Mobilisierung strategischer und operativer

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Mobilisierung strategischer und operativer
Leistungsreserven im Krankenhaus –
Gestaltungsfelder und Grenzen der
Service-Industrialisierung
Andrea Braun von Reinersdorff und Christoph Rasche
Zusammenfassung
Der vorliegende Beitrag analysiert die Optionen operativer Wertsteigerungspotenziale innerhalb der Systemgrenzen eines Krankenhauses sowie das
Spektrum möglicher Wachstumsachsen, entlang derer aus dem Korsett der
inkrementellen Pflichterfüllung ausgebrochen werden kann. Im Sinne der
Ambidextrie wird Kliniken eine Beidhändigkeit beim Handling strategischer
und operativer Aufgabenfelder abverlangt, die sich im hier verstandenen Sinne nicht notwendigerweise widersprechen müssen. Vielmehr besteht die
Kunst der nachhaltigen Klinikführung in der Harmonisierung teilweise diametraler Gestaltungsfelder und Zielgrößen. Das Paradigma der industriellen
Workflow-Orientierung bietet dabei die Chance sowohl auf strategischer als
auch auf operativer Ebene komparative Konkurrenzvorteile aufzubauen und
zu verteidigen. Während dadurch Kliniken strategische Impulse für die Konfiguration ihrer Wertschöpfungsarchitektur erhalten, impliziert die adjustierte
Industrialisierung medizinisch-pflegerischer Versorgungsprozesse ein fundamentales Umdenken im operativen Kerngeschäft.
Inhalt
1
2
3
4
5
Krankenhäuser als Manufakturbetriebe im dynamischen Wettbewerb
Wertsteigerung durch Mobilisierung latenter Leistungsreserven
Strategische Leistungsreserven
Operative Leistungsreserven
Fazit: Balanced Hospital Management als strategisches Erfolgspotenzial
R. B. Bouncken et al. (Hrsg.), Dienstleistungsmanagement im Krankenhaus II,
DOI 10.1007/978-3-658-05134-1_2, © Springer Fachmedien Wiesbaden 2014
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Krankenhäuser als Manufakturbetriebe im dynamischen
Wettbewerb
Krankenhäuser agieren zunehmend in einem dynamischen Markt- und Wettbewerbsumfeld, weil der relevante Ordnungsrahmen in den letzten beiden Dekaden
einer Vielzahl legislativer Veränderungen unterworfen wurde (Rasche/ Braun von
Reinersdorff 2011, Heitele 2010). Während auf der einen Seite den Krankenhäusern eine stärkere Markt- und Wettbewerbsorientierung abverlangt wird, sieht der
Gesetzgeber auf der anderen Seite die Notwendigkeit einer ökonomischen Regulierung meritorischer Versorgungsmärkte. Krankenhäuser werden sich in den
nächsten Jahren im Spannungsfeld zwischen (1) Regulierung versus Liberalisierung,
(2) Versorgungs- versus Zielgruppenmedizin und (3) Kapitalgeber- versus Referenzgruppenansprüchen bewegen (Rasche/ Braun von Reinersdorff 2011). Der
Krankenhauswettbewerb ist insofern idiosynkratrisch, als in der klassischen Versorgungsmedizin der Leistungsnehmer keine direkte Zahlungsbereitschaft zeigt.
Vielmehr sind es die Kranken- bzw. Gesundheitskassen, die primär die Behandlungskosten kompensieren und als Agenten den Medizinischen Dienst der Krankenkassen beauftragen, um strittige Fälle formal und inhaltlich zu prüfen. Dagegen unterliegen die sogenannten Selbstzahler-Leistungen einem weitgehend liberalisierten
Marktbildungsprozess, sodass hier der Leistungsnehmer aufgrund der präjudizierten
Wahl-, Wunsch- und Urteilsfähigkeit zum Krankenhauskunden wird (Heitele 2010).
Dabei sind die Übergänge vom „Case“ zum „Customer“ fließender Natur, wie sich
am Beispiel der plastischen Chirurgie oder der Convenience-Leistungen auf den
Privatlieger- und Komfortstationen zeigt (Rasche/ Braun von Reinersdorff 2011).
