Das Heilige Römische Reich Deutscher Nation und seine Territorien

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Joachim Whaley
Das Heilige Römische Reich
Deutscher Nation
und seine Territorien
Band I
Von Maximilian I. bis
zum Westfälischen Frieden
1493–1648
Aus dem Englischen
von Michael Haupt
Mit einem Vorwort
von Axel Gotthard
Karten (Vorsatz und Nachsatz): Peter Palm, Berlin
Die Übersetzung wurde gefördert durch den
Wilhelm-Weischedel-Fonds der WBG
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation
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Die Originalausgabe erschien unter dem Titel
Germany and the Holy Roman Empire bei Oxford University Press (2012)
© Joachim Whaley
Der Zabern Verlag ist ein Imprint der WBG
(Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
© 2014 by WBG (Wissenschaftliche Buchgesellschaft), Darmstadt
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Redaktion: Dirk Michel, Mannheim
Satz: SatzWeise, Föhren
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der WBG ermöglicht.
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Printed in Germany
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ISBN 978-3-8053-4825-6
Elektronisch sind folgende Ausgaben erhältlich:
eBook (PDF): 978-3-8053-4826-3
eBook (epub): 978-3-8053-4827-0
Inhalt
Vorwort zur deutschen Ausgabe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
Danksagungen
9
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
13
Zu Terminologie und Sprachgebrauch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
15
Abkürzungsverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
18
Einführung: Narrative deutscher Geschichte der frühen Neuzeit . . . . . . . .
19
I.
Deutschland und das Heilige Römische Reich
im Jahre 1500
1.
Ursprünge und Grenzen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
2. Das Reich als politisches Gemeinwesen . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
3. Der Flickenteppich der Territorien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
4. Das Reich und die deutsche Nation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
II.
Die Reform von Reich und Kirche, ca. 1490–1519
5. Die Ära der Reformation in der deutschen Geschichte . . . . . . . . . . .
91
6. Das Reich unter Maximilian I. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
98
7. Reich, Papsttum und Reichskirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
115
8. Religiöse Erneuerung und die Laienschaft . . . . . . . . . . . . . . . . .
131
9. Humanismus im Reich
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
140
10. Buchdruck und Öffentlichkeit: eine Revolution . . . . . . . . . . . . . .
157
11. Die Ökonomie: Landstriche, Gemeinden und ihre Belastungen
. . . . . .
164
12. Die »Affäre Martin Luther« und der Reformator, 1517–1519 . . . . . . . . .
189
6
Inhalt
III.
Karl V. und die Reformation in den 1520er Jahren
13. Das Reich im ersten Jahrzehnt der Regierung Karls V. . . . . . . . . . . .
203
14. Luther und die Reichspolitik, 1517–1526
. . . . . . . . . . . . . . . . . .
218
15. Luther und die deutsche Reformbewegung . . . . . . . . . . . . . . . .
236
16. Alternative Reformationsansätze und die Vorherrschaft des Luthertums
.
244
17. Der Ritterkrieg, 1522–1523 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
267
18. Der Bauernkrieg, 1525 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
280
19. Die Reformation in den Städten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
304
IV.
Die Revolution wird gezähmt 1526–1555
20. Die Entstehung protestantischer Territorien . . . . . . . . . . . . . . . .
321
21. Das Beharrungsvermögen des Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . .
342
22. Karl V., Ferdinand und das Reich in Europa
. . . . . . . . . . . . . . . .
357
23. Der Protestantismus etabliert sich, 1526–1530 . . . . . . . . . . . . . . .
370
24. Der Schmalkaldische Bund, seine katholischen Gegenstücke und die
Reichspolitik, 1530–1541 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
381
25. Karl V. als »Herrscher von Deutschland«, 1541–1548
. . . . . . . . . . . .
397
26. Der Triumph des Reichs, 1548–1556 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
406
V.
Die Verwaltung des Friedens 1555–1618
27. Die Konturen des »konfessionellen Zeitalters« . . . . . . . . . . . . . . .
423
28. Monarchen, Reichsbeamte und Stände nach dem Augsburger
Friedensschluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
427
29. Verfassungsentwicklung nach 1555: Reichstag, Kreise, Gerichte,
Gesetzgebung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
441
30. Das Reich in Europa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
461
7
Inhalt
31. Die Verwaltung des Friedens im Innern, 1555 bis um 1585
. . . . . . . . .
