Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 431 III. GRUPPENPROZESSE 1. KONFORMITÄT UND SOZIALE VERGLEICHSPROZESSE: 1.1 Festingers Theorie der sozialen Vergleichsprozesse: Konformität = weitgehende Übereinstimmung von Verhaltensweisen, Einstellungen und Meinungen; ist in jeder Gruppe notwendig, sonst keine zielgerichteten Aktivitäten (ohne Konformität ständiger Streit) Weiterbestehen der Gruppe gefährdet (ohne Konformität keine Sympathie) Konformität entsteht durch: o Prozesse der wechselseitigen Verstärkung und Bestrafung (Konformität = imitatives Verhalten) o aber auch ohne erkennbare äußere Verstärker (vor allem in Situationen, die für Gruppenmitglieder neu und unbekannt sind); wie das geht erklärt Festingers Theorie… Theorie der sozialen Vergleichsprozesse (Festinger, 1950): • Mensch hat das Bedürfnis, seine Meinungen zu überprüfen; Grund: solange Meinungsunsicherheit -> Verhaltensunsicherheit, d.h. mehrere Verhaltensalternativen, aber man weiß nicht, was tun -> aversiver Zustand (= intrapersoneller Konflikt) • alle Meinungen liegen nach Festinger auf einem Kontinuum: - ein Pol = Meinungen über physische Realitäten: kann man selbst überprüfen, z.B. alle Zitronen sind sauer - anderer Pol = Meinungen aus dem Bereich der „sozialen Realität“: sind prinzipiell nicht rational-empirisch falsifizierbar, z.B. ¾ religiöse, moralische, metaphysische Meinungen, ¾ Meinungen über Einstellungen, Meinungen über soziale Normen ¾ Meinungen über eigene Fähigkeiten hierfür braucht man Vergleich mit anderen Personen Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A • 432 Bereich der „sozialen Realität“ hat große persönliche Bedeutung. Um hier zu klaren „bewiesenen“ Ansichten zu gelangen -> soziale Vergleichsprozesse: Hierfür werden aber nur geeignete Bezugspersonen (oder Bezugsgruppen) herangezogen, nämlich solche, die einem hinsichtlich wichtiger Merkmale ähnlich sind (z.B. soziale Herkunft, Einstellungen, Fähigkeiten, ev. Alter) • 3 Möglichkeiten für Ergebnisse der sozialen Vergleichsprozesse: (1) Einigkeit innerhalb der Bezugsgruppe UND zwischen Bezugsgruppe und der sich vergleichenden Person Î fragliche Meinung gilt als gesichert (= günstigster Falle) (2) Einigkeit innerhalb der Bezugsgruppe ABER Diskrepanz zwischen Bezugsgruppe und der sich vergleichenden Person Î Person gleicht ihre Meinung an die der Bezugsgruppe an Î Person ändert ihre Meinung so, dass sie der Bezugsgruppe ähnlicher wird (hier auch konsistenztheoretische Erklärung: Meinungsdivergenz als unbalancierter Zustand) (3) Uneinigkeit innerhalb der Bezugsgruppe. Bei wichtigem Problem -> Prozesse zur Bildung einer einheitlichen Meinung, die von ganzer Gruppe akzeptiert werden kann (daher: Ansteigen der Kommunikationshäufigkeit in so einem Fall) • EXPERIMENT von Sherif (1935): Zustandekommen von Konformität durch soziale Vergleichsprozesse autokinetisches Phänomen: wenn in völlig dunklem Raum kurzzeitig Lichtpunkt dargeboten wird, dann erscheint er bewegt, obwohl er sich nicht bewegt; Grund: Augen vollziehen ständig schnell aufeinander folgende, ruckartige Bewegungen, dadurch trifft Lichtpunkt aus unterschiedliche Netzhautstellen und erscheint bewegt VPn sollten schätzen, wie weit sich der Lichtpunkt bewegt; zuerst - Einzelversuch: keine Möglichkeit, die eigene Schätzung zu überprüfen, da allein in abgedunkeltem Raum; sehr unterschiedliche Schätzungen (ein paar cm bis ¼ m), dann Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 433 - Gruppenversuch: 2-3 VPn schätzen gemeinsam, d.h. Person hat die Möglichkeit, ihre Schätzung an der der anderen Personen zu überprüfen. Im Laufe der Gruppenversuche immer weitere Angleichung der Schätzungen der Personen aneinander, d.h. Gruppe „einigte sich“ auf eine für alle akzeptable Lösung, dann wieder - Einzelversuch: VPn behielten ihre Schätzungen aus der Gruppe bei (Meinung wurde sehr lange beibehalten; in Untersuchungen zwischen 28 Tagen bis 1 Jahr später) Verhalten der VPn entspricht genau der Theorie von Festinger: • Î VPn sind mit Situation konfrontiert, in der Meinungsbildung notwendig ist, aber es ist nicht möglich, Richtigkeit der eigenen Meinung zu überprüfen Î Einsetzen von sozialen Vergleichsprozessen: zunächst divergierende Meinungen -> werden als aversiv erlebt -> daher: Meinungen beginnen zu konvergieren bis Konformität erreicht ist Î eine auf diese Art gebildete Meinung wird als „richtig“ angesehen und auch außerhalb der Gruppensituation beibehalten Festinger beschränkte Gültigkeitsbereich der Theorie auf Meinungen und Fähigkeiten (Schachter hat ihn dann auf Gefühle ausgedehnt, siehe unten) ABER: Unterschied zwischen Meinungs- und Fähigkeitsvergleichen: Î bei Meinungen kann durch soziale Vergleiche stabile Gruppennorm entstehen Î bei Fähigkeiten ist das nicht unbedingt der Fall Grund: Es gibt keine besseren oder schlechteren Meinungen, aber es gibt größere und geringere Fähigkeiten. Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 434 Die meisten Personen wollen bessert sein als der Durchschnitt -> soziale Vergleichsprozesse würden daher ständiger Wettbewerb bewirken, daher Einschränkung / Verhinderung von diesem durch andere Faktoren Entscheidender Faktor bei sozialen Fähigkeitsvergleichen = Selbstwerterhaltung Î Vergleiche mit Person mit höheren Fähigkeiten bedrohen den Selbstwert -> werden daher oft vermieden Î bei Fähigkeiten daher Vorliebe für Vergleiche nach unten (= downward comparison, Hakmiller, 1966) ABER: Vergleiche nach unten nicht nur bei Fähigkeiten, sondern bei ALLEN Selbstaspekten, die Selbstwert und Wohlbefinden beeinflussen (z.B. auch bei Geld, Gesundheit) - passiver Vergleich nach unten: Person vergleicht sich mit anderer Person, die schlechtere Position hat als sie selber - aktiver Vergleich nach unten: Person wertet andere Person ab oder behindert sie, damit bei dieser Person objektive Verschlechterung auftritt Vgl. dazu Selbstwerterhaltungstheorie von Tesser (1986) -> differentiertere Aussagen: Vergleich mit anderer Person ist nur dann selbstwertbedrohend, wenn o andere Person auf einer zentralen Selbstdimension überlegen ist o gleichzeitig große psychologische Nähe zur Vergleichsperson besteht Ö sozialer Vergleich kann hier verschiedene Wirkungen haben: - eigene Position wird objektiv verbessert (Wettbewerb) - Vergleichsperson wird behindert - psycholgische Distanz zur Vergleichsperson wird vergrößert - Selbstbild wird neu definiert (bisher zentrale Vergleichsdimension wird dabei an periphere Position gerückt Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 1.2 435 Weitere Erklärungsansätze: Erwartungen aus lerntheoretischer Sicht: • jemand ist umso eher bereit, seine Meinung zu ändern, je seltener er für Äußerung dieser Meinung verstärkt wurde und je öfter er dafür bestraft wurde • jemand, der oft für Äußerung seiner Meinung verstärkt wird, wird diese Meinung kaum ändern EXPERIMENTE dazu von Mausner (1954): autokinetisches Phänomen wie bei Sherif (siehe oben), aber: o Einzelversuch: VPn mussten Bewegungen des Lichtpunkts schätzen (200x), dabei: - ½ VPn Verstärkung in 82 % der Fälle durch „richtig“ des VL - ½ VPn Bestrafung in 82 % der Fälle durch „falsch“ des VL o Zweiergruppen (jeweils 2 Personen, die in Einzelnversuch sehr unterschiedlich geurteilt hatten zusammen), 3 Arten von Paaren: - beide VPn im Einzelversuch verstärkt - eine VP im Einzelnversuch verstärkt, die andere bestraft - beide VPn im Einzelversuch bestraft Ergebnis: Î Konformität nur dann, wenn mindestens 1 VP aus der Dyade in Einzelversuch NICHT verstärkt worden war Î beide VPn in Einzelversuch nicht verstärkt -> Einigung auf eine „mittlere“ Meinung Î 1 VP im Einzelversuch verstärkt, die andere nicht -> Konformität, und zwar: verstärkte VP beharrt auf ihrer Meinung, nicht verstärkte VP gibt nach Î beide VPn im Einzelversuch verstärkt -> keine konforme Meinung Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 436 Wirksamkeit des Balanceprinzips in Konformitätssituationen: Meinungs-/Einstellungsdivergenz zwischen 2 Personen A und B • ist nur dann unangenehm, wenn A und B einander sympathisch sind (d.h. unbalancierter Zustand) -> hier Herstellung einer Urteilskonformität • wenn A und B einander unsympathisch sind, dann wird dagegen Meinungs-/EinstellungsKONFORMITÄT als unangenehm erlebt -> hier Herstellung einer Urteilsdifferenz EXPERIMENT dazu von Sampson & Insko (1964): wieder autokinetisches Phänomen wie bei Sherif, aber anderes Design, und zwar: VPn mussten in Dyaden Bewegung des Lichtpunktes beurteilen, dabei 1 echte VP + 1 falsche VP (= Mitarbeiter des VL) - ½ VPn: falsche VP1 = außerordentlich freundlich und zustimmend - ½ VPn: falsche VP2 = abweisend und beleidigend dann Einstellungsmessung: Î falsche VP1 wird von VPn als sympathisch beurteilt Î falsche VP2 wird von VPn als unsympathisch beurteilt dann 4 VB: - VB1: sympathische falsche VP / ähnliche Urteile (balanciert) - VB2: sympathische falsche VP / abweichende Urteile (unbalanciert) - VB3: unsympathische falsche VP / ähnliche Urteile (unbalanciert) - VB4: unsympathische falsche VP / abweichende Urteile (balanciert) Falsche VPn beharrten überall auf ihren Meinungen -> Meinungsänderung zur Herstellung eines balancierten Zustands daher nur auf Seite der richtigen VPn möglich Ergebnis: spricht für Heiders Version der Balancetheorie Î keine Urteilsänderung bei sympathischer falscher VP / ähnliches Urteil und unsympathischer falscher VP / abweichendes Urteil (weil eh balancierte Zustände vorliegen) Î Urteilsänderung bei: o sympathische falsche VP / abweichendes Urteil: hier Angleichung der Urteile o unsympathische falsche VP / gleiches Urteil: hier: Vergrößerung der Urteilsdifferenz (hier Meinungsänderung weil unbalancierte Zustände) Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 437 Zweifel an Festingers Postulat (Goethals & Nelson, 1973): - ausschließlich ähnliche Personen kommen für soziale Vergleichsprozesse in Frage - Gewissheit hinsichtlich eigener Meinung wird nur durch Übereinstimmung mit ähnlichen Personen bestärkt EXPERIMENTE von Goethals & Nelson (1973) dazu zeigten: Î Übereinstimmung mit ähnlichen Personen bei Einstellungen vergrößert das Vertrauen in die Richtigkeit dieser Einstellung Î ABER: bei wertbezogenen Meinungen verringert die Übereinstimmung mit ähnlichen Personen das Vertrauen in die Richtigkeit dieser Meinung; Grund: Meinungen von unähnlichen Personen werden hier als objektiv glaubwürdiger betrachtet attributionstheoretische Erklärung dafür: Person, die sozialen Vergleichsprozess anstrebt, will wissen, ob ihr Urteil