlich nutzten wir den Tag und die halbe Nacht für lange Gespräche zu dritt. Genauer gesagt, zu viert, denn mir war, als sei Hauser leibhaftig dabei, so wie damals, als Tian und ich ihn in seiner Wohnung besuchten. Constanze muss es gespürt haben. Spätestens jetzt, sagte sie mit Blick zu mir, werde uns kein Hauser mehr denken helfen, aber spätestens jetzt sollten wir es auch ohne Hilfe schaffen. Mit diesem treffenden Satz war die bleierne Stimmung schon fast verflogen, und wir konnten nun fast ohne Trauergefühle weiterreden. 255 Ich war gerade mit meinen Gedanken in die Vergangenheit getaucht, in die zwanziger Jahre, meine ersten Jahre mit Hauser. Mitte der Zwanziger hatte Hauser vorausgesagt, dass die zurückliegenden drei Jahrzehnte seit dem Zusammenbruch des Sozialismus als eine Zeit der Stagnation in die Geschichte eingehen würden. Hatten wir nicht aber mittlerweile siebzig Jahre Stagnation hinter uns? Ich fragte Constanze, ob sie meine, dass Hauser es zuletzt so gesehen habe. - Ja, sagte sie, wenn nicht noch schlimmer. - Im Westen, meint ihr, mischte Tian sich hastig ein. Siebzig Jahre Stillstand im Westen. Constanze war für einen Moment verblüfft, aber dann nickte sie stumm. Natürlich war es ein richtiger Einwand. Dass China sich viel rascher verändert hatte als der Westen, das hatte Tian mir und auch Hauser schon früher erklärt. Aber ich hatte kürzlich Fernsehbilder vom chinesischen Volkskongress gesehen und mich dabei gefragt, wie ein Volk eine politische Führung noch ernst nehmen kann, die sich noch immer in solch seelenlos erstarrtem Ritual präsentiert. Ja, antwortete ich, ich meinte vor allem den Westen, aber wenn ich Bilder des Volkskongresses sähe, dann erscheine China mir zumindest in seinen Ritualen noch viel starrer. Darauf gab Tian wieder einmal eine Antwort, die man sich im Westen noch immer nicht von einem Chinesen erträumte: - Den Volkskongress dürft ihr im Westen nicht mehr so ernst nehmen. Er ist eher eine Formsache. - Und soll er das etwa bleiben?, fragte Constanze. - Nein, sagte Tian, natürlich nicht. Unsere Soziologen sagen, dass unsere Bürger sich in der nächsten oder spätestens übernächsten Generation mit einem Volkskongress, wie er heute ist, nicht mehr abfinden werden. Die Partei hat deswegen ein Institut für Staatsorganisation eingerichtet, das sich mit dem Problem befasst. Dort weiß man, 256 wovon der Volkskongress mit seinen starren Ritualen ablenken soll: Dass seine Mitglieder über Dinge abstimmen, von denen sie nur ausnahmsweise etwas verstehen. Das ist in euren Parlamenten ja ganz ähnlich. Das war der Tian, über den ich früher so oft gestaunt hatte. Constanze traute ihren Ohren nicht. Natürlich hatte ich ihr schon viel über Tian erzählt, aber auf so etwas war sie nicht gefasst. Die nächsten Stunden hörte ich nur zu, wie Constanze Tian mit Fragen überschüttete und sich von seinen chinesischen Weisheiten fesseln ließ. Am Flughafen war es dann ein herzlicher Abschied unter drei engsten Freunden. Als wir Tian einen letzten Gruß zugewinkt hatten, sah Constanze ihm mit beglücktem Lächeln nach. - In China, sagte sie dann, gibt es offenbar Menschen, die weiter vorausdenken als bei uns. - Und die Partei gibt den Auftrag für solches Denken. Kaum zu glauben. - Vielleicht ist es am Ende wirklich China, sagte Constanze, das den ersten Schritt aus der weltweiten Stagnation wagt. Ist doch ein kleiner Hoffnungsschimmer. In den Tagen nach Constanzes Abreise fand ich keine Ruhe. Hausers Tod, die Trauerfeier mit den wenigen kurzen Begegnungen, die Gespräche mit Constanze und Tian und die Abschiede von beiden, all das hatte mich aufgewühlt. Ich fand nicht zurück in den Arbeitsalltag, sehnte mich nach einem ruhigen Wochenende. Am Samstagmorgen schlief ich lange. Als ich aufstand, lag schon die Frankfurter Allgemeine Zeitung auf unserem Küchentisch. Ich blätterte sie flüchtig durch. In den Tagen davor hatte ich in den Todesanzeigen nachgesehen, ob Hauser noch einmal darin vorkam, aber nichts gefunden. Jetzt fiel mein Blick wie zufällig auf eine Anzeige im Kleinstformat. Wir trauern um Jan Hauser, einen Gleichgesinnten und Förderer, der noch im hohen Alter Neues zu denken wagte. Die Neokraten 257 Mir stockte der Atem. Hauser ein Gleichgesinnter, ein Förderer der Neokraten? War ich überrascht? Nein, es passte ja zu ihm. War ich bestürzt? Ja, er hätte es mir sagen können. Oder nein, er wird wohl seine Gründe gehabt haben. Und nannten die Neokraten Hauser wirklich zu Recht ihren Förderer und Gleichgesinnten? Am nächsten Tag war in unserem Briefkasten ein großer Umschlag, darauf ein Zettel mit einem kurzen handschriftlichen Gruß von Hausers Neffen: Mein Onkel hat verfügt, dass ich Ihnen dies zusende. In dem Umschlag: Die Satzung der Neokraten. Von Yang und seiner Bewegung wusste ich zu dieser Zeit noch immer nichts. Ringen um Rohstoffe In der Sendung von Hausers Neffen war wirklich nur die Satzung der Neokraten, nichts über deren Ziele und Programm. Aber schon die Satzung war spannend genug. Anders als alles, was ich von Vereinen und politischen Parteien bisher kannte. Die Neokraten waren 2040 von nur zehn Personen gegründet worden. Die Satzung schrieb vor, dass die Mitgliederzahl jährlich um höchstens ein Drittel und auf höchstens 2000 Personen steigen durfte. Mitglieder politischer Parteien waren von der Mitgliedschaft ausgeschlossen. Beides, wie es hieß, Im Interesse einer Konzentration auf die gesetzten Ziele. Es hieß nicht, Mitglieder anderer politischer Parteien seien ausgeschlossen, sondern schlicht Mitglieder politischer Parteien. Demnach verstanden die Neokraten sich nicht als Partei. Ich hatte gemeint, sie wollten zumindest eine Partei werden, aber sie wollten offenbar zugleich etwas anderes sein. Dass die Mitgliederzahl der Neokraten so kontrolliert wachsen sollte, ließ mich an einen Ausspruch Hausers denken, wonach bisher noch jede neu gegründete Partei von Ideologen, Egomanen, Heißspornen und von beleidigten Überläufern aus anderen Parteien geentert worden sei, wie überlegt und seriös ihre Gründer auch ans Werk gegangen seien. Es hätte mich natürlich auch an Yang denken lassen, wenn ich genug über ihn gewusst hätte. Auch Yang hatte seiner Bewegung langsames 258 Wachstum verordnet. Sie solle sich nicht verzetteln, sie solle hoch professionell werden und sie solle es bleiben, so hatte er es vorgegeben. Stattdessen dachte ich an Tian, der mir erklärt hatte, wie schwer der Weg zur Professionalität auch für die kommunistische Partei Chinas noch sein werde. Für Tian, Yang und die Neokraten hatte demnach politische Professionalität einen ähnlich hohen Rang. Mit dieser Frage hatte ich mich noch immer viel zu wenig befasst. Aber auch in der Zeit danach fand ich dazu nicht die Zeit und den Willen. Zu vieles lenkte mich ab, auch die neuen Turbulenzen des Zeitgeschehens. Im Frühjahr 2057 ließ Israels Angriff auf Gaza und die Grenzgebiete seiner östlichen Nachbarn die Welt den Atem anhalten. Dies wird der letzte nicht-nukleare Nahostkrieg sein, darin war die Welt sich einig, danach käme die Apokalypse. Dies konnte man als Beruhigung nehmen, wenn man annahm, dass die politisch Verantwortlichen vor der Apokalypse zurückschrecken würden. Aber zumindest die so genannten Märkte waren alles andere als beruhigt. Das erste Zeichen der Unruhe war das Beben auf den Rohstoffterminmärkten, dann kam die Explosion der Rohstoffpreise, dann der Absturz der Aktienkurse. Dann kam die weltweite Rezession Plötzlich beherrschten Themen die Öffentlichkeit, die bis dahin nicht mehr als ein mahnendes Hintergrundgeräusch des politischen Alltags gewesen waren. Es waren Bedrohungsszenarien, für die Constanze mir schon zwanzig Jahre vorher die Augen hatte öffnen wollen. - Wie lange noch reichen welche Rohstoffe und welche Energieträger? - Wie lange reicht die Kohle? - Wie lange das Gas? - Wie lange das Uran? - Wie lange welche Metallvorkommen? - Welche Teile der Welt würden durch die neuen Knappheiten um wie viel ärmer werden, wer würden die Nutznießer sein? - Wie viele Menschen würden mit nachwachsenden Rohstoffen und Energieträgern versorgt werden können, wenn die Pro-Kopf-Verbräuche weiter stiegen? 259 - Welchen vorübergehenden Ausfall von Ölfördermengen könnte die Welt ökonomisch verkraften, welchen Ausfall beim Gas? - Welche Teile der Welt können sich wie lange noch selbst mit Wasser versorgen? - Wie würde eine weltweite Verteilung knapp gewordenen Wassers gelingen, auf welchen Versorgungswegen und mit welchen Transportmitteln, und welche neuen Sicherheitsrisiken ergaben sich daraus? - Und dann die große globale Frage: Würde die Welt mit den neuen Knappheiten friedlich umgehen können, oder würde es gewaltsame Verteilungskonflikte um Energieträger und Rohstoffe geben? Nichts davon war neu. Geschrieben und geredet worden war darüber seit fast 100 Jahren, aber es hatte immer viel zu weit in der Zukunft gelegen, um als politischer Ernstfall zu gelten. Immer wieder hatte es geheißen, wichtige Rohstoffe und Energieträger würden nur noch ein paar Jahrzehnte reichen, aber immer wieder waren neue Vorkommen entdeckt und war damit die Bedrohung weiter in die Zukunft verschoben worden. Auch jetzt war die Bedrohung noch so weit weg, dass die wenigsten Menschen zu Lebzeiten betroffen sein würden. Alle seriösen Forscher aber sagten voraus, dass die neuen Knappheiten spätestens das Leben der nächsten Generation zum Schlechteren verändern würden. Und fast alle seriösen Forscher waren sich auch darin einig, dass eine halbwegs glimpfliche Umsteuerung auf ein Leben mit diesen Knappheiten, grundlegende Veränderungen also der Lebensgewohnheiten, der Infra- und der Siedlungsstrukturen, der Bautechnik und vieler anderer Technikbereiche, mindestens zwei Generationen in Anspruch nehmen würde. Selbst wenn die Umsteuerung sofort begänne, würde sie für kommende Generationen tiefe Einschnitte mit sich bringen. Auch der SPIEGEL nahm das Thema wieder auf und widmete ihm zwei große Titelgeschichten. Das erste Titelbild zeigte einen auf eine schützende Höhle zueilenden, die Hände schützend über den Kopf haltenden fellbekleideten Menschen, über dem sich Menschheitsbedrohungen wie Rohstoffknappheit, Unabhängigkeitskriege, Verarmung und Niedergang der Demokratie als Blitze 260 entluden. Im darauf folgenden Artikel wurde der neueste Forschungsstand zur zeitlichen Reichweite der wichtigsten Rohstoffe zusammengefasst: weniger als zwanzig Jahre u.a. für Gold, Silber, Diamant, Chrom, Zink, Zinn, Nickel und Kupfer, weniger als vierzig Jahre u.a. für Erdgas und Erdöl. In demselben Heft des SPIEGEL erschien ein großer Artikel über die sich immer weiter ausbreitende Resistenz von Krankheitserregern gegen Antibiotika, über die dadurch weltweit ansteigende Sterblichkeit vor allem bei Kindern und darüber, wie auch dieses Problem mindestens ein halbes Jahrhundert lang politisch vernachlässigt worden war. All dies ließ mich wieder einmal an Grafs Bemerkung über die Generation Sichtflug denken. Hatte Graf schon damals diese Szenarien vor Augen gehabt? Wenn nicht, war ihm zumindest klar gewesen, dass politisches Denken und Handeln in unserem Jahrhundert viel vorausschauender zu sein hatte, als wir es uns damals vorstellen konnten. Mit der zunehmenden Knappheit von Rohstoffen und Energieträgern werde natürlich auch die Abhängigkeit von deren Förderstaaten immer größer werden, auch darüber wurde in dieser Zeit viel diskutiert. Macht- und Verteilungskämpfe, wie es sie früher zwischen den OPEC-Staaten und dem Rest der Welt gegeben hatte, würden nicht mehr nur um Öl ausgetragen, sondern um immer mehr knappe Rohstoffe, und sie würden an Häufigkeit und Schärfe zunehmen. Und natürlich bergen solche Konflikte auch Kriegsrisiken. Militärisch überlegene Staaten lassen sich leicht zum Krieg gegen Staaten verleiten, von deren Monopolmacht sie sich bedroht fühlen, das hatte die Welt schon oft erlebt. Nun schien die Gefahr von Kriegen zur Sicherung der Rohstoffversorgung größer zu werden denn je, sei es Wirtschaftskriegen, Cyberkriegen oder konventionellen Kriegen. Ein Thema in den Zukunftsszenarien dieser Jahre waren auch die so genannten seltenen Erden, in vielen Produkten der Hochtechnologie unersetzliche Rohstoffe. Auf diese Stoffe hatte ausgerechnet China, der mittlerweile militärisch und wirtschaftlich mit Abstand mächtigste Staat der Welt, schon seit Jahrzehnten fast ein Weltmonopol. Ich bat Tian dazu um einen Kommentar, und wenigstens von ihm kam 261 in all dem weltweiten Alarmismus ein beruhigender Gedanke. Es sei richtig, erkläre er mir, dass China ein Weltmonopol auf einige seltene Erden habe, aber darüber möge ich mir keine Sorgen machen. China sei zugleich abhängig von Weltmonopolen anderer Staaten, und gegenseitige Abhängigkeit stimme Staaten selten kriegerisch, sie könne sogar befrieden. Ich war erst einmal beruhigt, aber einen vollends unerschütterlichen Friedenswillen unterstellte ich der chinesischen Führung noch weniger als den weniger großen Großmächten dieser Welt. Außerdem gab es unter den Weltmonopolisten natürlich nicht nur gegenseitige Abhängigkeiten. Die meisten Abhängigkeiten waren einseitig, und zumindest diese schaffen politisch gefährliche Motive. Insofern trägt jede Eindämmung ökonomischer Abhängigkeiten zur Friedenssicherung bei. Daran schien mir auch Tians Argument nichts zu ändern. Mit diesen Gedanken war ich noch immer beschäftigt, als ich zum ersten Mal von Robert Yang und seiner Global-Upgrade-Bewegung erfuhr. Ich weiß nicht, wie ich sie so lange hatte übersehen können. Dass ich auf solche Neuigkeiten erst durch eine Notiz im SPIEGEL aufmerksam wurde, kam höchst selten vor, aber hier war es so. Natürlich habe ich sofort über Global Upgrade recherchiert, und dabei stieß ich rasch auf Aufregendes. Zum Aufregendsten gehörte dies: Dass in einer globalisierten Welt Bodenschätze nicht mehr den Staaten gehören dürften, deren Territorium sich zufällig über diesen Schätzen befinde. Die Bodenschätze, die von der ganzen Menschheit genutzt werden, müssten der Menschheit als ganzer gehören, auch wenn Staaten sie auf ihrem eigenen Staatsgebiet selbst förderten. Es bedürfe daher einer Welt-Charta, nach der Eigentumsrechte an Bodenschätzen vergeben würden. Eine solche Charta könne nur von einer Pro-Kopf-Verteilung der Bodenschätze ausgehen, wobei es allerdings nicht nur um die Köpfe der Lebenden gehen dürfe. Die künftigen Generationen hätten ein gleiches Recht auf die erschöpflichen Ressourcen dieser Welt. Eine Konsequenz daraus sei, dass die Eigentumsrechte an Rohstoffen künftig von einer Welt-Agentur zu verwalten seien. Die Einnahmen dieser Agentur 262 dürften nicht verkonsumiert, sondern sie müssten in Nachhaltigkeitsprojekte investiert werden. So weit hatte Yang, der als Klimaaktivist begonnen hatte, seine politischen Ideen bis dahin schon vorangetrieben. Wer wirklich Großes bewegen will, hatte er zu Puig gesagt, müsse über die eigene Lebenszeit hinausdenken, und dem war er offensichtlich treu geblieben. Yang nannte dies die Agenda 2100. Eine Name, mit dem ich mich sofort verbunden fühlte. Kurz vorher noch hatte mich wieder das schlechte Gewissen geplagt, eben doch zur Generation Sichtflug zu gehören, die nie weit genug in die Zukunft gedacht hatte. Hier nun lud jemand dazu ein, an einer Agenda 2100 mitzuwirken. Würde ich dabei etwas von dem nachholen können, was ich im bisherigen Leben versäumt hatte? In einem von Global Upgrade verbreiteten Aufsatz wurde es konkreter. Eine Organisation wie die UNO, hieß es dort, könne eine Agenda 2100 nicht umsetzen. Von einer UNO und ähnlichen Organisationen dürfe man nicht erwarten, dass sie weitsichtiger und weiser agierten als ihre Mitgliedstaaten. Eine weitsichtigere und klügere Weltorganisation als die UNO werde es daher erst geben, wenn es weitsichtigere und weisere Staaten gebe. Also müsse die Erneuerung der globalen Ressourcenpolitik ganz unten anfangen, bei einer systemischen Erneuerung von Staaten. Das war ein schlüssiger Gedanke, aber auch einer von ungeahnter politischer Sprengkraft. Der SPIEGEL brachte es trotzdem fertig, in den folgenden zehn Jahren keinen einzigen Beitrag über Robert Yang und Global Upgrade zu veröffentlichen. Aber es war eben schon nicht mehr der SPIEGEL, den ich jahrzehntelang als Archivleiter geliebt und verflucht hatte. 2059 hatte die Amazon-Alibaba-Gruppe die restlichen Anteile übernommen und war damit alleinige Eigentümerin geworden. Der SPIEGEL hatte in den Jahren davor im Printbereich deutlich an Auflage und Umsatz verloren, und nun wurden neue Konzepte gesucht. 263 Ein Jahr nach der Restübernahme durch Amazon-Alibaba kam der Verlagsleiter zu mir. Ich erwartete, dass es um Sparvorgaben für das Archiv gehen würde, die ich nicht eingehalten hatte, aber darüber sprach er kein Wort. Ich könne mir ja denken, begann er, dass sich im SPIEGEL einiges verändern müsse. Nach dem Willen der Anteilseigner solle der SPIEGEL einen Herausgeber bekommen, man denke dabei an einen Politiker im Ruhestand. Die ZEIT habe - darauf dürfe man sich noch einmal besinnen - damals Helmut Schmidt zum Herausgeber gemacht, und so gut wie unter Schmidts Herausgeberschaft sei es der ZEIT später nie mehr gegangen. Ein genialer Schachzug des Verlegers sei das gewesen, und es könne durchaus auch heute noch ein Erfolgsrezept sein. Ich saß da wie vom Donner gerührt. Ein Ex-Politiker, ein Parteimitglied also, als SPIEGEL-Herausgeber? Für mich unfassbar. - Wir wollen auch die Meinung unserer Führungskräfte dazu wissen. Also, Herr Schmidt, was halten Sie davon? - Helmut Schmidt war eine Ausnahmeerscheinung, sagte ich. Ex-Politiker wie ihn gibt es heute nicht mehr. Er machte eine unwillige Miene. Soweit er es wisse, sagte er, habe auch Helmut Schmidt in die Rolle eines Herausgebers erst hineinwachsen müssen. - An wen denken Sie denn?, fragte ich. - Es kommen nur die höchsten Staatsämter in Frage. Wir denken an einen ExKanzler. - Mesäcker etwa?, entfuhr es mir. Nein, der sicher nicht. - Ja, Mesäcker, sagte der Verlagsleiter kühl. Aber seien sie unbesorgt. Mesäcker hat mittlerweile die Reife, die man sich von einem Herausgeber des SPIEGEL wünscht. Da sind wir ganz sicher. 264 Mesäcker also. Der Mann, der seit unserer ersten Begegnung außer Machtwillen und flüssiger Rede für mich nur Mittelmäßigkeit verkörperte. Genau die Art von Mittelmäßigkeit, die die Welt in diesem Jahrhundert hatte stagnieren lassen. Ich weiß nicht, ob dieses Gespräch der Grund war, aber in den Tagen danach verlor sich das Gefühl von Souveränität, von Beherrschung und nicht selten auch von Stolz, mit dem ich bis dahin fast immer meine Arbeit im Archiv getan hatte. Ich begann, am SPIEGEL zu zweifeln, aber auch an mir selbst. Erlebten wir beim SPIEGEL unnötige Veränderungen zum Schlechten, oder war ich schon zu alt, um mich an notwendige Veränderungen zu gewöhnen? Würde das SPIEGEL-Archiv bald nicht mehr der passende Ort für mich sein, oder war ich nicht mehr der Richtige für den künftigen SPIEGEL? Je mehr ich darüber nachdachte, desto stärker wurden die Zweifel. Ich begann, mich in meinem eigenen Büro, das mir jahrzehntelang wie ein zweites Zuhause gewesen war, fast wie ein Fremder zu fühlen. Natürlich hatte ich eine Vorahnung von dem, was kam. Drei Monate nach der Einsetzung Mesäckers als SPIEGEL-Herausgeber wurde ich zur Verlagsleitung heraufgebeten. Als ich eintrat, sah ich neben dem Verlagsleiter die Personalchefin sitzen. Ich hielt kurz inne, dann ging ich gefasst auf die beiden zu. - Sie wollen mir einen Vorschlag machen?, sagte ich mit fester Stimme. Ich sah die Erleichterung in ihren Gesichtern. Sie konnten sich also die peinliche Vorrede sparen. - Ja, Herr Schmidt, sagte die Personalleiterin, wir glauben, wir haben einen guten und fairen Vorschlag für Sie. Mein erster Gedanke war bei Hauser. Ist es Archivleiterschicksal, sein Berufsleben beim SPIEGEL vorzeitig beenden zu müssen? Nein, kein Selbstmitleid, sagte ich mir dann, das hatte auch Hauser damals nicht. Und gab es nicht auch eine Unzahl von Redakteuren, die es nicht bis zur Altersgrenze geschafft hatten? Aber gab es unter denen nicht auch tragische Fälle? Hieß es nicht, dass auch Kiesewetter seine Entlassung noch längst nicht verwunden hat? Und selbst wenn ich eher 265 hinauskomplimentiert als entlassen würde, war das ein großer Unterschied? Andererseits: Hatte Kiesewetter nicht bei Hausers Trauerfeier von dem Glück gesprochen, den SPIEGEL rechtzeitig verlassen zu müssen, und mir Ähnliches gewünscht? Dann fiel mir ein, wie Hauser seine Entlassung eine befreiende Niederlage genannt hatte. Würde nicht auch ich mich bald befreit fühlen können? Ja, sagte ich mir, auch für mich kann es schlimmstenfalls eine befreiende Niederlage werden. Das Gespräch verlief beinahe reibungslos. Ich war in aufgeräumterer Stimmung, als ich mir anmerken ließ, und der Verlagsleiter und die Personalerin zeigten sich zunehmend gut gelaunt. Die angebotene Abfindung war großzügig, ich forderte mehr, wurde kurz hinausgebeten, danach wurde das Angebot noch einmal ordentlich aufgestockt. Ich würde sogar, das war für mich das Allerwichtigste, noch neun Monate lang meinen Dienst tun dürfen, wenn ich es wolle. Wenigstens hatten sie mir mein bisheriges Leben nicht wie Diebe aus der Hand geschlagen. Als ich wieder in meinem Büro saß, dachte ich an den Nachfolger, der demnächst an meinem Schreibtisch sitzen würde, einen viel Jüngeren natürlich, wahrscheinlich einen, der all das, was mich beim SPIEGEL in letzter Zeit befremdet hatte, für ganz und gar selbstverständlich nehmen würde. Was macht die Jüngeren so fügsam?, fragte ich mich. Oder ist es deren neue Art von Weisheit? Ölkartell: Die Bösen tun Gutes Dass die Menschheit einen Einbruch in Wohlstand und Lebensstil erleben wird, wenn die Erdöl- und -gasvorkommen der Welt zur Neige gehen, daran gab es nie vernünftigen Zweifel. In den achtziger Jahren des 20. Jahrhunderts deckten die bekannten Ölvorkommen den Bedarf für nur noch 30 Jahre. Dies hätte zumindest bei der Generation der Jungen alle Alarmglocken schrillen lassen müssen. Das Ende des Ölzeitalters verschob sich danach aber immer weiter in die Zukunft, weil immer neuer Ölvorkommen entdeckt wurden. Im ersten Quartal unseres Jahrhunderts nahm man an, dass die bekannten Reserven noch für mindestens 50 Jahre reichen würden. 266 Vom zweiten Jahrhundertquartal an wurden dann aber weniger Ölvorkommen neu entdeckt, als alte verbraucht werden. Das Ende der der Öl-Zeit rückte von da an also immer näher und damit der dadurch bedingte Wohlstandseinbruch. Schon zu dieser Zeit konnte nur noch ein energiepolitisches Wunder verhindern, dass die Generation der Jüngsten noch zu Lebzeiten davon betroffen sein würde. Vom politischen Willen, solches Wunder zu bewirken, war und ist aber weltweit nichts zu spüren. Natürlich mahnten verschiedenste Organisationen Politiker, Regierungen und Parlamente dieser Welt, auf eine drastische Verringerung des Ölverbrauchs hinzuwirken, und dies tat auch Yang mit seiner Bewegung. Yang war sich aber bewusst, wie vergeblich diese Mahnungen bleiben würden. Die Regierungen dieser Welt hätten kommen sehen müssen, dass sich unter diesen Umständen ein neues Weltölkartell bilden würde, und zwar ein mächtigeres denn je. Denn das Schwinden der Ölreserven war nicht nur für die Verbraucherländer ein Schreckensszenario, am stärksten mussten sich natürlich die Förderländer davon bedroht fühlen. Sie mussten daher alles daransetzen, das Ende des Ölzeitalters so weit wie möglich hinauszuschieben. Dies war nur mit drastischer Drosselung der Ölförderung zu erreichen. Yangs Bewegung erstellte hierzu Anfang der sechziger Jahre eine gründliche Studie. Die Studie zeigte, wie der Ölverbrauch langfristig reduziert werden müsste, um die Interessen der Weltbevölkerung generationenübergreifend ausgewogen zu wahren. Die Entwicklung des Ölverbrauchs, so Yang, müsse durch den Öl- und Benzinpreis gesteuert werden. Dieser müsse innerhalb von zehn Jahren annähernd verdoppelt und innerhalb von 50 Jahren etwa verzehnfacht werden. Hierfür sollten die Ölverbraucherländer durch stetig steigende Steuern auf den Öl- und Benzinverbrauch sorgen. Die gleiche Wirkung, so führte Yang weiter aus, hätte es natürlich, wenn die Ölproduzenten ihre Preise entsprechend erhöhten. Genau das würden sie auch tun, wenn die Verbraucherländer ihnen nicht mit drastischen Erhöhungen ihrer Mineralölsteuern zuvorkämen. Yang führte auch aus, wie massiv dadurch Wohlstand 267 und wirtschaftliche Macht zugunsten der ölproduzierenden Staaten umverteilt würden. Dass Yang später von zahllosen Politikern und Regierungen dieser Welt vorgeworfen wurde, diese Studie habe die Ölförderländer zur Bildung des Weltölkartells geradezu angestiftet und damit zu einem rücksichtslosen Wirtschaftskrieg gegen die Verbraucherländer, wunderte ihn selbst am wenigsten. Um von eigenem Versagen abzulenken, erklärte er, sei Politikern schon immer jedes Mittel recht gewesen. Yang scheute sich auch nicht, in dieser Debatte später noch Öl ins Feuer zu gießen. Er würdigte die von den Ölförderländern ausgelöste Ölpreisexplosion als die - im generationenübergreifenden Interesse der Menschheit - zweitbeste Lösung. Das Vorgehen der Förderländer sei kein wirtschaftlicher Machtmissbrauch und kein Wirtschaftskrieg, es sei die Bremsung der noch immer öltrunkenen Weltwirtschaft in höchster Not. Manchmal, so Yang, täten eben auch die vermeintlich Bösen Gutes. Die im Herbst 2065 gegründete Weltorganisation der Ölproduzenten, die weitaus mächtigere Nachfolgerin der OPEC, wurde von Anfang an als Weltölkartell bezeichnet, aber das war eine Verharmlosung. Diese Organisation war von Anfang an eine straff geführte Weltmonopolagentur, die alle ihre Mitgliedsländer streng zu disziplinieren wusste. Vielleicht wäre sie erst einige Jahre später entstanden, wenn Russland sich hierfür nicht so energisch engagiert hätte. Russland gehörte mit Venezuela und Nigeria zu den Ländern, die vom ölfinanzierten Wohlstand am allerwenigsten in ihre Zukunftssicherung investiert hatten. Diese drei Staaten mussten sich daher vor einer Zukunft ohne Öleinnahmen noch mehr fürchten als andere Förderländer. So wurde Russland zum Hauptinitiator des Weltkartells. Die Losung, die die russische Regierung dem Kartell vorgab, hieß: Förderung drosseln, Erlöse stabilisieren. Mit immer weniger Öl sollte also ein immer gleicher Einnahmestrom erzielt werden. Als 10-Jahres-Ziel gab Russland vor: Preise verdoppeln, Förderung halbieren. Als 50-Jahres Ziel: Preise verzehnfachen, 268 Förderung auf ein Zehntel verringern. Man konnte in der Tat meinen, diese Zahlen seien von Yang inspiriert gewesen. Die Regierungen der Verbraucherländer, die meisten westlichen Demokratien eingeschlossen, gaben sich zunächst der Illusion hin, dieses Weltkartell werde rasch an den Interessengegensätzen seiner Mitglieder zerbrechen, und sie rechtfertigten damit ihre Untätigkeit. So verpassten die Verbraucherländer die letzte Chance auf einen glimpflichen Ausstieg aus der Öl-Ära. Dass das Ölproduzentenkartell mit seiner Monopolmacht nicht gerade zimperlich umgehen würde, nicht gegenüber armen Ländern und erst recht nicht gegenüber westlichen Wohlstandsländern, war natürlich absehbar. Trotzdem löste das Ausmaß der wirtschaftlichen Machtverschiebung in den Wohlstandsländern blankes Entsetzen aus. Den weltweiten Absturz der Aktienkurse nach Gründung des Kartells nutzten dessen Mitgliedstaaten, um sich weltweit in ölverarbeitende Konzerne und andere Schlüsselindustrien einzukaufen. Als dann die ersten Staaten ihre Ölrechnungen nicht mehr bar bezahlen konnten, bot das Kartell ihnen an, auch Wertpapiere und Sachwerte zahlungshalber anzunehmen, vor allem Staatsanleihen und Anteile an staatlichen oder halbstaatlichen Unternehmen, an Flughäfen, Häfen, Energieversorgern, Entsorgungsunternehmen, Telekommunikationsunternehmen, Börsen, Eisenbahngesellschaften und Wohnungsgesellschaften und immer mehr auch an staatlichen Ländereien und Immobilien. Großbritannien und Norwegen, die sich dem Kartell angeschlossen hatten, beteiligten