475
32. Der Konsens wird rissig, ca. 1585–1603 . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
501
33. Lähmung, 1603–1614 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
518
34. Probleme im Haus Habsburg
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
530
35. Das Reich unter Kaiser Matthias, 1612–1619 . . . . . . . . . . . . . . . . .
542
36. Die Krise in den Habsburger Landen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
553
37. Staatsrecht und Verfassungsstreit im Reich . . . . . . . . . . . . . . . .
563
38. Irenik und Patriotismus am Vorabend des Krieges . . . . . . . . . . . . .
569
VI.
Die deutschen Territorien und Städte nach 1555
39. Probleme der Interpretation . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
587
40. Günstige Bedingungen? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
591
41. Staatenbildung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
596
42. Innenpolitik und Verteidigung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
603
43. Konfessionalisierung? . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
610
44. Finanzen, Steuern und Stände . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
626
45. Die Wiederkehr der Fürstenhöfe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
637
46. Die Reichsstädte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
648
47. Umgang mit Krisen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
660
VII.
Der Dreißigjährige Krieg 1618–1648
48. Der Dreißigjährige Krieg in der deutschen Geschichte . . . . . . . . . . .
685
49. Welche Art von Konflikt?
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
688
50. Die Wiedereroberung von Österreich und Böhmen, 1618–1623 . . . . . . .
696
51. Ferdinand der Siegreiche
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
701
52. Dänemark und der Krieg für das Reich, 1623–1629 . . . . . . . . . . . . .
709
8
Inhalt
53. Welche Art von Reich? Schweden und die Verteidigung der deutschen
Freiheiten, 1630–1635 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
720
54. Wallenstein und danach . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
734
55. Frankreich, Schweden und der deutsche Weg, 1635–1648 . . . . . . . . . .
741
56. Der Westfälische Friede . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
751
57. Der Einfluss des Kriegs auf die deutsche Gesellschaft . . . . . . . . . . .
767
58. Der Dreißigjährige Krieg und das deutsche politische Gemeinwesen
. . .
773
. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
784
Register . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
828
Bibliographie
Vorwort zur deutschen Ausgabe
Der eine und andere hat es geahnt, hatte mal davon gehört: dass da ein englischer
Historiker seit vielen Jahren an einem Opus magnum zur vormodernen deutschen
Geschichte arbeite. Und wer Joachim Whaley – Professor of German History and
Thought an der Universität Cambridge – einmal persönlich kennenlernte, den frappierte seine stupende Kenntnis der deutschen Geschichte genauso wie diese kaum
stillbare Neugierde allem gegenüber, was mit Deutschlands vormoderner Vergangenheit, und sogar mit seiner Gegenwart, zu tun hat.
Als im Jahr 2012 die beiden voluminösen Bände Whaleys über »Germany and
the Holy Roman Empire« erschienen sind, waren dann doch alle überrascht. So
etwas hatte schon lang keiner mehr versucht, so etwas gab es nicht auf dem deutschen Buchmarkt: eine umfassende deutsche Geschichte, die all die vielen Spezialinteressen eines mit fortschreitender Arbeitsteilung immer kleinteiliger fragmentierten Wissenschaftsbetriebs zusammenbindet. Eine ausführliche Synthese, die
sich nicht in weltgeschichtlichen Betrachtungen verliert oder von »deutschem Wesen« schwadroniert, sondern von Daten und Fakten fast schon überquillt; die in
dichter chronologischer Abfolge die für die vormoderne deutsche Geschichte
wichtigen und signifikanten Ereignisse und Entwicklungen schildert, dabei zahlreiche Menschen aus Fleisch und Blut handelnd vorführt und doch die großen
Strukturen – vom ökonomischen Auf und Ab bis hin zur komplizierten Verfassung
des Reichsverbandes mit seinen vielen geschriebenen und mindestens so komplexen ungeschriebenen Spielregeln – nie aus dem Auge verliert.