richtig ist oder nicht. Dabei 2 bedeutsame Variablen, und zwar: - Grad der Übereinstimmung mit der Vergleichsperson - Ausmaß der Ähnlichkeit der Vergleichsperson mit einem selber: ¾ Übereinstimmung mit ähnlicher Person MUSS keine Bestätigung des eigenen Urteils sein, weil ähnliche Person dieselben urteilsverzerrenden Tendenzen hat wie man selber, d.h. trotz Übereinstimmung ist hier Personenattribution möglich ¾ Übereinstimmung mit unähnlicher Person ist vermutlich NICHT durch dieselben urteilsverzerrenden Tendenzen zustandegekommen (weil die unähnliche Person je ANDERE urteilsverzerrende Tendenzen hat als man selber), daher hier Stimulusattribution möglich. Folge: Übereinstimmung mit unähnlicher Person = besonders überzeugende Bestätigung des eigenen Urteils (experimentell bestätigt von Fazio, 1979) Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 1.3 438 Konflikt zwischen physischer und sozialer Realität: Konflikt zwischen physischer und sozialer Realität: = Nicht-Übereinstimmung zwischen - eigener Meinung über einen objektiv überprüfbaren Sachverhalt (= physische Realität) und - einhelliger Meinung von anderen Personen (= soziale Realität) -> ist besonders unangenehm Noch unangenehmer ist das Ganze, wenn die anderen Personen von einem selber positiv bewertet werden. Dem Betroffenen stellt sich nun die Frage: - soll er seinen eigenen Sinnen und seiner Vernunft vertrauen oder - soll er nachgeben und sich der Mehrheit anschließen EXPERIMENT von Asch (1951): VPn sollen Standardlinie mit 3 Vergleichslinien vergleichen und angeben, welche der 3 Linien gleich lang wie die Standardlinie ist (ABER: normalsichtige Person KANN da nur auf die richtige Lösung kommen…) 8er-Gruppen (1 richtige VP und 7 falsche VPn) schätzten in 18 Durchgängen; falsche VPn schätzten dabei 12x falsch; Sitzordnung war so, dass VP immer zuletzt schätzen musste (Schätzung außerdem öffentlich, d.h. laut vor der ganzen Gruppe) -> für richtige VP ist diese Situation äußerst unangenehm, sehr oft reagierten VPn daher auch entsprechend heftig (hieran zeigt sich der hohe Grad der Unangenehmheit, wenn man als Einzelnen eine Meinung vertritt, die von der Meinung der Gruppe abweicht) Ergebnis: - in ca. 1/3 der Fälle ließen sich VPn von der Gruppe zu Fehlurteil verleiten (entweder völlige Übereinstimmung mit Gruppe oder Annäherung an Gruppe) - große interindividuelle Unterschiede: ¾ manche VPn gaben fast immer dem Gruppendruck nach ¾ einige VPn gaben nie dam Gruppendruck nach Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 439 Unterschiedliche Reaktionen der Personen auf Gruppendruck (d.h. Nachgeben oder nicht) können erklärt werden mit: (1) unterschiedliche Lernerfahrungen der Personen: • jeder Mensch wird für richtige Urteile verstärkt; Grund: richtige Urteile ermöglichen erfolgreiches Handeln und bringen unter anderem soziale Verstärker wie Zustimmung und Anerkennung ein • jeder Mensch wird für das Akzeptieren der Meinung der anderen verstärkt; Grund: Urteile anderer Menschen sind manchmal richtig; abweichende Standpunkte führen oft zu Bestrafung Ö je nachdem, ob und wie massiv Person in der Vergangenheit für eigene Meinungen oder Akzeptieren von fremden (richtigen und falschen) Meinungen verstärkt wurde, verhält sie sich eher unbeeinflussbar oder nachgiebig (2) Ausmaß des Nachgebens hängt auch ab von Situationsfaktoren: • • Gruppengröße: - bei nur 1 anderen Person (also in Zweier-Gruppe) lässt sich Person kaum von ihrer abweichenden Meinung abbringen - bei 2 anderen Personen (also in Dreier-Gruppe) höherer Einfluss des sozialen Druckes - ab ca. 3 anderen Personen Höhepunkt des Effekts des sozialen Druckes; bei größeren Gruppen keine weiter Zunahme des Effekts Konsistenz der Meinungen der Gruppe: - wenn mehrere Personen in der Gruppe möglichst vollständig übereinstimmende Meinung vertreten, dann zieht Person den Schluss daraus, dass es sehr unwahrscheinlich ist, dass sich mehrere Personen auf dieselbe Art irren (von Asch bestätigt) -> daher nachgeben - ABER: Konformitätsdruck der Majorität verliert an Wirksamkeit, wenn mindestens ein anderes Gruppenmitglied die Person unterstützt (Allen, 1975) • Unsicherheit der Person mit der abweichenden Meinung (eigene Meinung könnte ja auch falsch sein) • Vermeidung von antizipierten Strafreizen (z.B. Gelächter, Kopfschütteln der Gruppe, wenn Person auf ihrer Meinung beharrt Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 440 ABER: VPn, die über abweichende Urteile der Gruppe informiert waren, gaben dem Majoritätsdruck weniger nach, wenn sie ihr eigenes Urteil anonym (d.h. nicht vor den anderen) abgeben konnten (Experiment von Deutsch & Gerard, 1955) (3) Klarheit / Eindeutigkeit der Urteilssituation: • wenn Aufgabe wegen ihrer Unklarheit eher dem Bereich der sozialen Realität angehört, dann stärkerer Einfluss anderer Personen auf die Urteilsbildung, d.h. bei schwierigen und/oder unklaren Aufgaben ist die Beeinflussbarkeit größer als bei leichten und/oder klaren Aufgaben (z.B. Aufgaben, die dem Bereich der physischen Realität angehören) • Urteile aus dem Gedächtnis (d.h. Person gibt ihr Urteil ab, nachdem Reizmaterial entfernt wurde) unterliegen mehr dem Druck fremder Meinungen als Urteile, die während der Wahrnehmung des Reizmaterials abgegeben werden (Deutsch & Gerard, 1955) Scheinanpassung an Gruppe vs. echte Meinungsänderung: Frage: kommt es hier zu echter Meinungs-/Einstellungsänderung oder handelt es sich nur um äußeres, verbales Nachgeben gegenüber dem Gruppendruck, während eigene Meinung beibehalten wird? • Problem dabei: VP, die gerade Gruppenurteil zugestimmt hat, kann nicht einfach gefragt werden, ob sie ehrlich war oder nicht, denn sie würde kaum eine ehrliche Antwort auf diese Frage geben… daher: - VPn nach der Gruppensitzung noch einmal allein ihre Meinung äußern lassen - nach Gruppensitzung Majoritätsmeinung angreifen und Meinung der VP ermitteln -> bleibt Gegenpropaganda wirkungslos, dann muss VP vom Gruppenurteil überzeugt gewesen sein ABER: hier könnte es auch sein, dann VP in Gruppensitzung gegen ihre eigene Überzeugung der Gruppenmeinung zugestimmt hat = einstellungsdiskrepantes Verhalten; Folge: tatsächliche Meinungsänderung aufgrund des vorhergehenden einstellungsdiskrepanten Verhaltens Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A • 441 Experimente zeigen: - bei sehr klaren Aufgaben (z.B. Linienvergleiche bei Asch) kommt es nur sehr selten zu echter Meinungsänderung - in unklaren Situationen (z.B. Sherifs autokinetisches Phänomen) wird das in der Gruppe gebildete Urteil meistens akzeptiert - Unter Druck der anders urteilenden Mehrheit kommt es nicht nur dazu, dass Personen ihre öffentlichen Urteile der Mehrheit annähern, sondern auch gleichzeitig zu Verbesserung der Wahrnehmungsleistung der Personen (wurde mit Hilfe der Signalentdeckungstheorie bei Helligkeitsurteilen nachgewiesen, Upmeyer, 1971), d.h. Majoritätsdruck beeinflusst zwar die Antworttendenzen der Person, NICHT aber ihre Wahrnehmungen und Meinungen. Experimente = Extremfälle (z.B. Linienvergleich von Asch ist eindeutig dem Bereich physische Realität zuordenbar); im Alltag aber oft nicht so eindeutige Situationen, daher Annahme, dass in Realsituationen Gruppenmeinungen in höherem Ausmaß die private Meinung beeinflussen können. Daher Frage: Welche Faktoren tragen dazu bei, dass Gruppenmeinungen zu echten Meinungs- und Einstellungsänderungen führen?1 (1) Bewertung des Senders: je positiver der Sender bewertet wird, desto einflussreicher ist er, daher: je attraktiver die Gruppe für die Person ist, desto eher bewirkt sie eine echte Meinungsänderung bei ihr Attraktivität der Gruppe ist umso höher: - je mehr positive Reize sie anbietet (z.B. Anerkennung) - je ähnlicher die Gruppenmitglieder zu einem selber wahrgenommen werden - je mehr die Gruppenmitglieder über Merkmale verfügen, die man selbst als positiv bewertet Experimente haben gezeigt: 1 Î attraktive Gruppen sind einflussreicher als negativ bewertete Gruppen Î Einfluss der attraktiven Gruppe bleibt bestehen, wenn Person ihre Meinung einzeln und anonym äußert Das Ganze ist ein Spezialfall der Einstellungsänderung durch Kommunikation, bei der der Sender der meinungsändernden Mitteilung keine Einzelperson, sondern eine Gruppe ist. Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 442 ABER: Î geringer Einfluss von unattraktiven oder negativ bewerteten Gruppen tritt nur dann auf, wenn es sich z.B. um kurzlebige Laborgruppe handelt (Kiesler & Corbin, 1965) Î bei dauerhafter Gruppe (z.B. in den meisten Realsituationen) haben auch unattraktive Gruppen starken Einfluss auf Meinungen und Einstellungen der Person konsistenztheoretische Erklärung dafür: - wenn man eine Gruppe, mit der man länger zusammenarbeiten muss, negativ beurteilt, dann entsteht eine unbalancierte Struktur -> Inkonsistenz kann nur aufgelöst werden durch Aufwerten der Gruppe und Akzeptieren der Gruppenmeinung - bei unattraktiver Gruppe, mit der man nur kurz zusammenarbeiten muss, entsteht keine Inkonsistenz, Abwertung der Gruppe ist hier kein Problem, daher: keine Meinungsänderung EXPERIMENT dazu von Kiesler & Corbin (1965): - ½ VPn: Versuch nach Gruppensitzung beendet ½ VPn: nach der Gruppensitzung weitere Treffen mit der Gruppe notwendig Ergebnis: Î bei kurzlebigen Gruppen: Einstellungsänderung steigt mit Attraktivität der Gruppe Î bei langlebigen Gruppen: Einstellungsänderung auch bei unattraktiver Gruppe (2) Verantwortungsaufteilung: Besonderheit der Gruppensituation: Sie bietet außerdem noch eine andere Möglichkeit zur Dissonanzreduktion, und zwar: Aufteilung oder Abschiebung der Verantwortung (Sande & Zanna, 1987). Daher: ob es zu Einstellungsänderung oder Verantwortungsaufteilung kommt, hängt ab von: - Bindung der Person an die Einstellung - Bindung der Person an die Gruppe Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 443 Î bei starker und zentraler Einstellung eher Verantwortungsabschiebung für unerwünschtes Verhalten auf die Gruppe und KEINE Einstellungsänderung Î wenn Bindung an Gruppe stärker ist als die Einstellung, dann Einstellungsänderung Î Verantwortungsaufteilung gelingt in größeren Gruppen leichter als in kleineren Gruppen (3) Zusammenhang mit Selbstzielen (Greenwald & Breckler, 1986): bei Konflikten zwischen sozialer und physischer Realität werden gleichzeitig 2 unverträgliche Selbstziele aktiviert Î dadurch besondere Belastung und Unangenehmheit der Situation Ö 1.4 - öffentliches Selbst strebt nach Anerkennung durch die Gruppe -> daher Tendenz zur Konformität - privates Selbst