sich hieran, behaupteten aber, mäßigend auf die anderen Kartellmitglieder einzuwirken. Dennoch entwickelte das Kartell sich nach und nach zu einem globalen Großinvestor, von dem immer mehr Länder abhängig wurden. Auch westliche Wohlstandsstaaten standen ohne Kapitalimporte aus den Ölkartellländern vor dem wirtschaftlichen Kollaps. Nicht hiervon betroffen war China. Es hatte als weltweit einziger großer Ölverbraucherstaat genügend Vorsorge getroffen, um den Druck des Ölkartells auch langfristig nicht fürchten zu müssen. Durch konsequente Energiepolitik hatte es seinen Ölverbrauch seit den zwanziger Jahren auf ein Zehntel gesenkt. Der Stolz auf 269 diese konsequente Energiepolitik gab dem politischen Selbstbewusstsein Chinas weiteren Schub. Die Geringschätzung für demokratische Staaten, die zu solcher Konsequenz nicht fähig waren, erreichte in China einen neuen Höhepunkt. Jahrhundertereignis Klimawandel Dass das 21. Jahrhundert auch ein verlorenes Jahrhundert der Bevölkerungspolitik sein könnte, darüber wurde in sechziger Jahren eine Zeitlang heftig diskutiert, nicht nur in Kreisen der Wissenschaft. Aber noch immer wurde das Thema dabei nicht von den lähmenden Tabus befreit, die seit dem 20. Jahrhundert auf ihm lasteten. In den ersten Jahrzehnten unseres Jahrhunderts hatte sich in einigen wenigen Ländern wie Finnland die Bevölkerungszahl spontan stabilisiert, ohne entschiedene politische Eingriffe. Ansonsten teilte die Welt sich auf in Regionen, die entweder ihr Bevölkerungswachstum oder ihren Bevölkerungsschwund nicht unter Kontrolle hatten. Dabei überwog das unkontrollierte Bevölkerungswachstum noch immer bei Weitem. Als lange Zeit erstes und einziges unter den bevölkerungsreichsten Ländern hatte China für sein demographisches Problem frühzeitig politische Lösungen gefunden, so drastisch die Mittel teilweise auch waren. China hielt damit seine Bevölkerungszahl im Durchschnitt der ersten Jahrhunderthälfte etwa konstant. Kein großes demokratisch regiertes Land der Welt tat es ihm nach. Robert Yang kommentierte dies in einer Streitschrift so: Die Demografie ist eine weitere politische Schicksalsfrage, in der die Demokratie versagt hat. Im ersten Jahrhundertquartal mehrten sich unter Bevölkerungswissenschaftlern dennoch die Stimmen, die in der Frage des globalen Bevölkerungswachstums Entwarnung gaben. Sie sagten voraus, dass das Bevölkerungswachstum bald weltweit ebenso zurückgehen werde, wie es in den meisten wirtschaftlich hoch entwickelten Staaten schon zurückgegangen war. Das Bevölkerungswachstum hänge hauptsächlich vom Wohlstands- und Bildungsniveau ab, und dies werde weltweit 270 genügend steigen, um eine Übervölkerung der Welt zu verhindern. Eine wirkliche Entwarnung konnte dies aber schon deswegen nicht sein, weil mit wachsendem Wohlstand auch der Pro-Kopf-Ressourcenverbrauch und die Pro-Kopf-Belastungen für Umwelt und Klima steigen würden. Zudem wurde bei diesen Prognosen der Einfluss von Tradition und Kultur auf die Geburtenraten unterschätzt. Verharmlost wurden in den damaligen Studien auch die langfristigen Auswirkungen der niedrigen Geburtenraten in den wirtschaftlich hoch entwickelten Ländern. Diese Länder verloren allein aufgrund des Bevölkerungsrückgangs an politischem und ökonomischem Gewicht in der Welt und damit auch an Möglichkeiten, zivilisierend auf die Weltpolitik einzuwirken. Verstärkt wurde dies noch durch die Verlängerung der Lebenserwartung und die damit verbundene Überalterung. Mit der Überalterung war in den hoch entwickelten Ländern der Anteil der Erwerbstätigen an der Bevölkerung stark gesunken, und dies minderte in diesen Ländern natürlich Wohlstand und Wirtschaftskraft. Da ihre Familienpolitik noch immer nicht für nennenswert höhere Geburtenraten gesorgt hatte, hatten die Wohlstandsstaaten nach Ersatzlösungen suchen müssen. Der Politik war nichts anderes eingefallen, als die Überalterung mit immer mehr Zuwanderung zu entschärfen, mit dem also, was - aus verständlichen Gründen Überfremdung zu nennen ein politisches Tabu geblieben ist. Aber gerade die Tabuisierung des Überfremdungsthemas hatte in vielen Ländern Rechtspopulisten immer mehr Wählerstimmen zugetrieben, und sie trug damit weiter zur Vergiftung der politischen Stimmung bei. Eine konsequent auf die Geburtenrate ausgerichtete Politik war weiterhin nicht in Sicht. Nicht anders stand es natürlich um die Klimapolitik. Bei anhaltendem Weltbevölkerungswachstum und noch schnellerem Wohlstandswachstum waren auch im 21. Jahrhundert die klimaschädlichen Immission weiter gewachsen, allen Mahnungen der Wissenschaft und allen politischen Lippenbekenntnissen zum Trotz. 2068 fand in Neuseeland die 51. Weltklimakonferenz statt. Nachdem einige kleine Länder schon im Vorfeld mit der Forderung gescheitert waren, diese Konferenz auf 271 dem stattfinden zu lassen, was von den Seychellen oder von Vanuatu noch übrig war, hatten sich schließlich Neuseeland und die Niederlande um die Ausrichtung beworben. Die Niederlande wollten der Welt vorführen, dass es innerhalb des Landes erste Anzeichen einer Klimamigration gab. Niederländische Geographen hatten Landkarten erstellt, auf denen die Landesteile ausgewiesen waren, die in den kommenden 100 Jahren wegen wachsender Überflutungsgefahr würden aufgegeben werden müssen. In diesen Regionen hatte der Staat seine Investitionen in die Infrastruktur schon merklich reduziert, mit der Folge, dass sich schon jetzt kaum noch Neubürger dort ansiedelten. Wissenschaftliche Gutachten prognostizierten, dass bei konsequenter Fortsetzung dieser Politik, bei Reduzierung der staatlichen Infrastrukturausgaben auf das Unvermeidliche, diese Regionen sich innerhalb von drei bis vier Generationen größtenteils spontan entvölkern würden. Zwangsumsiedlungen würden nur in geringem Umfang notwendig sein. Neuseeland war von den Folgen des Klimawandels nur indirekt betroffen. Es wollte die Augen der Welt aber darauf richten, dass es schon mehr als 50.000 Klimaflüchtlinge aufgenommen hatte und dass der Zustrom dramatisch anschwoll. Zu diesem Thema führte Neuseeland eine geschickte Medienkampagne, und es bekam schließlich als Austragungsort der Weltklimakonferenz den Vorzug. Am Charakter der Weltklimakonferenzen hatte sich in den 80 Jahren seit ihrem Beginn wenig geändert. Sie waren ein Ritual, das mehr der Beruhigung des klimapolitischen Weltgewissens diente, als dass es konkrete politische Wirkung erzielte. Man begnügte sich damit, über das Weltproblem Klima auf Weltebene in ernster Stimmung zu konferieren, aber kein Land fühlte sich für das Problem als ganzes verantwortlich. Die Erfolglosigkeit der Weltklimapolitik ersparte den Regierungen dieser Welt schmerzlichere, also unpopuläre Maßnahmen, und viele von ihnen konnten die Erleichterung hierüber kaum verbergen. 272 Wissenschaftler mehrerer Länder hatten in den fünfziger Jahren akribisch nachgewiesen, dass die bisherigen Beschlüsse von Weltklimakonferenzen den Klimawandel nicht nachweisbar beeinflusst hatten. Soweit klimaschädliche Immissionen hinter früheren Prognosen zurückgeblieben seien, sei dies fast vollständig mit technischen Innovationen und spontanen Reaktionen der Märkte zu erklären. Im Vorfeld der Klimakonferenz von Auckland waren die Erwartungen dennoch höher als bei fast allen vorangegangenen. Die Weltöffentlichkeit war von einer Studie aufgeschreckt worden, die nachwies, dass die Erde für Menschen unbewohnbar würde, wenn alle fossilen Energieträger irgendwann vollständig oder auch nur größtenteils verbrannt sein würden. Diese Studie war alles andere als eine Neuigkeit, aber sie war zum ersten Mal so präsentiert worden, dass sie spontane Massenwirkung erzielte. Ähnlich hohes Aufsehen erregte eine weltweit koordinierte Initiative von Entwicklungsländern, die von den großen Klimaschädigernationen dieser Welt, von den großen Wohlstandsnationen also, präzise bezifferten Schadensersatz verlangten. Die Erdatmosphäre, so wurde argumentiert, sei allen Ländern und allen Menschen der Welt gleichermaßen zu eigen. Daher müsse die Aufnahmekapazität der Erdatmosphäre für klimaschädigende Immissionen gleichmäßig auf die Menschen dieser Welt verteilt werden. Die meisten Wohlstandsnationen hätten ihren Anteil hieran aber nicht nur aufgebraucht, sie hätten ihn schon weit überzogen. Dies verwehre es den weniger entwickelten Nationen, jemals mit vergleichbarer Leichtigkeit Wachstum und Wohlstand zu erlangen wie die derzeitigen Wohlstandsstaaten. Dabei beriefen einige sich ausdrücklich auf Yangs Forderung, die fossilen Energieträger als kollektives Menschheitserbe zu behandeln. Aus dieser prinzipiell schlüssigen Argumentation wurden Entschädigungsansprüche hergeleitet, deren Befriedigung die alten Wohlstandsnationen im Wohlstand um fast ein Jahrhundert zurückgeworfen hätte. Vor der Auckland-Konferenz wurde in der Weltöffentlichkeit aber schon darüber spekuliert, wie lange die alten 273 Wohlstandsnationen sich diesen Ansprüchen der übrigen Welt noch würden entziehen können. Angefeuert wurden diese Spekulationen durch Gerüchte, dass China sich hierbei auf die Seite der Entwicklungsländer schlagen und für deren Ansprüche streiten werde, notfalls mit Wirtschaftssanktionen oder Schlimmerem. So entstand im Vorfeld der Auckland-Konferenz eine nervöse Atmosphäre, die natürlich von den Medien verstärkt wurde. Viele Fernsehmoderatoren befragten Politiker, warum sie in Klimafragen so lange untätig gewesen waren und wie sie mit der moralischen Schuld in dieser Frage umgingen. Weltweit bekannt wurde ein Vorfall in Italien - wo die Medien mittlerweile so unverblümt wie nirgendwo sonst die Inkompetenz ihrer politischen Klasse ausweideten - mit Ministerpräsident Borelli, der seiner Interviewerin auf eben diese Frage die flapsige Antwort gab. - Das müssen Sie mich nicht fragen, ich bin erst seit zwei Jahren im Amt. Der weitere Wortwechsel hielt sich monatelang in den Charts von Youtube: - Sie, Herr Borelli, sind 65 Jahre alt, sie sind seit 45 Jahren Parteimitglied und seit 13 Jahren Parteivorsitzender oder stellvertretender Parteivorsitzender. Sie waren dreimal Minister, das erste Mal vor zehn Jahren, davon eineinhalb Jahre Umweltminister. Sie müssen also alles gewusst haben. Aber Sie haben in der Partei und in der Regierung nie kritische Fragen zum Klimawandel gestellt, nie eine Initiative dazu ergriffen, das haben wir recherchiert. Wie können sie da noch guten Gewissens das Land regieren? Borelli machte eine ausholende aggressive Handbewegung, streifte dabei kurz die Brust der Journalistin, zuckte zurück, versuchte vergeblich ein herablassendes Lächeln, dann bellte er die Frau an: - Und Sie? Sie machen diesen Job auch schon zehn Jahre. Warum haben Sie denn zum Klimawandel nie kritischen Fragen gestellt? - Das ist nicht meine Aufgabe, antwortete sie mit provozierender Gelassenheit. Politisch verantwortlich sind Sie. 274 - Was glauben Sie denn, hätte ich tun sollen? Öffentlich Italien zum gewissenlosen Klimasünder erklären? Den Wählern sagen: Ihr müsst euch heute einschränken, damit eure Nachkommen es in 50 oder 100 Jahren besser haben? Sie und ihre Kollegen hätten mich doch zum Gespött der Nation gemacht. - Trotzdem hätten Sie es tun sollen. Und Sie können es immer noch tun. Zum Beispiel jetzt. - Ausgerechnet Sie wollen mir das vorschreiben? - Wenn Sie sich ihrer moralischen Verantwortung nicht stellen, dann sollten Sie die politische Verantwortung abgeben. Auch das können sie jetzt erklären. Hier in dieser Sendung. Borelli verlor vollends die Fassung. - Sie fordern mich also zum Rücktritt auf?, schrie er. Dann sollten Sie erstmal mit gutem Beispiel vorangehen. - Na gut, dann gehe ich voran. Ich habe Fragen, die ich in dieser Sendung hätte stellen sollen, nicht gestellt. Daher erkläre ich hier meinen Rücktritt. Und dann mit bohrendem Blick: Nun Sie. - Über Ihren Rücktritt freut sich ganz Italien. Ich habe die Mehrheit der Wähler hinter mir. Die Interviewerin schwieg, aber sie hüllte ihr Schweigen in ein souveränes herablassendes Lächeln, das die Kameras - im Wechsel mit Borellis hilflosen Gesten der Empörung - minutenlag auskosteten. Dies war natürlich ein journalistischer Coup. Nicht nur, weil hier ein führender Politiker so gekonnt vorgeführt wurde wie selten zuvor. Es war auch ein Coup der klimapolitischen Bewusstseinsbildung. Ähnliches geschah kurz danach in den Vereinigten Staaten. Der Präsidentschaftskandidat der Demokraten galt in Klimaschutzfragen als unvoreingenommen, aber in der Öffentlichkeit hatte er sich nie ganz festgelegt. In 275 einem Hintergrundgespräch mit Journalisten ließ er seinen Gedanken dann etwas freieren Lauf: Auch die Ölvorkommen der Vereinigten Staaten gingen rapide zur Neige, auch für Amerikaner werde die Zeit billigen Benzins und billiger Energie bald vorbei sein. Der amerikanische Lebensstil werde dann unbezahlbar werden. Die Amerikaner müssten räumlich enger zusammenrücken, sagte er dann, sie müssten ein Land der kurzen Wege werden, ihre Siedlungen und Häuser müssten kompakter werden, und das sei längst nicht alles. "Und um all das zu ermöglichen, sagte er, "werden wir unserem Staat viel mehr Geld geben müssen, als wir es bisher tun." Ob es ein Versehen oder eine gezielte Indiskretion war, dass eine Bild- und Tonaufnahme hiervon an die Öffentlichkeit gelangte, wurde nie geklärt, aber schon die Spekulationen hierüber heizten die Erregung weiter an. Ein Aufschrei der Empörung ging durchs Land. Der Kandidat zog sich schließlich aus dem Rennen um die Präsidentschaft zurück. Viele engagierte Klimaschützer waren hierüber bestürzt, aber Robert Yang war es nicht. Er sah sich nur bestätigt. Die Auckland-Konferenz übertraf alle vorherigen Weltklimakonferenzen noch in gleichgültiger Routine, und davon waren mittlerweile auch die zahllosen zivilgesellschaftlichen Protestinitiativen angesteckt, die diese Konferenzen schon lange begleiteten. Die einzige große Ausnahme hiervon war Yangs Global Upgrade. Sie präsentierte sich bei der Auckland-Konferenz selbstbewusster denn je, und sie stieß auf größere Resonanz denn je. In Auckland verkündete Yang keine neue Botschaft, es war die gleiche wie vorher. Er protestierte nicht gegen die Konferenzteilnehmer und deren Untätigkeit, er protestierte gegen niemanden, er propagierte nur weiter seine besondere Art von Protest. Schon im Vorfeld der Konferenz appellierte er wieder an die zivilgesellschaftlichen Initiativen, von der Klimakonferenz nichts Konkretes zu erwarten und von ihren Teilnehmern nichts Konkretes zu fordern. Wenn er überhaupt eine Botschaft an die Teilnehmerstaaten hatte, dann hieß sie: Ihr hört uns nicht zu, also reden wir nicht mit euch. Ihr alle seid Vertreter von Regierungen, die das Problem nicht verstehen wollen oder können, egal, aus welchen Parteien ihr kommt. 276 Ihre alle seid Vertreter politischer Systeme, die Klimapolitik in die Hände klimapolitischer Dilettanten legen. Wir machen euch deswegen keinen Vorwurf. Ihr arbeitet in Systemen, die dem Problem nicht gewachsen sind, fachlich nicht, moralisch nicht und politisch nicht. Nicht ihr persönlich führt die Welt klimapolitisch an den Abgrund, die politischen Systeme tun es, auch die demokratischen. Und an die zivilgesellschaftlichen Initiativen richtete er wieder die Botschaft: Konzentriert euch auf den politischen Systemwandel. Yang war klar, dass er mit solchen Forderungen die Geduld zivilgesellschaftlich engagierter Bürger strapazierte. Auch denen fiel es verständlicherweise schwer, auf persönliche Feindbilder zu verzichten, und die allerwenigsten waren daher bereit, die Ursache des klimapolitischen Versagens im System der Demokratie zu sehen. Aber Yang hatte auch Konkreteres zu bieten. In Auckland propagierte er zum ersten Mal seine Idee einer virtuellen Weltklimaregierung. Dieses Gremium sollte klimapolitische Entscheidungen simulieren, wie sie von den fachlich und moralisch denkbar kompetentesten Instanzen getroffen würden. Für diese virtuelle Weltklimaregierung schlug Yang eine konkrete Organisationsform vor. Es sollte ein kleines und auf Dauer eingerichtetes Gremium sein. Dessen Mitglieder sollten ausschließlich unabhängige Experten sein, gestandene Klimawissenschaftler, die auf ihrem Gebiet nie für politische Auftraggeber gearbeitet hatten und es nie zu tun versprachen. Diese Personen sollten in einem speziell hierfür entwickelten Los- und Wahlverfahren bestimmt werden. Und um schließlich die politische Unabhängigkeit und Unbestechlichkeit dieser Personen auch nach ihrer Wahl zu gewährleisten, sollten sie finanziell unabhängig sein oder gemacht werden. Die Mittel dafür stünden bereit. Yang war sich drüber im Klaren, dass ein solches Projekt nur gelingen könnte, wenn es sehr geduldig vorbereitet würde. Er schätzte die Vorbereitungszeit auf neun Jahre. 2076, schlug er vor, könne eine solche virtuelle Weltklimaregierung vor die Weltöffentlichkeit treten. Deren Vorschläge würden die Ergebnisse der 277 Weltklimakonferenzen dann endlich als das erscheinen lassen, was sie immer gewesen seien: Dokumente organisierter politischer Unverantwortlichkeit. 2076 erschien noch weit hin, aber Yangs Ankündigung weckte zumindest große Neugier. Global Upgrade wurde danach zu der von den Medien weltweit am meisten beachteten zivilgesellschaftlichen Bewegung. Schwache Cyberwehr Dass der SPIEGEL Konzernbetrieb geworden war, hat ihm nicht nur geschadet. Dem SPIEGEL war u.a. die Konzernabteilung Cyber Security zu Diensten, und deren Spezialisten erneuerten die Cyberabwehr des SPIEGEL von Grund auf. Dabei bereiteten sie auch Altfälle zur Schulung auf, vor allem natürlich den großen Hackerangriff auf das Archiv. Dabei kam heraus, dass die Hacker damals Insiderinformationen aus dem Verlag gehabt haben müssen, zumindest mit größter Wahrscheinlichkeit. Danach wurden alle Führungskräfte, auch ich als Archivleiter, befragt, ob sie einen Verdacht hätten. Alle verneinten, auch ich. Aber einen leisen Verdacht hatte ich doch. Klaus, der Computernerd, hatte einige Male beiläufig über Datensicherheit und Hackerabwehr gesprochen. Und später, nach seinem Ausscheiden, erfuhr ich, dass er Mitglied im neu gegründeten Kaos Computer Klub war. Die Hacker-Szene kannte er also. Aber war es vorstellbar, dass ausgerechnet unser Klaus, der sympathische Hofnarr des Archivs, uns so hintergangen hat? Dass er als Narr in Wahrheit doch ein Böser war? Ein Kauz war er schon, das wusste ich, aber ein Komplize krimineller Hacker? Ich wehrte mich mit aller Kraft dagegen, diesen Gedanken weiterzudenken. Andererseits, überlegte ich dann: Haben die Hacker uns mir ihrer Attacke überhaupt geschadet? Nein, sagte ich mir, das haben sie eigentlich nicht. Sie haben die Augen der Welt für einen Moment auf den SPIEGEL gelenkt, sie haben uns aufgerüttelt, und sie haben uns für unsere eigene Angreifbarkeit sensibilisiert. Der SPIEGEL war danach weltweit noch bekannter, und wir waren am Ende viel besser geschützt. 278 Selbst wenn also Klaus in die Sache verwickelt war - konnte man ihm überhaupt einen Vorwurf machen? Mir ging der Vorfall natürlich nie ganz aus dem Sinn, und ich stellte auch immer wieder Vermutungen zu den Tätern an. Am Ende wurde mir fast zur Gewissheit: Täter, Mittäter oder Auftraggeber war ein Geheimdienst. Niemand sonst hatte ein so klares Motiv, ein so selbstverständliches Interesse an unseren brisanten Archivinformationen. Es konnte der BND gewesen sein, der Verfassungsschutz, ein ausländischer Geheimdienst oder - noch wahrscheinlicher - der BND zusammen mit einem ausländischen Dienst, der NSA oder dem GCHQ. Aber Klaus als Helfer eines Geheimdienstes? Oder irgendein anderer Kollege? Nichts erschien mir jetzt abwegiger. Dass in einer digital bald lückenlos vernetzten Welt den Geheimdiensten eine immer unheimlichere Macht zuwuchs, das war nichts Neues und nichts Besonderes mehr. Das hatte auch ich inzwischen als Teil einer Entwicklung hingenommen, die dennoch niemand würde rückgängig machen wollen. Niemand wäre darauf gekommen, den Bürgern, dem Staat und der Wirtschaft ihre Internetverbindung zu nehmen, nur um der digitalen Angreifbarkeit ein Ende zu machen. Aber unheimlich blieb es doch. Ich fragte mich, ob, wenn nichts getan würde, dieses Problem immer schlimmer und immer schwerer lösbar würde, ähnlich wie beim Klimaproblem. Aber erst nach Jahren wurde mir klar, dass es hier tatsächlich einen engen Zusammenhang mit Yangs Ideen zur Klimaschutzpolitik gab. Yang hatte sich gefragt, ob der Klimaschutz bei den Regierungen dieser Welt in den richtigen Händen liege. Die Erfahrung hatte ihm gezeigt: Nein, das tut er nicht. Dann hatte er überlegt, wem sonst der Klimaschutz überantwortet werden sollte. Eine solche Institution, so sah er es, gab es nicht. Also müsse eine solche Institution erst geschaffen werden. Yangs Konzept: eine Art eigenständige Klimaregierung. Ist es nicht, dachte ich, bei Cyber-Sicherheit und digitalem Datenschutz ganz ähnlich? Regierung und Staat sollen auf diesem Gebiet alles Notwendige für uns tun, 279 was wir aus eigener Kraft nicht können. Aber sind Staat und Regierung hierin wirklich kompetent? Und verfolgen sie hierin wirklich unsere Interessen? Wenn Regierungen beim Klimaschutz versagen, können wir von ihnen dann bei der Cybersicherheit Besseres erwarten? Könnte nicht beiden Problemen gemein sein, dass unsere jahrhundertealten staatlichen Strukturen - auch und vielleicht besonders die demokratischen - damit überfordert sind? Und machen wir in Sachen Cybersicherheit und Datenschutz nicht sogar den Bock zum Gärtner, wenn wir diese Aufgabe in die Hände unserer Regierungen legen? Hat nicht der Staat, wie er ist, sogar ein naheliegendes Interesse daran, seine Cybermacht zu missbrauchen? Müssen wir nicht hiervor am allermeisten auf der Hut sein? Die viel zu späte Verleihung des Friedensnobelpreises an den schon todkranken Edward Snowden sollte uns das in Erinnerung gerufen haben. Wir wollen immer noch eine Welt, in der alles mit allem vernetzt ist und die für uns immer transparenter wird. So vernetzt zu sein ist für uns fast ein Grundbedürfnis geworden, aber dieses kollidiert mit anderen Grundbedürfnissen wie dem nach Sicherheit, nach Privatheit und nach Intimität und mit dem Schutz geistigen und auch materiellen Eigentums. Wenn die Vernetzung weiter zunimmt, nehmen auch die Verletzlichkeiten zu. Worum es hierbei für uns geht, das verstehen auch Laien wie ich, aber viel mehr verstehen wir Laien davon nicht. Uns fehlen sogar die Worte und Begriffe, um über Cybersicherheit treffend reden zu können. Wir können unser Vorstellungsvermögen dafür nur mit Vergleichen stärken. Mir hilft es, über Cybersicherheit in den gleichen Begriffen und Bildern zu denken wie über äußere und innere Sicherheit im alten Sinne, mit Begriffen also wie Polizei und Streitkräfte. Ich stelle mir also vor, dass wir eine Cyberpolizei und Cyberstreitkräfte brauchen. Cyberpolizei zum Schutz vor inländischen Cyberangriffen, Cyberstreitkräfte zum Schutz vor Angriffen aus anderen Ländern. Jüngere mögen ihre eigenen Begriffe dafür finden, aber für mich versuche ich es erst einmal mit diesen. 280 In Yangs Sinne müssten wir uns demnach fragen: Wer sollte für eine Cyberpolizei und Cyberstreitkäfte verantwortlich sein? Wer sollte deren politische Führung haben? Wer sollte die dafür notwendigen Gesetze und Verordnungen schaffen? Dieselben Politiker etwa, dieselbe politische Klasse, dieselben Geschöpfe unserer Parteien, mit denen wir es in der Politik sonst zu tun haben? Lässt sich dauerhafte verlässliche Cybersicherheit wirklich in den alten Strukturen schaffen, mit einem neuen Ministerium oder neuen Abteilungen in alten Ministerien, z.B. im Innen- oder im Verteidigungsministerium oder im Kanzleramt? Der Einwand von Yang wäre: Fast überall auf der Welt gibt es für Klimaschutz zuständige Behörden, aber geholfen hat es nicht. Der andere, nicht weniger wichtige Einwand wäre: Dann würden uns Institution schützen, vor deren Macht wir möglicherweise selbst Schutz brauchen. Die zwingende Schlussfolgerung aus beidem ist: Auch für Cybersicherheit sollte eine ganz und gar eigenständige politische Zuständigkeit geschaffen werden. "Etwa so wie früher die Bundesbank", war Constanzes spontaner Kommentar, als ich ihr diesen Gedanken zum ersten Mal vortrug. So kompliziert hatte ich noch nicht gedacht, aber Constanze hatte natürlich Recht. Aber auch dieser Gedanke wurde umso komplizierter, je länger ich mich damit befasste. Was würden z.B. kleinere Nationen tun, die für eigene Cyberstreitkräfte nicht genug Geld und nicht genug Wissen hätten? Sie müssten natürlich mit anderen Nationen gemeinsame Cyberstreitkräfte einrichten. Dann aber würde sich, so beschrieb Constanze es später, in Sachen Cybersicherheit eine eigene politische Landkarte formen. Dass dies eine Landkarte des gegenseitigen politischen Vertrauens sein würde, diesen Gedanken Constanzes habe ich nicht sofort verstanden, aber heute versteht ihn wohl fast jeder. Eines aber verstand ich umso rascher: Für verlässlichen Klimaschutz und Datenschutz ist unsere Demokratie nicht gemacht, und sie wird diesen Aufgaben vermutlich nie gerecht werden. 281 Das waren natürlich brisante Gedanken, viel brisantere sogar, als ich es damals ahnte. Erst Jahre später erfuhr ich, dass ganz ähnliche Vorschläge seit Längerem zum politischen Programm der Neokraten gehörten. Und fast zur gleichen Zeit kam heraus: Keine deutsche Organisation, die Muslimisch Soziale Union ausgenommen, wurde von den deutschen Geheimdiensten so gründlich überwacht wie die Neokraten. Einen besseren Beweis für die Brisanz dieser Gedanken hätte es nicht geben können. Mit Milliardären aus der Systemkrise? Die Auckland-Konferenz stand im Schatten noch brisanterer Ereignisse. In Ägypten wurde erneut ein Aufstand von der Militärdiktatur blutig niedergeschlagen, der junge islamische Staat, der sich im Zentrum Nordafrikas gebildet hatte, zerfiel nach jahrlangem blutigem Bürgerkrieg, die Euro-Zone bröckelte an ihren südlichen Rändern weiter ab, und in Amerika zerfiel endgültig das alte Parteiensystem. Nach den Republikanern spalteten sich nun auch die Demokraten in zwei eigenständige, etwa gleich starke Parteien auf. Die Auflösung der Demokraten folgte auf einen Akt politischer Aufklärung. In den sozialen Medien zirkulierte ein Dokumentarfilm über den Bildungs- und Bewusstseinsstand amerikanischer Parlamentarier. Mindestens die Hälfte von ihnen hing irgendeiner Überzeugung an, die schon im letzten Jahrhundert bei aufgeklärten Bürgern als rückständig gegolten hatte. Sie waren z.B. gegen konsequenten Klimaschutz, für die Todesstrafe, gegen Beschränkungen des privaten Waffenbesitzes oder gegen die Evolutionstheorie im Schulunterricht. Mindestens die Hälfte der Parlamentarier, so wurde es im Film kommentiert, vertrete also Meinungen, die sie in vielen zivilisierten Ländern für jedes politische Mandat disqualifizieren würden. Vielleicht war es der aggressive Tonfall des Films, vielleicht aber erst die große Resonanz hierauf, die zu einer breiten Solidarisierung mit den angegriffenen Parlamentariern führte. In den Medien, von den Parteien und auch vom Präsidenten 282 wurde der Film als heimtückische Verunglimpfung unbescholtener Politiker verurteilt. Zahlreiche Demokraten bekundeten dagegen Verständnis. Sie wollten von diesem neuerlichen Ansehensverlust der politischen Klasse nicht betroffen sein. Nach erbitterten innerparteilichen Auseinandersetzungen spaltete diese Minderheit sich schließlich ab. Sie gründete ihre eigene Partei, und sie gab ihr den Namen Neue Demokraten. Schon in ersten Umfragen lagen danach die Neuen Demokraten und die alten fast gleichauf. Den alten Demokraten hielten vor allem die traditionellen Milieus ethnischer Minderheiten die Treue. Die Neuen Demokraten gewannen rasch potente Förderer, darunter ein knappes Dutzend liberal gesinnter Superreicher und viele vermögende Familien mit asiatischem Hintergrund. Es gab in Amerika nun vier annähernd gleich starke Parteien, alte und neue Republikaner und alte und neue Demokraten, von denen jede ihre eigenen regionalen Wählerhochburgen hatte. Amerika driftete damit nicht nur im politischen Bewusstsein weiter auseinander, es begann auch eine neue Entfremdung zwischen Regionen. In Deutschland war in dieser Zeit die Muslimisch Soziale Union in den Schlagzeilen. Sie hatte bei der letzten Wahl viele nichtmuslimische Protestwähler gewonnen und ihr Wahlergebnis damit fast um ein Drittel gesteigert. Bei den etablierten Parteien herrschte darüber noch immer stummes Entsetzen. Trotzdem machten SPD und Grüne noch einmal einen Versuch, mit der MSU Koalitionsverhandlungen zu führen. Dabei brach in der MSU ein heftiger innerparteilicher Machtkampf aus. Der stellvertretende Vorsitzende, ein begnadeter Demagoge und Fundamentalist, warf die Frage auf, was die Partei eigentlich im Parlament wolle. Dort habe man ihr noch nie zugehört, rief er den Parteitagsdelegierten zu, und dort werde man ihr auch nie zuhören. Verschwendet eure Energien nicht in Parlamentsarbeit und Wahlkämpfen, rief er, kämpft für euren Glauben in der Mitte der Gesellschaft. Innerhalb weniger Monate scharten sich fast die Hälfe der MSU-Mitglieder hinter dem stellvertretenden Vorsitzenden. Sie gründeten innerhalb der Partei die außerparlamentarische muslimische Plattform. 