Whaleys Bände sind eine Synthese, die Entwicklungen in den vielen deutschen Territorien nachspürt und doch nie Gefahr läuft, die Addition zahlreicher
Landesgeschichten zu betreiben, eben weil das Ganze, der mitteleuropäische
Dachverband namens Reich mit seinen Institutionen und Interventionen, stets
präsent ist. Es ist eine Synthese entstanden, in der insgesamt die politische Geschichte führend bleibt, in der aber auch Geistesgeschichte und Mentalitäten, Religionsgeschichte und die Geschichte politischer Ideen, kulturelle Praktiken, administrative Strukturen, ökonomische und sogar technologische Entwicklungen
zu ihrem Recht kommen.
Vor dem Auge des Lesers erscheinen Kaiser und vermeintliche »Hexen«, stille
Gelehrte und derb polternde Pamphletisten, die »immerwährenden« Verhandlungsroutinen des Regensburger Reichstags und aufmüpfige Bauern; man besucht
Akademien und Manufakturen, erfährt von vormodernen Verwaltungsreformen
10
Vorwort zur deutschen Ausgabe
und von den Auswirkungen der Kleinen Eiszeit, von höfischem Glanz und aufklärerischen Debatten über die Toleranz, von Kriegsleid und der Kunst, den Frieden
zu finden – und das alles (ja, noch viel mehr) wird nie romanhaft, ist nie nur
unterhaltsames Kaleidoskop, weil es durchgehend in analytischem Duktus auf große Entwicklungsstränge bezogen und weil es stets auf dem Forschungsstand präsentiert sowie genau belegt wird.
Whaley begegnet dem Alten Reich, diesem langlebigen Gebilde mit einzigartiger »Zeitelastizität« (um den Ausdruck für die zeitliche Erstreckungsfähigkeit eines
politischen Systems von Niklas Luhmann zu borgen), mit kritischer Sympathie.
Das Alte Reich habe in den letzten 350 Jahren seiner Geschichte zahlreiche Herausforderungen glänzend gemeistert, sei bis in seine Spätphase hinein innovativ
und flexibel geblieben, betont er immer wieder zu Recht. Er weiß (anders als viele
deutschsprachige Darstellungen noch der jüngeren Vergangenheit), dass das Reich
auch nicht nach oder wegen »1648«, also seit dem Westfälischen Frieden versteinert und erstarrt ist. Vielmehr kann Whaley zeigen, dass die Kohäsionskräfte im
Reichsverband in den Jahrzehnten vor und um 1700 wieder anwuchsen und wie
der Kaiser, beispielsweise über den mittlerweile permanent tagenden Reichstag,
beispielsweise durch eine zielstrebig vergrößerte Klientel, wieder präsenter wurde.
Aber Whaley erliegt auf der anderen Seite auch nicht der Versuchung,
Deutschlands Konfessionelles Zeitalter, um nur das Reich als besonders interessanten Forschungsgegenstand herausstreichen zu können, etwa schönzufärben
oder den Dreißigjährigen Krieg im falsch verstandenen Interesse einer Europäisierung der Erinnerung zu internationalisieren: Nein, der Konfessionsdissens riss das
Alte Reich wiederholt in schwere Krisen, stürzte es 1546 in einen ersten, seit 1618
in seinen verheerenden dreißigjährigen Konfessionskrieg, aber mit dem Ersten
Religionsfrieden von Augsburg (1555) und dem Zweiten von 1648 (Artikel V des
Osnabrücker Friedensvertrags) fand es auch für diese Herausforderung Lösungen,
die in ihrer Zeit avantgardistisch gewesen sind.
Auch als das Reich seit 1740 erneut polarisiert wurde, nun nicht mehr vorrangig nach konfessionellen Loyalitäten, sondern im Zeichen des preußisch-österreichischen Dualismus, war es nicht zwangsläufig am Ende, wie Whaley mit guten
Argumenten herausstreicht. Als ein Franzose aus Kraft und Willen die europäische
Landkarte ummalte und den Kontinent unter seinem korsischen Clan aufteilte, war
– wie so viele europäische Länder und Reiche – auch das Heilige Römische Reich
deutscher Nation am Ende. Aber für den Briten Whaley prägt sein Erbe die politische Kultur Mitteleuropas bis heute. Es ist gerade für deutsche Leser reizvoll, sich
das von einem außenstehenden Beobachter aufzeigen zu lassen, der in die deutschen Forschungskontroversen der letzten Jahrzehnte nicht verwickelt, doch bestens eingeweiht ist.