Bedingt durch die Privatisierungs- und Konzentrationswelle im Krankenhausmarkt
sind schon heute tektonische Verschiebungen in Richtung einer ökonomisierten
Medizin zu konstatieren, die von den drei Imperativen Rationalisierung, Rationierung
und Priorisierung gekennzeichnet sind. In der Medienöffentlichkeit ist die Ökonomisierung des Krankenhaussektors oftmals sehr negativ konnotiert, obwohl in
der Diktion des renommierten Strategieprotagonisten und Gesundheitsexperten
Porter (2010) der wert- und nutzenstiftende Ressourceneinsatz zum Wohl der Patienten im Vordergrund steht. Entscheidend ist seiner Meinung nach die Outcometo-Cost-Relation einer Krankenhausdienstleistung, für die knappe Medizin-, Pflege- und Technologieressourcen investiert werden, um ein Ergebnisäquivalent nahe
der Produktivitätsgrenze zu erhalten (Porter 1996).
Die Rationierung als Form der Angebotsverknappung ist in der kontemporären
Krankenhausversorgung allgegenwärtig, wenn Wartelisten zum Einsatz kommen,
Termine nur langfristig vergeben werden oder aus Kostengründen die Spitzenmedizin in den Hintergrund tritt. Wirtschaftlich, ausreichend, notwendig und zweckmäßig soll im Sinne des Gesetzgebers eine Therapie sein, was implizit Formen der
Rationierung inkludiert – können die begrenzten Gesundheitsressourcen doch nicht
vollumfänglich für „medizinische Leuchttürme“ eingesetzt werden (weiterführend
Porter/ Olmsted Teisberg 2006). Stattdessen ist eine grundsolide Basisversorgung
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zu gewährleisten, weil innovative Hochleistungstherapien in der Regel durch exponentielle Kostenverläufe gekennzeichnet sind.
Priorisierung und Rationierung bedingen sich in der betrieblichen Praxis häufig gegenseitig, wenn z. B. in der Transplantations- oder Notfallmedizin Prioritäten gesetzt werden müssen, indem ein Selektionsmechanismus zum Einsatz kommt. Das
Manchester-Triage-System in der Zentralen Notfallaufnahme legt Interventionsdringlichkeiten fest, wobei eine Priorisierung über eine farbliche Markierung der
Patienten erfolgt (Hogan/ Singh/ Rasche 2011). Im Rahmen der Organvergabepraxis
wird nicht nur nach Wartezeiten, sondern auch nach Erfolgsaussichten priorisiert.
Auf diese Weise soll verhindert werden, dass knappe Spenderorgane „aussichtslosen
Fällen“ gewidmet und letztlich „vergeudet“ werden. Die Priorisierung und Rationierung medizinischer Leistungen kulminiert zwangsläufig in einer ethisch-normativen
Grundsatzdiskussion über den „Wert des Lebens“, die an dieser Stelle nicht vertieft
werden soll. Vielmehr gilt es, für die Spezifika ethisch untersetzter Vertrauensund Versorgungsgüter zu sensibilisieren, die verstärkt einer ökonomischindustriellen Workflow-Logik unterworfen werden sollen (Hogan/ Braun von Reinersdorff/ Rasche 2012a/b).
Das Rationalisierungskalkül tritt zunehmend an die Stelle der noch dominanten
Manufaktur-Logik im Krankenhaus, die als ein Hauptgrund für nicht mobilisierte
Leistungsreserven angeführt wird. Zwar rufen Manufakturen landläufig positive
Assoziationen hervor, doch sind sie eine Ursache für die oft monierten Effektivitätsund Effizienzverluste im Krankenhaussektor. Die Manufakturlogik wird durch den
jüngst artikulierten Rationalisierungsanspruch der modernen Medizin durchbrochen (Rasche/ Braun von Reinersdorff 2011). Durch Rationalisierung und damit
assoziierte Maßnahmen wie Automatisierung, Prozessorientierung, Schnittstellenmanagement oder Standardisierung lassen sich nicht nur Skalen-, sondern auch
Synergieeffekte erzielen, wenn sich Technologie- oder Therapiemodule „supradditiv“ kombinieren lassen. Die Digitalisierung der klinischen Versorgung bietet
nunmehr die Option, die intra- und die intermuralen Transaktionskosten deutlich
zu senken, weil perspektivisch „Big Data“-Managementsysteme eine personalisierte Kommunikation bei gleichzeitig niedrigen Kosten unterstützen (Rasche
2013). Krankenhaus-Informationssysteme der „zweiten und dritten Generation“
synchronisieren und überbrücken System-of-Systems-Applikationen im Sinne der
„IT(t) simply works“-Devise (Rasche/ Margaria/ Braun von Reinersdorff 2010).