283 Dies weckte bei den anderen Parteien, bei den Bürgern und den Medien natürlich erst recht Ängste. Viele Bürger hatten das Bild einer muslimischen außerparlamentarischen Opposition vor Augen, die ähnliche Schrecken verbreiten würde wie im vorigen Jahrhundert die so genannte Rote Armee Fraktion. Die Mehrheit dachte: Es kann so nicht weitergehen. Aber zugleich: Niemand tut etwas dagegen. In dieser unruhigen Weltlage für ein so anspruchsvolles Projekt wie die virtuelle Weltklimaregierung breite Aufmerksamkeit zu gewinnen, das konnte eigentlich nur aussichtslos erscheinen. Umso bemerkenswerter, dass Robert Yang genau dies eine Zeitlang gelang. Yang hatte jetzt 17 Jahre aufreibender politischer Aktionsarbeit mit vielen Enttäuschungen hinter sich. Am Sinn dieser Arbeit hatte er nie gezweifelt, aber zunehmend doch am Erfolg, gerade in den Jahren vor Auckland. Der AucklandAuftritt gab ihm neue Zuversicht. Ohne die Erfahrung der letzten 17 Jahre, sagte er noch während der Konferenz, stünde er hier auf verlorenem Posten, aber jetzt sei er sich seiner Sache sicherer denn je. Man werde Wichtiges bewirken, aber das wichtigste Mittel dazu werde nicht lauter Protest sein. Mehr als zehn Jahre war Yang in der Welt herumgereist, um Mitstreiter und Sympathisanten zu gewinnen, Organisationsstrukturen zu schaffen und Kontakte zu Sponsoren aufzubauen. Immer hatte dabei das Organisieren und Koordinieren von Protesten im Mittelpunkt gestanden. Genau das aber, erklärte er später einmal, sei vielleicht sein größter Fehler gewesen. Mit seinen jüngsten Themenwechseln hatte Yang viele Sympathisanten, Mitstreiter und Förderer irritiert. Für die meisten war er immer noch der große Umwelt- und Klimaschutzaktivist. Dass für ihn das Thema Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit nun ebenso wichtig geworden war, wollten immer noch die wenigsten wirklich wissen. Auch nicht, dass er mehr denn je an der herkömmlichen Demokratie zweifelte. 284 Für Separatistenversteher und Demokratieskeptiker war es damals viel schwerer, Unterstützer und Förderer zu finden, als für Klima- und Umweltaktivisten. Als Yang nicht nur die Demokratiekritik, sondern auch das Thema Separatismus zunehmend offensiv vertrat, schwächte dies seine Bewegung über Jahre. Viele Anhänger von World Upgrade sympathisierten zwar mit der einen oder anderen separatistischen Bewegung, aber umso entschiedener verurteilten sie alle anderen. Den meisten war noch jeglicher Separatismus suspekt, und vielen auch immer noch die Demokratieskepsis. Nicht anders war es bei den Geldgebern. In seinen Präsentationen für die Reichen und Superreichen war Yang mit kontroversen Themen immer sehr bedächtig umgegangen, und so hatte er zahlreiche potente Spender gewonnen und bei Laune gehalten. Word Upgrade schwamm im Geld und in Geldzusagen. Zu Puigs Millionen waren zuerst die vielen Millionen hinzugekommen, die Halsdorf bei den SamwerBrüdern und einem halben Dutzend anderen deutschen, schwedischen und niederländischen Superreichen akquirierte. Aber bald war Yang in den USA und Kanada im Fund Raising ebenso erfolgreich. Eine Zeitlang drängten Superreiche der Internet- und Softwarebranchen World Upgrade das Geld geradezu auf. Später nannte Yang diese Zeit seine verlorenen Jahre. Was sollte er mit dem vielen Geld anstellen? Der Aufbau seiner Bewegung stockte, die globalen Protestaktionen zum Klima- und Umweltschutz ließen sich kaum noch sinnvoll steigern, und die Themen Demokratiekritik und politische Selbstbestimmung konnten nur behutsam in Stellung gebracht werden. Irgendwann wurde Yang klar, dass er seine Bewegung vorerst nicht weiter ausweiten durfte. Nun konzentrierte er sich erst einmal auf Grundsatzfragen. Wie passten seine zwei großen Themen eigentlich zusammen? Was hatten sie gemeinsam? Und würden sie je unter dem Dach einer einzigen großen Bewegung zusammenfinden können? Dass mit der Demokratie etwas Grundlegendes falsch sei, dafür war das Versagen im Klimaschutz ihm fast schon Beweis genug gewesen, und das Versagen der Demokratie in der Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit zerstreute bei ihm 285 den letzten Zweifel. Aber was verband diese beiden Probleme? Gab es den einen Schalter im System, der umgelegt werden müsste, um beide zu beheben? Natürlich nicht. Beide Probleme, das immerhin wusste Yang, hatten ihre Ursachen im politischen System, bei beiden ging es also um Verfassungsfragen. Das war eine wichtige Gemeinsamkeit, aber es war auch die einzige. An der Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit fehlte es, weil demokratische Staaten ihre Bürger hierüber nicht frei entscheiden ließen. Sie stellten den Bürgern hierzu entweder gar keine Fragen oder falsche. Der Fehler war hier offensichtlich ein Zuwenig an Bürgerbeteiligung. Ganz anders in der Klimafrage. Hier lag die Problemlösung nicht in der Bürgerbeteiligung. Hier würde es nicht helfen, die Bürger immer wieder nach ihrer aktuellen Meinung zu fragen, z.B. darüber, wie stark, wie schnell, womit und von wem klimaschädliche Immissionen reduziert werden sollten. Hier war der Fehler ein Mangel an Kompetenz und Verantwortlichkeit. Hier legte die Demokratie die Entscheidungen in falsche Hände, in die Hände von kurzsichtigen Dilettanten statt von langfristig denkenden, verantwortungsvollen Experten. Die Demokratiekritik, folgerte Yang, würde daher zwei ganz verschiedene Ansätze gleichzeitig verfolgen müssen: Im Einen mehr Entscheidungsfreiheit für Bürger, im Anderen mehr Entscheidungskompetenz für Experten. Vom alten, aber immer noch energischen Puig hatte Yang sich überreden lassen, sich eine Zeitlang ganz auf das Thema Bürgerentscheidungen zu konzentrieren. Die beiden waren sich einig, dass politische Unabhängigkeitsbewegungen umso erfolgreicher wären, je genauer sie den Bürgerwillen repräsentierten. Dafür aber müssten sie erst einmal den Bürgerwillen möglichst genau ermitteln, was am zuverlässigsten mit Referenden gelinge. Unabhängigkeitsbewegungen dürften es sich daher nicht mehr gefallen lassen, dass Referenden vom Staat genehmigt werden müssen. Sie müssten also Referenden aus eigener Kraft durchführen können. Das, so Puig, habe ihn auch die Erfahrung gelehrt. Wie sich solche Referenden ohne Zutun des Staates durchführen ließen, wisse auch er noch nicht, aber unmöglich könne es doch nicht sein. Dann kam das Argument, das für Yang das entscheidende war: 286 Wenn Unabhängigkeitsbewegungen jederzeit eigene Referenden durchführen könnten, dann würden sie nicht nur ihre Ziele schneller erreichen. Dann würden die Staatsbürger dieser Welt ihre Staatszugehörigkeit weniger denn je noch als Schicksal hinnehmen, und dann könnten daher viele neue Unabhängigkeitsbewegungen entstehen. Dies war der Impuls, der bei Yang noch mehr Energien in Sachen Unabhängigkeitsreferenden wachsen ließ. Jetzt endlich kam in das Projekt der Online-Referenden, für das Puig schon seine ersten Millionen bereitgestellt hatte, neue Bewegung. Yang hatte sich nach seinen Anfragen bei indischen SoftwareUnternehmen schon darauf festgelegt, diese Softwareentwicklung an Prabas zu vergeben, seinen Studienfreund, der in Bangalore eine große Softwareentwicklungsfirma aufgebaut hatte. Nun schickte er Prabas eine aktualisierte Projektskizze. Die Antwort kam postwendend. Natürlich, schrieb Prabas, sei er bei diesem spannenden Projekt weiter dabei. Er sehe die Probleme, aber unlösbar seien sie nicht, dessen sei er ganz sicher. Dass seine erste Kostenschätzung nicht zu halten sei, dass wisse Yang ja schon, aber er werde die Schätzung nun schnell aktualisieren. Die Entwicklungszeit schätze er jetzt überschlägig auf drei bis vier Jahre. Er melde sich bald wieder. Welcher Glücksfall Prabas für dieses Projekt war, das erkannte Yang, als die nächste Mail kam: Lieber Robert, deine Idee mit der Referendumssoftware gefällt mir immer besser. Die Idee könnte auch für Indien einmal wichtig werden. Indien hat ja seine eigenen Katalanen, seine Basken, seine Flamen usw. Ich selbst gehöre dazu. Wahrscheinlich hast du keine Vorstellung davon, wie viele Inder sich für solche Referenden später einmal interessieren könnten. Nicht viel weniger, als Europa Einwohner hat! Aus solchen Referenden könnte also eines Tages eine neue Landkarte des indischen Subkontinents hervorgehen. Und das - das ist das 287 Faszinierende daran - ganz friedlich. Ich bin also mit großer Begeisterung dabei. Für euch, aber auch für Indien. Darunter als PS: Noch scheinen solche Ideen im Westen besser zu gedeihen als bei uns. Aber auch das wird sich ändern. Das Referendumskonzept war eines jener bedeutenden Vorhaben, die vielleicht nie gestartet worden wären, wenn ihre Initiatoren Schwierigkeiten, Kosten und Zeitaufwand im Vorhinein auch nur annähernd erahnt hätten. Nach vier Jahren Entwicklungszeit waren zwanzig Millionen Dollar verbraucht, zehn davon Puigs, die anderen zehn, wie Yang später offenbarte, von einem amerikanischen Spender, der nicht einmal genau wusste, worum es ging. Nach fünf Jahren wurde eine Testversion in einem ersten Großversuch eingesetzt. Nicht in Katalonien, sondern in Estland. Bis dahin hatte man fast überall auf der Welt geglaubt, dass Onlinereferenden nicht viel anderes seien als herkömmliche Meinungsumfragen. Auch ein kleines Team in der SPIEGEL-Redaktion hatte sich irgendwann damit befasst, und das Resümee war, dass allenfalls ein eigensinniger Superreicher sich an eine solche Entwicklung heranwagen könnte. Heute ist klar, dass Online-Referenden mit Prabras' Software Ergebnisse liefern, die Wahlergebnissen in Zuverlässigkeit nicht nachstehen. Dass sie auch eine starke Waffe in der Hand von Unabhängigkeitsbewegungen und zivilgesellschaftlichen Organisationen sein würden, das hätte man aber schon viel früher erkennen sollen. Der Test der Referendumssoftware in Estland war ein Erfolg. Er sollte wirklich nicht mehr sein als ein Funktionstest, aber er machte dort den Weg für neue Überlegungen zum Status der russischen Minderheit frei. Der alte Puig drängte danach natürlich auf ein Referendum in Katalonien, aber es zeigte sich, dass die Katalanen in der Unabhängigkeitsfrage mittlerweile zermürbt waren. Die Hoffnungen, der spanische Staat werde irgendwann doch den Weg für ein legales Referendum öffnen, war nach 288 jahrzehntelangen fruchtlosen Anläufen geschwunden. Ende der fünfziger Jahre spielte das Unabhängigkeitsthema in Katalonien kaum noch eine Rolle. Eine neue Idee, wie sich Prabras' Konzept doch auch in Katalonien einsetzten ließe, kam dann Alex Vidal, einem jungen katalanischen Freund Puigs, Anfang der sechziger Jahre. Vidal setzte an der Monarchiefrage an. Im Sommer 2060 hatte eine unbedachte Bemerkung des schon leicht dementen Königs Felipe das Thema Monarchie in Katalonien neu aufleben lassen. Er habe immer der König aller Bürger Spaniens sein wollen, hatte Felipe gesagt, sogar der Katalanen. Für die Katalanen war das natürlich ein Affront. Das Verhältnis zwischen Katalanen und Felipe war schon lange gespannt gewesen. In den vierziger und fünfziger Jahren hatten sich in ganz Katalonien unterschwellig leichte antimonarchistische Stimmungen verbreitet. Wenn überhaupt einen König, meinten immer mehr Katalanen, dann nicht diesen, aber warum überhaupt einen? In den sozialen Netzwerken kursierte der Schnappschuss eines mürrischen, ungepflegt aussehenden, schlecht rasierten Felipe mit der Unterschrift: El nostre Rei no ets. Unser König bist du nicht. Lass uns diese Stimmung nutzen, schlug Puigs Freund Vidal vor, der Weg zur vollen politischen Unabhängigkeit ist weit, versuchen wir es doch erst einmal mit dem Naheliegenden, versuchen wir, uns erst einmal von der spanischen Monarchie zu lösen. Puig war noch skeptisch, aber Yang, der Stratege, pflichtete Vidal sofort bei. Es komme in dieser Phase nicht darauf an, Begeisterungsstürme zu entfachen, viel wichtiger sei es, möglichst wenig Widerstände zu wecken. Deswegen sei es in der Tat klug, sich bei einem ersten Online-Referendum ganz auf das Thema Monarchie zu beschränken. Von Yang kam dann der Vorschlag, das Referendum unter das schlichte Motto No pagarem per la seva monarquia - Wir zahlen nicht für eure Monarchie zu stellen. Katalonien könne seinen Kostenanteil am Unterhalt der Monarchie dem spanischen Zentralstaat vorenthalten, z.B., indem alle Katalanen einen Promillesatz ihrer 289 Einkommensteuer einbehielten. Das sei zwar nicht mehr als ein Nadelstich, garantiere dem Thema aber hohe öffentliche Aufmerksamkeit. Ob Felipe sich danach weiter als König auch der Katalanen ausgeben werde, wisse man nicht, aber es würde ihm damit zumindest verleidet. Die Zeit war reif dafür. Für den greisen Felipe gab es keinen würdigen Nachfolger. Sein Sohn, ein kontaktscheuer Psychiater, hatte die Thronfolge nie gewollt, seine Tochter war eine krankhaft schüchterne Frau ohne jedes Charisma. Gründe genug für die Abwendung von der spanischen Monarchie. Und wenn ihr wollt, hielten Puig und Vidal ihren wenigen noch skeptischen Landsleuten dann noch entgegen, könnt ihr euch später irgendwann einen eigenen zivilen König wählen. Ein Argument, von dem viele sich angesprochen fühlten. Das Referendum wurde ein spektakulärer Erfolg. Felipe schwieg danach über die Katalanen, und die Katalanen schwiegen über Felipe. De facto war die Monarchie für Katalonien damit abgeschafft. Die Weltöffentlichkeit reagierte gespalten. In den Medien wurde die Aktion vielfach als politisches Bravourstück gewürdigt, von Politikern westlicher Ländern wurde sie fast ausnahmslos als illegitim und respektlos verurteilt. In Katalonien aber machte sie den Willen zur politischen Unabhängigkeit stärker denn je. Wir holen uns die Unabhängigkeit stückweise, das war die neue, von Vidal, Puig und Yang propagierte Losung, in die fast alle Katalanen einstimmten. Dies entsprach ziemlich genau der Vorstellung von politischer Selbstbestimmung, die Hauser in den zwanziger Jahren skizziert hatte, aber das fiel mir erst viel später ein. Auch in ganz Spanien hatte sich lange vor dem katalanischen Online-Referendum Gleichgültigkeit gegenüber der Monarchie breitgemacht, aber das Vorgehen der Katalanen drehte die Stimmung. Es weckte bei vielen Spaniern neue Loyalität mit ihrem alten König. Vereinzelt kam es sogar zu promonarchistischen Massendemonstrationen. Diesen Stimmungsumschwung wollten spanische Politiker nutzen, um die Stellung der spanischen Monarchie neu zu festigen. Woher dann der 290 Vorschlag kam, hierfür ein ebensolches Online-Referendum abzuhalten wie in Katalonien, wurde nie ganz geklärt, aber ich will bis heute nicht von dem Gedanken lass, dass Puig, Vidal und Yang dahinter gesteckt haben könnten. Wenn es so war, dann war es eine geniale List. Das Referendum fiel aus, wie alle es erwartet hatten. Die neu erwachte Loyalität mit dem König führte zu einer klaren promonarchistischen Mehrheit. Danach sahen die meisten Spanier ihre Monarchie auf absehbare Zeit gesichert, aber das schien nur so. Das viel wichtigere Ergebnis dieses Referendums war etwas ganz anderes. Mit diesem Referendum war genau das Tabu gebrochen, das die Existenz der Monarchie sicherte. Nach diesem Referendum war klar: Es muss nicht das letzte seiner Art gewesen sein. In Spanien würde in Zukunft kein Monarch mehr davor sicher sein, durch ein Referendum de facto abgesetzt zu werden. Spanien war damit keine gesicherte Erbmonarchie mehr. De facto war gab es schon eine Wahlmonarchie. Was dies für die Ordnung der Staatenwelt langfristig bedeuten könnte, ahnten zunächst nur wenige. Es war nur ein kleiner, fast unscheinbarer Eingriff in die politische Ordnung, aber es war einer, der die Möglichkeit viel größerer Veränderungen zumindest aufscheinen ließ. Yang machte sich sofort daran, mit Aktionen in anderen Monarchien dieser Welt für weitere solche Referenden zu werben. Auch einige Medien widmeten sich eine Zeitlang dem Thema. Im SPIEGEL erschien - 15 Jahre, nachdem ich das Thema der Redaktion nahgelegt hatte - eine Artikelserie mit dem Titel Von der Zwangsmonarchie zur Wahlmonarchie. Wie man die Monarchie abschafft und gleichzeitig rettet. Die Themen der einzelnen Artikel waren: - Wenn Thronfolger sich einem Referendum stellen. Wie aus der Erbmonarchie eine Wahlmonarchie wird. - Trennung von Monarchie und Politik. Das Überleben der Monarchie als Identifikationsinstanz. - Monarchiesteuer. Wie eine erneuerte Monarchie sich finanzieren kann. 291 - Sport, Kultur und kollektives Gedenken. Die neuen Aufgaben repräsentativer Monarchen. So anspruchsvolle Beiträge hatte ich vom SPIEGEL seit Langem nicht mehr erwartet, aber hier zeigte die Redaktion noch einmal Größe. Umso heftiger war dann der SPIEGELinterne Streit darüber, ob dieses Thema das deutsche Publikum wirklich interessierte. Die Schwesterverlage des Konzerns in Spanien und anderen Ländern lehnten eine Übernahme des Themas ab. Chinesische Visionen Yang hatte seine spendablen Milliardäre überschätzt. Sie alle hatten Großes geleistet, keiner von ihnen hatte seine Milliarden geerbt, keiner von ihnen verdankte sie gewieften Spekulationen, alle waren mehr oder weniger visionäre Unternehmergründer gewesen. Dass sie sich aber - von Puig abgesehen - auch in der Politik auf Visionäres würden einlassen wollen, darauf hätte Yang dann doch nicht hoffen dürfen. Constanze ist eine, die es besser gewusst hätte. Ihre Masterarbeit hatte sie über Genie und Kalkül großer Unternehmensgründer geschrieben, und sie war dem Thema verbunden geblieben. Das Genie der Gründer, hatte sie mir einmal erklärt, sei etwas anderes als das Genie von Erfindern. Gründergenie, das sei vor allem Energie und Konzentration und die Fähigkeit, sich einer bestimmten Aufgabe bedingungslos zu verschreiben. Solches Genie lasse sich nicht auf andere Aufgaben übertragen, schon gar nicht von der Wirtschaft auf die Politik, und es lasse sich auch nicht ins Alter hinüberretten. Mit ihrem Verständnis von Wirtschaft hatte Constanze mir manches Mal auch Politik verständlicher gemacht. Sie hatte mir z.B. erklärt, dass in der Wirtschaft das Neue fast immer Einzelleistungen zu verdanken ist, den Leistungen von Erfindern oder von Gründern, von Berühmtheiten wie Henry Ford, Ferdinand Porsche, Dietmar Hopp, Bill Gates, Steve Jobs, Jeff Bezos, Larry Page, Sergey Brin, Mark Zuckerberg, 292 Larry Ellison, Jack Ma und von zahllosen Unbekannten. Schon immer sei es im Übrigen so gewesen, dass es die Gründer in der Wirtschaft dorthin ziehe, wo sich am meisten bewegen lasse, in zukunftsträchtige Branchen. Gründernaturen hätten dafür einen sicheren Instinkt. Und dann sagte sie: - In der Politik gibt es keine Gründer mehr. Schon gar nicht in der Demokratie. Sie sagte es so beiläufig, dass ich kaum darauf achtete. Es dauerte Monate, bis mir die Bedeutung dieses Satzes richtig klar wurde. Gründernaturen zieht es dorthin, wo sich viel bewegen lässt, zu zukunftsträchtigen Aufgaben. Wenn es in demokratischer Politik keine Gründer mehr gibt, dann bedeutete dies, dass sich in demokratischer Politik nicht mehr viel bewegen lässt. Dann ist demokratische Politik nicht mehr zukunftsträchtig. Es war nicht so, dass es mir wie Schuppen von den Augen fiel. Ganz neu war mir der Gedanke natürlich nicht, schon wegen Hauser, aber er warf ein Schlaglicht auf Bekanntes. In demokratischer Politik lässt sich viel weniger bewegen, als bewegt werden müsste, daher zieht es diejenigen, die dort am dringendsten gebraucht würden, nicht dorthin. In diesen wenigen Sätzen klang es so klar und einleuchtend, so passend zu allem, was die Demokratien des 21. Jahrhundert bisher geboten hatten, und genau deswegen so erschütternd. Demokratische Politik ist wie Wirtschaft ohne Gründer, wie eine stagnierende Wirtschaft also, und Parteien, Parlamente und Regierungen sind Nachlassverwalter von politischen Erfindern und Gründern vergangener Jahrhunderte. Als ich Constanze vor einigen Jahren an dieses Gespräch erinnerte, machte sie dazu noch eine brisante Bemerkung. Das große Land der Gründer, sagte sie, könnte im 21. Jahrhundert China sein. - Du meinst, in der Wirtschaft, sagte ich. - Vielleicht ja auch in der Politik, antwortete sie. Ich war nie in China gewesen, nicht einmal, als unsere Zwillinge dort ihre langen Praktika machten, und auch nicht in meinen frühen Pensionärsjahren, als Hilke, 293 meine Frau, viele Male auf eine China-Reise drängte. Als ehemaliger Archivar hatte ich zu China meine Informationsquellen, und mehr, dachte ich, müsse ich über China nicht wissen. Mit eigenen Augen müsse ich es nicht gesehen haben. Ich wusste, dass China nach der Jahrhundertmitte zu den reichen europäischen Staaten im Wohlstand aufgeschlossen hatte, dass das Wachstum danach abgeflacht war und dass Europa, Japan, die Vereinigten Staaten und China sich wirtschaftlich inzwischen etwa gleichauf entwickelten. Politisch war es in China turbulenter zugegangen. China war von seiner so genannten kommunistischen Partei weiter fast wie ein Unternehmen geführt worden, ideologiefrei, professionell und unübersehbar erfolgreich. Aber Ende der fünfziger Jahre erlebte das chinesische Einparteienregime die erste ernste Krise dieses Jahrhunderts. Die Konjunktur war eingebrochen, und neue Korruptionsskandale hatten das Vertrauen der Bürger erschüttert. Im Westen wurde wieder einmal über das Ende des politischen Systems in China spekuliert. China, meinten renommierte China-Kenner, befinde sich in einer ähnlichen Phase wie Russland zu Zeiten Jelzins. Ein sehr wahrscheinliches Szenario sei, dass demnächst ein chinesischer Putin die Weltbühne betreten werde, der dann mit Russland ein antiwestliches Bündnis zu schmieden versuche. Chinas nächster Staatspräsident, der kommende mächtigste Mann der Welt, ein Gesinnungsnachfahre Putins? Dieses Schreckensszenario versetzte die westliche Welt in Panik. Die Vereinigten Staaten, Europa und Verbündete rüsteten sich für einen neuen kalten Krieg, die Rüstungsetats westlicher Länder wurden aufgestockt, Japan, Südkorea und Australien in die Nachfolgeallianz der NATO aufgenommen. Mit Indien wurden bilaterale Beistandsverträge geschlossen, und in den bis dahin wirtschaftlich eng mit China verbundenen Ländern Afrikas starteten westliche Länder neue Initiativen, um den chinesischen Einfluss einzudämmen. Auch ich entzog mich dieser Stimmung nicht. Auch ich presste China in diese Schablone westlichen Denkens, trotz Tian. 294 Als ein paar Jahre danach die westliche Angst vor China eine Pause machte, fragte Hilke mich, ob nun nicht doch die Zeit gekommen sei für die immer wieder aufgeschobene China-Reise. - In unserem Alter?, fragte ich. Hilke und ich als China-Touristen, das war mir noch immer nicht geheuer. - Warum nicht?, fragte sie. Soweit sie wisse, habe Helmut Schmidt seine letzte China-Reise mit zweiundneunzig gemacht, ich sei erst vierundsiebzig. Also wann, wenn nicht jetzt? Ich brauchte zwei Tage Bedenkzeit. China sehen, das war für mich noch immer nicht das Ziel, aber noch einmal Tian treffen, zum vielleicht letzten Mal? Und erfahren, was Tian, der vielleicht auch schon Rentner war, in diesen Zeiten über sein Land und über den Westen dachte? Natürlich, das würde eine so weite Reise wert sein. Ich schickte eine Mail an Tian, dann machte ich mich daran, die Reise zu planen. Zwei Wochen später landeten wir in Peking. In der Ankunftshalle kam Tian mit einem milden Lächeln auf mich zu. Ein Lächeln, dachte ich zuerst, aus Mitleid mit einem alten Mann auf anstrengender Reise, aber dann merkte ich, wie ich sein mildes Lächeln spontan erwiderte. War es die gemeinsame Erinnerung an viele gemeinsame Gedanken der letzten vierzig Jahre? War es die Erwartung, nach so vielen Jahren politische Altersweisheit miteinander zu teilen? Aber konnte der fünf Jahre jüngere Tian sich wirklich schon altersweise fühlen? Schon möglich, dachte ich, schließlich hatte er schon als junger Mann eine Ernsthaftigkeit ausgestrahlt, als hätte er ein halbes Dutzend Jugendjahre übersprungen. Aber war er überhaupt schon im Ruhestand? Hatte er schon den Schub an Altersweisheit erlebt, der Pensionären vorbehalten ist? Oder war er noch immer ein Glied im Getriebe der chinesischen Think-Tank-Industrie? Wir blieben kurz voreinander stehen, beide etwas verlegen, weil uns von dem vielen, was wir einander in diesem Moment hätten sagen wollen, der passende erste Satz 295 nicht einfiel. Dann ein flüchtiger Händedruck, eine angedeutete Umarmung. Dann fragte ich: - Bist du auch schon im Ruhestand? Tian sah mich mit mildem, nachsichtigem Lächeln an. - Das erkläre ich dir gleich, sage er dann. Die Taxifahrt zum Hotel dauerte im Pekinger Dauerstau eine halbe Ewigkeit. Tian stellte Hilke einige höfliche Fragen, während ich noch immer mit meiner ungeschickten Begrüßungsfrage haderte. Aber dann begann er so selbstverständlich über Arbeitsleben und Ruhestand im Alter zu reden, als wäre ich für nichts anderes nach Peking gekommen. Und schon war es wieder wie früher so oft: Wir redeten über eine spröde Materie und spürten dabei eine große Nähe. - Ob ich im Ruhestand bin, wolltest du wissen?, fragte er. Und dann, ohne meine Antwort abzuwarten: - Ist denn euer Rentensystem immer noch wie vor dreißig Jahren? Dabei sah er mich an, wie um sich der Wirkung seiner Frage zu vergewissern. - Im Großen und Ganzen, ja, sagte ich. - Schade, sagte er. Und nach einer kurzen Pause: Aber das habe ich befürchtet. Dann erklärte er mir, dass in Chinas neuem Rentensystem jeder selbst darüber bestimme, wie viel und wie lange er im Alter arbeite. Er zum Beispiel sei, was man in China jetzt einen Viertelrentner nenne. Auf meine Frage, was das denn sei, antwortete er, das sei im Prinzip ganz einfach. Chinesische Viertelrentner arbeiteten ein Viertel weniger als vorher, und sie bekämen halb so viel Geld wie vorher. Das machten viele in seinem Alter so. Man könne Viertelrentner natürlich auch Dreiviertelbeschäftigte nennen, aber Viertelrentner sei der handlichere Begriff, auch auf Chinesisch, das habe sich so durchgesetzt. 