will eigenen Leistungsansprüchen entsprechen und korrekte Meinungen vertreten ob und wie oft konformes Verhalten auftritt, hängt ab von relativer Stärke der beiden Selbstmotive (und die wiederum ist sowohl dispositions- als auch situationsbedingt) Einfluss von Minoritäten: Kritik von Moscovici (1976) an Konformitätsforschung, die sich an Asch und Festinger orientiert: Î es wird immer nur der Einfluss einer mächtigen Majorität auf eine Minorität untersucht bzw. bestätigt Î ABER: es kann auch eine Majorität von einer Minorität beeinflusst werden (z.B. alle Erneuerungen in Wissenschaft, Kunst, Politik kommen dadurch zustande) Postulate von Moscovici (1976): • Ob Minderheit beeinflussen kann hängt ab vom Verhaltensstil der Minderheit: wenn Minderheit konsistent und konsequent ihren Standpunkt vertritt, dann wird Majorität unsicher und damit eher bereit, sich von Minorität beeinflussen zu lassen • Im Unterschied zum Einfluss der Majorität bleibt der Einfluss der Minorität NICHT auf oberflächliche Verhaltensanpassung beschränkt, sondern führt zu echter Meinungsänderung Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 444 Experimente von Moscovici, et al. (1969): (1) VPn müssen Farbreize benennen und Helligkeit beurteilen; 36 Durchgänge, alle Farbreize hatten die gleiche Farbe (Blau), aber unterschiedliche Helligkeit 6er-Gruppen mit 4 echten und 2 falschen VPn, nach jeder Farbdarbietung öffentliche Beurteilung -> dabei bezeichneten die falschen VPn die Farben als grün - VB1: konsistente Minderheit: falsche VPn sagen immer grün - VB2: inkonsistente Minderheit: falsche VPn sagen in zufälliger Reihenfolge 24x grün und 12x blau - KG: keine falschen VPn drinnen Ergebnis: bei konsistenter Minderheit höhere Beeinflussung der VPn als bei inkonsistenter Minderheit (2) Minoritätseinfluss bezieht sich nicht nur auf das öffentliche Verhalten, sondern auf „latente“ Urteilsprozesse dazu: Ermittlung von Unterschiedsschwellen für Blau- und GrünAntworten bei VB „konsistente Minderheit“ und KG VPn sahen 16x Grün bzw. Blau, mussten nach jeder Farbe Namen aufschreiben (d.h. nicht öffentlich und jetzt unbeeinflusst) Ergebnis: Minderheiteneinfluss von vorher bewirkte Änderung der Farbkategorisierung, d.h. bei VPn verschob sich Grenze zwischen Grün und Blau in den blauen Bereich hinein (d.h. sie nannten öfter etwas grün, das eigentlich blau war) Ö Minoritäteneinfluss ist auf latenter Ebene stärker als auf Verhaltensebene (auch VPn änderten jetzt ihre Meinung, die das öffentlich nicht gezeigt hatten) (3) Erweiterung des Experiments durch Hinzufügung weiterer Bedingungen, und zwar: - „konsistentes Individuum“ (3 echte VPn + 1 falsche VP, die konsistent grün sagt) - „einstimmige Majorität“ (1 echte VP + 3 falsche VPn, die immer grün sagen) - „nicht-einstimmige Majorität“ (3 echte VPn + 2 falsche VPn) außerdem: Fragebogen zur Beurteilung der anderen VPn Ergebnis: Î konsistente Minderheit kann Mehrheits-Verhalten beeinflussen, ABER: die Minderheit darf KEINE Einzelperson sein (hier kein Einfluss) Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 445 Î größere Verhaltensänderung bei einstimmiger Majorität; ABER: konsistente Minderheit hat genauso viel Einfluss wie nicht-einstimmige Majorität Î hinsichtlich der „latenten“ Änderungen ergaben sich Verschiebungen der Kategoriegrenze Grün in den blauen Bereich NUR bei konsistenter Minderheit Î Angehörige der konsistenten Minderheit wurden als urteilssicherer, aber nicht als kompetenter wahrgenommen Î keine Unterschiede in soziometrischem Wahlstatus zwischen falschen und echten VPn, d.h. abweichende Minderheit wurde NICHT abgelehnt! Kritik an Moscovici: keine befriedigende theoretische Erklärung für die Ergebnisse • Moscovici: hohe Verhaltenskonsistenz und geringer Konsensus in Gesamtgruppe bewirkt Personenattribution für Minderheits-Standpunkt (Attribution an Sicherheit und Überzeugung), ABER: keine Begründung WARUM ausgerechnet Sicherheit und Überzeugung und nicht z.B. Dogmatismus und Dummheit… • Herkner: VPn betrachten nicht die Gesamtgruppe, sondern die wegen ihrer absonderlichen Urteile auffallende Minderheit. Konsistent urteilende Minderheit = Gruppe mit hohem Konsensus und hoher Konsistenz, daher nach Kelley (1967) hier Stimulusattribution, d.h. Beobachter führt Verhalten der Minderheit nicht auf persönliche Disposition der Minderheit zurück, sondern auf Reizaspekte, daher Verunsicherung des Beobachters und Meinungsänderung • andere Erklärung: Dissonanztheorie unter Druck der Minderheit / Mehrheit äußert echte VP meinungs- oder wahrnehmungsdiskrepantes Urteil Î Majoritätsdruck ist hinreichende Rechtfertigung für Verhalten, daher keine Dissonanz und keine Meinungsänderung Î Minoritätsbeeinflussung hingegen erzeugt Dissonanz (Minderheit = relativ machtlos, daher kein Grund, sich von ihr beeinflussen zu lassen) -> Verringerung der Dissonanz durch Meinungsänderung Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 446 Unklar ist, welche Aspekte des Verhaltens der Minderheit einflussfördernd sind: • Konsistenz kann auch den Eindruck von Rigidität erwecken und damit abstoßend wirken EXPERIMENT von Nemeth, et al. (1974): - VB1: konsistent grün VB2: konsistent grün-blau VB3: zufällig (grün und grün-blau mit gleicher Häufigkeit aber irgendwann) VB4: systematisch (bei helleren Dias grün, bei dunkleren Dias grün-blau) Ergebnis: • Î kompromissbereite Minderheit (= konsistent grün-blau) ist wesentlich einflussreicher als sture Minorität (konsistent grün) Î größten Einfluss hatte VB4 „systematisches Antwortmuster“ (hier klarer Zusammenhang zwischen Reizeigenschaften und Antwort) Gruppenkohäsion spielt wichtige Rolle für Einfluss der Minderheit auf die Mehrheit (Wolf, 1979): - hohe Gruppenkohäsion (d.h. Mitglieder der Gruppe beurteilen einander positiv) -> mehr Einfluss der Minderheit - niedrige Gruppenkohäsion (d.h. gegenseitige Ablehnung der Gruppenmitglieder) -> weniger Einfluss der Minderheit Neuere Minoritätenforschung: größere Vielfalt der experimentellen Methoden, aber auch der theoretischen Standpunkte • größerer Realismus des verwendeten Reizmaterials (z.B. Meinungen und Einstellungsobjekte, wie Abtreibung, Umweltverschmutzung, etc.) • mehrere differenzierende Unterscheidungen: (1) Verhaltensstil und Verhandlungsstil (Mugny, 1982): o Verhaltensstil kann sein: - konsistent (d.h. man vertritt eine Position mit logischer Konsistenz) - inkonsistent (d.h. man vertritt wechselnde Positionen) Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 447 o Verhandlungsstil kann sein: Ö - rigid (d.h. eine extreme Position wird ohne Zugeständnisse verteidigt) - flexibel (d.h. man verhält sich gemäßigter und kompromissbereiter Experimente zeigen: konsistent-flexible Minderheit ist einflussreicher als konsistent-rigide Minorität (z.B. Nemeth, 1974) (2) Unterscheidung von numerischen und sozialen Minderheiten: o numerische Minderheit: vertritt anderen Standpunkt als Majorität, aber gehört derselben Kategorie an o soziale Minderheit (= „Doppelminorität“): vertritt anderen Standpunkt als Majorität und gehört einer anderen sozialen Kategorie an als die Majorität (z.B. religiöse Minderheit, Homosexuelle, usw.) Ö Experimente zeigen: soziale Minoritäten haben weniger Einfluss als numerische Minoritäten (Maas, et al., 1982) (3) Konversionstheorie von Moscovici (1980): = Ergänzung des ursprünglichen Ansatzes, und zwar: Begründung, warum Majorität nur oberflächliche Verhaltensanpassung bewirkt, Minorität dagegen eine echte Einstellungsänderung: Sowohl abweichende Minoritäts- als auch Majoriätsstandpunkte lösen einen Konflikt aus, ABER unterschiedliche Konflikte, daher unterschiedliche Folgen, und zwar: o Majorität bewirkt interpersonellen Konflikt -> soziale Vergleichsprozesse, dabei kein tieferes Nachdenken über das sachliche Problem, daher Folge: oberflächliche Verhaltensanpassung o Minorität bewirkt kognitiven Konflikt -> Validierungsprozesse, dadurch vertiefte Auseinandersetzung mit dem Problem, Folge: Einstellungsänderung Î Einstellungsänderung durch Minorität ist umso wahrscheinlicher, je stärker der Konflikt ist Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 448 ähnlicher theoretischer Standpunkt von Nemeth (1986): - Minoritäten veranlassen „divergente“ Überlegungen (originell / kreativ) - Majoritäten veranlassen „konvergente“ Überlegungen (konventionell) und Anpassung Ähnlichkeit beider Theorien mit anderen Theorien der Einstellungsänderung (z.B. ELM von Petty & Cacioppo, 1980): o Minoritätentheorien: Minderheiten lösen generell gründliche Verarbeitungsprozesse aus, daher bewirken sie dauerhafte Einstellungsänderungen o Einstellungstheorien: sowohl Minoritäten als auch Majoritäten können Einstellungsänderung bewirken, ob Einstellungsänderung auftritt, hängt ab von: - Motivation und Fähigkeit der Zielperson (d.h. des Empfängers) - Überzeugungskraft der Argumente des Senders ¾ Minorität im Vorteil, wenn sie sich konsistent verhält, weil geschlossenes und sicheres Auftreten einer Minderheit zu gründlichem Nachdenken animiert ¾ Majorität kann aber auch gründliche InfoVerarbeitung und Einstellungsänderung bewirken, nämlich: ⎯ wenn es um persönlich wichtige Einstellungsobjekte geht ⎯ wenn es sich um eine Gruppe handelt, mit der man sich selber verbunden fühlt Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 449 (4) Theorie von Mullen (1987): - Unterschiede in Verhalten und Erleben von Minorität und Majorität Erweiterung der Selbstaufmerksamkeitstheorie zentrale Hypothese: Î je kleiner die Minorität (im Verhältnis zur Gesamtgruppe) ist, der man selbst angehört, desto größer ist die Selbstaufmerksamkeit und desto mehr wird eigenes Verhalten bewusst kontrolliert Î je größer die Majorität (im Verhältnis zur Gesamtgruppe), der man selber angehört, desto geringer ist die Selbstaufmerksamkeit und Verhaltenskontrolle Î entscheidender Faktor = Other-Total-Ration (= Verhältnis zwischen Größe der anderen Teilgruppe, der man nicht angehört, und Größe der Gesamtgruppe: je größer Other-Total-Ratio, desto höher ist Selbstaufmerksamkeit und Verhaltenskontrolle experimentell bestätigt: - sehr hohe Korrelation zwischen Other-Total-Ratio und Selbstaufmerksamkeit - sehr starke positive Zusammenhänge zwischen OtherTotal-Ratio und sozial erwünschtem Verhalten (z.B. prosoziales Verhalten) - sehr starke negative Zusammenhänge zwischen OtherTotal-Ratio und unerwünschtem Verhalten (z.B. social loafing, d.i. schlechte Leistung durch verminderte Anstrengungsbereitschaft in Gruppen) D.h. Ö Je kleiner die Minorität, zu der man gehört, desto größer ist die Bereitschaft zu Konformität und Altrusimus Ö Je größer die Majorität, zu der man gehört, desto größer ist die Neigung zu Faulheit und Aggressivität Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 1.5 450 Geselligkeitsbedürfnis (Affiliationsbedürfnis): Experimente von Schachter (1959): Ausgangspunkt = Alltagsbeobachtung, dass Menschen in Spannungszuständen oft die Gesellschaft anderer Menschen dem Alleinsein vorziehen (= need for affiliation); daher Annahme: Mensch, der gerade intensives Angsterlebnis hat, wird sich eher Kontakt zu anderen Personen wünschen als entspannter Mensch. 