Diese mandatiert, dass moderne Krankenhaus-Informationssysteme den Nutzer als
Datenkunden interpretieren, dem sie zu dienen haben. Datenkunden können Ärzte,
Pflegekräfte, Kodierfachkräfte oder auch Medizin-Controller sein, die allein schon
aus Sicherheitsgründen ihre Fachentscheidungen auf belastbarer Informationsbasis
treffen müssen.
Die Hospital Governance – in Analogie zur Corporate Governance – fungiert im
hier verstandenen Sinne als sozioökonomischer Organisations- und Verfassungsrahmen, um jenseits der Priorisierung und Rationierung die definierten Klinikziele
durch rationellen Ressourceneinsatz zu erreichen. Die Hospital Governance ist Ausdruck des Macht-, Kontroll- und Entscheidungssystems eines Krankenhauses, indem
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sie das strategische und das operative Ressourcenmanagement entscheidend prägt.
Defizitäre Governance-Systeme sind vielfach die Hauptursache einer massiven
Wertvernichtung, wenn Fehlentscheidungen getroffen, Besitzstände administriert
oder Chancenfelder verkannt werden (Rasche/ Braun von Reinersdorff 2011). Die
ökonomischen Kardinalparadigmen „Mehr Leistung beim gleichen Ressourceneinsatz“ bzw. „dieselbe Leistung bei geringerem Ressourceneinsatz“ lassen sich
nur unter der Maßgabe einer professionellen Hospital Governance realisieren (Ronen/ Pliskin 2012). Eine solche darf für berufsständisch segmentierte Krankenhäuser mit den drei Kernprofessionen Medizin, Pflege und Verwaltung nicht unterstellt werden, weil auf diese Weise horizontal unverbundene Silostrukturen
entstehen. Innerhalb der Medizin wird zudem ein wachsendes Spektrum isolierter
Spezialdisziplinen vorgehalten. Problemverschärfend haben sich diese in der Vergangenheit innerhalb der Fachgesellschaften immer weiter ausdifferenziert, um auch
sogenannte „Orchideenfächer“ fachärztlich zu verankern. Zweifelsohne dient das
Spezialistentum im Einzelfall dem Therapieerfolg, doch zeigt sich am Beispiel
multimorbider Patienten und geriatrischer Komplexdiagnosen, dass ein Teilerfolg
bei einer Spezialdisziplin noch lange nicht den integrierten Versorgungserfolg garantiert (ergänzend Glouberman/ Mintzberg 2001a/ b). Zu denken ist beispielsweise an die Revisions- oder Poly-Trauma-Orthopädie bei geriatrischen Risikopatienten, wenn auf eine internistische Begleittherapie verzichtet wird. Diese aber hat
Komplementärcharakter und kann den Heilungsprozess nachhaltig begünstigen,
weshalb gegenwärtig über Zentren für Geronto-Chirurgie nachgedacht wird.