296 - Und zusätzliche Rente bekommst du zu deinem halben Lohn nicht?, fragte ich. Nein, noch nicht, sagte er, das habe er sich für später aufgespart. Je später er Rente beziehe, desto höher sei sie natürlich. - Viertelrentner zum halben Lohn also. Ist das bei euch die Alternative zum Vollrentner? Natürlich nicht die einzige, sagte er. Er hätte z.B. auch Halbrentner werden können, dann bekäme er jetzt ein Drittel seines früheren Gehalts, aber zumindest theoretisch gebe es im chinesischen Rentensystem unendlich viele Alternativen. In diesem System hätten die Rentner also viel mehr Wahlmöglichkeiten als bei uns. Das klinge ja eigentlich gut, sage ich, aber irgendeinen Haken müsse es diesem System geben. Das wolle er nicht ausschließen, sagte Tian, aber bisher habe noch niemand einen solchen Haken entdeckt. Ganz durchschaute ich es in diesem Moment nicht, aber ich fühlte mich sofort an Constanzes Gedanken über das Arbeiten im Alter erinnert. Ich hätte mir gewünscht, Constanze wäre bei diesem Gespräch dabei gewesen, aber so mühte ich mich allein, dem eventuellen Haken am chinesischen Rentensystem auf die Spur zu kommen. Aber welche Fragen ich auch stellte, Tian hatte immer überzeugende Antworten. Hatte China, bisher fast unbeachtet von der westlichen Welt, in wenigen Jahrzehnten ein Rentensystem geschaffen, wie Deutschland es in anderthalb Jahrhunderten nicht einmal annähernd zustande gebracht hatte? Eines, das den chinesischen Rentnern die denkbar besten Wahlmöglichkeiten bot, die denkbare größte Flexibilität am Ende ihres Arbeitslebens und zugleich eine faire Lastenverteilung zwischen den Generationen? War also das chinesische Rentensystem genau dasjenige, das wir in Deutschland bekämen, wenn wir wirklich noch einmal ganz von vorn anfangen könnten? Noch während der Taxifahrt ging mir durch den Kopf, wie die Systembewahrer der deutschen Politik das chinesische System in den Medien zerreden würden, wenn es für Deutschland ins Gespräch gebracht würde. Der 297 Viertelrentner, von dem Tian mit beinahe liebevollem Stolz sprach, würde dem hämischen Spott der deutschen Meinungsführer ausgesetzt. Es würde von chinesischen Schrumpfrentnern die Rede sein, die sich in Deutschland niemand wünschen könne, und alle Hinweise auf die viel größeren Wahlfreiheiten und die Fairness und Nachhaltigkeit des chinesischen Systems würden dabei untergehen. Ich war mir sogar sicher, dass selbst die IG SENIOREN hierin einstimmen würde. Mir kamen dabei Constanzes Gedanken über politische Gründer in den Sinn. Waren in der chinesischen Rentenpolitik Gründer am Werk gewesen, wie demokratische Politik sie nicht mehr hervorbringen kann? Herrschte ausgerechnet in der nach außen hin so erstarrten chinesischen Einparteienherrschaft mehr politischer Gründergeist als in der westlichen Parteiendemokratie? Wenn es so war, dann war es erschütternd für die Demokratie, aber für die Welt ein kleiner Hoffnungsschimmer. Auf dem Weg in unser Hotelzimmer sagte ich zu meiner Frau: - Hilke, diese Reise hat sich jetzt schon gelohnt. Wir hatten für nur elf Tage gebucht, sechs Tage für Peking, fünf für Shanghai. Es wurden am Ende elf Tage Peking. Am zweiten Tag begann Tian, mir über Zukunftsszenarien zu erzählen, die die Partei von führenden Forschungsinstituten des Landes hatte ausarbeiten lassen. Zuerst glaubte ich, es seien vage Szenarien für das 22. Jahrhundert, aber Tians Schilderungen wurden immer konkreter, und schließlich fragte ich ihn, was davon noch in diesem Jahrhundert Wirklichkeit werden könnte. Seine Antwort: alles. Das war der Moment, in dem ich wusste, dass eine Woche Peking nicht reichen würde. Dass China sich in der jüngeren Vergangenheit viel rascher gewandelt hatte als der Westen, darüber hatten wir früher oft gesprochen, aber ich hatte immer gemeint, dass das nur für die Vergangenheit galt, dass es ein Aufholprozess sein würde, der China bestenfalls an den wohlhabenden demokratischen Westen heranführt. Aber wenn China den Westen schon mit seinem Rentensystem überholt hatte, waren ihm dann solche Entwicklungssprünge nicht auch auf anderen Gebieten zuzutrauen? Hundert 298 Jahre vorher hatte die Führung der DDR die Losung ausgegeben, den Westen zu "überholen ohne einzuholen". War China das Land, dem hundert Jahre später genau dies gelingen würde? Hätte ich gewusst, wie offen Tian über alles mit mir reden würde, hätte ich ihn von Anfang an einfach erzählen lassen. Ich hätte ihm dann nicht diese erstbeste politische Frage gestellt, die mir in den Sinn kam, die Frage, die sich in dieser Zeit im Westen alle stellten, wenn sie an China dachten: Was hat China in seiner Rolle als führende Weltmacht vor? Tian machte eine wegwerfende Handbewegung. - Ach, sagte er fast unwirsch, ihr Westler mit eurem Weltmachtthema. Es klang, als wäre das für ihn eine Bagatelle. - Aber China, sagte ich, ist doch die mächtigste Weltmacht, die es je gab. Es ist doch klar, dass das den Rest der Welt beschäftigt. Wieder schwieg er eine Weile. - Ja, sagte er dann, aber ihr beschäftigt euch damit noch immer wie im 20. Jahrhundert. Wie damals, als die Weltmächte noch westlich waren. Lass uns später darüber reden. Dann lud er mich ein, ihn am übernächsten Tag in seinem Institut zu besuchen. Auf meinen Besuch war Tian dann so gründlich vorbereitet, wie man es von ihm nicht anders erwarten konnte. Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel mit Büchern westlicher Autoren über das Weltmachtthema. Er nahm sie nacheinander in die Hand, zeigte mir die Titelseiten und gab einen kurzen Kommentar. Dann schob er mir eine Liste von Aufsätzen zu, die in chinesischen Forschungsinstituten zum Thema Weltmacht entstanden waren, einige davon in englischer Sprache. Einige Einträge hatte er unterstrichen. Einer davon: Westliches Weltmachtdenken und Weltmachthandeln bis zur Mitte des 21. Jahrhunderts. Die Lehren für China. 299 Seit mehr als vierzig Jahren, begann er dann, arbeiteten chinesische Historiker und Politologen an Forschungsaufträgen zum Thema Weltmacht. Die allerersten Ergebnisse seien ziemlich konservativ gewesen, im Grunde Variationen zum westlichen Weltmachtdenken. Im Westen sei es immer mehr oder weniger selbstverständlich gewesen, dass Weltmachtstatus etwas Erstrebenswertes sei. Chinesische Historiker seien aber zu einem anderen Ergebnis gekommen. Die Rolle der Weltmacht verspreche erst einmal viele Vorteile, aber auf sehr lange Sicht gesehen sei sie fast allen Ländern irgendwann zu Kopf gestiegen, habe sie also keinem Land wirklich gutgetan. Außerdem sei die Weltmachrolle unsicherer geworden, als sie es in früheren Zeiten gewesen sei. Nicht einmal China könne wissen, wie lange es diese Rolle würde spielen können. Sicher seien sich die chinesischen Forscher inzwischen auch, fuhr er fort, dass es Menschen auf Dauer nicht glücklicher mache, Bürger einer Weltmacht zu sein. Weltmachtstreben sei immer von Politikern ausgegangen, nicht von den Bürgern. Weltweit am zufriedensten seien die Menschen in erfolgreichen kleineren Staaten, in Europa seien das Staaten wie Norwegen, Dänemark, Österreich, Finnland, die Schweiz oder Luxemburg, das habe ja auch westliche Forschung seit Jahrzenten immer wieder bestätigt. - Aber China, unterbrach ich ihn, kann sich der Weltmachtrolle doch gar nicht entziehen. Es kann sich nicht in einen kleinen Staat verwandeln, um seine Bürger glücklicher zu machen. Das könne China natürlich nicht, antwortete er, aber es habe sich immerhin schon selbst davor bewahrt, die Sowjetunion des 21. Jahrhunderts zu werden, und nun müsse es vermeiden, dass es ihm irgendwann so gehe wie Russland und später Amerika nach dem Verlust ihrer Weltmachrollen. China müsse daher versuchen, Weltmacht zu sein, ohne die Weltmachtrolle zu spielen. Dass imperiales Denken veraltetes Denken sei, das wisse man doch in Deutschland am besten. - Also seht ihr Chinas Größe als eine Last?, fragte ich. 300 Natürlich nicht nur, antwortete er, die Macht des eigenen Landes sei irgendwie schon beruhigend, aber die gegenseitige Verletzlichkeit von Staaten sei inzwischen doch so groß, das wisse ich sicher auch, dass ein Staat sich nur dann vollends in Sicherheit wiegen könne, wenn er keine ernst zu nehmenden Feinde habe. Tian warf mir dabei einige scheue Blicke zu, als fürchte er, mich, einen alten Europäer im achten Lebensjahrzehnt, mit solchen Gedanken zu überfordern. Ganz falsch war das nicht. Ich hatte mich auf lange anregende Gespräche mit ihm gefreut, aber dass ich Tian hier fast atemlos zuhören würde, wie er sich, bescheiden wie früher zwar, aber doch mit der unerschütterlichen Gewissheit, westlichem Denken in manchem weit voraus zu sein, über die Weltmachtfragen der Zukunft dozierte, hatte ich mir nicht träumen lassen. - Aber wer weiß denn, fragte ich ihn dann noch, ob die chinesische Führung nicht doch mehr Macht will und womöglich auch Staatsgebiete hinzugewinnen will? Muss sich die Welt darüber wirklich keine Sorgen machen? - Lass und darüber später reden, sagte er in einem Tonfall, als wolle er mich schonen. Wir verbrachten noch drei lange Abende miteinander, und nach jedem Mal sagte ich Hilke, ich fühlte mich wie nach einer Gehirnwäsche. Am längsten hielt Tian sich mit meiner Frage auf, ob China nicht noch größer und mächtiger werden wolle. Auch dazu, erklärte er, hätten seines und andere Forschungsinstitute die Empfehlungen der Historiker bestätigt. Das Ergebnis sei: Wenn China größer würde, dann würde es schwächer werden. Das stärkste China wäre eines, das kleiner ist als das heutige. Wie das angehen könne, fragte ich. Eigentlich, sagte er, genüge für diese Einsicht der gesunde Menschenverstand, aber nun sei es auch durch historische Forschung belegt. Nichts sei - auf sehr lange Sicht zumindest - für die Stärke eines Landes so wichtig wie sein spontaner innerer Zusammenhalt. Dieser Zusammenhalt stärke die Treue der Bürger zu ihrem Staat, er stärke deren Solidarität und er stärke, was ja noch wichtiger sei, deren Zufriedenheit und Glück, und das Glück der Bürger sei doch das höchste aller politischen Ziele. 301 Dem würde kaum jemand widersprechen, sagte ich, aber welche konkreten Auswirkungen das denn auf die Politik habe. Auf Dauer, sagte Tian, solle möglichst niemand, der es nicht wolle, ein Teil von China sein, keine Gemeinschaft, keine Region, kein Volk. Wenn Tibeter, Uiguren und andere Minderheiten nicht Bürger von China sein wollten, dann sollten sie es zumindest auf lange Sicht nicht bleiben. Dann wäre eine Trennung für beide Seiten von Vorteil. Das habe man in China früher ganz anders gesehen, aber das sei ein Fehler gewesen. Ich horchte auf. Bedeutete das, dass China sich allen eventuellen separatistischen Ansinnen auf seinem Staatsgebiet würde beugen wollen? Würde China der Welt genau das Beispiel geben wollen, für das Yang und Puig schon so viele Jahre vergeblich geworben und gestritten hatten? Ich starrte ihn ungläubig an. - China wird also das volle Selbstbestimmungsrecht über die Staatszugehörigkeit einführen? Das würde die Welt auf den Kopf stellen. Oder besser gesagt… - Ja, sagte Tian, besser gesagt: vom Kopf auf die Füße. Dabei lächelte er selbstbewusst, mit unverkennbarem Stolz. Dann erklärte er, dass man in dieser Sache zwar von einem Recht auf Selbstbestimmung sprechen könne, dass es im Grunde aber um eine neue Dimension von Freiheit gehe, die in Recht umgesetzt werden müsse. Diese Freiheit nenne man inzwischen auch in China politische Assoziationsfreiheit. - Kennst du Robert Yang?, unterbrach ich ihn. - Robert Yang, den Kanadier?, sagte er. Natürlich weiß ich von ihm. Wir beobachten ihn China schon sehr lange. Ein sehr interessanter Mann. Wir halten viel von seinen Ideen. - Wer ist wir?, wollte ich wissen. 302 - Unsere Institute. Unsere Wissenschaftler. - Aber eure Politiker denken natürlich noch ganz anders. - Sagen wir es so: Noch handeln sie anders. Aber immer mehr von ihnen, die meisten sogar, wissen, dass China sich in den nächsten fünfzig Jahren noch einmal von Grund auf wandeln muss. Sie wissen aber noch nicht, wie. Daran forschen unsere Institute. In den nächsten Tagen breitete Tian dann ein Zukunftsszenario aus, wie ich es am allerwenigsten von einem Chinesen erwartet hatte. Langfristig werde China sich wohl gesundschrumpfen, um die Zufriedenheit seiner Bürger zu optimieren, aber dies könne hundert Jahre oder länger dauern. Ein mögliches Übergangsszenario sei, dass sich an Chinas Rändern kleine teilselbstständige Staatsgebilde abspalteten, die nur durch eine gemeinsame Armee und vielleicht eine gemeinsame Währung mit dem Kernland verbunden blieben. So könne ein loser Staatenverbund entstehen, der anpassungsfähiger wäre als ein zentralistisches Großchina und dessen Mitglieder voneinander lernen könnten. - Würde China dann nicht ein bisschen wie die Europäische Union werden?, fragte ich vorsichtig. Tian schüttelte heftig den Kopf. - Glaubt ihr in Europa denn noch immer, dass ihr für China das Vorbild seid? Vorbild sei Europa für viele gebildete Chinesen eine Zeitlang wohl gewesen, fuhr er fort, auch noch in der Zeit, als er Praktikant im SPIEGEL-Archiv war, aber die Welt sei ja inzwischen eine ganz andere. Inzwischen stünden Europa und Amerika doch fast am Rand des Weltgeschehens. Inzwischen sei China doch das Land, das für Wissenschaftler und Studenten aus aller Welt das attraktivste sei, Europa dagegen halte an einer - ich möge den Begriff verzeihen - beinahe musealen Hochkultur fest, so sehe man es nicht mehr nur in China. Zumindest hätten Chinas beste Universitäten, die zum Teil auch in englischer Sprache lehrten und forschten, denen Europas und der USA den Rang abgelaufen, das wisse ich doch auch. 303 So weit war es noch ein fast normales Gespräch gewesen, aber was dann kam, war eher ein Vortrag, oder auch das nicht, eher war es eine behutsame Heranführung an Gedanken, von denen Tian wohl annahm, dass ich ihnen nur langsam würde folgen können. Wenn er sage, Europa sei etwas museal geworden, dann möge ich nicht denken, dass er nicht auch das Museale an China sehe, aber China werde sich daraus zügiger befreien. Es werde dabei das westliche Modell schon deswegen nicht kopieren, weil es nicht zur chinesischen Kultur passe. Außerdem habe das westliche Modell, so sähen er und seine Kollegen es, auch in Europa seinen Zenit schon lange hinter sich. Seine und die Aufgabe seiner Kollegen sei es, Politik in großen historischen Zusammenhängen zu sehen, so wolle es auch die Partei. Die Partei habe in China zwei historische Phasen hinter sich. Die erste, die maoistische, sei die Zeit des großen ehrgeizigen Experiments gewesen, das gescheitert sei. Nun neige sich auch die zweite Phase ihrem Ende zu, in der die Partei dem Volk als guter Manager des Staates Wohlstand und Stabilität gebracht habe. In der nun folgenden Phase müssten Wohlstand und Stabilität selbstverständlich gewahrt werden, aber das allein werde den Bürgern nicht mehr lange genügen. Als technokratische Organisation, wie sie es in den vergangenen siebzig oder mehr Jahren gewesen sei, werde die Partei nicht überleben können. Chinas politische Zukunft werde mit Sinnstiftung, Selbstbestimmung, Bürgerbeteiligung und noch mehr Professionalität zu gestalten sein. Er hielt kurz inne. - Mit mehr Professionalität als in eurer Demokratie, sagte er. Und dann, etwas verlegen: - Als in eurer Laiendemokratie. Das alles, fuhr er fort, sei aber mit dem bestehenden politischen System Chinas nicht zu realisieren. Dieses System müsse sich daher, wie gesagt, früher oder später 304 gründlich wandeln. Die große Frage sei, ob die Partei es schaffe, diesen Wandel selbst zu gestalten, oder ob sie ihm irgendwann zum Opfer falle. - Ein grundlegend erneuertes China unter einer Einparteienherrschaft, unterbrach ich ihn, das wäre doch ein Widerspruch in sich. - Wirklich?, fragte er. Wenn die Partei den Wandel selbst gestalte, dann seien die Gefahren für Wohlstand und Stabilität am geringsten. Im Übrigen werde die Partei, dessen sei er ganz sicher, bei der nächsten Erneuerung des Landes kaum Tabus kennen. Ich sah ihn etwas ratlos an. Erst als ich dann aufmunternd mit dem Kopf nickte, fuhr er fort: Erst einmal müsse China für den Systemwandel die richtige Sprache finden. Es solle ja möglichst niemand ausgegrenzt werden, möglichst alle Parteimitglieder sollten mitgenommen werden, auch die in letzter Zeit wieder stärker gewordenen NeoMaoisten. Sein Institut habe daher vorgeschlagen, Maos Begriff der permanenten Revolution aufzugreifen, ihm aber einen gänzlich neuen Sinn zu geben. - Welcher Sinn soll das sein?, fragte ich ungläubig. - Eine permanente Erneuerung der politischen Ordnung, sagte er. Eine solche permanente Erneuerung zu garantieren, dass könne einmal zur Hauptaufgabe der Partei werden. Und der Volkskongress könne sich irgendwann zu einem Verfassungskongress transformieren, der über die Vorschläge der Partei zur politischen Ordnung entscheidet. - Dann könnte es aber sein, dass die Partei damit ihre eigene Entmachtung einleitet. Vielleicht, antwortete er, würde die Partei Macht verlieren, aber als Garant des permanenten friedlichen Systemwandels bliebe sie vorerst unentbehrlich. Das sähe ich als Europäer vielleicht anders, aber den meisten Chinesen brauche man das nicht zu erklären. 305 Mit diesem etwas verstörenden Satz ließ er das Gespräch für diesen Abend enden. Ich ging mit einem unguten Gefühl zurück ins Hotel. In welcher Gedankenwelt lebte Tian? Woher nahmen er und seine die Kollegen ihre Anregungen? Tians Gedanken schienen einiges mit der Gedankenwelt Hausers gemeinsam zu haben. Aber gab es wirklich Dinge, die Europäer schwerer verstanden als Chinesen? War ich für Tian ein alter europäischer Archivar im Ruhestand, der chinesischen Vordenkern nicht mehr folgen kann? Schon in Tagen davor war mir nicht danach zumute gewesen, zusammen mit Hilke die kleinen touristischen Unternehmungen zu machen, die wir uns in Peking vorgenommen hatten. Nun erst recht nicht. Noch immer hatte ich von Peking außer dem Hotel wenig gesehen, und ich ahnte schon, dass es dabei bleiben könnte. Ich hatte mir viele Notizen über die Gespräche mit Tian gemacht und hatte im Internet über die Partei, über die zurückliegenden Volkskongresse und über Chinas sozialwissenschaftliche Institute recherchiert. Ich hatte auch ein paar erste Mails an Constanze geschickt, die Tians Gedanken noch am ehesten, hoffte ich, würde folgen wollen, aber noch hatte ich von ihr keine Antwort. Am nächsten Tag breitete Tian sein Zukunftsszenario für Chinas Staatspartei weiter aus. Wenn die Partei ihre führende Stellung behalten wolle, erklärte er, müsse sie, wie schon gesagt, unter anderem immer professioneller werden. Das werde ihr nur gelingen, wenn sie den Anspruch aufgebe, die Politik als ganze zu beherrschen. Sie werde sich daher vermutlich in einen Verbund eng spezialisierter eigenständiger Politorganisationen aufspalten müssen. Es werde z.B. eine Organisation geben, die sich auf regionale Verwaltung spezialisiert. Andere Organisationen würden sich auf einzelne Felder zentralstaatlicher Politik konzentrieren, z.B. Wirtschaftspolitik, Sozialpolitik, Verteidigungspolitik und Verfassungspolitik. Eine Partei, sagte er, und eine Parteiführung, die sich die Zuständigkeit für die Politik als ganze anmaßten, werde es im 22. Jahrhundert in China nicht mehr geben. Das war aufregend genug, aber in den Tagen danach wurde es noch aufregender. Wenn die Partei sich auf diese Weise reformiert habe, erklärte Tian, dann werde der 306 Staat nach dem demselben Prinzip reformiert werden. Auch eine Staatsführung, die für die Politik als ganze zuständig sei, werde es dann irgendwann nicht mehr geben. Das werde die langsame permanente Revolution mit sich bringen, deren Garant die Partei später einmal werden solle. Schon da hatte ich ein Gefühl, als verweigerte sich mein politisches Vorstellungsvermögen. Aber am nächsten Tag legte Tian noch einmal nach. Aufspaltung von Partei und Staat und Einrichtung eines dauerhaften Verfassungskongresses, das seien natürlich auch für die Partei höchst gewöhnungsbedürftige Ideen. Selbst wenn sie auf Verständnis stießen, würden sie doch als ein Experiment wahrgenommen, und die Bereitschaft zu gesellschaftlichen Experimenten sei nach den Erfahrungen des 20. Jahrhunderts auch in China noch immer begrenzt. Die Frage, ob man ein solches Experiment mit einem Volk von fast 1,3 Milliarden Menschen anstellen solle, sei daher allzu berechtigt. Daher überlege man in China, ein solches Experiment zuerst in einem kleineren Staat durchführen zu lassen. - Aha, sagte ich. Also doch imperiales Denken. China soll ein kleines Land unter seine Kontrolle bringen, um es für gesellschaftliche Experimente zu missbrauchen. Ich erschrak selbst über meinen aggressiven Tonfall, aber bevor ich mich dafür entschuldigen konnte, nickte Tian schon verständnisvoll mit dem Kopf. Er verstehe meine Reaktion ja, sagte er, aber imperial sei der Gedanke ganz und gar nicht. China wolle auf keinen Fall ein anderes Land zu politischen Experimenten zwingen, wie vielversprechend diese auch seien. China könnte aber irgendwann mit anderen Ländern darüber verhandeln, unter welchen Bedingungen sie zu solchen zukunftsweisenden Experimenten bereit seien. China könne beispielsweise den Bürgern eines Landes anbieten, sie für ein solches Experiment finanziell angemessen zu belohnen. Das sei im Westen ja schon als so genannte Bürgergeldhilfe diskutiert worden, einem Zusatzeinkommen also, das jedem Bürger in gleicher Höhe ausgezahlt werde. Bei einem kleinen Land mit bis zu dreißig Millionen Einwohnern 307 könnte China allen Bürgern eine Prämie zahlen, die ihren Wohlstand über Jahre hinweg beträchtlich steigert. Wahrscheinlich, sagte er zum Schluss, werde die Entwicklung diesen Weg gehen müssen. Seine Größe mache China eben doch unbeweglich. Wir, sagte er, wir oder unsere Nachkommen, werden irgendwann andere dafür bezahlen, im Kleinen für uns auszuprobieren, was wir im Großen nicht zustande bringen. Noch in der Nacht schickte ich Constanze eine lange aufgeregte und etwas konfuse Mail, in der ich sie auf den letzten Stand brachte. Schon am nächsten Morgen hatte ich die Antwort. Sie hatte fast alles, so konfus es geschrieben war, auf Anhieb verstanden, und sie war nicht schockiert, sie war nicht befremdet, sie war nicht überrascht, wie ich es am ehesten erwartet hatte. Sie war begeistert. Ob auch ich dabei an Hauser dächte, fragte sie, und dann, in dem sarkastischen Humor, den sie sich im hohen Alter zugelegt hatte: - Wenn das die Deutschen wüssten! Stell dir die Kommentare vor, die Überschriften im SPIEGEL und anderswo: China auf Abwegen, China demontiert sich selbst, ein Volk als Versuchstier, Staatspartei verweigert echte Demokratisierung und so weiter. Denk mal über politisches Asyl in China nach! Bei unserem letzten Treffen fragte ich Tian, ob er wirklich meine, dass seine Gedanken sich in der Partei irgendwann durchsetzen würden. - Was wäre die Alternative?, fragte er. Dann gab er sich selbst die Antwort: Eine Demokratie nach westlichem Muster ganz sicher nicht. Die Alternative wäre ein Rückfall in die Autokratie. Ob das denn ganz auszuschließen sei, fragte ich. Er zögerte einen Moment. - Das hoffe ich doch. Am Morgen vor dem Abflug war ich in Hochstimmung. Wenn ich diese Reise nicht gemacht hätte, sagte ich zu Hilke, dann hätte ich etwas sehr Wichtiges verpasst. Aber 308 schon beim Abflug war die Hochstimmung vorbei, und während des Fluges erschienen mir all die Gedanken, die Tian ausgebreitet hatte, immer unwirklicher. Zurück in Deutschland, fühlte es sich wieder ganz anders an. Nun erschien mir alles, was hier politisch gedacht und diskutiert wurde, mindestens ebenso unwirklich, und es kam mir sinnlos vor, Tians Gedanken in Deutschland diskutieren zu wollen. Ich hatte erlebt, wie in China neue politische Ideen brodelten, und nun war ich zurückversetzt in eine Welt politischer Ideen- und Ereignisarmut. All der immer gleiche vorgeschobene Parteienstreit, die immer gleiche Rhetorik der Kommentatoren und Talkshows und sogar die Einwürfe kritischer Parteien wie der MSU, der IG SENIOREN und gelegentlich der Deutschen Demokraten waren mir gleichgültiger denn je. Was und wo war hier das Neue? Politik war hier das gewohnte vorhersehbare Spektakel, das gelegentlich neue Gesichter, aber keine wirklich neuen Gedanken hervorbrachte. Und nicht einmal die jungen neuen Gesichter waren wirklich neu. Die dem Anschein nach Jungen waren Wiedergänger von Mesäcker und Seinesgleichen, oder es waren neue Gesichter mit alten Namen, dritte Generation Guttenberg, vierte Generation Bush, vierte Generation Le Pen und andere, die als neue Hoffnungsträger gehandelt wurden. Das politische Kalkül dahinter: Da neue Gesichter keine neuen Ideen bringen, sollen sie wenigstens an Vertrautes erinnern. Verständlich ist das. In dieser Zeit nahm der schleichende Dritte Weltkrieg wieder einmal einen neuen Anlauf, als zweiter Kurdenkrieg im Nahen Osten und mit neuen Sezessionskriegen in Asien, ohne dass dies die politische Öffentlichkeit im Westen noch erregte. Und China war, obwohl unangefochtene Weltmacht, sehr weit weg, und Leute wie Tian erst recht. Wäre ich nicht schon seit Jahrzehnten Nichtwähler gewesen, wäre ich es allerspätestens in dieser Zeit geworden. Einige Wochen nach meiner Rückkehr fragte ich unsere Zwillinge, ob sie denn glaubten, dass die Menschen in China für so radikale Reformen, wie Tian sie skizziert hatte, bereit sein können. Damals, zur Zeit ihrer Praktika in China, ganz sicher nicht, meinte der eine. Der andere: Wenn die Partei es vorgebe, dann 309 vielleicht. Auch das machte mich natürlich nicht klüger. Dann fragte ich sie, wie weit die Chinesen damals, Mitte der fünfziger Jahre, im politischen Bewusstsein hinter dem Westen zurück gewesen sein. Die Chinesen dächten anders, sagten beide, aber einen Rückstand würden sie das nicht nennen. Schließlich fragte ich, ob sie meinten, dass die Chinesen überhaupt etwas vom Westen zu lernen hätten, von westlichem Bewusstsein. - Humor, sagte der eine. - Ironie, sagte der andere. Immerhin, dachte ich. Wenigstens das. In den folgenden Wochen und Monaten hätte ich mir nichts so dringend gewünscht wie Nachrichten, die auf politische Erneuerungen in der westlichen Welt hoffen ließen. Dann las ich, dass Robert Yangs katalanischer Förderer und Freund Xavi Puig im Alter von 79 Jahren gestorben war. Nicht nur ich war um eine Hoffnung ärmer. Noch einmal Euphorie Viele von Yangs Mitstreitern warfen ihm Ende der sechziger Jahre vor, schuld an der Krise der Bewegung zu sein. Zu viele hatten sich daran gewöhnt, dass amerikanische und europäische Superreiche die Kassen von World Upgrade füllten und Geld daher keine Rolle zu spielen schien. Auch Yang hatte sich davon blenden lassen und immer kühnere Pläne geschmiedet. Aber die Krise zwang ihn und seine Bewegung dann zur Konzentration auf das Wesentliche. Das machte es mir zumindest leichter, dieses Wesentliche zu erfassen. Je mehr ich über Yang wusste, desto mehr Gemeinsamkeiten entdeckte ich zwischen ihm und Hauser. Ähnlich wie Hauser war Yang überzeugt, dass in der Politik ein globaler Neuanfang vonnöten war. Und wie Hauser fragte er sich: Wie würde man die Welt gestalten, wenn man noch einmal ganz von vorn anfangen könnte, mit allem inzwischen gesammelten Wissen und Können? Wie wäre es, wenn wir uns von allen 310 Vorurteilen, allen Ideologien und allen erstarrten Denkmustern befreien könnten, die wir als Altlasten mit uns herumtragen? Und was wäre, wenn wir auch von allen persönlichen Interessen absähen, die sich aus unserer Lebenslage gerade ergeben? Wenn wir also u.a. über Staatsgrenzen, Staatszugehörigkeiten, Klimapolitik, Ressourcenpolitik, Bevölkerungspolitik, EU, Monarchie, NATO, Wirtschaftsordnung, Sozialstaat und das politische System ganz und gar neutral und unbelastet nachdächten? Würden wir es dann wieder so einrichten, wie es ist? Yangs Antwort darauf war ein hundertfaches Nein. Die Welt, wie sie ist, so formulierte er es, sei politisch kaum noch manövrierfähig. Umso unabweisbarer wurde aber der Gedanke, dass irgendwann tatsächlich ganz von vorn angefangen werden müsste. Aber so unabweisbar dieser Gedanke war, so realitätsfern erschien er natürlich. Wie sollte man eine Nation oder gar die Welt dazu bringen, in der Politik alles Gewachsene in Frage zu stellen? Aber Geld macht Mut, Geld verleiht der Phantasie Flügel, Geld kann große Ideen Wirklichkeit werden lassen, und auch bei Yang war eine große Idee gereift. Es war eine ganz ähnliche Idee, wie Tian sie mir in Peking erläutert hatte. Ganz von vorne anfangen, meinte Yang, das sei in einem kleinen Staat einfacher als in einem großen. Kein großer Staat sei dafür manövrierfähig genug, und dafür nannte er zahlreiche Beispiele. Deutschland war einer von ihnen. Nur ein kleiner Staat könne der Welt daher mit großen Reformen ein Beispiel geben. Am ehesten ein hoch zivilisierter kleiner Staat, in dem eine akute Krise den Reformwillen der Bürger gestärkt habe. Zwar würden auch Bürger solcher Staaten nicht Versuchskaninchen für allzu kühne Reformideen sein wollen, aber solche Ängste, glaubte Yang, ließen sich mit Aufklärungsarbeit und finanziellem Beistand ausräumen. Die von seinen Milliardären zugesagten Gelder würden ausreichen, überschlug er, um einen Staat mir mehreren Millionen Staatsbürgern für ein beispielgebendes Reformprojekt zu gewinnen. Im katalanischen Monarchiereferendum sah er ein sehr ermutigendes Beispiel, nun müsse ein größerer Wurf gelingen. 