Man merkt, dass die beiden Bände in vieljähriger Arbeit heranreifen durften,
Vorwort zur deutschen Ausgabe
da gab kein ungeduldiges Lektorat oder gar ein Jubiläumsjahr den Takt vor. Dass
das Manuskript langsam wachsen durfte, hat ihm fast nur genützt. Es verschreibt
sich keiner gerade modischen Methode oder Terminologie, was seiner Haltbarkeit
zugute kommen wird.Wiewohl mit dem aktuellen Forschungsstand vertraut, stützt
sich sein Autor doch explizit auch auf Historiker, die hierzulande zuletzt eher aus
dem Blick geraten sind, beispielsweise den viel zu jung verstorbenen Volker Press,
dessen frühe Arbeiten die Erforschung des Reichverbandes methodisch wie inhaltlich auf ein neues Niveau gehoben haben; die Rückblicke ins ausgehende
Mittelalter verdanken viel den trefflichen Arbeiten von Ernst Schubert. Press,
der Reichskenner mit dem Faible für tausend landesgeschichtliche Verästelungen;
Schubert, der Landeshistoriker mit dem weiten Blick aufs Große und Ganze der
deutschen und europäischen Geschichte: Sind sie auch deshalb wichtige Gewährsleute Whaleys, weil sie so gern die Nahtstellen (zwischen Landes- und Reichsgeschichte, zwischen politischer und Kulturgeschichte) inspizierten? Whaleys
Monographie jedenfalls akzeptiert solche angeblichen Grenzen, die ja im Zeichen
zunehmender Spezialisierung für einen einzelnen immer unübersteigbarer zu werden scheinen, keinesfalls.
Joachim Whaley versucht Deutschlands Vormoderne nicht von einigen zentralen Knotenpunkten her in den Griff zu bekommen und deshalb gleichsam grob
gerastert zu präsentieren (was ja, insbesondere in der noch recht jungen Gattung
des »Studienbuchs«, etwa für Bachelor-Studenten, durchaus legitim ist), er breitet
einen gleichmäßig dicht gewebten Teppich aus. Es handelt sich wirklich um eine
Gesamtdarstellung: eine Darstellung nämlich, die alle nennenswerten Ereignisse
und Prozesse in Deutschlands Früher Neuzeit anspricht, prägnant umreißt, konzise
einordnet. Eine ähnlich umfangreiche, dichte, präzise und durchdachte Gesamtdarstellung gab es bisher auch in Deutschland nicht.
Whaleys »Germany and the Holy Roman Empire« ist die wichtigste Veröffentlichung eines englischen Historikers zur vormodernen deutschen Geschichte seit
Jahrzehnten; dass man sie nun zeitnah übersetzt hat, wird auch den deutschen
Buchmarkt sehr bereichern.
Axel Gotthard
11
1. Ursprünge und Grenzen
W
ill man im Jahr 1500 von Deutschland sprechen, sieht man sich mit
grundlegenden Fragen nach der Geschichte des frühneuzeitlichen
Heiligen Römischen Reichs konfrontiert. Schon der Begriff »Deutschland« ist problematisch. Im späten 15. Jahrhundert gab es unzweifelhaft ein
wachsendes Gespür dafür, was »deutsch« war. Dieses beruhte auf der Sprache
und auf dem Bewusstsein einer gemeinsamen ethnischen Identität und historischen Erfahrung. Und es wurde dadurch verstärkt, dass es in einigen deutschsprachigen Territorien die Empfindung für gemeinsame politische Interessen gab,
die verteidigt werden und mithin in juristischen und institutionellen Formen
ihren Ausdruck finden müssten. Während des 15. Jahrhunderts wurden die Begriffe »deutsche Lande« und »deutsche Nation« zunehmend gebraucht, um diesen
gemeinsamen Interessen Ausdruck zu verleihen; 1474 wurde das Reich zum ersten Mal in einem Dokument als »Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation«
bezeichnet und diese Namengebung wurde 1512 formell bekräftigt. 1 Die darin
ausgedrückte Verbindung zwischen Reich und »Nation« wurde jedoch nicht in
präzise Begriffe gefasst.