Ziel dieses Beitrags ist die kritische Diskussion der Standardthese, wonach viele Gesundheitssysteme chronisch unterfinanziert seien – verbunden mit der Forderung
nach zusätzlichen Finanzmitteln, um auch künftig eine hohe Versorgungsqualität
zu garantieren. Dieses Postulat verkennt dabei neben den Grenzen einer zusätzlichen Mittelbeschaffung die bislang nur unzureichend genutzten Optionen (1) der
Ressourcenmobilisierung, (2) der wertoptimalen Mittelverwendung sowie (3) der
Generierung zusätzlicher Erlöse durch strategische und operative Geschäftsentwicklung (Business Development). Nicht selten entsteht der Eindruck, als handele es
sich bei Krankenhäusern um eine ökonomische Sonderspezies, die sich einer betriebswirtschaftlichen Führungs- und Steuerungslogik weitgehend entzieht. Fakt
ist jedoch, dass Krankenhäuser von den „Best Practices in Leading Industries“
profitieren können. Voraussetzung ist die absorptive Kapazität zur Internalisierung
und kontextspezifischen Adjustierung fach- und branchenfremden Wissens (Cohen/
Levinthal 1990). Die prekäre finanzielle Ergebnislage vieler Krankenhäuser ist dabei
nicht nur das Resultat einer öffentlichen Unteralimentierung, „ungerechter“ MDKKürzungen oder einer unvorteilhaften Entwicklung einzelner Fallpauschalen.
Vielmehr gilt es, ein wert(e)orientiertes Ressourcenmanagement in Krankenhaussektor zu verankern (Heitele 2010).
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Andrea Braun von Reinersdorff und Christoph Rasche
Wertsteigerung durch Mobilisierung latenter
Leistungsreserven
Der Wertbegriff ist im Gesundheitswesen mehrdeutig zu interpretieren, weil
Krankenhäuser gleichermaßen Werte für multiple Anspruchsgruppen schaffen.
Hierzu zählen neben den Patienten und Angehörigen auch die Kostenträger, die
Kapitalgeber und die Krankenhausbeschäftigten. Eine normativ-philosophische Interpretation des Wertbegriffs stellt zudem auf die Konfiguration des Normen- und
Werteinventars eines Krankenhauses ab (Heitele 2010). Letztlich ist eine ökonomische Wertschaffung immer auch ein Abbild eines normativen Wertkonstrukts.
Dieses repräsentiert den Kanon verwurzelter Weltanschauungen, Überzeugungen
und Verhaltensimperative, die das strategische und das operative Agieren eines
Krankenhauses maßgeblich prägen (Tiberius/ Rasche 2013). Nicht zuletzt aus diesem Grund ist das Führungsverhalten konfessioneller Krankenhäuser stark von Traditionen, Tugenden und theologischen Paradigmen geprägt, die im Hinblick auf
die Mobilisierung latenter Leistungsreserven gleichsam „Segen und Fluch“ sein
können. Deren Erschließung ist nicht nur technisch-betriebswirtschaftlicher Natur
im Rahmen des magischen Dreiecks von „Qualität, Kosten und Zeit“, sondern
immer auch eine klinikkulturelle Veränderungsaufgabe.
Im Gegensatz zur Wertsteigerungsdoktrin des angelsächsischen Finanzkapitalismus bewegen sich Krankenhäuser, die einem gesetzlichen Versorgungsauftrag unterliegen, immer im Spannungsfeld zwischen „Finanzkapital- und Sozialkapitalproduktion“ (Tiberius/ Rasche 2013, Rasche/ Braun von Reinersdorff 2011).
Privatwirtschaftliche Krankenhauskonzerne stehen dabei ungleich stärker in der
Pflicht, monetäre Wertsteigerungen für ihre Kapitalgeber zu realisieren, als dies bei
öffentlichen und kirchlichen Kliniken der Fall ist. Letztere unterliegen nicht dem
strengen Wertsteigerungsdiktat der Finanz- und Kapitalmärkte, die im Fall einer
Börsennotierung auf eine Ökonomisierung klinischer Geschäftsmodelle drängen.
Dies wiederum kann – wie von vielen Sozialpolitikern oft pauschal unterstellt – eine stillschweigende Abkehr von solidarischen Versorgungszielen und eine Priorisierung gewinnorientierter Zielgruppen- und Ergebnisziele bedeuten. Die von Porter (2010) eingeforderte Patientenzentriertheit läuft im Einzelfall auf eine
Mehrklassenmedizin hinaus, wenn die klinische Ressourcenallokation an Deckungsbeitragszielen pro Patient ausgerichtet wird. An die Stelle des sozialstaatlichen Gleichbehandlungsgrundsatzes in der medizinischen Versorgung tritt ein nie
offen ausgesprochener Diskriminierungsgrundsatz.