311 Aber wo waren die kleinen Krisenstaaten, die sich mit einer beispielhaften Systemreform aus der Krise würden befreien wollen? Yang fand sie nicht. Er hatte auf kleine europäische Staaten gehofft, aber genau diese Staaten schienen in dieser Zeit die krisenfestesten zu sein. Welche Hoffnung blieb also? Für Yang war es die Hoffnung auf neu zu gründende Staaten, auf Staaten also, die ihre Unabhängigkeit separatistisch erkämpften hätten, die sich von verkrusten Staaten abgespalten hätten und nun für sich selbst eine bessere Ordnung finden wollten. Yang überlegte sogar auch das eine Parallele zu Tians Gedanken -, den Bürgern solcher neu zu gründenden Staaten übergangsweise eine so genannte Bürgergeldhilfe anzubieten. Dies sollte der Lohn dafür sein, dass sie der Welt in Sachen Staatsordnung ein Beispiel geben. Es war Yang immer leichtgefallen, Menschen für sich zu gewinnen, und auch, sie sich gewogen zu halten. Aber mit seiner Idee eines Modellstaats, der so viel scheinbar Bewährtes hinter sich ließe, war er für viele zu weit gegangen. Die meisten der Milliardäre, die ihn seit den fünfziger Jahren unterstützten, hatten inzwischen an geistiger Frische eingebüßt. Ob er denn wirklich, musste Yang sich fragen lassen, separatistische Revolutionäre als Vorreiter von Reformen im Sinn habe. Und wo auf der Welt Staatsgründer und Staatsbürger sich denn mit Übergangshilfen, wie Yang sie erwog, zu wegweisenden Reformen würden ermutigen lassen. Auch Yang hatte darauf noch keine schlüssige Antwort. Der Facebook-Gründer Zuckerberg war in dieser Zeit 89 Jahre alt geworden. Bei Zuckerberg, das wusste Yang, war in den zurückliegenden Jahren die Altersschwäche weit fortgeschritten. Zwanzig Jahre lang hatte er sich ganz und gar seinem privaten Bildungszentrum und der angegliederten kleinen Forschungsuniversität gewidmet, aber nun wollte er sich auch daraus zurückziehen, verbittert auch über den Niedergang von Facebook, das den Anschluss an die Kommunikationsformen der jungen Generation verpasst hatte. Als Yang Zuckerbergs Stimme am Telefon hörte, ahnte er, dass es nichts Gutes bedeutete. Er habe bisher nie gezweifelt, so begann Zuckerberg, dass Yangs Projekte die hundert Millionen Dollar, die er ihm überlassen habe, verdienten. Die Welt leide 312 unter schlechter Politik, so sehe er es noch immer, und im Kampf gegen dieses Leiden seien selbst Milliarden gut investiert. Aber für Ziele, wie Yang sie in letzter Zeit verfolge, wolle er sein Geld nicht eingesetzt sehen. Er habe gemeint, Yang stehe immer noch dem Konzept privater Staatsmanagementorganisationen nahe, das er selbst nach wie vor für das beste der Welt halte, aber da hätten sie sich wohl leider missverstanden. Zuckerberg beendete das Gespräch mit einem Monolog darüber, dass er als amerikanischer Patriot immer noch glühender Anhänger der amerikanischen Verfassung sei und sich immer noch den Gründungsvätern der amerikanischen Nation verpflichtet fühle. Was nun offenbar in Yangs Kopf vorgehe, sei damit offenbar nicht vereinbar. Unvorhersehbar war dies nicht gewesen. Nicht wenige von Yangs superreichen Spendern hatten ihre Sympathien für das Konzept der SMOs bekundet, und keinem hatte er darin widersprochen, auch Zuckerberg nicht. Yang wusste auch, warum die SMOs den Superreichen so attraktiv erschienen. Als Betreiber von Staatsmanagementorganisationen kämen nur ausnahmsweise Staaten oder Unternehmen in Frage. Naheliegender war, dass einige der weltweit größten gemeinnützigen Stiftungen Staatsmanagementorganisationen gründen würden. Manchen Stiftungen superreicher Milliardäre war dies durchaus zuzutrauen. Und was wäre für einen ruhelosen Multimilliardär im Ruhestand verlockender, als nach einer großen Unternehmerkarriere an etwas noch Größerem beteiligt zu sein? Als Mitgründer und Mitbetreiber einer globalen Staatsmanagementorganisation würde er womöglich sogar in die Geschichte eingehen können. Auch Yang glaubte daran, dass Staatsmanagementorganisationen das Elend mancher gescheiterter Staaten würden lindern können, aber mehr als eine kurzfristige Übergangslösung sah er in ihnen nicht. Nach dem Gespräch mit Zuckerberg ging alles ganz schnell. Die Superreichen und ihre Entouragen waren enger vernetzt, als Yang es sich ausgemalt hatte. So alt und so gebrechlich Zuckerberg war, so intakt war noch immer das Netzwerk, über das er auf die Stimmungen anderer Milliardäre einwirken konnte. Der einstige Hoffnungsträger 313 Yang versteige sich nun in utopische Reformideen, so machte es in Milliardärkreisen schnell die Runde. Bald darauf brach über Yang eine Welle von Kündigungen gegebener Geldzusagen und von Rückforderungen gezahlter Gelder herein. Aus einer politischen Bewegung, bei der an Geldmangel nichts scheitern konnte, wäre in kurzer Zeit fast eine Bewegung wie viele andere geworden. Noch einmal ganz von vorn anzufangen, danach war Yang nach so vielen Jahren aufreibenden globalen Aktionismus nicht zumute. Yang, China und die Neokraten Seit meinem Ausscheiden aus dem Archiv hatte ich mich immer wieder gefragt, ob die Zivilisierung des politischen Bewusstseins wirklich vorankommt. Ich schwankte dabei zwischen Hoffen und Bangen, aber das Bangen überwog bei Weitem. Der schleichende Dritte Weltkrieg, die Bevölkerungsentwicklung, die Wohlstandsverteilung, die politische Selbstbestimmung, der Klimawandel, die Verknappung natürlicher Ressourcen, die Flüchtlingsströme – bei keinem solcher Probleme kam die Lösung näher. Politiker dieser Welt rangen um Zukunftsfragen nach veralteten Regeln, und nicht einmal diese Regeln hielten sie halbwegs verlässlich ein. Ihre Regeltreue hing ab von parlamentarischen Mehrheitsverhältnissen und nationalen Interessenlagen. Aber dann gab es diese fast untrüglichen Zeichen der Hoffnung. Dass es einen Robert Yang gab, dass seine Bewegung weltweit hunderttausende Mitglieder und Millionen Sympathisanten hatte und dass es noch immer ein paar Superreiche gab, die sie unterstützen wollten, war das nicht schon Beweis genug, dass die Welt politisch im Aufbruch war? Dass sie den Problemen unseres Jahrhunderts nicht mehr lange mit den Methoden früherer Jahrhunderte zu Leibe rücken würde? War also die politische Gleichgültigkeit der Mehrheit nur die Ruhe vor einem Sturm der Erneuerung? Standen wir genau jetzt, wo selbst in China so neues politisches Denken aufkeimte, am Beginn einer neuen Ära der Aufklärung? Ja, diese Hoffnung gab es. 314 Und dann waren da noch diese Neokraten. Warum ich sie so viele Jahre lang nicht beachtet hatte, ist mir noch immer nicht ganz klar, aber sie hatten um Beachtung auch nicht wirklich gekämpft. Sie hatten keine politische Partei sein wollen, sie hatten fast nie aktiv für sich geworben, sie hatten keine charismatische Führungsfigur, in den Medien spielten sie nie eine Rolle, und bis 2069 stellten sie sich keiner Wahl. Auch als ich von Hausers Kontakt zu den Neokraten erfuhr, machte mich selbst das noch nicht viel neugieriger. Unter den Neokraten stellte ich mir eher blasse Theoretisierer vor, die politische Gedankenexperimente fern von der politischen Praxis anstellten. Keine Partei sein zu sollen, das scheint bei den Neokraten lange ein Dogma gewesen zu sein. Aber 2069 traten sie dann doch zur Bundestagswahl an, auf ihre besondere Weise, ohne Wahlwerbung und ohne führenden Köpfe, die sich öffentlichkeitswirksam präsentierten. Nur in einem einzigen Wahlkreis, in Freiburg, stellten sie einen Kandidaten auf. Sein Wahlslogan war: Die Anderen können alles, ich kann nur Eines. Max Kruse für Umweltpolitik. Das war natürlich kein Slogan für jedermann, die Wenigsten verstanden ihn, aber für die Neokraten ging es dabei um eines der Grundübel der Demokratie: dass Parlamentarier über alles und jedes mitentscheiden dürfen, auch wenn sie nichts davon verstehen. Die Neokraten wollten daher das Stimmrecht jedes Abgeordneten auf das beschränkt sehen, worin er wirklich kompetent ist. Ein Gedanke, dem man sich vernünftigerweise nicht verschließen kann. Jede andere Regelung, argumentierten sie, liefere das Land dem politischen Dilettantismus aus. Max Kruse sollte der Vorreiter sein. Im Fall seiner Wahl sollte er nur an Abstimmungen teilnehmen, bei denen es um sein Spezialgebiet geht, die Umweltpolitik. Kruse gewann in seinem Wahlkreis immerhin 6% der Wählerstimmen. Nicht viel, und doch deutlich mehr, als die Neokraten erwartet hatten. Nach langen internen Auseinandersetzungen entschieden die Neokraten sich danach, versuchsweise an weiteren Wahlen teilzunehmen, möglicherweise auch bundesweit. 315 Sie machten sich bereit für die Bundestagswahl 2073. In dieser Zeit studierte ich zum ersten Mal ihre politischen Zukunftsszenarien. Yang hatte eine virtuelle Weltklimaregierung erdacht, die einer späteren realen Weltklimaregierung Ideen auf den Weg geben sollte. Schon lange vorher war ihm aber klar gewesen, dass die Staaten dieser Welt nie eine solche Weltklimaregierung schaffen würden, solange sich ihre politischen Systeme nicht änderten. Um das Weltklimaproblem lösbar zu machen, müssten daher erst einmal die politischen Systeme der Einzelstaaten reformiert werden. Wie aber könnte es dazu kommen? Die Staaten selbst würden dies nicht wollen und aus eigener Kraft nicht können. Jemand müsste es ihnen erst einmal vorführen, zumindest in der Theorie. Anfang 2069 stellte Yang daher sein Konzept eines virtuellen Weltverfassungsrats vor. Wie die virtuelle Weltklimaregierung Entscheidungen einer realen Weltklimaregierung simulieren sollte, so sollte der virtuelle Weltverfassungsrat Entscheidungen eines späteren realen Weltverfassungsrates simulieren. Eine dieser Entscheidungen: die Schaffung einer Weltklimaregierung. Im Nachhinein fragt man sich, warum Yang und die Neokraten nicht schon in den fünfziger Jahren zusammengefunden hatten. Die Neokraten hatten sich immer schon für eine radikal erneuerte Demokratie eingesetzt. Sie hatten dabei das Konzept eines permanenten, eines "ewigen" Verfassungsrats entwickelt, der für die ständige Weiterentwicklung der Staatsordnung zuständig sein sollte. Sie hatten sogar schon einen virtuellen Verfassungsrat eingerichtet, der die Arbeit eines späteren realen Verfassungsrats simulieren sollte. Das waren ganz ähnliche Reformideen, wie Yang sie für die globale Staatengemeinschaft hatte. Und unübersehbar war auch: Die Rolle des neokratischen Verfassungsrats würde eine ganz ähnliche sein, wie Tian sie für einen künftigen chinesischen Volkskongress im Sinn hatte. Der virtuelle Verfassungsrat der Neokraten war schon weit vorangekommen. Er hatte schon einen vollständig ausformulierten Verfassungsentwurf für eine erneuerte 316 Demokratie vorgelegt. Damit hatten die Neokraten etwas vollbracht, wofür Yang noch einen jahrzehntelangen Entwicklungsprozess veranschlagt hatte. In ihrem Verfassungsentwurf hatten die Neokraten sich auch des zweiten großen Themas angenommen, für das Yang und seine Bewegung sich engagierten: Selbstbestimmung über die Staatszugehörigkeit. Die Neokraten hatten hierfür einen eigenen Begriff geprägt: politische Assoziationsfreiheit. So nannten sie die Entscheidungsfreiheit der Bürger über die Staatszugehörigkeit. Dabei hatten sie auch einen Gedanken entwickelt, den Hauser mir schon 50 Jahre vorher skizziert hatte: dass die Staatszugehörigkeit nicht für alle Politikbereiche dieselbe sein muss. Als Staatsbürger ist man Mitglied u.a. einer staatlichen Solidargemeinschaft, Verteidigungsgemeinschaft, Rechtsgemeinschaft, Währungsgemeinschaft und Kulturgemeinschaft, und diese Gemeinschaften können unterschiedliche Mitgliederkreise und Staatsgebiete haben. Wie Hauser es sich damals schon vorgestellt hatte: Die Schotten sollten sich in freier Entscheidung von Großbritannien loslösen können, ohne z.B. eine eigene Währung und eigene Streitkräfte einrichten zu müssen. Die Bürger Europas sollten dementsprechend ihre politische Landkarte in freier Entscheidung gestalten können, und sie sollten es für Währungsgemeinschaften, Verteidigungsgemeinschaften, Identifikationsgemeinschaften, Solidargemeinschaften und andere mit je eigenem Ergebnis tun können. Zu dieser großen neuen politischen Freiheit war das separatistische Recht auf Unabhängigkeit, für das Puig und Yang ursprünglich gestritten hatten, nur ein erster Schritt. Es lag nun natürlich nahe, den Verfassungsentwurf der Neokraten mit Yangs OnlineReferenden über politische Unabhängigkeit zusammenzubringen. Beides zusammengenommen würde eine Friedensbotschaft an alle Separatisten der Welt und alle ihre Gegner ergeben und damit an fast alle Konfliktparteien des schleichenden Dritten Weltkriegs. Die Botschaft wäre: Nach unseren Regeln und mit unserem Verfahren könntet ihre eure Konflikte gewaltfrei und zivilisiert lösen, und ihr könntet euch und euren Mitbürgern, Mitstreitern und vermeintlichen Gegner großes Leid 317 ersparen. Und wenn ihr es jetzt nicht könnt, habt ihr zumindest die Aussicht, es irgendwann in der Zukunft zu können. Also geduldet euch. Wartet ab, bis andere es euch vormachen, und schärft inzwischen euer Vorstellungsvermögen für diese Möglichkeiten. All das klang einfach, es klang plausibel, aber auch ich brauchte geraume Zeit, bis ich mir diese Gedanken wirklich zu eigen gemacht hatte. Nicht nur zwischen den Ideen der Neokraten und denen Robert Yangs gab es fundamentale Übereinstimmungen gab, noch erstaunlicher waren die Übereinstimmungen mit Tians Gedanken über die Zukunft Chinas. Wie viel also wussten Yang, die Neokraten und die Tians Chinas voneinander? Gab es zwischen ihnen womöglich schon einen Gedankenaustausch, sei es offen oder vertraulich? Oder hatte es ihn von Anfang an gegeben? Und hatte nicht Tian bei meinem Besuch in Peking einmal von politischer Assoziationsfreiheit gesprochen, dem Begriff, den die Neokraten geprägt hatten? Am einfachsten war es für mich natürlich, Tian zu fragen. Ich schickte ihm eine kurze Mail, und er schrieb postwendend zurück. Ja, antwortete er - schon dieses Ja ließ mein Herz höher schlagen -, natürlich wüssten er und seine chinesischen Fachkollegen von Robert Yang und von den deutschen Neokraten, darüber hätten wir, meine er, bei meinem Besuch ja auch gesprochen. Tian wusste also Bescheid. Aber wenn man sich sogar in China schon mit den deutschen Neokraten befasst hatte, dachte ich, musste dann nicht auch Yang von ihnen gehört haben? Musste er nicht deren Verfassungsentwurf längst kennen? Und könnte nicht sein neues Konzept für Unabhängigkeitsreferenden schon mit dem neokratischen Konzept der politischen Assoziationsfreiheit zusammengefunden haben? Und musste nicht längst der Brückenschlag zwischen Yangs Konzept einer Weltklimaregierung und eines Weltverfassungsrats und den Reformkonzepten der Neokraten vollzogen sein? Und würde alles zusammengenommen, Yangs Ideen, die Ideen der Neokraten und die Ideen der Tians in China, nicht schon genügen, um Wege aus der globalen politischen Stagnation zu weisen? 318 Zumindest die Vermutung, dass es zwischen Yang und den Neokraten eine direkte Verbindung gab, war nicht falsch. Es war Claude Halsdorf, der Milliardärflüsterer, der Yang den ersten Hinweis auf die Neokraten gegeben hatte. Ein Landsmann, ein luxemburgischer Jungmilliardär, hatte Halsdorf gefragt, wie er mit einer ZehnMillionen-Spende am ehesten helfen könnte, politische Systemreformen anzustoßen. Halsdorf hatte ihm die deutschen Neokraten empfohlen, aber die wiesen die Anfrage ab. Ihre Begründung war einleuchtend: Wenn sie dieses Geld annähmen, dann würde ihre geistige und ideologische Unabhängigkeit angezweifelt, dann würde erst recht versucht werden, sie in irgendwelche ideologischen Schubladen zu stecken. Was Deutschland anbetrifft, hatten sie damit zweifellos Recht. Halsdorf brachte seinen luxemburgischen Jungmilliardär schließlich doch mit Robert Yang zusammen, aber er verschwieg ihm nicht, dass er auch bei den Neokraten angefragt hatte. Danach begann Yang, sich näher mit den Neokraten zu befassen. Wie Constanze es sah Die Ereignisse dieser Zeit beobachtete ich, so jung ich mich trotz allem noch fühlte, doch als alter Mann. Manchmal erschrak ich über mich selbst. Worauf hatte ich mich eingelassen? War Yang nicht doch ein unverbesserlicher Utopist? Weltklimaregierung, Weltverfassungsrat, real oder virtuell - klang das nicht verdächtig nach Weltrevolution und damit nach schlimmstem zwanzigstem Jahrhundert? Und waren Yangs Mitstreiter und Sympathisanten, auch wenn es ein paar Millionen waren, doch größtenteils Sonderlinge? Und dann die Neokraten. Wer waren sie? Welche Generationen waren dort vertreten? Ein Großteil, das hatte ich herausgefunden, war nur wenig jünger als ich. Die große Mehrheit allerdings war sehr jung, aber die meisten von ihnen blieben nur kurze Zeit dabei. Ich erklärte es mir so, dass die neokratischen Reformideen den meisten noch zu kompliziert erschienen. 319 Und wie war es in China? Auch Tian war inzwischen ein ziemlich alter Mann. Wie viele Gleichgesinnte gab es? Wie viele Menschen in China teilten seine Reformideen, und wie alt waren sie? Waren die meisten ähnlich alt wie Tian? Interessierten junge Chinesen sich wirklich für große Reformideen? Auch das erschien mir sehr zweifelhaft. Könnte es dann nicht sein, dass Yang, die Neokraten und die Tians in China in Wahrheit alle nur utopisches Theater aufführten? Weckten Begriffe wie Weltverfassungsrat, Weltklimaregierung, permanenter Verfassungskongress und politische Assoziationsfreiheit nur unerfüllbare Erwartungen? Waren Leute wie Tian nur Feigenblätter des chinesischen Systems, die systemkritische Geister vorbeugend ruhigstellen sollten? Nichts von dem erschien mir vollends abwegig. Constanze hatte das neunte Lebensjahrzehnt erreicht, und wir beiden Alten hielten in diesen Jahren engeren Kontakt denn je. Je älter wir geworden waren, desto klarer wurde uns, wie sehr gemeinsame Erinnerungen uns verbanden. Wir hatten zahllose Mails über Yang, Tian und die Neokraten und über deren Ideen ausgetauscht und über die Ähnlichkeiten mit Hausers früheren Gedanken, als Constanze vorschlug, wir sollten uns bald noch einmal sehen. Ich hatte schon lange darauf gehofft. In manchem erschien mir Constanze noch immer als die Souveränere, die ein sicheres Urteil hatte, wo ich lange ergebnislos grübelte. Ob mit Yang und den Neokraten eine neue Ära der Aufklärung beginne oder ob sie doch nur Revolutionsromantiker waren, auch darauf würde Constanze die besseren Antworten haben. Wir trafen uns, nostalgisch wie wir in solchen Dingen inzwischen doch geworden waren, wieder in dem früher vertrauten kleinen Restaurant in der Nähe des Verlagsgebäudes, aus dem der SPIEGEL nach der drastischen Verkleinerung von Redaktion und Archiv demnächst ausziehen würde. Ich kam wenige Minuten zu spät. Constanze saß schon an einem Zweiertisch mit Blick aufs Wasser. Sie wollte sich erheben, aber ich merkte, wie schwer es ihr fiel, und unterbrach sie mit einer bedächtigen Handbewegung. Sie streckte mir sitzend die Hand entgegen und sah mich ihrem wachen, herausfordernden Blick an, wie sie es immer getan hatte. 320 - Ich freue mich, sagte ich nur. Freu mich, mit dir zu reden. Constanze hatte sich gründlich vorbereitet. Über Yang und seine Bewegung wusste sie mindestens so gut Bescheid wie ich, und über die Neokraten viel besser. Auf fast alle meine Fragen hatte sie schlüssige Antworten. Auf die Frage, ob Yang und die Neokraten nicht Utopisten oder Revolutionsromantiker seien, antwortete sie, vielleicht seien es ja gerade vermeintliche Utopisten oder Revolutionsromantiker, die in diesen Zeiten am dringendsten gebraucht würden. Natürlich, sagte sie dann, schreckten Begriffe wie Utopie und Revolution ab, weil deren Praxis meistens im Desaster geendet hätte. Und natürlich werde, wer vor langfristigen Fehlentwicklung warne, noch immer gern als Apokalyptiker abgetan. Aber in der Politik, das wisse ich ja, müsse zunehmend langfristiger geplant und vorgesorgt werden, und daher werde letztlich doch versucht werden müssen, was Böswillige als utopisch und revolutionär diskreditierten. - Würdest du, fragte ich, Yang und die Neokraten also doch als utopisch und revolutionär bezeichnen? - Nicht in der Öffentlichkeit, sagte sie. Ich will ihnen ja nicht schaden. Dann fragte sie mich, wie genau ich über die vermeintliche Utopie der Neokraten Bescheid wisse. - Wahrscheinlich nicht gut genug, sagte ich. Na gut, sagte sie, dann wolle sie es kurz für mich zusammenfassen. Die Neokraten befassten sich so gut wie gar nicht mit den kurzfristigen Problemen, die das Denken und Handeln von Politikern beherrschten. Politiker dächten, wie wir ja wüssten, kaum über die nächste Legislaturperiode hinaus, auf der Agenda der Neokraten dagegen seien fast nur Aufgaben, die langfristig zu planen und zu realisieren seien. Als erste Beispiele nannte sie wiederkehrende Volksabstimmungen über die Verfassung, dann einen Sozialstaat auf Basis eines nachhaltigen Bürgergeldes, ein Rentensystem ohne staatlich festgesetzte Altersgrenzen, eine Bevölkerungspolitik, 321 die für eine stabile demographische Entwicklung sorgt, eine beispielgebende Rolle beim Klimaschutz, die Überführung fossiler Energieträger und anderer knapper Rohstoffe - als Kollektiveigentum der jetzigen und künftigen Menschheit - in ein Weltnaturerbe und wiederkehrende Volksabstimmungen zur Bevölkerungs- und Einwanderungspolitik. Das klinge in manchen Ohren noch immer utopisch, sagte sie, aber in Wahrheit komme all das, wenn es denn komme, mindestens hundert Jahre zu spät. Viel wichtiger, fuhr sie fort, als die Formulierung solcher Ziele sei etwas ganz anderes. Viel wichtiger sei die Einsicht, dass diese Ziele in bestehenden politischen Systemen nicht erreichbar seien, auch nicht in der Demokratie. - So sieht es Robert Yang, sagte ich. - Aber auch die Neokraten, sagte sie. Deswegen sei, das wisse ich ja, das wichtigste Ziel der Neokraten der schrittweise Übergang von der Demokratie zu reiferen Staatsformen, die sie neokratisch nennten. Der schrittweise Übergang, das sei ganz wichtig. Es sei die vielleicht größte Stärke der Neokraten, dass sie klare Vorstellungen von einem solchen schrittweisen Übergang hätten. Ob ich denn die Demokratieskepsis der Neokraten wirklich teilte, fragte sie dann. - Im Prinzip ja, sagte ich. Das hoffe sie doch sehr, sagte sie. Was sie zuerst für die Neokraten eingenommen habe, sei deren Überzeugung, dass niemand, kein Bürger, kein Parteimitglied, kein Abgeordneter, kein Regierungs- und kein Staatschef und auch keine Partei heute mehr die Politik als ganze verstehe. Das habe ihr sofort eingeleuchtet. Dass man als Bürger eine Partei wählen könne, die in allen Fragen der Politik kompetent sei, das sei eine überholte Vorstellung. Deswegen sollten die Bürger ihren Staat nicht mehr politischen Parteien anvertrauen. Die Neokraten forderten deswegen ja erst einmal die Einführung einer Proteststimme, mit der Wähler ihre Ablehnung des Parteienwesens und ihre Skepsis gegenüber der Parteiendemokratie bekunden 322 könnten. Auch die Empfehlung der Neokraten, diese Skepsis bis dahin durch aktives Nichtwählen kundzutun, erscheine ihr inzwischen sehr plausibel. Das verstünde ich wohl, sagte ich, Nichtwähler sei ich ja schon lange, aber insgesamt klinge das doch reichlich kompliziert. Die Bürger überzeugen könne es nur, wenn es auf einfachere Formeln reduziert würde. - Die Demokratie, sagte sie, war die Antwort auf die Intoleranz der Monarchie. Neokratische Reformen sind die Antwort auf die Inkompetenz der Demokratie. Klingt das einfach genug? - Aber nicht-demokratische Politik ist doch meistens noch inkompetenter, antwortete ich. Constanzes sah mich einen Moment lang entgeistert an. Ja, sagte ich rasch, ich wisse schon, was sie meine. Wenn nichtdemokratische Staaten noch inkompetenter seien als demokratische, dann entschuldige das nicht die Inkompetenz der demokratischen. - Genau, sagte Constanze. Trotzdem bleibe die Illusion, man müsse sich nur für die richtige Partei entscheiden, damit in der Politik alles gut werde, natürlich verführerisch. Für viele noch immer verführerisch - und noch gefährlicher - sei auch die Illusion, Politik und Religion in eine Hand geben zu sollen. Diese Illusion habe Teile der muslimischen Welt in der Entwicklung um mindestens ein Jahrhundert zurückbleiben lassen. In der Entwicklung von Zivilisation und von Wohlstand, ergänzte sie. Die Neokraten, fuhr sie dann fort, muteten den Bürgern zu, sich von solchen bequemen Illusionen zu verabschieden. Das sei in der Tat eine Zumutung, aber es sei der Preis dafür, in einer möglichst hoch entwickelten Gesellschaft leben zu dürfen. - Bis die Bürger dafür bereit sind, sagte ich, ist es aber noch ein sehr weiter Weg. Schon vorher muss sich vieles ändern. - Müsste, sagte Constanze in fast barschem Ton. Wird es aber nicht. 323 Danach fragte ich sie nur noch, welche politische Großtat sie sich denn für dieses Jahrhundert am meisten wünschte. - Das Ende des schleichenden Dritten Weltkriegs, sagte sie, ohne eine Sekunde zu zögern. Und, was damit ja zusammenhänge, die Entscheidungsfreiheit über die Staatszugehörigkeit. - Was die Neokraten politische Assoziationsfreiheit nennen? - Ja. Das allein ist ein Jahrhundertprojekt. Bis die Menschen sich daran gewöhnt haben, wird es Generationen dauern. Am nächsten Tag verbrachten wir Stunden damit, uns gemeinsam das aktuelle Weltszenario der politischen Zivilisierung vor Augen zu führen. Es war das Szenario eines erstarrten, sozial gespaltenen Europas, ebenso starrer und sozial noch tiefer gespaltener USA, von Staaten, die wieder einmal die Kontrolle über Teile ihres Staatsgebietes verloren hatten, vom anhaltenden Elend verarmter Mehrheiten in vielen Staaten Afrikas und Asiens, von wieder aufflammenden gewaltsamen ethnischen und konfessionellen Konflikten, von Bürgerkriegen und Kriegen um Staatsgrenzen im Nahen Osten, von weiterem dramatischem Bevölkerungszuwachs in Afrika und anderen Weltregionen, von ebenso dramatischer Schrumpfung der Bevölkerung in Teilen Europas, von weiter eskalierenden Konflikten um Einwanderung, von wachsender Energieknappheit, explodierenden Preisen für knappe Rohstoffe und fossile Energieträger und vom Ausschluss großer Teile der Weltbevölkerung von bezahlbarer Energie. Und von der globalen politischen Inkompetenz, die all das zulasse. Aber es gebe doch kleine Lichtblicke, wandte ich ein. Länder wie Kanada, die skandinavischen Länder, die Schweiz, Österreich oder Luxemburg und mit Einschränkungen auch Deutschland und sogar die USA hätten doch nicht nur ihren Wohlstand weiter gesteigert, sie seien auch in ihrer politischen Zivilisierung einigermaßen gefestigt. - Einigermaßen, sagte Constanze. Aber das allein hält die Welt nicht stabil. 