1. Experiment: - VG1: Ankündigung von sehr schmerzhaften elektrischen Schlägen -> starke Angst bei VPn VG“: elektrische Schläge sind harmlos und kaum spürbar -> schwache Angst bei VPn dann Wartezeit, hierfür Fragebogen, auf dem VP angeben soll, ob sie lieber allein oder mit anderen gemeinsam warten möchte, und Erhebung der Stärke der Angst Ergebnis: Ö /3 der VPn mit starker Angst wollten lieber gemeinsam mit anderen VPn warten als allein 1 /3 der VPn mit schwacher Angst wollten lieber gemeinsam warten 2 Spannungszustände führen zu erhöhtem Geselligkeitsbedürfnis, aber keine Erklärung, warum das so ist, daher 2. Experiment: Frage: Ist durch Angst verursachtes Geselligkeitsbedürfnis unspezifisch oder richtet es sich nur auf bestimmte Personen? selbes Design, aber als Partner in Wartezeit stehen zur Verfügung - ½ VPn andere VP - ½ VPn Studentin, die auf Prüfung wartet Ergebnis: - Ö 60 % wollten lieber gemeinsam mit anderen VPn warten; niemand wollte gemeinsam mit der Studentin warten In schwierigen Situationen sucht man sich nicht beliebige Gesellschaft, sondern „Leidensgenossen“ Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 451 Gründe dafür nach Schachter: (1) Flucht: (2) Information: (3) direkte Angstreduktion: indirekte Angstreduktion: soziale Vergleichsprozesse: (4) (5) gemeinsames Pläneschmieden mit dem Leidensgenossen, wie man der unangenehmen und ungewohnten Situation entgehen könnte vielleicht hat Leidensgenosse mehr Info über die ungewohnte Situation, die er einem erzählt teilnahmsvolle Zuwendung des Leidensgenossen (geteiltes Leid = halbes Leid) Angst durch Ablenkung vergessen hat der andere auch Angst? wenn ja wie viel? wie viel Angst ist der Situation angemessen? usw. 3. Experiment: Variation der Kommunikationsbedingungen in der Wartezeit - VB1: VPn allein oder gemeinsam mit anderer VPn, wenn gemeinsam, dann kein Sprechen über das Experiment (dadurch Ausschließen von Flucht und Info als Begründung, daher eventuell lieber allein) - VB2: VPn allein oder gemeinsam mit anderer VPn, wenn gemeinsam, dann überhaupt kein Sprechen miteinander (hier 1-4 ausgeschlossen, aber soziale Vergleichsprozesse sind auch beim Schweigen möglich, nämlich durch effiziente non-verbale Kommunikation) Ergebnis: VPn zogen in allen Bedingungen das gemeinsame Warten vor, daher Wunsch nach sozialen Vergleichen als Ursache des Geselligkeitsbedürfnisses Bestätigung der These von Schachter durch andere Experimente: • EXPERIMENT von Wrightman (1960): Fragebogen zur Erhebung der individuellen Angststärke vor und nach der Wartezeit -> Angst war nach gemeinsamem Warten gesunken = typisches Resultat von sozialen Vergleichsprozessen; bei allein wartenden VPn keine Angstreduktion • EXPERIMENT von Gerard & Rabbie (1961): Annahme: Geselligkeitsbedürfnis in unklarer Situation ist verursacht durch Wunsch nach sozialem Vergleich, daher: Geselligkeitsbedürfnis schwächer, wenn soviel Info über Meinungen und Gefühle Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 452 anderer Menschen in dieser Situation vorliegt, dass sozialer Vergleich nimmer notwendig ist Anordnung wie bei Schachter, VPn saßen aber während angsterregender Instruktion allein in Kabinen, dabei Messung des PGR (= psychogalvanischer Reflex = elektrischer Hautwiderstand), von dem VPn wissen, dass er objektives Maß für Stärke von Gefühlen ist weitere Aufteilung der 2 Angstbedingungen: - VB1: VP erhält während der Instruktion Info über ihren eigenen PGR und den der gleichzeitig anwesenden anderen Person - VB2: VP erhält nur über eigenen PGR Info - VB3: VP erhält keine Info Ergebnis: in VB1 wesentlich geringeres Affiliationsbedürfnis als in VB2; Grund: VPn brauchen keine sozialen Vergleiche mehr, weil sie eh schon entsprechende Info hatten • EXPERIMENT von Rabbie (1974): Variation der Ungewissheit des bevorstehenden Schmerzes - ½ VPn: elektrische Schläge sind für Person sehr schmerzhaft (Gewissheit) - ½ VPn: elektrische Schläge werden nur von ca. ¼ der Personen als schmerzhaft empfunden, andere Personen spüren eventuell gar nix (Ungewissheit) Ergebnis: Bei Ungewissheit höheres Affiliationsbedürfnis Würdigung von Schachters Theorie: Î Erweiterung von Festingers Theorie der sozialen Vergleichsprozesse: - bei Festinger: soziale Vergleichsprozesse vor allem bei nicht überprüfbaren Meinungen und Urteilen über eigene Fähigkeiten - bei Schachter: soziale Vergleichsprozesse auch bei Gefühlen notwendig (daraus später Entwicklung von Schachters Gefühlstheorie) Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 453 Neuere Untersuchungen -> Verallgemeinerung von Schachters Ansatz: • ganz allgemein erzeugen Zustände hoher Aktiviertheit (nicht