Schon heute ist eine Rationierung und Priorisierung des Leistungsangebots nicht
nur nach Versorgungs-, sondern auch nach Renditekalkülen zu beobachten. Das
moderne Medizin-Controlling analysiert u. a. routinemäßig obere und untere
Grenzverweildauern, Profit Layer und Cost Layer, extrabudgetäre Zusatzentgelte
sowie die Fallpauschalen-Attraktivität, um im Rahmen des regulatorischen Korridors durch ein professionelles Kodiermanagement keine Renditepunkte zu verschenken. Ein übergroßer Wertsteigerungsdruck begünstigt eventuell ein marktopportunistisches Angebotsverhalten im Fall verhaltens- und bewertungsunsicherer
Mobilisierung strategischer und operativer Leistungsreserven im Krankenhaus
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Vertrauensgüter, wenn diese nicht nur „versorgungsoptimal“ erstellt, sondern auch
„renditeoptimal“ vermarktet werden. Nicht zuletzt aus diesem Grund rücken
Krankenhäuser verstärkt in das Visier der Medizinischen Dienste der Krankenkassen, der Staatsanwaltschaften und der Ermittlungsbehörden, wenn der Verdacht
besteht, dass gegen Compliance-Regeln verstoßen wurde.
Der spürbare Rendite- und Ergebnisdruck provoziert die Ergreifung unlauterer
Geschäfts- und Behandlungspraktiken unter der Maßgabe, dass die „Monetik“ der
„Ethik“ als normatives Grundsatzziel der Klinikführung vorangestellt ist. Das Festpreissystem im deutschen Gesundheitswesen soll verhindern, dass ein aggressives
Qualitäts-, Kosten- und letztlich Versorgungs-Dumping Einzug hält. Hoheitlich
intendiert ist ein Qualitätswettbewerb und kein Preiswettbewerb bei erstattungsfähigen Regelleistungen. Sofern der Qualitätswettbewerb allerdings zu einem medizinischen Innovations- und Hochtechnologiewettbewerb avanciert, besteht grundsätzlich das Problem der Kostenexplosion. Hierdurch entsteht zwangsläufig ein
gesundheitspolitischer Interessenkonflikt zwischen Kostendämpfungs- und Innovationszielen - zumal bislang der Fokus immer auf outcome-zentrierten Therapieinnovationen und weniger auf Prozess- und Management- oder Geschäftssysteminnovationen lag. Zudem ist zu konstatieren, dass sich viele Therapie- und
Pharmainnovationen als Scheininnovationen herausstellen, die mittels robuster Sales- und Lobby-Maßnahmen im hart umkämpften Gesundheitsmarkt positioniert
werden müssen.
Kostendämpfende Prozessinnovationen, die im Einzelfall in einer Geschäftssysteminnovation kulminieren können, werden erst seit jüngster Zeit als Optionen
diskutiert, um Versorgungswerte zu schaffen und zu steigern (Williamson 2010).
Hiermit gemeint sind innovative Geschäftsmodelle, die auf eine rigorose Optimierung des Preis-Leistungs-Verhältnisses abzielen, indem dieselbe Leistung substanziell kostengünstiger generiert wird. Bedingt durch den latenten Forschungs- und
Innovationsanspruch vieler Mediziner in nicht-universitären Schwerpunkt- und
Maximalversorgern wurden kostendämpfende Prozessinnovationen nicht selten aus
Sicht der Medical Professionals als wenig prestigeträchtig eingestuft. Schließlich
legitimieren sich ambitionierte Mediziner in den einschlägigen Fachgesellschaften
und Scientific Communities eher über eine hoch spezialisierte Leuchtturmforschung („Rocket Science“) als über Innovationsleistungen (ergänzend Hänel/ Rasche/ Tiberius 2011a/ b, Scheck McAlearney 2006), die auf eine integrierte, ressourceneffiziente und transsektorale Patientenversorgung abstellen (Porter 2010).