324 Ganz so düster wollte ich die kostbare Zeit mit Constanze nicht ausklingen lassen. Kurz vor ihrer Abreise erzählte ich ihr dann doch noch von meinen langen Gesprächen mit Tian in Peking. Wenn Tian und Gleichgesinnte sich dort durchsetzten, erklärte ich, könnte China auch mit politischen Reformen die führende Rolle in der Welt übernehmen, es könnte sogar Vorreiter in der politischen Zivilisierung werden. Die Tians in China, die Neokraten und Robert Yang im Westen, sagte ich, zusammengenommen gebe das doch Hoffnung für den Rest unseres Jahrhunderts. - Wer weiß, sagte sie versöhnlich. Große Veränderungen fangen immer irgendwo im Kleinen an. Ich bin mir noch immer nicht sicher, ob sie es wirklich so meinte oder ob sie mich nur nicht entmutigen wollte. Ein halbes Jahr später, bei der Bundestagswahl 2073, gewannen die Neokraten zehn Sitze. Sie hatten einen kuriosen Wahlkampf geführt. Einige Neokraten hatten dafür plädiert, im Wahlkampf nur für das Nichtwählen zu werben, aber schließlich hatte sich der Vorschlag durchgesetzt, sich um Sitze auf der Zuschauertribüne des Bundestages zu bewerben. Ein Vorschlag im Geist von Klaus und Tilman. Eines der Wahlplakate der Neokraten zeigte ihre Kandidaten, wie sie von der Zuschauertribüne auf einen spärlich besetzten Plenarsaal hinunterblickten. Dazu Sprüche wie Rauf aus der Froschperspektive - Die Neokraten. Von nun an wussten alle, die es wissen wollten: Die Neokraten waren keine verbissenen Theoretiker. Sie hatten hohe Ziele, aber sie hatten auch Humor. Auch das unterschied sie von den meisten Parteipolitikern. Natürlich stellten die Neokraten auch ein Wahlprogramm vor, aber das enthielt nichts außer der Einführung der förmlichen Proteststimme ins Wahlrecht. Sie versprachen, sich im Parlament ganz auf dieses Ziel zu konzentrieren und aus allem anderen herauszuhalten. Sie wussten, dass sie auch damit keine Wählermassen 325 überzeugen würden, aber wieder erhielten sie weit mehr Stimmen, als sie erhofft hatten. 2075 -… Ist das Jahrhundert noch zu retten? Europa geht aufs Ganze Eigentlich wollte ich dieses Buch mit dem dritten Jahrhundertquartal enden lassen, und das nicht nur, weil ich mir in einer seltsamen Laune einmal ein Erscheinungsdatum vor meinem 80. Geburtstag gewünscht hatte. Ich glaubte, ich hatte bis dahin alles aufgeschrieben, was ich zu sagen hatte. Aber schon nach den allerersten Ereignissen des letzten Jahrhundertquartals war mir klar, dass dies doch ein allzu willkürlicher Abschluss gewesen wäre, und auch Constanze drängte mich danach, noch eine Ergänzung zu schreiben. Also bündelte ich noch einmal die Kräfte, um diese letzten Kapitel hinzuzufügen. Meinem Verleger gebührt Dank dafür, dass er mir diesen Aufschub gewährt hat. In den Jahren davor hatte ich gemeinte, auf das Thema Europa nicht noch einmal eingehen zu sollen, aber nun kann ich die Krise der EU, die im Frühjahr 2075 ihren Anfang nahm, nicht übergehen. Die EU hatte sich schon in den sechziger Jahren Großes aufgebürdet. Das Projekt einer gemeinsamen Armee aller EU-Staaten, das schon im ersten Jahrhundertquartal jahrelang diskutiert wurde und dann scheiterte, lebte Ende der fünfziger Jahre wieder auf. 2065 fiel die Entscheidung, diese gemeinsame Armee schrittweise zu realisieren. Bis 2080 sollten die Armeen der Mitgliedsstaaten in der gemeinsamen europäischen Armee aufgegangen sein. Nachdem seit den vierziger Jahren nach und nach Serbien, Montenegro, Mazedonien und Albanien und dann auch Bosnien Herzegowina in die EU aufgenommen worden waren, waren 2066 auch Moldawien und die Ukraine dazugekommen. Auch diese Länder sollten also an der kommenden europäischen Armee beteiligt werden. 326 Beitrittskandidaten mit mittlerweile sehr guten Aussichten auf eine Aufnahme in die EU und deren Armee waren neben der Türkei auch Armenien und Georgien. Eine Gruppe von Mitgliedsländern setzte sich zudem für die Aufnahme Israels ein. Die Entscheidungen über die Osterweiterungen der EU und viel mehr noch die Entscheidung über die europäische Armee waren unter den Mitgliedstaaten lange umstritten gewesen. Der gemeinsamen Armee stimmten Österreich, Finnland, Dänemark, Schweden, die Niederlande, Großbritannien, Portugal und Irland erst unter massivem Druck der anderen Mitgliedstaaten zu. Diese Länder wollten aber sichergehen, nicht noch einmal solchem Druck ausgesetzt zu sein. Daher knüpften sie ihre Zustimmung an eine Reform der Entscheidungsverfahren der EU. Sie setzten durch, dass sie bei künftigen herausragenden Entscheidungen, insbesondere bei Aufnahmen neuer Mitglieder und Einsätzen der europäischen Armee, ein rotierendes Vetorecht erhielten. Im Gegenzug mussten sie akzeptieren, dass auch Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und Polen ein solches Vetorecht eingeräumt wurde. Russland ausgenommen, hatte die Europäische Union nun zwar fast ganz Europa als kommende militärische Weltmacht geeint, aber sie hatte sich, wie sich bald zeigte, zugleich politisch vollends handlungsunfähig gemacht. Entscheidungsfähig war die EU von nun an nur noch in Routinefragen. Was am Ende den Ausschlag dafür gab, das die seit fast siebzig Jahren schwelende Europaskepsis in den siebziger Jahren ihrem bisherigen Höhepunkt zutrieb, ist schwer zu ergründen. Eine Rolle spielte bei vielen sicher die Furcht, die EU verliere mit ihren Erweiterungen weiter an politischer Reife, und eine wichtige Rolle spielte natürlich auch die Entscheidungsschwäche der EU. Bei vielen schürte das Nahen der gemeinsamen europäischen Armee - allen Vetorechten zum Trotz - darüber hinaus offenbar die Angst, ihr Land könne gegen ihren Willen in riskante militärische Abenteuer verwickelt werden. Wahrscheinlich musste all dies aber zusammenkommen, um den Unmut über die EU so eskalieren zu lassen. 327 Hätte auch nur eine Regierung eines EU-Landes dies vorausgesehen, wäre wohl weder das Projekt der gesamteuropäische Armee je beschlossen worden noch das Vetorecht für einzelne Mitglieder. So aber konnten europaskeptische Parteien genau diese Schwachstelle der EU erfolgreich für sich nutzen. In kleineren EU-Staaten forderten sie das Vetorecht auch für das eigene Land ein. Eure Stimme für das Veto FPÖ, mit solchen Slogans warben immer mehr europakritische Parteien, nicht nur bei den Europawahlen. Der Graben zwischen den europakritischen Parteien und den etablierten Altparteien wurde dabei immer tiefer, und die europakritischen Parteien wurden stärker denn je. In immer mehr EU-Staaten bildeten sich Notkoalitionen zwischen Parteien, die außer dem Festhalten an den alten Strukturen der EU kaum politische Gemeinsamkeiten hatten. So verloren mit der EU auch immer mehr Mitgliedstaaten an politischer Handlungsfähigkeit. Fast alle politischen Beobachter waren bis dahin überzeugt, dass die politische Stimmungslage in den späten sechziger Jahren ihren Tiefstpunkt erreicht hatte. Die frühen Siebziger belehrten sie eines Besseren. Seit den zehner Jahren war in jeder Dekade mindestens ein Land der EU in eine ernste wirtschaftliche Krise geraten. Jedes dieser Länder, darunter Italien, Portugal, Polen, Bulgarien, Rumänien, zweimal Griechenland, nacheinander alle anderen Staaten Südosteuropas und, wenn auch weniger dramatisch, Frankreich, mussten von der Europäischen Zentralbank vor dem Bankrott bewahrt werden, und die Zentralbank musste mehrfach mit Steuergeldern der Mitgliedstaaten rekapitalisiert werden. Jedes dieser Ereignisse trieb natürlich den europakritischen Parteien neue Wählermassen zu. 2071 machten dann der Front National und die niederländische Partij voor de Vrijheid mit einem Plan Furore, von dem erst später bekannt wurde, dass er mit europakritischen Parteien anderer Länder abgestimmt war: Aufkündigung des Projekts einer EU-Armee und Gründung einer gemeinsamen Armee zunächst Frankreichs, der Niederlande, Belgiens, Deutschlands, Dänemarks und Schwedens. Bei den folgenden Wahlen wurden die Partij voor de Vrijheid und der Front National mit Abstand stärkste Partei in ihrem Land. 328 In den Jahren danach herrschte in Sachen Zukunft Europas eine fast gespenstische Stille. Natürlich wussten auch die Europaskeptiker nicht, wie es mit Europa weitergehen sollte, vom Konzept der "kleinen" Europa-Armee einmal abgesehen. Aber auch sonst wagte kaum jemand, die Entwicklung der EU in aller Offenheit weiterzudenken. Zu groß war die Angst, mit solchen Gedanken vollends ins politische Abseits zu geraten. Die meisten politisch interessierten Europäer wandten sich erst einmal tröstlicheren Wendungen der Weltpolitik zu. Einen Hauch von Zuversicht verbreitete in dieser Zeit die mentale Erschöpfung der arabischen Welt, die der Erschöpfung Europas nach seinen zwei Weltkriegen zu ähneln schien. In der Tat war die Gewaltbereitschaft im arabischen Raum schon seit Ende der vierziger Jahre langsam zurückgegangen. Die meisten westlichen Beobachter waren sich wieder einmal einig, dass dieser Teil der Welt nun keine andere Wahl hatte, als sich nach westlichem Vorbild zu demokratisieren. Weiter war die Vorstellungskraft noch nicht gediehen. Altfall Griechenland Dass 2075 vier Länder der Euro-Zone gleichzeitig in eine Finanz- und Wirtschaftskrise gerieten, hat natürlich Constanze viel mehr erregt als mich. Die ganze Geschichte des Euro, schrieb sie mir in einer Mail, sei ein historisches Lehrbeispiel für politische Unbelehrbarkeit. Ob nicht auch dafür in meinen Manuskript noch Platz sei. Sie wisse natürlich, dass ich alles andere als ein Lehrbuch schreiben wolle, aber ein Lehrbeispiel für Unbelehrbarkeit sei keineswegs nur eine Sache für Lehrbücher. Diesen Wunsch konnte ich ihr nicht abschlagen. Ich will es aber kurz machen und hierzu von Constanzes Gedanken nur den einen wiedergeben, den ich am leichtesten verstand. Schon bei der ersten Griechenland-Krise, meint Constanze, sei die Politik der EU von Anfang an eine schleichende Konkursverschleppung gewesen. Dabei habe die EU sich ganz darauf konzentriert, die Kosten dieser Politik vor den Bürgern zu 329 verbergen. Diese Kosten seien immens gewesen, aber trotzdem seien sie nicht als das gewürdigt worden, was sie eigentlich hatten sein sollen: solidarische Hilfe. Die Kritiker, erklärte Constanze, hätten immer wieder angeprangert, mit den Finanzhilfen der EU würden vor allem griechische und europäische Banken und nebenbei der griechische Staat gestützt, die Bürger Griechenlands dagegen profitierten von diesen Hilfsgeldern kaum. Das sei zwar sehr vereinfacht, meint Constanze, aber im Grunde doch richtig. Eine wirklich solidarische Politik, die auch moralisch gewürdigt würde, hätte ganz anders ansetzen müssen. Eine solche solidarische Politik hätte das Konzept der Bürgergeldhilfe anwenden sollen. Die reichen EU-Staaten hätten jedem Griechen in der Krise eine laufende Unterstützung zahlen sollen, zu Anfang monatlich z.B. 200 Euro, für eine vierköpfige Familie mithin monatlich € 800,-. Im Gegenzug hätte die EU den Griechen dann die bittere Wahrheit beibringen müssen, dass ein Crash, eine Staats- und Bankenpleite also, nicht zu verhindern sei, auch wenn es ein Crash auf Raten wäre. Die Botschaft hätte also sein müssen: Wir können euren Staat nicht retten und nicht alle eure Banken, wir können euch auch nicht in der Euro-Zone halten, eure Einkommen werden eine Zeitlang sinken, aber mit unserer Hilfe, beginnend mit monatlich € 200,- für jeden von euch, vom Baby bis zum Greis, wird es für euch glimpflich ausgehen. Also konzentriert euch schon jetzt auf die Zeit nach dem Crash. Findet euch damit ab, dass ein Teil eurer Ersparnisse verloren ist und dass viele von euch nach dem Crash andere Arbeit an einem anderen Ort zu geringerem Lohn werden tun müssen. Je rascher ihr das annehmt, desto eher wird der Crash überwunden sein. So könnte ihr eure Wirtschaft und euren Staat aus eigener Kraft neu aufbauen, und ihr werdet stolz darauf sein. - Welcher Grieche hätte dazu nein gesagt?, fragte Constanze, und sie gab sich selbst die Antwort: Nur die, die viel zu verlieren hatten. Die Wohlhabendsten. - Aber warum, fragte ich, hat dann niemand in Europa diese Lösung gewollt? - Alte Dogmen, sagte sie nur. 330 Ob die EU sich denn bei den absehbaren neuen Krisen auf solche neuen Konzepte der Krisenbewältigung einlassen werde, fragte ich noch. - Nein, sagte sie. Deutsche Zustände Das Ereignis in Deutschland, das sich mir für einen Nachtrag an dieser Stelle zuerst aufdrängte, war auf den ersten Blick unscheinbar. Im Sommer 2075 begannen die etablierten Altparteien mit ihren Planungen für die Bundestagswahl 2077. Sie entwickelten die üblichen Szenarien denkbarer Wahlausgänge und stellten fest, dass die politische Lage instabiler werden könnte denn je. Scheinbar ausweglose Szenarien ergaben sich schon bei einem Stimmenanteil der Neokraten von 4%. Das aber war nach letzten Umfragen nicht mehr auszuschließen. Die etablierten Parteien einigten sich schließlich mit den Deutschen Demokraten und den Grünen darauf, das Wahlgesetz zu ändern und die Hürde für den Einzug in den Bundestag auf 7% der Stimmen anzuheben. Dass dies unter den gegebenen Umständen verfassungskonform sei, ließen sie sich von führenden Verfassungsrechtlern in einer Reihe von Gutachten bestätigen. Die Begründung lautete: Die aktuelle Lage Deutschlands, Europas und der Welt erfordere höchste politische Stabilität und Berechenbarkeit, und diese seien mit dem Wahlrecht in seiner aktuellen Fassung nicht mehr gewährleistet. Das Urteil des Verfassungsgerichts von 2035, das die 5%-Hürde für unzulässig erklärt hatte, sei unter den damaligen Umständen zwar richtig gewesen, aber die Umstände hätten sich grundlegend gewandelt. Das Bundesverfassungsgericht bestätigte diese Rechtsauffassung im Dezember 2075 in einer Eilentscheidung, und es fügte hinzu: Die Demokratie müsse sich in instabilen Zeiten gegen Systemveränderer zur Wehr setzen können, und das Wahlrecht sei dafür ein legitimes Mittel. Erfahrene Beobachter schlossen daraus, dass das Gericht die Neokraten zu den Systemveränderern zählte. 331 Ich fragte mich, ob das Land mit dieser Entscheidung in seiner Reformfähigkeit nicht weit zurückgeworfen sei. Wieder einmal war es Constanze, die mich in meiner Vermutung bestätigte. Die Stabilität, meinte sie, der diese Wahlrechtsänderung dienen solle, sei nichts anderes als Erstarrung. Es war mir fast peinlich, dass ich mir das von Constanze erklären lassen musste. Natürlich geht fast jeder großen Erneuerung ein gewisses Maß an Instabilität und Unordnung voraus. Wer Instabilität ausschließt, der schließt daher auch Erneuerung aus. Genau das, meinte Constanze, sei doch das Drama der Demokratien in unserem Jahrhundert. Alles sprach tatsächlich dafür, dass die etablierten Parteien sich jetzt erst einmal zwanzig Jahre lang zurücklehnen konnten. Die Muslimisch-Sozialen hatten sich selbst geschwächt, die Neokraten waren auf absehbare Zeit aus dem Parlament ausgesperrt, und neue Parteien, die die 7%-Hürde überspringen könnten, waren nicht in Sicht. Was hätte auch deren Botschaft sein sollen? Ein einziges Ereignis in Deutschland ließ in dieser Zeit wirklich aufhorchen, ein Vorstoß der Deutschen Demokraten. Sie forderten Bürgerentscheide über die europäische Armee. Aber sie forderten dazu nicht etwa nur ein simples Ja oder Nein, ihre Forderung war viel klüger. Die Bürger sollten darüber entscheiden, welche Länder an einer solchen Armee beteiligt sein sollten und welche nicht. Immerhin eine klügere Forderung zu diesem Thema, als die niederländische Partij voor de Vrijheid sie in ihrem Programm hatte. Diese Forderung mochte auf den ersten Blick unverfänglich erscheinen, aber bei näherem Hinsehen war sie alles andere als das. Um zu urteilen, mit welchen Ländern sie eine gemeinsame Armee betreiben wollten und mit welchen nicht, müssten die Bürger sich erst einmal über die friedenspolitische Kultur dieser Länder im Klaren sein. Das war schwierig genug. Noch schwieriger war: Der Kreis der Länder, die an einer gemeinsamen Armee zu beteiligen sind, würde sich kaum in einem einmaligen Bürgerentscheid bestimmen lassen. 332 Als die Deutschen Demokraten dies verstanden hatten, machten sie sich auf die Suche nach brauchbaren Lösungsvorschlägen. Dabei stießen sie schließlich auf Robert Yang. In seinem Konzept für Online-Referenden zur politischen Unabhängigkeit vermuteten sie einen aussichtsreichen Ansatz. Fast gleichzeitig stießen sie darauf, dass auch die Neokraten sich sehr genau mit dieser Frage befasst hatten. Für die Neokraten war das Selbstbestimmungsrecht darüber, wer mit wem gemeinsame Streitkräfte unterhält, sogar ein Grundrecht. Wie dieses Grundrecht wahrzunehmen sei, dazu hatten sie konkrete Verfahrensvorschläge entwickelt. Die Deutschen Demokraten mussten erkennen, wie wenig sie die Konsequenzen ihres Vorschlags durchdacht hatten. Dass die Deutschen Demokraten ausgerechnet bei Yang und den Neokraten Ideen und Rat suchten, brachte nicht nur sie selbst in Verlegenheit. Kontakte zu Yang und den Neokraten würden den Deutschen Demokraten auch die eigenen Anhänger verübeln. Umgekehrt würden Yang und den Neokraten von deren Anhängern Kontakte mit den Deutschen Demokraten schwer verübelt. Eigentlich wünschte man sich allseits Kontakte, aber alle behielten es für sich. Sie wussten: Man würde voneinander lernen können, aber wenn es bekannt würde, würden andere die Gewinner sein. Eines aber hat der Vorstoß der Deutschen Demokraten immerhin bewirkt. Er führte dazu, dass Yang und die Neokraten endlich enger zusammenfanden, um Gemeinsamkeiten zu erkunden und ggf. zu entwickeln. So begann deren Konzept zu reifen: Landesverteidigung wird zur eigenständigen Staatssparte, und über deren Grenzen entscheiden die Bürger mit Online-Referenden, wie Yang sie konzipiert hatte. Die politische Landkarte der Landesverteidigung würde also direkt von den Bürgern gestaltet. Das war schon fast ein Stück Utopie, und die Deutschen Demokraten waren unversehens in deren Nähe gerückt. Nach der Wahl 2077 bildeten die Sozialdemokraten mit der IG Senioren und den Grünen eine Minderheitsregierung. Viel bewegen würden sie gemeinsam nicht, das 333 wussten alle, aber es könnte reichen, um sich eine Legislaturperiode lang als Gewinner zu fühlen. Denkwürdige Zusammenkunft Interessierte es mich als 79jährigen - in einem Alter, in dem die Wenigsten politische Ereignisse noch mit großer Anteilnahme verfolgen - wirklich noch, ob Yang und die Neokraten erste Kontakte geknüpft hatten, die vielleicht in zwanzig Jahren einmal konkrete Folgen haben würden? Ich hatte jahrzehntelang im Zwiespalt zwischen politischer Weitsicht im Hauserschen Sinn und der kürzeren Sicht der Generation Sichtflug gelebt. Was lag näher, als sich in meinem hohen Alter mit der kürzeren Sicht zu begnügen? Demnächst würde ich achtzig werden. Der Gedanke irritierte mich. Nicht etwa, weil ich mir selbst zu alt war. Das Altsein hatte mich nie irritiert, auch nicht das Älterwerden, aber irritiert war ich von dem Gedanken, meinen achtzigsten Geburtstag feiern zu sollen. Würde es so sein wie meistens bei späten runden Geburtstagen, bei denen nostalgisch in die Vergangenheit hineingefeiert wird? Keine Rede mehr von Herausforderungen, von Wagnissen, von Risiken, von Zukunft überhaupt, höchstens noch ein trotziges: auf weitere soundso viele Jahre? Ja, schmeicheln würde es mir, aber nein, so würde ich es nicht wollen. Das wussten auch die anderen. Wenn es zu meinem Achtzigsten etwas anderes zu feiern gäbe als mich, irgendetwas Zukunftsträchtiges, ja, dann würde ich mitfeiern wollen, ein rauschendes Fest sogar, soweit ich es noch kann, ein Fest in die Zukunft hinein, und dann würde ich, wenn es so sein soll, nebenbei auch mich mitfeiern lassen. Ansonsten höchstens ein stilles Fest des Zuschauens, des Beobachtens. Constanzes Mann war 2074 gestorben, nach zwei beschwerlichen Jahren in einer betreuten Wohnanlage. Aber auch in dieser Zeit staunte ich, wenn ich ihre Mails las, noch oft über die Jugendfrische ihrer Gedanken. Ich habe sie im geistigen Altern überholt, dachte ich einige Male, ich bin im Denken bequemer geworden. Nach dem Tod ihres Mannes kam dann mehr als ein Jahr lang kein Lebenszeichen von ihr. 334 Aber dann, ganz unvermittelt, als sei der letzte Kontakt erst gestern gewesen, schrieb sie: Du denkst doch sicher schon an deinen Achtzigsten. - Nein, tue ich nicht, antwortete ich. - Aber ich. - Ist ja noch lange hin, schrieb ich. Ich will ja auch nicht feiern. - Ein Grund zum Feiern findet sich schon, schrieb sie Wochen später. Eine Floskel, dachte ich. Danach tauschten wir wieder Mails über die üblichen Themen aus, meist über kleine politische Beobachtungen und darüber, ob sie eher zu Hoffnungen oder zu Hoffnungslosigkeit Anlass gaben. Bei mir war mehr Hoffnungslosigkeit, bei ihr etwas mehr Hoffnung,. Ein Grund zum Feiern finde sich schon - ich hätte wissen sollen, dass das mehr als eine Floskel war. Wenn es jemanden gab, der Floskeln scheute, dann Constanze. Was also konnte sie gemeint haben? Zum Beispiel: Wenn mir mein Achtzigster kein Grund zum Feiern war, dann würde sie einen anderen Grund schaffen. Ich hätte es mir denken können, aber so viel Phantasie hatte ich nicht. Ich hatte nie so viel Phantasie gehabt wie Constanze. Ich weiß nicht, ob ich je mit ihr darüber gesprochen hatte, aber in den Jahren davor hatte ich manches Mal darüber nachgedacht, wen ich zu Lebzeiten unbedingt noch einmal würde treffen und wen ich noch würde kennenlernen wollen. Es waren flüchtige Gedanken. Ich dachte dabei natürlich auch an Tian, dann an Klaus, den Hofnarr des Archivs, an Tilman, seinen Nachfolger, an Kiesewetter, den geschassten Chefredakteur, und sogar an den alten Mesäcker. Einmal meinte ich sogar, ich würde Robert Yang gern noch kennenlernen, was mir dann aber vermessen erschien. Warum sollte der große Weltaktivist Yang einen kleinen pensionierten SPIEGELArchivar treffen wollen? Dann doch eher Halsdorf, den Milliardärflüsterer, überlegte ich, aber auch den Gedanken verwarf ich. 335 Drei Monate vor meinem Achtzigsten schickte Constanze mir eine lange Mail. Die Neokraten würden am Tag vor meinem Achtzigsten ein Seminar in Hamburg veranstalten, für das sich auch Nichtmitglieder anmelden könnten. - Wenn du dabei bist, schrieb sie, dann komme ich auch. - Freut mich sehr, antwortete ich, aber eine Geburtstagfeier machen wir danach nicht. Wir verabredeten uns in der Eingangshallte des Tagungshauses in Eimsbüttel. Als ich ankam, waren schon viele in der Halle versammelt. Ich sah mich von der Eingangstür aus um, von Constanze keine Spur. Dann sah ich im hinteren Winkel eine kleine Personengruppe, jemand winkte mir zu. Ich musste lange hinschauen. War das Klaus? Ja, die Art, wie er sich bewegte, das konnte nur er sein. Neben ihm ein älterer Mann, etwa in meinem Alter, schien es mir, mit einem Profil, das mir bekannt vorkam. Auch ihn schaute ich lange an, bis er Arme und Lippen bewegte. Kiesewetter! Klaus und Kiesewetter, zwei vertraute SPIEGEL-Leute von damals. Ein warmes Gefühl kam auf, gegen das ich mich nur kurz wehrte. Ja, ich freute mich. Aber wer waren die anderen? Wo war Constanze? Ich ging auf die Gruppe zu, dann sah ich einen jüngeren Mann, Mitte bis Ende vierzig, selbstbewusste Miene, markante schwarze Brille. Seine Hände lagen auf den Handgriffen eines Rollstuhls. Im Rollstuhl eine Frau mit schlohweißem Haar. Erst als ich ganz nah war, sah ich ihr Gesicht. Constanze. Constanze im Rollstuhl, schlohweiß. Ich erschrak, fasste mich, ging auf sie zu, drückte ihr die Hand, umarmte sie. Sie gab dem Mann hinter ihr ein unauffälliges Signal, der schob den Rollstuhl aus der Gruppe heraus, und ich folgte ihr. - Ich sehe einige bekannte Gesichter hier, sagte ich. Hast du das veranstaltet? - Ja, deinetwegen, sagte sie. Sie sind deinetwegen hier. - Dann schwieg sie und lächelte und drehte sich um zu dem Mann hinter ihr. - Dein Sohn?, frage ich. Sie sind der Sohn? 336 - Ja, sagte er. - Freut mich, dass alles geklappt hat, sagte Constanze, und dass alle gekommen sind. Wir gehen zusammen ins Seminar, danach treffen wir uns im Bistro. Das ist für uns reserviert. - Wer ist wir?, fragte ich. - Lass dich überraschen. Dann das Seminar. Zuerst ein Vortrag von Paul Meier, Vorstandsmitglied der Neokraten. Es war eine Tour de Force durch deren Programmatik. In einer knappen Stunde breitete Meier politische Zukunftsszenarien aus. Manches davon erinnerte mich an Hauser, anderes an Tian, wieder anderes an das, was ich über Robert Yangs Ideen wusste, nur weniges erschien mir ganz und gar fremd. Trotzdem kostete es mich einige Anstrengung, Meier zu folgen. Bei den meisten Teilnehmern dagegen von Anstrengung keine Spur. Ich bin viel älter als die meisten, dachte ich, daran wird es liegen. Dann die Podiumsdiskussion. Ein kleiner Tisch mit vier Stühlen. Meier bat die Mitdiskutanten zu sich. Ich war in Gedanken noch bei Fragen, die ich zu seinem Vortrag hätte stellen mögen, dann sah ich, wie Meier mit strahlendem Lächeln auf drei Männer zuging, einer etwa in meinem Alter, einer eine halbe, der andere fast eine Generation jünger, und ihnen die Plätze zuwies. Jetzt erst hörte ich die Namen: Hier bitte, Herr Kiesewetter, here on my left please, Mr Yang, Sie, Herr Mesäcker, bitte hier rechts. Dann erst erkannte ich die Gesichter. Yang, Kiesewetter und Mesäcker an einem Tisch, zu Gast bei den Neokraten. Morgen wirst du achtzig, sagte ich mir, du musstest achtzig werden, um das zu erleben. Aber immerhin, du erlebst es. Altwerden kann sich lohnen, das zumindest hatte ich immer geahnt. Was folgte, war keine Diskussion, eher eine Befragung. Meier hatte eine klare Agenda. Sie alle wissen, sagte er, dass wir hier keine Talkshow machen, wir arbeiten auf Entscheidungen hin. Dass die Zuhörer über die Ideen der Neokraten und Robert Yangs Bescheid wussten, setzte er offenbar voraus. 337 Dann wandte er sich Robert Yang zu. - Sie und wir, sagte er zu Yang, wünschen uns eine politische Zukunft jenseits der alten Demokratie. Darüber müssen wir hier nicht diskutieren. Wir wollen darüber reden, wie wir unsere Konzepte bekannter machen können. Das sei schwierig genug, fuhr er fort, und dabei könne man bekanntlich viel falsch machen. Überall lauere die Gefahr, mit alten Ideologien und Vorurteilen in Verbindung gebracht zu werden. Deswegen habe Yang sich früher mit öffentlichen Auftritte lange zurückgehalten, und die Neokraten versuchten es immer noch. Die Frage sei nun, ob die Zeit reif sei für ein offensiveres Auftreten. - Sie, Robert Yang, sagte er dann, haben sich in letzter Zeit sehr dafür eingesetzt. Warum? - Weil es eilt, sagte Yang. Nicht für ihn und seine Mitstreiter, aber die Welt brauche schnelle Veränderungen. Dass die Spätfolgen unentschlossener Klimapolitik und Bevölkerungspolitik zu einem Weltdrama würden, sei schon lange nicht mehr abwendbar, und umso weniger sei hierbei weitere Unentschlossenheit noch hinnehmbar. Auch politische Unabhängigkeitsbestrebungen, die sich in der Welt ja immer weiter ausbreiteten, könnten nicht mehr so missachtet werden wie bisher. Wir sind bereit, sagte Yang dann. Die virtuelle Weltklimaregierung habe großartige Vorarbeit geleistet, jetzt könne darauf aufgebaut werden. Auch die Verfahren für die freie Wahl der Staatszugehörigkeit seien praxisreif, es fehle nur noch der Mut, sie anzuwenden. Dann hielt er kurz inne, und dann sagte er fast beiläufig: Aber einiges Aufsehenerregende werde vielleicht doch schon sehr bald passieren. Es könnte in Europa bald eine oder zwei offizielle Entmonarchisierungen geben, die erste vermutlich in Katalonien. Das dürfe aber natürlich nur der Anfang sein. Meier unterbrach ihn. Er, Yang, wisse ja, mit wie viel Sympathie die Neokraten seine Aktivitäten seit Langem verfolgten, aber er wisse ja auch, welche Zwischenschritte die Neokraten auf dem Weg zu grundlegenden Reformen für notwendig hielten: 338 Protest durch Nichtwählen, Durchsetzung förmlicher Proteststimmen, offene Verfassung und permanenter Verfassungsrat. Dazu sähen die Neokraten weiterhin keine Alternative, und dafür erhofften sie sich auch den Schulterschluss mit Yang und seiner Bewegung. Dann wandte Meier sich an Kiesewetter. Welche Chancen er, Kiesewetter, denn sehe, dass Yang und die Neokraten die Unterstützung einflussreicher Medien gewönnen. Kiesewetters Antwort war kurz und bündig. Die Eigentümer der einflussreichen Medien hätten entweder kein Interesse an großen Veränderungen oder nicht den Mut, sich dazu zu bekennen. Die Neokraten sollten sich daher weiter auf kleinformatige Öffentlichkeitsarbeit konzentrieren, auf kleine informelle Veranstaltungen und auf soziale Netzwerke. Die großen Medien würden sie erst gewinnen, wenn diese nicht mehr anders könnten. Irgendwann werde es hoffentlich so kommen, aber wann, dazu wage er keine Prognose. Meier wandte sich nun Mesäcker zu. Was will der denn hier?, flüsterte ich Constanze zu, und sie flüsterte zurück: Wart's ab, auch ein Mesäcker könnte sich verändert haben. Meier fragte Mesäcker, ob über die Konzepte Yangs und der Neokraten in den Parteien überhaupt gesprochen werde, und wenn, dann in welchen. In seiner Partei nicht, sagte Mesäcker, zumindest offiziell nicht, und wahrscheinlich auch nicht in anderen Parteien. Eine Ausnahme seien vielleicht die Deutschen Demokraten, die ja immer noch versuchten, sich nach außen von den etablierten Altparteien zu unterscheiden. Er meine sogar, dass einige Deutsche Demokraten die politische Unabhängigkeit Bayerns wieder ins Gespräch bringen wollten und dass sie sich dabei womöglich auch auf Yang und die Neokraten berufen würden. - Schlimmeres, warf Meier entrüstet ein, könnte uns Neokraten nicht passieren. - Das verstehe ich sogar, sagte Mesäcker. 