nur emotionale Erregungszustände) in unklaren Situationen gesteigertes Geselligkeitsbedürfnis (Mills & Mintz, 1972) ABER: wenn VPn eine adäquate Erklärung für ihre erhöhte Aktiviertheit, dann KEIN erhöhtes Affiliationsbedürfnis Grund: • Situation = klar und eindeutig, daher sind soziale Vergleiche nicht notwendig Wunsch nach sozialen Vergleichen jeder Art macht Anwesenheit passiver Vergleichspersonen notwendig, daher Anstieg der Affiliationstendenz EXPERIMENT von Singer & Shockley (1965): VPn machten Leistungstest, dann erhielten sie Info über ihren Punktwert - VB1: VPn erfuhren nur eigenen Punktwert (keine Info, ob der gut oder schlecht ist) - VB2: VPn erfuhren eigenen Punktwert und außerdem Info über Abschneiden anderer Personen dann Wartezeit, die VPn allein oder mit anderen VPn verbringen konnten Ergebnis: Affiliationstendenz war stärker, wenn Person keine Info über Abschneiden der anderen bekommen hatte • Ergänzung der Theorie von Schachter durch Selbstwerthypothesen (= Einschränkung der Schachter-Theorie): große Angst und anderes starkes Gefühl löst nicht immer erhöhtes Bedürfnis nach Geselligkeit aus: Î in Situationen, in denen Person Angst vor Selbstwertbedrohung oder ungünstiger Selbstdarstellung hat, ist sie lieber allein (Experiment von Sarnoff & Zimbardo, 1961) Î in Situationen mit Angst vor physischer Bedrohung dagegen erhöhte Affiliationstendenz Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A • 454 weitere Einschränkung der Theorie von Schachter: ängstliche Personen bevorzugen nicht immer Anwesenheit von Menschen in ähnlicher Situation; oft werden Menschen mit ähnlicher Persönlichkeit oder hilfsbereite Menschen vorgezogen, d.h. Gesellschaft von Menschen, von denen man sich größten Nutzen erwartet (z.B. Erleichterung) 1.6 Konformität und Kommunikation: Um Konformität zu erzielen, muss Gruppe kommunizieren. Bei vielen unterschiedlichen Meinungen zu einem Thema (d.h. hohe Streuung der Meinungen) -> Herstellung von Konformität ist schwierig. Gefährdung einer einheitlichen Gruppenmeinung durch Personen mit Extremmeinungen, daher: extreme Einstellungen dieser Personen müssen beeinflusst werden Experimente zeigen: Î passiver Kommunikationsstatus eines Gruppenmitglieds umso höher, je mehr sein Standpunkt vom Gruppenmittelwert abweicht, d.h. auf Vertreter von Extremposition wird mehr eingeredet (Festinger & Thibaut, 1951) Î Kommunikationsfrequenz in Gruppe ist umso höher, - je wichtiger diskutiertes Meinungsobjekt für die Gruppe ist - je attraktiver die Gruppe selber für die einzelnen Gruppenmitglieder ist Î wenn Extremperson ihren Standpunkt trotz zahlreicher Beeinflussungsversuche nicht binnen einer gewissen Zeit ändert, dann - Sinken der Kommunikationsfrequenz mit ihr - Absinken des soziometrischen Wahlstatus dieser Person Ö Î Extrempersonen werden so aus Gruppe ausgeschlossen ob Extremperson dem Druck nachgibt, hängt davon ab, wie attraktiv die Gruppe für diese Person ist: bei hohem Interesse, in der Gruppe zu bleiben -> Meinungsänderung Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 455 1.7 Eine allgemeine Einflusstheorie: soziale Einflusstheorie von Latané (1981) (theory of social impact): • = allgemeine Einflusstheorie nach dem Vorbild von physikalischen Theorien, die auf viele verschiedene Einflusssituationen angewandt werden kann • 2 grundlegende Faktoren: Stärke der Einflussquelle (hängt ab von Macht, Fähigkeit, Status) Nähe der Einflussquelle zur Zielperson (d.h. räumliche oder zeitliche Nähe) außerdem wichtig: Anzahl der Einflussquellen Formel: I = f(S*I*N) Einflussstärke I (= impact) hängt ab von 3 Variablen, und zwar: - Stärke S (= strength) - Nähe I (= immediacy) der Einflussquellen - Anzahl N (= number) zwischen Stärke, Nähe und Anzahl der Einflussquellen besteht eine multiplikative Beziehung, d.h. Einflussstärke ist eine Funktion des Produkts von Stärke, Nähe und Anzahl der Einflussquellen • Î ist eine der 3 Variablen Null, dann kein Einfluss dieser Einflussquelle Î der zusätzliche (marginale) Einfluss einer Einflussquelle ist umso geringer, je mehr Einflussquellen vorhanden sind (d.h. psychologischer Unterschied zwischen 11 und 12 Personen ist geringer als zwischen 1 und 2 Personen) Î Einfluss mehrerer Einflussquellen -> Vergrößerung oder Multiplikation des Einflusses Î Einfluss wird verkleinert (dividiert), wenn Einflussquelle auf mehrere Zielpersonen gerichtet ist (d.h. z.B. bei konstanter Einflussquelle Publikum nimmt das Lampenfieber mit der Zahl der Zielpersonen, d.s. Darsteller auf der Bühne,ab) Theorie wurde erfolgreich auf verschiedene Situationen und Fragestellungen angewandt, z.B.: o mit der Publikumsgröße zunehmende Nervosität von Darstellern oder Vortragenden (multiplikative Wirkung der Einflussquelle) o mit zunehmender Zahl von Zuschauern geringere Chance für Notfallopfer, dass ihm geholfen wird (Einfluss wird bei mehreren Zielpersonen und einer Einflussquelle dividiert) Herkner / Kapitel 6 / Teil 3A 456 o je mehr Personen gemeinsam essen gehen, umso kleiner ist das Trinkgeld des Einzelnen für den Kellner o Einstellungsänderung umso kleiner, je größer die Zahl der Empfänger ist o älteres Publikum mit relativ hohem Status ruft mehr Aufregung bei Vortragendem hervor wie jüngeres Publikum mit relativ niedrigem Status