Dies in vielen Expertenorganisationen zu beobachtende Problem spezialisteninduzierter Wertvernichtung entsteht zum einen durch die Neigung zur Partialoptimierung der „eigenen“ Forschungs- und Versorgungsinsel. Zum anderen trifft
auf viele Kliniken das „Cat-Herding“-Phänomen zu, weil den einzelnen Professionen ein ausgeprägter Autonomiedrang inhärent ist. Die Führung und Steuerung
intrinsisch motivierter Experten kommt dem „Katzenhüten“ gleich, weil diese
oftmals keine „Herdentiere“ sind und Kollektivzwänge ablehnen (Nordenflycht
2010, Rasche/ Braun von Reinersdorff/ Tiberius 2012). Trotzdem besteht ein entscheidender Impetus zur Leistungsmobilisierung in der interdisziplinären, kollegia-
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Andrea Braun von Reinersdorff und Christoph Rasche
len und teamorientierten „Co-Value-Creation“ unter Einbeziehung therapieadhärenter Patienten (Prahalad/ Ramaswamy 2004).
Das First-View-Konzept der interdisziplinären Notfallaufnahme des AsklepiosKlinikums Hamburg-Altona entspricht dieser Logik. Hierbei soll jeder Patient innerhalb der ersten 15 Minuten nach Eintreffen von qualifiziertem Fachpersonal
erstdiagnostiziert werden, um dann nach zügiger Triage dem jeweils adäquaten
Versorgungsprozess zugeführt zu werden (Hogan/ Singh/ Rasche 2009). Je nach
Dringlichkeit wird der Notfall erstversorgt, stationär beobachtet, als z. B. elektiver
Fall in korrespondierende Fachabteilungen überstellt oder zum Gegenstand einer
Fast-Decision-Unit. Letztere agiert nach der Devise „time is brain, heart and health“,
indem durch interdisziplinäre Schnellkoordination ein hoher Patienten- und Kliniknutzen durch unverzügliche Leistungsmobilisierung entsteht.
In der Medizin entsteht häufig der Eindruck, als handele es sich bei jeder Diagnose, Therapie oder Versorgungsleistung um ein patientenzentriertes Unikat, das am
besten mit einer Manufakturlogik zu erstellen sei (Raab/ Rasche 2013a). Fakt ist
jedoch, dass die medizinisch-pflegerische Versorgung eine Reihe evidenter Standardisierungs-, Rationalisierungs- und Automatisierungsoptionen bietet, um die
Kosten zu senken und die Qualität zu steigern. Dies gilt insbesondere für alle patientenfernen Unterstützungsaktivitäten sowie die Standard Operation Procedures
(SOPs), die in Gestalt von Behandlungsleitfäden als Routinen zur Anwendung
kommen. Neben elektiven Routineeingriffen lassen sich in Kopplung mit einem
zentralen Patientenmanagement bei vielen unterstützenden bzw. diagnostischen
Aktivitäten (z. B. Labormedizin, Pathologie, Radiologie, Anästhesie) hohe Skaleneffekte erzielen.
Davon abgesehen postuliert das Lean Hospital Management (Braun von Reinersdorff 2007) eine kritische Reflexion der oft chronisch ineffizienten Leitungs- und
Kontrollstrukturen, die durch Hierarchie- und Silobildung gekennzeichnet sind. Damit verbunden sind operative Leistungsinseln und verkapselte Kompetenzen, die in
verbundener Form gegeneinander anstatt miteinander operieren. Vorschub erhält
diese Form der administrativen Wertvernichtung durch das oft monierte Kontrollversagen der Aufsichtsorgane, die oft nicht nach Fachkompetenz, sondern nach politischer Opportunität besetzt werden (Rasche/ Braun von Reinersdorff 2003). Im
Ergebnis entstehen weder robuste noch agile Führungs- und Leitungsstrukturen,
sondern administrative Ersatzlösungen für ein nachhaltiges Klinikmanagement samt
professionellem Governance-Regime.Unprofessionelle Leitungs- und Kontrollorgane verhindern oft die Genese eines „Parantal Advantage“ (Campbell/ Gold
2000). Hiermit gemeint ist ein absoluter Organisations- und Koordinationsvorteil
der Klinikzentrale, der den operativen Leistungseinheiten tatsächlich als empfundener Servicevorteil zugutekommt. Ist dies augenscheinlich nicht der Fall, so liegt
eine typische „Wasserkopfadministration“ vor, die auf ihre Wert- und Nutzenstiftung hin analysiert werden sollte. Die Primärbereiche der medizinischpflegerischen Versorgung „am Patienten“ monieren den Trend zu deren Überadministration durch die einschlägigen Managementfunktionen in der Klinikzentrale
(Braun von Reinersdorff/ Rasche 2002, Heitele 2010). Als besonders störend wird
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dabei die Gängelung durch Formalismen und bürokratische Dokumentationsanforderungen empfunden, weil mitunter das Gefühl entsteht, als solle Versorgungsqualität „erprüft“ werden, anstatt diese tatsächlich durch operatives Tun zu realisieren.