339 Meier sah Mesäcker verblüfft an. Er war auf ein Streitgespräch mit Mesäcker eingestellt gewesen, und nun dies, diese verständnisvolle Bemerkung Mesäckers, mit der er am wenigsten gerechnet hätte. Meiner hielt kurz inne, als wolle er doch noch die streitigen Argumente gegen Mesäcker anbringen, mit denen er sich im Voraus gewappnet hatte, aber all das wäre nun ins Leere gegangen. Stattdessen setzte er zu einem versöhnlichen Schlusswort an. Wenn irgendwelche bizarren bayerischen Separatisten sich auf Konzepte von Yang und den Neokraten beriefen, sagte er, dann würde das wieder einmal zeigen, wie leicht neue Ideen zwischen alte politische Fronten geraten. Wenn das einigen an diesem Abend noch klarer geworden sei, dann habe die Veranstaltung sich schon deswegen gelohnt. Fast alle im Raum klatschen Beifall. Ich wollte danach rasch aufstehen, aber Constanze fasste mich am Arm. - Interessant genug für jemanden, der morgen achtzig wird?, flüsterte sie. - Natürlich. Danke, dass du mich hierher gelockt hast. - Das war ja nur das Vorprogramm, sagte sie dann. Im Bistro geht's weiter. Also bis gleich. Ich bot mich an, ihren Rollstuhl zu schieben, aber ihr Sohn kam mir zuvor und schob sie eilig weg. Im Bistro waren zwei große Tische zusammengestellt. Als ich hineinkam, saß Constanze schon am Kopf eines der Tische, die Ellenbogen aufgestützt, vor ihr ein Blatt mit handschriftlichen Notizen. Die Plätze um sie herum waren besetzt, nur zwei Plätze ihr gegenüber waren frei. - Setz dich, sagte sie, da drüben. Ich sah von einem zum anderen. Constanzes Sohn, daneben Robert Yang, dann Claude Halsdorf, der Milliardärflüsterer, dann ein Sohn von Xavi Puig, dann Klaus vom Archiv, dann Kiesewetter, dann Meier von den Neokraten, dann Mesäcker. 340 Einer fehlt leider noch, sagte Constanze, sein Flug ist verspätet. In dem Moment öffnet sich die Tür, ich drehe mich um. Tian! Ich stehe auf, gehe auf ihn zu, umarme ihn, geleite ihn wortlos zum Platz neben mir. Dann bringt Constanze mit einer kurzen Handbewegung alle zum Schweigen. Dann begrüßt sie einen nach dem anderen, stellt jeden mit ein paar treffenden Sätzen vor. Dann sagt sie: - Ich hatte nie geglaubt, je Teil einer solchen Runde sein zu können. Danke euch allen, dass ihr da seid. Dann begann sie zu reden. Beredt und souverän war sie immer gewesen, aber so bewegend, ja fast ergreifend wie jetzt hatte ich sie nie erlebt. Meinen Geburtstag erwähnte sie dabei mit keinem Wort, aber alle schienen Bescheid zu wissen. Ich, Matthias Schmidt, ein alter pensionierter SPIEGEL-Archivar, wird morgen achtzig, und Constanze bringt dazu Menschen zusammen, die für mich die wichtigsten der Welt waren. Keine Feier, nur eine kleine Gesprächsrunde in einem kleinen Bistro, und doch das größte Geschenk, das ich mir hätte wünschen können. Constanze sprach lange, aber zu lang wurde es niemandem. Sie und ich seien neben Mesäcker die Ältesten in der Runde, wir kennten uns seit Studienzeiten, und eine unserer ersten gemeinsamen Erinnerungen sei ein Professor Graf gewesen, der uns als kurzsichtige Generation Sichtflug abgekanzelt habe. Später hätten wir beide im SPIEGEL-Archiv unter dem mittlerweile legendären Archivleiter Hauser, meinem Vorgänger, gearbeitet, einem Mann, für den die Weitsicht oder, wie er es genannt habe, der Blick ins Weite ein lebenslanges Leitmotiv gewesen sei. Seitdem hätten wir beide, jeder für sich, uns immer wieder gefragt, zu wie viel Weitsicht Politik in diesem Jahrhundert fähig sein werde. Diese Frage sei ja immer noch nicht beantwortet oder wenn, dann allenfalls negativ. Sie sei eigentlich nur Ökonomin, sagte sie, aber als Beraterin habe sie viele Eindrücke gesammelt, die genau dies bestätigten. Dann fing sie an, eine Art politisches Weltszenario auszubreiten, von dem ich zuerst meinte, dass es in dieser hochkarätige Runde überflüssige Selbstverständlichkeiten 341 seien. Aber sie trug es mit solcher verblüffenden Verve und solch altersweisem Charme vor, dass niemand auch nur für einen Moment den Blick abschweifen ließ. Sie sprach vom schleichenden Dritten Weltkrieg, der ja wieder nur eine Verschnaufpause eingelegt habe, von den schwelenden Konflikten um politische Unabhängigkeit und davon, dass auf Dauer nur die Wahlfreiheit über die Staatszugehörigkeit die Welt werde befrieden können. Dann streifte sie kurz die gefährlichsten Konfliktherde der Welt in Asien und Afrika, dann sprach sie über die weltweit zunehmende wirtschaftliche, politische und militärische Verwundbarkeit durch Cyber-Attacken, die inzwischen die atomare Bedrohung fast habe vergessen lassen, dann über die Überbevölkerung, die trotz verringerten Bevölkerungswachstums immer gefährlicher werde, da der Raubbau an Rohstoffen sich weiter beschleunige. Den Preis dafür würden viele Menschen schon in diesem Jahrhundert zahlen - mit verringerten Chancen auf Wohlstand und damit auf Bildung und Zivilisierung. Dann sprach sie über die globale Erwärmung, die noch nicht einmal annähernd gestoppt sei, eine böse Hinterlassenschaft der lebenden Generationen nicht nur an das nächste Jahrhundert, und darüber, dass die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme, die skandalösen Gerechtigkeitslücken, die immer irgendwo lauernde Massenarbeitslosigkeit und die Unbelehrbarkeit der Zentralbanken fast in Vergessenheit gerieten, aber nur, um irgendwann mit umso größerer Wucht auf die politische Agenda zurückzukehren. Die Mehrheit hier am Tisch, sagte sie dann, sei sich sicher darüber einig, dass das dabei sah sie Mesäcker aufmunternd an - nicht die Schuld einiger führender Politiker dieser Welt sei, sondern ein Systemversagen. Ein Versagen auch der Demokratie, vor allem - jetzt streifte sie Mesäcker mit einem eher entschuldigenden Blick - der Parteiendemokratie. Dann machte sie eine Pause, drückte den Rollstuhl von der Tischkante weg und schaute in die Runde. So, sagte sie dann, nun habe sie ein Problemszenario ausgebreitet, das möge genug sein. Den meisten in dieser Runde sei ja die Beschreibung von Problemen nicht genug, sie dächten über deren praktische Lösung 342 nach. Nun habe sie den unbescheidenen Wunsch, dass reihum jeder dazu etwas beitrage, was ihm wichtig erscheine, mich ausgenommen, denn ich sei heute ja zum Zuhören eingeladen. Mesäcker war der Erste. Er habe geahnt, sagte er, dass er an diesem Tag Erstaunliches hören werde, aber es sei noch weit erstaunlicher, als er es erwartet habe. Er habe großen Respekt vor dieser Runde und auch vor dem, was er vorher bei den Neokraten gehört habe, aber spontan könne er dazu nichts Wichtiges beitragen. Auch er wolle lieber nur Zuhörer sein. Klaus sah ihn mit verschmitztem Lächeln an. - Das ist doch schön, wenn einmal ein früherer Politiker im Alter zum guten Zuhörer wird. Mesäcker blieb gelassen. - Sie mögen sogar Recht haben, sagte er, und ja, dazu könne er sich in dieser kleinen Runde als alter Mann durchaus bekennen, auch er denke manchmal darüber nach, ob er sich in seinem Politikerleben fürs Zuhören und auch für das Nachdenken genug Zeit genommen habe. Auf jeden Fall wünsche er sich, dass Politiker es damit in Zukunft leichter hätten. - Ich gratuliere Ihnen zu dieser Einsicht, warf Meier ein, mit dieser Einsicht fängt neokratisches Denken an. Und dann, in die Runde blickend: - Sie, Herr Mesäcker, haben also als Politiker Dinge entschieden, über die sie zu wenig wussten und zu wenig nachgedacht haben. So verstehe ich Sie. - Vielleicht, sagte Mesäcker. Aber hatte ich eine andere Wahl? - Nein, sagte Meier, die hatten sie nicht. Auch Sie waren eben Opfer eines Systemversagens. Er schaute wieder in die Runde. - Und wir alle mit Ihnen. 343 Mesäcker sah ihn verdutzt an, dann lächelte er, dann sah er, wie alle anderen schmunzelten, dann lachten alle, auch Mesäcker, für eine Sekunde befreit auf. Von dem Moment an war die Stimmung ganz und gar gelöst, und wir waren eine vertraute, fast intime Runde. - Bin ich dran?, fragte Halsdorf dann. - Ja, sagte Constanze. Sie erklären uns ganz kurz, ob Geld die Welt rettet. Halsdorf lächelte. Dass die Welt mit Geld allein nicht zu retten sei, sagte er, auch mit viel Geld nicht, dass wüssten hier natürlich alle, aber ohne viel Geld erst recht nicht. Yang habe ja gezeigt, wie viel Geld sich, wenn man es geschickt anstelle, für große politische Ideen mobilisieren lasse, nicht nur in Amerika. Immer mehr private Milliardenvermögen würden in Stiftungen überführt, und fast alle diese Stiftungen seien irgendwie auf Sinnsuche, und das bedeute auch: auf Ideensuche. Was derzeit knapp sei, sei daher nicht großes Geld, das in der Politik Gutes tun wolle, knapp seien vielmehr die großen Ideen, aus denen Gutes entstehen könne. Deswegen habe Robert Yang für seine Ideen so viel Geld mobilisieren können, und die Neokraten in Deutschland sollten es nun auch versuchen. Sie sollten es tun, schloss er, solange noch genügend Superreiche offen seien für neue politische Ideen. Keiner wisse, wie lange es so bleibe. Der junge Puig fühlte sich angesprochen, und er nickte Halsdorf zu. Die meisten Milliardäre seien als Ideenförderer in der Tat launisch und unstet. Sein verstorbener Vater sei allerdings seinem großen politischen Thema bis zum Lebensende treu geblieben und zu Robert Yang immer loyal, und er selbst wolle das auch sein. - Andererseits, mischte Meier sich ein, hat die Abhängigkeit vom großen Geld politischen Ideen nie gutgetan. Wenn z.B. der Förderer einer Idee in Misskredit gerät, dann gerät die Idee oft mit unter die Räder. Wir Neokraten wollen unsere Sache daher weiter behutsam voranbringen. Die so genannte Weltrettung, das wissen wir alle, verträgt keinen Aufschub, aber einen gescheiterten Rettungsversuch verträgt die Welt erst recht nicht. 344 Yang hob ungeduldig die Hand. Das verstehe er, sagte er, aber für sein Projekt sehe er das anders. Wenn sein Projekt scheitere, dann seien damit keine Ideen gescheitert, sondern er selbst. Dann habe er vielleicht hunderte Millionen verschwendet, vielleicht auch Milliarden, dann zögen sich womöglich die Milliardäre dieser Welt von solchen Projekten erst einmal zurück, aber dann müsse er sich wenigstens nicht vorwerfen, zu lange gezögert zu haben. Dann sei es nicht seine Schuld, sondern dann sei der Welt eben nicht zu helfen gewesen. Er werde in nächster Zeit versuchen, die Weltöffentlichkeit auch mit aufsehenerregenden Aktionen aufzurütteln. Meier wollte mit einem Kopfschütteln auf sich aufmerksam machen, aber Yang ging gleich zu seinem nächsten Thema über. - Ich weiß, begann er, dass auch die Neokraten sich für die freie Wahl der Staatszugehörigkeit einsetzen, vielleicht sogar noch konsequenter und radikaler als ich. Das hat mich natürlich bestärkt. Ich bin sogar sicher, dass das Konzept der Neokraten und das von Puig und mir entwickelte vollständig zusammenwachsen werden. Dann sprach er lange über das Verfahren der Online-Referenden zur politischen Unabhängigkeit. Diese Entwicklung sei - wie meistens in solchen Fällen - viel aufwändiger gewesen als geplant. Ein großes Problem sei die Fälschungssicherheit gewesen, aber nicht weniger schwierig der Ausschluss von Zufallsergebnissen. Erst Puig habe ihn darauf gestoßen, dass die Ergebnisse herkömmlicher demokratischer Wahlen oft Zufallsergebnisse seien, Momentaufnahmen, die nur flüchtige Stimmungen abbildeten. Sein Abstimmungserfahren sei dagegen so weit entwickelt, dass sich Zufallsergebnisse damit ausschließen ließen, was übrigens nicht nur für Unabhängigkeitsreferenden gelte. Im Übrigen hätten seine Entwickler auch großartige Lösungen für das Problem gefunden, dass unterlegene Minderheiten durch die Ergebnisse von Unabhängigkeitsreferenden benachteiligt sein können. Wenn eine Region sich z.B. nur mit ganz knapper Mehrheit für unabhängig erkläre, dann sei es natürlich fraglich, ob damit der Freiheit und dem Frieden wirklich gedient sei. Mit 345 einem solchen knappen Ergebnis dürfe der politische Entscheidungsprozess daher nicht beendet sein. - Richtig, warf Meier ein, das sehen wir Neokraten genauso. Was wir politische Assoziationsfreiheit nennen, schützt auch eventuelle neu entstehende Minderheiten. - Glauben Sie mir, sagte Yang, die Zeit ist reif dafür. Viel Behutsamkeit können wir uns nicht mehr leisten. Kiesewetter, der bis dahin mit halb geschlossenen Augen zugehört hatte, hob demonstrativ die Augenbrauen. - Kann sein, dass die Zeit reif ist, murmelte er, aber die Presse, die Medien, die Redaktionen sind es noch nicht. In diesem Moment hob Constanze die Hand, als wolle sie die Gesprächsrunde damit beenden. Dann begann sie im Tonfall eines Schlussworts: - Hoch interessant, was wir gerade gehört haben…. - Aber wie sieht denn Tian das Ganze?, unterbrach ich sie. Wollen wir das nicht auch noch hören? Constanze schaute mich etwas verlegen an, dann sah sie auffordernd zu Tian hinüber, dann Tian zu mir, dann ich zu Tian, und dabei nickte ich ihm so lebhaft zu, dass er kurz entschlossen das Wort ergriff. Er habe hier sehr interessante Gedanken gehört, sagte er, auch wenn er und seine Kollegen in China deren Entwicklung schon seit langer Zeit verfolgten. Dann deutete er vorsichtig einiges von dem an, was er mir in unseren langen Gesprächen in Peking erklärt hatte. Einige in der Runde, Meier vor allem und Yang, Constanze und auch Kiesewetter, hörten ihm staunend zu, als trauten sie ihren Ohren nicht. Aber dann brach Tian - er hatte kaum mehr als zwei Minuten geredet - unvermittelt ab. - Sie sehen, sagte er dann noch, in China hält man sich viele Wege offen, auch einige, denen der Westen sich noch verschließt. Aber man müsse die kommenden Entwicklungen in China aufmerksam beobachten. 346 Alle in der Runde nickten anerkennend. Nur mich hatte dieses Aber etwas stutzig gemacht. Aber wir sollten die Entwicklungen in China beobachten. Was bedeutete das? Constanze dankte Tian, und nun kam sie - auch das natürlich gut vorbereitet - zu ihrem Schlusswort, jetzt mit einer ersten Spür Müdigkeit in der Miene, aber immer noch sprühend vor geistiger Frische. Was wir heute gehört hätten, mache doch viel Mut, sagte sie. Die große Demokratiemüdigkeit, die den Westen in den letzten Jahrzehnten befallen habe, müsse eben nicht bedeuten, dass das Rad der Geschichte zurückgedreht werde, ganz im Gegenteil. Wenn sich in letzter Zeit wieder eine so genannte Sehnsucht nach der starken Frau bzw. dem starken Mann an der Staatsspitze ausgebreitet habe, dann werde das bald überwunden sein. Von den Neokraten hätten wir gehört, dass in Wahrheit niemand mehr die Rolle des starken Staatslenkers kompetent ausfüllen könne, und das sei doch sehr einleuchtend. Demnach könne es kein Zurück hinter die Demokratie geben, wie sie ist, sondern nur eine Entwicklung über die Demokratie hinaus. Wenn also unsere Art von Demokratie untergehe, wie beispielsweise die klassische Demokratie Athens untergegangen sei, dann führe das nicht in ein neues Zeitalter von Monarchien, Autokratien und Gottesstaaten. Allein die von Yang skizzierten neuen Abstimmungsverfahren zeigten, dass unserer Demokratie viel höher entwickelte Staatsformen nachfolgen könnten. Wir hätten aber auch gehört, fuhr Constanze fort, wie unterschiedlich der Zeitbedarf für diese Entwicklungen eingeschätzt werde. Meier zufolge könnten wohl selbst die Jüngsten in der Runde nicht sicher sein, diese Entwicklungen noch zu erleben. All dem wolle sie als Ökonomin nur noch hinzufügen: Auch die Wirtschaft sei von der Inkompetenz überforderter demokratischer Staatsführungen und ihrer Zentralbanken immer betroffen. Auch die Wirtschaft könne daher von einer Weiterentwicklung der Demokratie nur profitieren. Dabei strahlte Constanze eine zuversichtliche Stimmung aus, von der wir uns alle anstecken ließen. Nur Tians Miene blieb so ernst, wie sie seit seiner Ankunft gewesen war. 347 Natürlich hatten wir bis dahin nichts zu Ende diskutiert, aber das durfte ich auch nicht erwarten. Wir kamen schon zum Ende unserer Begegnung, und auch das war von Constanze perfekt inszeniert. Es gab eine mehrsprachige Speisekarte, deutsch, englisch, katalanisch, chinesisch und luxemburgisch, mit je einem deutschen, englischen, katalanischen, chinesischen und luxemburgischen Gericht. Dann wurde unser kleiner Kreis von fünf Kellnern umsorgt, allesamt Studenten, einer Deutschen, einem Kanadier, einer Chinesin, einem Luxemburger und einer Katalanin. Und nach der ersten Speise hatte Constanze noch eine Überraschung parat. Jeder von uns sollte die politische Idee, die ihm für die Zukunft am wichtigsten schien, den fünf Studenten in einem Kurzvortrag erläutern, und anschließend sollte ein anderer herausfinden, wie gut die Studenten es verstanden hatten. Alle machten mit Begeisterung mit. Aber das Ergebnis war dann doch ernüchternd. Richtig verstanden hatten die Studenten nur, was Mesäcker über die Zukunft seiner Partei gesagt hatte. Ganz überrascht habe sie das nicht, sagte Constanze am Ende, es habe uns aber zumindest gezeigt, wie viel Überzeugungsarbeit noch zu leisten sei. Vielleicht, sagte sie, als wir danach auseinandergingen, hätten wir für alles noch immer nicht die richtige Sprache gefunden. Bei solchen Themen müsse man immer auch in Bildern sprechen, die die Phantasie anregten. Was ich denn von dem Bild hielte, mit dem Meier einmal Demokratie und Neokratie verglichen habe: Demokratien seien die Larven, aus denen sich die Schmetterlinge der Neokratie entwickeln würden. Ich brauchte eine Weile, bis das Bild sich in meiner Vorstellung ganz entfaltet hatte. - Das passt, sagte ich. Kleine Neuerungen Wie hatte Constanze es geschafft, eine solche Runde zu diesem Tag zusammenzubringen? Ganz leicht sei es nicht gewesen, untertrieb sie, als ich sie am 348 nächsten Morgen danach fragte, aber interessante Menschen zusammenzubringen, darin habe sie ja Übung. Viel mehr konnte ich ihr, bescheiden wie sie war, nicht entlocken. Tian und Klaus, sagte sie noch, habe sie nicht überreden müssen, eine kurze Mail habe genügt, und den anderen habe sie eine förmliche Einladung geschickt. Einladung zu was?, wollte ich wissen, und sie las mir vor: zu einem hochkarätig besetzten internationalen Kolloquium mit führenden politischen Reformkonzeptgebern u.a. aus Deutschland, China und Kanada im Anschluss an ein Konzeptseminar der Neokraten. Das habe genügend Neugier geweckt. Natürlich war ich von dem Treffen beglückt, und auch Constanze tat es gut. Das Leben wird im Alter ereignisärmer, nicht erst im neunten Lebensjahrzehnt, und vor allem Yang hatte uns das Gefühl gegeben, wir erlebten womöglich doch noch große politische Veränderungen. Ganz falsch lagen wir damit nicht. Weniger als ein halbes Jahr nach unserem Treffen gab es in Schottland ein Probereferendum über die Monarchie, wie es schon in Katalonien stattgefunden hatte. Der Zeitpunkt war denkbar günstig. Die royale Familie hatte gerade mit neuen Skandalen Schlagzeilen gemacht. Im Internet kursierten heimlich aufgenommene Bilder eines offenbar alkoholseligen Königspaares, der König hörbar Unflätiges murmelnd, und dazu gab es Gerüchte über einen alles andere als königlichen Erziehungsstil der beiden. Von dieser Familie wollten sich weniger Schotten repräsentiert sehen als je zuvor. Nach dem ersten Probereferendum wurden - wie Yangs Verfahren es vorsah - zwei Bestätigungsreferenden durchgeführt. Das Ergebnis war eindeutig. Mit einer Ausnahme lehnten alle schottischen Bezirke die britische Monarchie mit großer Mehrheit für sich ab. In diesen Bezirken war damit auch in Schottland die Monarchie de facto abgeschafft. Dem König wurde die Botschaft übermittelt, als Gast sei er dort weiter sehr willkommen, aber nicht mehr als Staatsoberhaupt und König der Schotten. 349 Wenige Monate später gründete sich in Flandern eine Bewegung, die sich die Loslösung von der belgischen Monarchie zum Ziel setzte. Ich hatte die europäischen Monarchien immer für bedeutungslos gehalten und tat es noch immer, aber die Medien waren erfüllt von dem Thema, und ich ließ mich davon anstecken. Wirklich bedeutende politische Entwicklungen hatte ich in Europa bisher kaum erleben dürfen, nicht einmal den Willen dazu, aber hier war wenigstens in einer Angelegenheit ein breiter Veränderungswille zu spüren. Immerhin war es ein Stück Staatsordnung, das hier in Frage gestellt wurde. Ich wollte meine Freude hierüber teilen und rief Constanze an. Auch sie sei doch sicher froh, dies in unserem Alter noch zu erleben. - Ja, antwortete sie, interessant ist das, aber es ist doch auch erschütternd, dass eine solche Kleinigkeit schon als großes Ereignis gilt. Eine Provinz erklärt einen machtlosen König auf ihrem Gebiet zum Privatmann. Na und? Sie hatte natürlich wieder einmal Recht. Es gab einen kleinen Funken Hoffnung auf spätere größere Veränderungen, mehr nicht. Aber schon ein paar Monate später bewegte sich wieder etwas. Es gab Neues aus Island und China. Wirtschaftlich hatten beide Länder schon lange eng zusammengearbeitet, vor allem natürlich in Fischereiangelegenheiten. Nun wollten, so hieß es, Island und China auch bei politischen Reformen kooperieren. Ich dachte natürlich sofort an das, was Tian mir in Peking erzählt hatte: dass China in kleinen Modellstaaten Reformen erproben lassen wollte, die man sich am einem Milliardenvolk nicht zu erproben traute. War Island mit seinen 300.000 Einwohnern nicht ein geradezu idealer Testfall? Würde Island sich also, ermutigt durch großzügige chinesische Finanzhilfen, demnächst zum globalen Vorreiter politischer Systemerneuerung machen? Das beobachten zu dürfen, dafür würde ich mir noch ein ziemlich langes Leben wünschen. Aber auch anderswo kamen Reformvorhaben in Bewegung. Yangs Referendumsidee hatte einige Initiativen angeregt, die Größeres im Sinn hatten als eine Loslösung von 350 monarchistischem Zeremoniell. In Indien suchten immer mehr Regionen nach Wegen zu mehr Autonomie, und auch hier sprach sich herum, dass Yangs Referendumskonzept hierfür neue Perspektiven eröffnete. Auch in Südosteuropa wuchs bei ethnischen und sprachlichen Minderheiten, ungarischen, albanischen und anderen, das Interesse an Yangs Konzept. Auch in Estland wurde darüber immer mehr diskutiert. Estland hatte die Furcht vor einer russischen Invasion fast zur Staatsräson gemacht und als NATO-Mitglied militärisch immer weiter aufgerüstet. Misstrauen und Missgunst zwischen der estnischen Mehrheit und der russischen Minderheit des Landes waren dadurch immer größer geworden. Dass nun die russische Minderheit mehr Eigenständigkeit einforderte, könnte auch von Yangs Konzept inspiriert gewesen sein. Dazu passten Slogans, mit denen die russische Minderheiten jetzt Furore machte, wie Eure Armee ist nicht unsere und Wir zahlen nicht mit für euren Rüstungswahn. Was anderes konnte das Ziel solcher Initiativen sein als ein - wie es jetzt auch in den Medien genannt wurde - Yang-Referendum? Also ein Lossagen der russischen Minderheit von der estnischen Landesverteidigung? Das aber würde nur möglich sein bei einer Ausgliederung der Landesverteidigung aus dem estnischen Gesamtstaat. Was wiederum auf eine Aufgliederung des Staates im Sinne der Neokraten hinausliefe. So weit immerhin war unser Jahrhundert schon gekommen. Stillstände Ein paar Monate lang hatte ich geglaubt, hier mit dieser hoffnungsvollen Note enden zu können, aber das wäre, wie man inzwischen weiß, ganz und gar irreführend gewesen. Von der Bundestagswahl 2077 hatte ich mir keine Veränderungen erwartet, aber es kam dann doch anders. Die Schlussphase des Wahlkampfs brachte eine Debatte, wie man sie seit Jahrzehnten nicht erlebt hatte. Den Anfang machten die Deutschen Demokraten. Als Umfragen ihnen immer stärkere Stimmenverluste vorhersagten, schossen sie sich immer gezielter auf die EU ein. Die EU sei ein verkorkstes Projekt, 351 und man müsse endlich den Mut haben, es auch so benennen. Dieses politische Europa sei nicht mehr reparabel, eine Sanierung sei zwecklos, es helfe nur noch ein Neubau. Mit uns Europa neu bauen, das wurde die zentrale Wahlkampfbotschaft. Für die Neokraten hätte es Schlimmeres kaum geben können. Dass man das politische Europa von Grund auf neu bauen müsse, das hatten sie schon immer vertreten, und Konzepte dafür hatten sie über Jahrzehnte entwickelt. Dieses Thema durften sie nicht von den immer noch populistischen Deutschen Demokraten vereinnahmen lassen. Zum ersten Mal in ihrer Geschichte stürzten sie sich daher in eine reguläre Wahlkampfdebatte. Sie traten den Deutschen Demokraten mit dem Slogan entgegen: Baumeister für ein neues Europa - Die Neokraten. Helfen tat es nicht. Bei den Neokraten erneuerte es nur die alte Einsicht, dass sie in solchen Debatten nichts zu gewinnen hatten. Die Deutschen Demokraten wurden bei dieser Wahl erstmals stärkste Partei. Dabei gelang es ihnen, viele politikmüde Wähler wieder an die Wahlurnen zu bringen und damit die Wahlbeteiligung auf unerwartete 37% zu steigern. Die Leitmedien wollten darin ein Wiedererstarken der Demokratie sehen. Die Deutschen Demokraten gewannen am Ende SPD und die Unionsparteien als Koalitionspartner, womit weitere vier Jahre Stillstand gesichert waren. Ich rechnete ich mir aus, welche regierungsfähigen Koalitionen ohne eine 7%-Hürde möglich gewesen wären. Das überraschende Ergebnis: Die Deutschen Demokraten hätten mit den Grünen und den Neokraten eine knappe Mehrheit gehabt, und vieles sprach dafür, dass dies für sie sogar das kleinere Übel gewesen wäre. In einer solchen Koalition wiederum wäre den Neokraten zuzutrauen gewesen, grundlegende Reformen des Wahlrechts durchzusetzen, bis hin zur Einführung der förmlichen Proteststimme. Es war also das Verfassungsgericht, das den Weg zu solchen ersten politischen Systemreformen in Deutschland verstellt hatte. In den Monaten danach bemerkte ich an mir zum ersten Mal, wovor mein Verstand mich bis dahin hatte bewahren sollen: Das Altern macht ungeduldig. Wenn es um 352 große, grundlegende Reformen geht, hatte schon Hauser mir oft vorgehalten, müsse man in historischen Zeiträumen denken, sich also vor Ungeduld hüten. Die Geschichte nehme eben auf den Wunsch, ein bestimmtes Ereignis noch selbst zu erleben, keine Rücksicht, wie weit dieser Wunsch auch verbreitet sei. Aber ausgerechnet im Alter konnte ich diesen Wunsch immer weniger unterdrücken. Ich hoffte, dass wenigstens anderswo auf der Welt demnächst Stillstände aufbrechen würden. Dann kam eine Mail von Tian, die erste nach langer Zeit. Was weißt du Neues über Yang? Was über Meier und seine Neokraten? Behalten sie einen langen Atem? Nur diese drei Sätze, sonst nichts. Kein Wort über China, kein Wort über die Reformideen von Tian und Kollegen, kein Wort darüber, wie weit die Partei und womöglich die Regierung in China sich darauf eingelassen hatten. Ich wusste: Ein gutes Omen war das nicht. Manchmal ähnelt die Wirklichkeit einem schlechten Roman. Manchmal folgen spontane reale Ereignisse wie gekünstelt aufeinander. So erschien es mir, als nur einige Tage nach Tians Mail die Vanuatu-Tragödie ihren Lauf nahm. Meteorologen sagten voraus, dass wieder einmal ein südpazifischer Wirbelsturm Vanuatus Inseln streifen würde. Dann wurden die Meldungen bedrohlicher. Was da komme, hieß es jetzt, könne der heftigste je beobachtete Wirbelsturm sein. Die nächste Nachricht: Der Zyklon ändere die Richtung, sein Zentrum bewege sich genau auf Vanuatu zu. Dann die Warnung: Viele kleinere Inseln Vanuatus würden vollständig überflutet werden. Jetzt blickte die Welt auf Vanuatu. Vielleicht hatte Yang so etwas schon lange erwartet, und vielleicht wusste er auch längst, was er in solchem Fall tun würde. Viele Dutzend wagemutige Journalisten aus aller Welt, manche von ihnen bekannte Kriegsberichterstatter, machten sich sofort auf den Weg nach Vanuatu. Und Yang wollte dabei sein. Für ihn, den globalen Klimaschutzaktivisten, war das vielleicht die große Chance seines Lebens, ein weltweit sichtbares klimapolitisches Signal zu geben. 353 Yang brauchte zwei Tage für die Vorbereitung. Er charterte ein Flugzeug, ließ es mit Schlauchbooten, Fahnen, Transparenten und Ballons beladen, alle mit unübersehbar großer Beschriftung. Eine davon: World Upgrade in Aktion für Vanuatu. Eine andere: Virtuelle Weltklima-Regierung - VWCG. Drei von deren Mitgliedern flogen mit ihm. Zum ersten Mal, hoffte Yang, würden die Augen der Welt sich auf dieses Gremium richten. Yangs Flugzeug landete in Vanuatus Hauptstadt Port Vila einen halben Tag, bevor der Wirbelsturm sie erreichte. Am nächsten Morgen erkannte ich auf Fernsehbildern vom Flughafen Port Vila Yangs Fahnen und Transparente. Ein paar Stunden später schaltete ich einen kanadischen Nachrichtenkanal ein. Da sah ich Yang im Kurzinterview mit einem Reporter, im Hintergrund seine Mitstreiter von der virtuellen Weltklimaregierung, umgeben von Schlauchbooten und Ballons, alle beschriftet mit Yangs großformatigen Botschaften. Dies waren die letzten Bilder von Yang. Am nächsten Tag meldeten die Medien seinen Tod. Er war nicht Opfer seines Wagemuts geworden, er war nicht bei einer spektakulären Aktion verunglückt, er war einen ganz banalen Tod gestorben. Eine im Orkan herabfallende Balkonplatte hatte ihn erschlagen. Ich hätte ihm gewünscht, mit seinem Tod wenigstens noch seiner Sache gedient zu haben, aber selbst das war ihm nicht vergönnt. Die Welt schaute auf die Bilder von den Verheerungen des Zyklons, der Fall Yang war eine drittrangige Nachricht. Die Medien verwehrten ihm sogar noch im Tod den verdienten Respekt. Klimaaktivist Robert Yang bei Spaziergang in Vanuatu verunglückt, so ähnlich meldete es nicht nur DIE WELT-Online. Umso eindrucksvoller war der spontane Nachruf, den zur gleichen Zeit Claude Halsdorf auf seiner eigenen Internetplattform veröffentlichte und der später Millionen Leser fand. Ich will hier nicht Halsdorfs ergreifende Schilderung der Persönlichkeit Robert Yangs wiedergeben, der fast verglüht sei in seinem Engagement für die Rettung des Weltklimas. Fast ebenso beachtenswert war 354 Halsdorfs Reminiszenz an das Seminar über die Anthropologie von Staatsverfassungen, das Yang und er in Stanford gemeinsam besucht hatten. Yangs eigener Beitrag zu diesem Seminar habe davon gehandelt, welche Schlüsselrolle Feindbilder und Empörung gespielt hätten, wo immer die Bürger große politische Veränderungen getragen oder mitgetragen hätten, Feindbilder also wie verhasste Monarchen, Autokraten, Oligarchen, Ethnien, Gesellschaftsschichten, Parteikader, Un- oder Andersgläubige oder auch abstrakte Feindbilder wie das Großkapital oder vermeintliche Verschwörercliquen. Diesen Zusammenhang zwischen Feindbild und Empörung einerseits und politischem Wandel andererseits habe Yang als anthropologische Konstante beschrieben. Empörung, so Yang damals weiter, wirke aber, auch wenn sie noch so berechtigt sei, für sich genommen erst einmal nur destruktiv, was auch in der Geschichte großer politischer Bürgerbewegungen seinen traurigen Niederschlag gefunden habe. Dies sei ein Schlüsselgedanke, der aber in der politischen Ideengeschichte bisher kaum eine Rolle gespielt habe. Früher oder später, so sei Yangs Schlussfolgerung gewesen, bedürfe es daher neuer Staatsverfassungen, die es Menschen leichter machten, politischen Wandel auf den Weg zu bringen, ohne sich zuvor in Feindbilder verbissen zu haben. Diesen Gedanken, so Halsdorf, habe Yang nie aufgegeben, aber er sei zu früh gestorben, um ihm in aller Gründlichkeit nachzugehen. Hoffnung gebe aber, dass die Neokraten diesen Gedanken - zuletzt auch in Zusammenarbeit mit Yang - sehr weit entwickelt hätten. Ich wollte über Yangs Tod nicht nur lesen, ich wollte meine Trauer darüber mit jemandem teilen, und wen anders konnte ich anrufen als Constanze? Auch sie war natürlich bestürzt. Ob sie denn glaube, fragte ich sie, dass Yangs Bewegung auch ohne ihn den gleichen Weg mit gleicher Entschlossenheit weitergehen werde. Auch Constanze hatte sich diese Frage natürlich schon gestellt, und sie wusste schon viel mehr als ich. Schon am Tag nach der Todesnachricht hatte sie Claude Halsdorf angerufen. Wenn einer ein Gespür dafür hatte, wie es um Yangs Bewegung nun bestellt sein würde, dann er, das wusste sie. 355 Halsdorfs Antwort war niederschmetternd. Er glaube nicht, sagte er, dass jemals wieder irgendjemand so leicht so viel Geld für ein politisches Projekt einwerben könne. Einige Milliardäre, zuletzt sogar aus China, hätten Yang ja veritable Blankoschecks ausgestellt, fast ohne jegliche Auflagen und Zweckbindungen, so etwas sei nicht wiederholbar. Im Umgang mit den Superreichen dieser Welt sei Yang ein Jahrhunderttalent gewesen, ein Genie geradezu, und ein Nachfolger sei nirgendwo in Sicht. Das große Geld werde für World Upgrade nicht mehr fließen, die Geldgeber würden noch viel kritischer werden, und die großen Projekte, die Yang in jüngster Zeit auf den Weg gebracht habe, würden rasch ins Stocken geraten. Dann erzählte er Constanze, worüber Yang zuletzt konkret verhandelt hatte: informelle Unabhängigkeitsreferenden in Indien und in europäischen Ländern, die meisten über Teil-Unabhängigkeiten für einzelne Staatssparten. Übergangshilfen für den Umbau zum klimapolitischen Modellstaat für Slowenien und Estland. Vorübergehende Übergabe der Staatsgeschäfte des Kosovo, des früheren Libyens und des früheren Somalias an die Staatsmanagementorganisation der Gates-Stiftung mit dem Ziel einer politischen Systemerneuerung binnen acht Jahren. - Aber auch all das, fasste Constanze zusammen, war noch ganz in den Anfängen. Von einem Robert Yang wollte die Welt sich offenbar nicht retten lassen. Nachwort Wie viel einfacher wäre es gewesen, wenn ich diese Geschichte, wie ich es zuletzt geplant hatte, mit der Bundestagswahl 2077 hätte enden lassen können. Dann kam Yangs Tod, und den konnte ich natürlich nicht übergehen. Aber durfte Yangs Tod das Ende dieser Geschichte sein? Wäre nicht auch das ein Ende gewesen wie in einem schlechten Roman? Mit Yangs Tod gingen viele Hoffnungen unter, das war klar, aber war damit wirklich irgendetwas zum Abschluss gekommen? Keiner wusste es. 356 Ich nahm mir in dieser Sache noch einige Wochen Bedenkzeit, und dabei verfolgte ich die Nachrichten über den aktuellen Volkskongress in China. Es waren die üblichen starren Bilder, dazu immerhin ein paar Meldungen über unvorhergesehene Personalien, aber dann kam am Ende die Meldung über die Resolution zur Einheit und Einigkeit Chinas. Die westlichen Medien machten zu Anfang wenig Aufhebens davon. Der tiefere Sinn der Resolution erschloss sich erst bei genauem Studium, nichts also für eilige Korrespondenten und Redakteure. Aber mich machte es hellhörig, und ich besorgte mir den vollständigen Text. Es war, wie ich befürchtet hatte. Einheit und Einigkeit, das sollte der Gegensatz zu Vielfalt und Pluralität sein. Die Botschaft war: Ganz China hat einig hinter der Parteiführung und ihren Dogmen zu stehen. Ganz China, das hieß: alle Regionen, alle sozialen Schichten, alle Ethnien, alle Konfessionen, aber es hieß auch: alle Wissenschaftler, auch Leute wie Tian. Die Vielfalt der wissenschaftlichen Meinungen, die sich, wie Tian es mir erklärt hatte, auch im Auftrag der Parteiführung herausgebildet hatte, war der Partei unheimlich geworden. Dass die Entwicklung von Reformkonzepten ein Wettlauf mit der Zeit sein würde, hatte auch Tian gewusst. Für China schien dieser Wettlauf nun verloren. Die Parteiführung glaubte nicht mehr, das Land mit Reformen befrieden zu können, also versuchte sie es wieder mit harter Hand. Das Signal an die Kritiker, Querdenker und Vordenker im eigenen Land und in der Welt war: Das neue China wird das alte sein. Die grandiose Idee, Systemreformen zunächst von kleineren Nationen testen zu lassen, um sie dann später ggf. auf China zu übertragen, war zu spät gekommen. Oder würde Tian sagen, zu früh? Viel zu früh womöglich? Ich schickte Tian eine Mail. Nichts, was ihn in Bedrängnis bringen konnte, nur die kurze Frage: Wie weit, glaubst du, geht es zurück? Seine Antwort kam rasch und überraschend klar und offen. - Mit der Entscheidung des Volkskongresses? Für den Rest des Jahrhunderts ist sie bindend. Aber das Denken verbietet sie nicht. 357 Nicht das reformerische Denken verbot sie, aber das Handeln. Damit war klar: Das 21. Jahrhundert wird für China als das zu Ende gehen, was es für die Chinesen bisher gewesen war, als ein Jahrhundert des Wohlstandswachstum. Nicht weniger, aber auch nicht mehr. Alles andere war damit den Generationen des 22. Jahrhunderts aufgebürdet. Auch ich war tief enttäuscht. Wie viel Hoffnung hatte Tian in mir geweckt, dass China einem verkrusteten Westen politische Impulse geben würde, zu denen dieser selbst nicht mehr fähig war. Diese Hoffnung war nun erloschen. Wenigstens insofern, sagte ich mir dann, klare Verhältnisse. Yangs Tod und der Rückschlag in China, beides zusammen kann eine Epoche um ihre Chancen bringen. Aber manchmal, wenn ich in den Spiegel schaute, auf mein faltiges Gesicht und den fast kahlen, nur noch von einem schmalen Streifen halblanger schlohweißer Haare gesäumten Kopf, dachte ich auch: Sollen doch Jüngere sich darüber Gedanken machen. Du hast wenigstens deine Chronistenpflicht erfüllt. Als Achtzigjähriger hat man nicht mehr viele Gesprächspartner, bei denen man sich in solchen Dingen vergewissern kann, aber ich hatte ja noch immer Constanze. Ich rief sie an, und ohne dass ich es gewollt hatte, begann ich zu klagen, über die entmutigenden Zeiten und über das Nachlassen der körperlichen Kräfte, das auch ich immer mehr spürte, über den schmerzenden Rücken, den schwächelnden Kreislauf und darüber, dass auch ich nun immer öfter eine Gehhilfe benutzte. Wenn mein Körper noch etwas ordentlich beherrschte, sagte ich, dann allenfalls die Tastatur des Computers. Darauf gab sie wieder einmal eine Antwort, die alles zurechtrückte: Das Wichtigste ist dir am längsten geblieben, nimm das als ein großes Glück. Dann schilderte ich ihr, dass ich dieses Buch nicht mit Ereignissen enden lassen wollte, die sich später als folgenloses Randgeschehen unseres Jahrhunderts erweisen würden. Ob sie denn meine, dass das bei Yangs Tod und der aktuellen Resolution des chinesischen Volkskongresses der Fall sein könnte. Sie versuchte mich zu beruhigen. Natürlich seien das Momentaufnahmen, und niemand wisse genau, wie lange diese Ereignisse in die Zukunft hineinwirken 358 würden. Aber wir beide seien doch sicher, dass, wenn irgendwelchen Gedanken unserer Zeit die Zukunft gehöre, es Gedanken wie die von Yang, Tian und Ihresgleichen seien. Daran änderten doch auch die jüngsten Ereignisse nichts. Natürlich hatte sie Recht. Umso irreführender wäre es aber doch, ein Buch über unser Jahrhundert mit genau diesen Ereignissen enden zu lassen. Aber womit sonst? Auch dazu bat ich Constanze um ihren Rat. Schon am nächsten Tag überfiel sie mich Ideen, fast alle davon auf Anhieb hoch plausibel. Das Allerwichtigste sei natürlich, sagte sie, nach Yangs Tod und den Ereignissen in China nicht zu resignieren. Reformer brauchten nun einmal einen langen Atem, am allermeisten, das wisse ich ja, Systemreformer, und nur wer den allerlängsten Atem habe, der könne am Ende Gewinner sein. - Und wer, meinst du, wird das sein?, fragte ich. Vielleicht, sagte sie zögernd, die Neokraten, denn die könne niemand zum Schweigen bringen, wie das chinesische System es jetzt mit seinen Reformern tue. Aber wichtiger sei noch, dass die Neokraten nicht auf Führungsfiguren wie einen Robert Yang angewiesen seien, da deren Initiative - langsam werde daraus ja eine Bewegung - ganz auf Ideen gegründet sei. Sie glaube allerdings nicht, dass die Neokraten in diesem Jahrhundert noch etwas bewirken würden. Auch mit dieser pessimistischen Note will ich hier aber nicht enden, das wäre wohl auch nicht Constanzes Sinn. Aber was wäre zu den großen politischen Themen noch nachzutragen? Zur lähmenden Stimmung von Stagnation und Sinnleere in der westlichen Welt, zum Niedergang der Parteiendemokratie, zur allgemeinen Inkompetenz und Unberechenbarkeit von Politik, zum schleichenden Dritten Weltkrieg in Afrika und Asien, zur Missachtung des Selbstbestimmungsrechts über die Staatszugehörigkeit, zu den Dramen der Bevölkerungsentwicklung, des Klimawandels und der Ressourcenverknappung, zur zunehmenden digitalen Verletzlichkeit von Staat und Wirtschaft, zum hilflosen Umgang mit historischem Unrecht und zu dem Kampf gegen die Flüchtlingsströme, den viele für Europa schon 359 endgültig verloren glaubten? War das Resümee am Ende doch nur, dass wir in einem Jahrhundert verpasster Chancen lebten? Auch dazu gab Constanze noch einen klugen Kommentar. Ja, sagte sie, Chancen habe es durchaus gegeben, aber - auch darüber hätten wir ja schon oft gesprochen es ließe sich niemand benennen, der sie bewusst vergeben hätte. Unser Jahrhundert sei, politisch gesehen, nun einmal ein Jahrhundert der organisierten Überforderung. Politische Schuld gebe es viel, aber nur selten hätten demokratische Politiker sie vorsätzlich auf sich geladen. Ob das für sie denn das vorläufige Fazit für unser Jahrhundert sei, fragte ich. - Vielleicht, sagte sie zögerlich, als hätte sie mit dieser Frage am allerwenigsten gerechnet. Dann, nach einer Pause, als warte sie darauf, dass sich in ihrem Kopf eine genauere Antwort formte, sagte sie: - Unserem Jahrhundert fehlt noch immer eine Kultur langfristen Denkens. Ich weiß, die hat es auch früher nicht gegeben, aber ausgerechnet jetzt, wo eine solche Kultur überlebensnotwendig geworden ist, leben wir mit einer Demokratie, die eine solche Kultur nicht gedeihen lässt. - Grafs altes Thema, sagte ich. Wir, die Generation Sichtflug, haben es vermasselt. - Ja, sagte Constanze, aber auch Graf hat es nicht wirklich durchschaut. Er hat uns Kurzsichtigkeit vorgehalten, aber auch er hat nicht gesehen, wie fest die Kurzsichtigkeit schon im politischen System angelegt ist. Deswegen sind die Jüngeren heute ja nicht besser als wir damals. - Siehst du keine Unterschiede zwischen den Generationen?, fragte ich. - In der Kultur des langfristigen Denkens? Nein, sagte sie, außer, dass wir wenigstens noch einen Graf hatten, der es uns vorgehalten hat. Die Generationen nach uns hatten keinen Graf. 360 Die Kultur des langfristigen Denkens. Das war das Stichwort, das mich nach unserem Gespräch lange beschäftigte. Ich suchte nach Beispielen großer politischer Irrtümer der Vergangenheit, vor denen eine solche Kultur uns bewahrt hätte, und als eines der ersten kam mir die Atomenergie in den Sinn. Was wäre gewesen, wenn die Kosten für den Rückbau der Atomkraftwerke und für die Zwischen- und Endlagerung des Atommülls von Anfang an vollständig eingerechnet worden wären? Diese Frage stellte ich einem früheren Kollegen vom SPIEGEL, und der zögerte keinen Moment mit der Antwort. Wenn alles einkalkuliert worden wäre, sagte er, wäre nie ein Atomkraftwerk gebaut worden. Die Kosten des Rückbaus kenne man ja inzwischen, die Zwischenlagerung könne Jahrhunderte dauern, danach müsse der strahlende Atommüll bis zu einer Million Jahre im Endlager gesichert werden. Wenn man die dafür anfallenden jährlichen Kosten im Vorhinein mit einer Million multipliziert hätte, dann wäre die Atomenergie von Anfang völlig indiskutabel gewesen. Sie sei nie etwas anderes gewesen als ein zynisches Geschäft dreier egoistischer Generationen zulasten vieler tausend nachfolgender. Dazu will ich noch einen eigenen Gedanken nachtragen, der mir schon viele Jahre vorher gekommen war. Ich habe mehrmals Atomkraftwerke besichtigt und habe dabei versucht, deren Technik zu verstehen. Gelungen ist mir das nicht, von ein paar ganz einfachen Formeln abgesehen. Geblieben ist mir aber das Staunen über den technischen Erfindungsgeist, der solche Gebilde entstehen lässt, im Großen und in zahllosen Details. Wie simpel sind dagegen die politischen Konzepte, die für einen verantwortungsvollen Umgang mit der Atomenergie hätten sorgen können. Wie simpel sind die Gedanken, die zu solchen politischen Systemreformen hinführen. Wie kann es also sein, dass Menschen etwas so Kompliziertes wie Atomkraftwerke ersinnen konnten, aber im Aufbau ihres Staates im Dampfmaschinenzeitalter stehenbleiben? Wie kann es sein, dass menschliche Innovationskraft sich nur in der Technik so frei entfaltet? Ist nicht schon das Beweis für einen Systemfehler? Ja, das ist es, und eben dieser Systemfehler verhindert auch eine Kultur langfristigen Denkens. Das zeigt sich nicht nur im Umgang mit der Atomenergie, es zeigt sich 361 auch in fast allem, wovon hier bisher die Rede war, und klarer noch bei einem ganz anderen Thema, über das Hauser mit mir schon in den späten zwanziger Jahren ausführlich gesprochen hat: der Umgang mit menschlichem Erbgut. Für Hauser war das eine Schicksalsfrage der Menschheit. Hauser erklärte es mir als ein Beispiel dafür, wie Urteile sich umkehren, wenn man von einer kurz- zu einer langfristigen Betrachtung wechselt. Auch er sei immer ein entschiedener Gegner von Eingriffen in das menschliche Erbgut gewesen, erklärte er mir, und das sei er noch immer. Aber inzwischen habe er verstanden, dass auch das Nichtstun in dieser Frage folgenschwer sei. Die menschliche Spezies habe es durch technischen und medizinischen Fortschritt geschafft, fast allen Neugeborenen ein langes Überleben zu sichern und damit auch die Möglichkeit, Nachkommen zu zeugen. Dadurch habe sich die Menschheit als einzige Spezies von der natürlichen Selektion des Erbguts ausgenommen, und das sei in höchstem Maße unnatürlich. So etwas habe es in der Welt vorher nie gegeben, hier stelle also die Menschheit ein hoch riskantes genetisches Experiment mit sich selbst an. Noch reiche die menschliche Phantasie nicht aus, erklärte Hauser, um sich den Verlauf dieses Experiments auszumalen, aber eines sei doch sicher: Ewig könne es nicht gutgehen. Die Menschheit sehe sich insofern ungerührt dabei zu, wie ihre genetische Überlebensfähigkeit degeneriere. Verglichen hiermit seien Klimawandel und Bevölkerungsentwicklung beinahe kurzfristige Probleme, aber das sei natürlich alles andere als ein Grund zur Beruhigung. Um die Entwicklung ihres eigenen Erbguts nicht in einer Menschheitskatastrophe enden zu lassen, müsse die Menschheit noch viel mehr politischen Weitblick entwickeln und ein noch viel höheres Niveau der politischen Zivilisierung erreichen als für den Umgang mit Problemen wie der Atomenergie und der globalen Erwärmung. Das aber, sagte er, sei mit unserer Art von Demokratie nicht möglich. Mit diesem Gedanken habe ich mich fast fünfzig Jahre lang nicht mehr befasst, aber als Achtzigjährigem erscheint er mir nun umso unabweisbarer. Auch dieses Beispiel 362 zeigt wieder: Je weiter man in die Zukunft schaut, desto fragwürdiger werden unsere heutigen politischen Überzeugungen und manchmal auch unsere moralischen. Desto kläglicher, nein desto unsäglicher erscheint uns die Politik der Gegenwart. Aber relativieren sich nicht, werden manche fragen, wenn man so weit in die Zukunft schaut, die Versäumnisse unseres Jahrhunderts? Können die kommenden Generationen diese Versäumnisse nicht doch durch entschlossenes Handeln vergessen machen? Hat es nicht schon in der Vergangenheit Jahrhunderte politischer Stagnation gegeben, ohne dass dies als historische Katastrophe erschienen wäre? Natürlich. Aber schon Hauser hat gewusst: Die Menschheit verändert sich und ihre Lebensbedingungen heute schneller denn je, und ein Jahrhundert politischer Versäumnisse wiegt in diesen Zeiten so schwer wie früher ein Jahrtausend. Ich fragte Constanze, ob sie es denn für möglich halte, dass der Rückstand in der politischen Zivilisierung sich noch in diesem Jahrhundert merklich verringert. Sie zögerte, als wolle sie mir eine negative Antwort ersparen. - Was hilft es uns, darüber zu spekulieren?, sagte sie dann. Jüngere in meiner Lage könnten sich solche Spekulationen ersparen, sie könnten einfach das Ende des Jahrhunderts abwarten. Aber ich habe mir nun einmal auferlegt, als Achtzigjähriger diesen verfrühten Rückblick auf unser Jahrhundert zu Ende zu bringen, und Zeit zum Abwarten bleibt mir nicht mehr. Trotzdem hatte ich die fixe Idee, für den Ausklang des Jahrhunderts irgendein passendes Schlagwort zu finden. Schließlich fragte ich Constanze, wie sie die politische Gegenwart mit einem Wort beschreiben würde. Und wieder hatte sie eine Antwort parat. - Demokratiedämmerung, sagte sie. - Siehst du es wirklich so düster?, fragte ich. - Nein, sagte sie. Genau das macht ja Hoffnung. Für einen Moment war ich von diesem Satz fast beglückt, aber dann fragte ich mich, ob nicht auch damit in Wahrheit nur Ratlosigkeit verschleiert wird, und schon war 363 mein Mut, dieses Jahrhundert doch noch auf den Begriff zu bringen, wieder gesunken. Ich habe mich oft im Leben über mich selbst geärgert, wenn ich solchen Gedanken nachging, den Gedanken eines Zauderers, aber es gibt auch die seltenen Momente im Leben, in denen das Zaudern, sogar ein quälend langes Zaudern, sich auszahlt. Hätte ich an dieser Stelle nicht gezaudert, hätte ich hier nicht dies noch nachtragen können, was doch noch Hoffnung macht: Nach der kurzen Schockstarre, in die die Global Upgrade Bewegung nach Yangs Tod verfallen war, wendete die Stimmung sich dort in ein Jetzt-erst-recht. Eine wichtige Rolle spielte dabei ein Zitat aus einem noch unfertigen, unveröffentlichten Artikel Robert Yangs. Darin schrieb er, dass die Bewährungsprobe großer Bürgerinitiativen erst komme, wenn sie sich ohne ihre großen Leitfiguren und ohne ihre großen Geldgeber behaupten müssten. Der neu gewählte Vorstand von World Upgrade konnte die Mitgliederzahl in kurzer Zeit fast um die Hälfte steigern. Und jetzt, nur ein paar Wochen später, kann ich auch dies noch nachtragen, ein Lohn für weiteres Zaudern: Eine Mail von Tian, unerschrocken, selbstbewusst und fast zuversichtlich. Er sehe nun manches klarer nach der Resolution des Volkskongresses. Die Parteiführung wisse, dass die Gedanken der Fundamentalreformer schon zu weit verbreitet seien, um ihnen das Denken, Schreiben und Reden ganz zu verwehren. Die Zeiten, in denen man unbequeme Geister noch mundtot machen, unter Hausarrest stellen, in Gefängnissen verschwinden lassen oder gar umbringen könne, seien eben auch in China längst vorbei. Und aktive Ältere unter ihnen wie er, und das seien viele, ließen sich ohnehin nicht mehr einschüchtern. Die Partei habe mit der Resolution zur Einheit und Einigkeit zwar Zeit gewonnen, aber weniger Zeit, als man im Westen befürchte. Vielleicht sogar weniger, als er, Tian, noch zu leben habe. Und dann folgte noch dieses PS über die westliche Welt: 364 Die Mächtigen in China können neue Ideen nicht mehr unterdrücken, sie können sie nur eine Zeitlang totschweigen. Aber das funktioniert, soweit ich weiß, in eurer gelobten Demokratie ja ganz ähnlich. Sollte ich mich danach auf die Wette einlassen, dass auch ich die großen Reformen in China noch erleben und sogar an dieser Stelle noch darüber würde schreiben können? Während ich darüber grübelte, überraschte mich Constanze, die immer noch eifrige, die ihre Tage immer mehr mit Internetrecherchen zu verbringen schien, mit neuen Nachrichten. World Upgrade hatte endlich eine formelle Kooperation mit den Neokraten begonnen. Auch der neuen Führung war klar geworden, wie wenig all ihre Proklamationen, Aktionen und Publikationen, so originell und innovativ sie auch waren, bisher bewirkt hatten. Wollten sie nicht weiter so wirkungslos bleiben, mussten sie nach neuen Methoden suchen. Was lag da näher, als die Energie von World Upgrade mit der konzeptionellen Stärke der Neokraten zu verbinden. Als Erstes vereinbarten sie eine Zusammenarbeit bei Referenden. Die Neokraten wollten Yangs Referendums-Software in Deutschland für die Simulation von Verfassungsratsratswahlen einsetzen. War nicht auch das ein Hoffnungszeichen? Ich begann mir auszumalen, wie gegen Ende des Jahrhunderts Fundamentalreformer in China, die Neokraten und World Upgrade Keimzellen eines politischen Systemwandels bilden würden. Ein verschwommener Gedanke, aber doch ein wohltuender. Und wie wäre es um die Staaten dieser Welt heute bestellt, überlegte ich dann, wenn genau das schon vor 50 Jahren passiert wäre? Ganz so weit reichte meine Phantasie nicht, aber dass wir mindestens fünfzig verlorene Jahre hinter uns hatten, das zumindest war vollkommen klar. Und in genau diesen Tagen stieß ich im Internet auf eine Studie, die die deutschen Neokraten konzipiert hatten und die von World Upgrade finanziert worden war. In dieser Studie wurden die großen politischen Versäumnisse unseres Jahrhunderts 365 beschrieben und dazu eine politische und wirtschaftliche Entwicklung, wie sie sich in Deutschland und Europa bei einer Politik im Sinne der Neokraten und Robert Yangs hätte ergeben können. Es war atemberaubend. Wohlstand, Freiheit, Frieden, Bildung, Zivilisierung, sozialer Zusammenhalt, politische Sinnerfüllung - in all dem waren wir weit hinter dem Möglichen zurückgeblieben. Dabei wurde mir zum ersten Mal klar, wie viel besser es schon meiner Generation hätte gehen, ein wie viel besseres Beispiel Deutschland der Welt hätten geben können und - am allerwichtigsten - eine wie viel heilere Welt wir der nachfolgenden Generation hätten übergeben können. Ein Zipfel von Utopie war zum Greifen nah gewesen, aber wir haben ihn verpasst. Der einzige Trost: Weil wir nicht wussten, was uns fehlte, haben wir kaum darunter gelitten. Mit diesen Gedanken wollte ich nicht allein sein. Ich wollte Constanze noch einmal einladen, aber nein, dachte ich dann, wenn es ein Treffen geben soll, dann würde natürlich ich es sein, der die Reise macht. Also lud ich mich bei ihr ein. Ich wolle, sagte ich ihr, ein paar sehr wichtige Gedanken mit ihr teilen. Aber schon auf dem Weg zu ihr kamen mir wieder Zweifel, und sie steigerten sich noch, als ich ihr endlich gegenübersaß. War es nicht eine skurrile Szene? Hier saßen zwei Uralte, Constanze und ich, achtzig und dreiundachtzig Jahre alt, die einige im Internet zusammengesuchte Informationen als Hoffnungszeichen für kommende Generationen gedeutet hatten, zusammen, und ich erklärte Constanze, dass es um die wichtigsten Dinge der Welt gehe. Unser Gespräch stockte schon noch nach ein paar Sätzen. - Ausgerechnet wir, sagte ich. Ausgerechnet wir suchen händeringend nach solchen Hoffnungszeichen. Müssten nicht hunderttausende Jüngere längst das Gleiche tun? Oder tun sie es womöglich schon, ohne dass wir es wissen? Constanze saß reglos mit gesenktem Kopf in ihrem Rollstuhl und schwieg. - Oder sehen sie keine Chance gegen die Übermacht derer, die Gedanken wie die von Tian und Yang als weltfremde Irrwege abtun und dann totzuschweigen versuchen? 366 Jetzt hob Constanze den Kopf und sah mich mit einem Blick an, als hätte sie auf genau diese Bemerkung gewartet. Dann streckte mir aus dem Rollstuhl die Arme entgegen, zog mich an sich heran, drückte mich fest und schwieg. Aus solcher unbarmherzigen Nähe hatte ich ihr altes Gesicht noch nicht betrachtet. Bisher war Constanze für mich immer die geistig unfassbar jung Gebliebene gewesen, ihr körperlicher Verfall eigentlich Nebensache, aber in diesem Moment war es zum ersten Mal anders. Ihre geistige Frische war jetzt Nebensache. Die mich hier an sich drückte, war vor allem alt und schwach. Ja, sagte ich schließlich, für uns ist wirklich alles gesagt.