Die Wert- und Nutzenstiftung durch administrative Einheiten ist aber nicht nur ein
endemisches Krankenhausproblem, sondern ein Problem der gesamten Gesundheitswirtschaft (ergänzend Zieres/ Rasche 2011). Zu denken ist hierbei nur an das
Multiinstitutionengeflecht aus Kostenträgern, Kassenärztlichen Vereinigungen,
Medizinischen Diensten der Krankenkassen und multiplen Ausschüssen, Gremien
und Interessengruppen. Während die Kliniken mit der Einführung des Fallpauschalen-Systems zu einem Zielkostenmanagement gezwungen wurden, das auf Personal-, Prozess- und Strukturebene zu erheblichen Effizienzverbesserungen geführt
hat, gilt dies nicht in gleichem Maße für die Kostenträger und die übrigen Institutionen außerhalb der klinischen Versorgung. Auf der inter-institutionellen Ebene
der Wert-System-Optimierung müssen über die Einzelklinik hinausgehend die vorund nachgelagerten Wertschöpfungsaktivitäten samt aller Support-Prozesse auf
den Prüfstand gestellt werden. Zu denken ist neben den Strukturbrüchen zwischen
ambulanter und stationärer Versorgung (z. B. Einweiser- und Überleitungsmanagement) vor allem an die Rolle der Kostenträger und der Kassenärztlichen Vereinigungen, für die erhebliche Leistungsreserven zu konstatieren sind. So stellt
sich einerseits die Frage nach der Konsolidierung und Rationalisierung im Krankenkassensektor, um keine weiteren Beitragssatzsteigerungen zu provozieren. Andererseits werden sich Krankenkassen nicht mit der Rolle des eher passiven Kostenträgers (Payer) begnügen können, weil von ihnen die Rolle des aktiven
Gestalters in der Gesundheitswirtschaft (Player) erwartet wird (Braun von Reinersdorff/ Heitele/ Rasche 2010, Rasche/ Braun von Reinersdorff 2011). Nicht zuletzt aus diesem Grund sehen sich viele Krankenkassen nunmehr als Gesundheitskassen, die nicht nur „für Krankheit zahlen“, sondern auch „durch Gesundheit
sparen“. Pathogenese und Salutogenese werden als sachlogische Einheit interpretiert, auf die es zielrichtet Einfluss zu nehmen gilt – und zwar auf der Kostenseite
und auf der Outcome-Seite (Räwer et al. 2011).
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Strategische Leistungsreserven
Die Erschließung strategischer Leistungsreserven kommt im Krankenhaus oftmals
einem Quanten- und Paradigmensprung gleich, indem weniger die Marktspielregeln perfekt beherrscht werden, als vielmehr auf deren Veränderung oder Neudefinition abgezielt wird.
Während gegenwärtig viele Krankenhäuser im Zuge der statischen Effizienzverbesserung versuchen, marginale Kosten- oder Differenzierungsvorteile zu erringen, impliziert die Erschließung strategischer Leistungsreserven in letzter Konsequenz die Verschiebung der Produktivitätsgrenze „nach außen“ - und zwar durch
Lancierung radikaler Veränderungen auf Technologie-, Struktur-, Prozess-, Serviceoder Geschäftssystemebene bis hin zur Verankerung einer unorthodoxen Wert-
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Andrea Braun von Reinersdorff und Christoph Rasche
schöpfungsarchitektur (Heitele 2010, Rasche/ Braun von Reinersdorff 2013, Porter 1996). Die Mobilisierung strategischer Leistungsreserven korrespondiert oftmals mit einer erhöhten Risikobereitschaft, wenn z. B. die Logik des Kerngeschäfts zur Disposition gestellt wird und an dessen Stelle eine „Blue-Ocean“-Logik
treten soll (Kim/ Mauborgne 1999): die Suche nach „blauen Ozeanen“ außerhalb
der hart umkämpften und damit hyperkompetitiven „roten Ozeane“ (Rasche 2002).
Die meisten der deutschen Kliniken bewegen sich ordnungsrahmeninduziert in
„roten“ Markt- und Wettbewerbskonstellationen, die teilweise dem Versorgungsauftrag geschuldet sind. Dieser unterbindet „Cherry-Picking“-Praktiken durch Vertragsbindung, um im Rahmen der Daseinsfürsorge auch wenig lukrative, aber
dringend erforderliche Versorgungsleistungen anzubieten. Trotzdem sollte der
Versorgungsauftrag keine fatalistische Defensivposition provozieren, weil sich
durch innovative Prozess-, Struktur- und Technologiestrategien die magischen
Dreiecksparameter „Qualität, Kosten und Zeit“ nachhaltig optimieren lassen.
Die Mobilisierung strategischer Leistungsreserven wird landläufig mit einem
Wachstums-Achsen-Management (WAM) assoziiert, das auf Expansion entlang
nachfolgend zu charakterisierender Business-Development-Pfade abstellt. Jedoch
lassen sich Leistungsreserven unter umgekehrtem Vorzeichen auch durch ein konsequentes Konsolidierungs-Achsen-Management (KAM) realisieren. Das von den
Autoren entwickelte WAM-KAM-Modell bedient sich derselben Achsen, entlang
derer – ausgehend vom Kerngeschäft – entweder marginale oder radikale Wachstums- und/ oder Konsolidierungsmaßnahmen ergriffen werden können. In der klinischen Praxis verlaufen viele Restrukturierungsprojekte nicht in Reinform, sondern
stellen Mischformen aus Wachstums- und Konsolidierungsaktivitäten dar, die im
Einzelfall marginaler oder radikaler Natur sein können (ergänzend Heitele 2010).
Leistungs- und Versorgungs-Achse:
Kliniken haben im begrenzten Umfang die Möglichkeit, außerhalb des Versorgungsauftrags zu expandieren, indem sie den Selbstzahler-Markt erschließen. Dieser
umfasst das Spektrum extrabudgetärer Leistungen, bei denen der Patient als Medizinkunde auftritt und medizinische, pflegerische oder service-orientierte Angebote
„gegen Aufpreis“ in Anspruch nimmt, ohne dass die Krankenkassen zu einer Kostenübernahme bereit sind (z. B. Schönheitsoperationen, Individuelle Gesundheitsleistungen). Die kritisch diskutierten Individuellen Gesundheitsleistungen bieten
zwar auf der einen Seite die Möglichkeit einer Gewinn- und Umsatzexpansion, doch
ist ihr medizinisch-therapeutischer Nutzen oft als fragwürdig einzustufen. Ausnahmen bilden radikal-innovative Therapien, für die die medizinische Evidenzprüfung
noch nicht abgeschlossen ist und deshalb in der Regel keine Kostenübernahme
durch die Krankenversicherungen erfolgt. Aus strategischer Sicht ist innerhalb der
Restriktionen des Versorgungsauftrags, das Leistungsportfolio unter Risiko-,
Wachstums- und Renditegesichtspunkten zu analysieren. Auch wenn sich „Verlustbringer“ nicht eliminieren lassen, so ist im Sinne einer 80:20-Logik wichtig zu wissen, welche Bezugsobjekte der Wertschöpfung in welchem Umfang zum Betriebs-
http://www.springer.com/978-3-658-05133-4
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