Allerdings können zu dieser Zeit weder »Reich« noch »deutsche Nation« ohne
Schwierigkeiten definiert werden. »Reich« hieß es, weil Karl der Große das Römische Reich als Erbschaft nach Norden übertrug und die deutschen Könige nach
Otto I. (* 912, † 973) den Titel »Kaiser« übernahmen. Otto I. wurde 936 deutscher
König, unterwarf Italien, wurde 951–952 König der Lombardei und 962 zum Kaiser
gekrönt. 2 Für den Geist des Reichs war die Idee einer translatio imperii grundlegend: Das Ansehen des Kaisers wurde durch die Vorstellung, seine Macht leite
sich von den römischen Kaisern her, ins Unermessliche gesteigert. Heinrich IV.
(* 1050, † 1106) hatte noch den Titel Rex Romanorum hinzugefügt, der fortan
dem gewählten König (übersetzt als römisch-deutscher König) vor seiner Krönung
zum Kaiser verliehen wurde. 3 Das Beiwort »heilig« fügte der Hohenstaufenkaiser
Friedrich I. 1157 hinzu, um seinem Ziel, Italien und das Papsttum ebenso wie die
Gebiete nördlich der Alpen zu beherrschen, Ausdruck zu verleihen.
Die so ganz unterschiedlichen Ursprünge und der facettenreiche Charakter des
Reichs spiegeln sich in den Titeln und Krönungsriten der Herrscher. Die deutsche
Monarchie war und blieb eine Wahlmonarchie, was unzweifelhaft dazu beitrug,
dass der Hofstaat durch die Lande ziehen musste und es kein eindeutiges geografisches Zentrum oder eine Hauptstadt gab. Auch die Namen des Reichs waren vage
40
I · Deutschland und das Heilige Römische Reich
und benannten kein geografisch festlegbares Territorium: Imperium Romanum, Imperium Christianum, Imperium mundi – römisch, christlich und weltumfassend, so
lauteten die Epitheta. Insofern überhaupt geografisch fixierbare Punkte anklangen, bezeichneten sie Orte, die aus Regierungssicht ziemlich bedeutungslos waren.
Die Krönung des Herrschers zum deutschen König (mit dem Titel »König der Römer«) wurde von Karl dem Großen an bis 1531, der Krönung Ferdinands I., in
Aachen vollzogen, danach in Frankfurt am Main, bisweilen einfach an dem Ort,
an dem die Wahl stattgefunden hatte. Im Mittelalter wurde die anschließende
Krönung zum Kaiser im Petersdom in Rom durch den Papst vollzogen. Der erste
Herrscher, der nicht auf diese Weise zur Kaiserwürde gelangte, war Maximilian,
der sich 1508 einfach selbst zum Erwählten Römischen Kaiser ernannte. Die letzte
Krönung durch den Papst wurde Karl V. 1530 in Bologna zuteil. Zwischen den
Krönungsvorgängen wurden die kaiserlichen Insignien, die theoretisch in Aachen
lokalisiert waren, durch die Lande getragen und erst ab 1424 erhielten die wichtigsten Insignien (darunter Krone, Zepter, Reichsapfel, Schwert und die heilige
Lanze) einen festen Platz in Nürnberg. 4
Allerdings hatten deutsche Herrscherdynastien wiederholt den Versuch unternommen, die geografischen Implikationen der Kaisertitel zu konkretisieren, indem
sie neben den umfangreichen cis- und transalpinen Territorien große Teile Osteuropas in die Konstellation einbezogen. Die Luxemburger Kaiser Karl IV. (1347–
1378), Wenzel (1378–1400) und Sigismund (1411–1437) wollten dem Reich als
Stammland Böhmen, Schlesien, die Lausitz, die Mark Brandenburg und vor allem
(jedoch außerhalb des Reichs) Ungarn sichern, jedoch war ihre Herrschaft über
diese Gebiete zu keinem Zeitpunkt sicher oder stabil, sondern im Gegenteil durch
Rebellionen gekennzeichnet; zudem tauchten immer wieder Rivalen auf, die eigene Ansprüche anmeldeten. Doch gelang es den Luxemburger Kaisern durch Heirats- und Vererbungsstrategien, einen Katalog von möglichen Besitzansprüchen
zusammenzustellen, der mit Sigismunds Tod 1437 auf die Habsburger überging.
Sigismunds Tochter Elisabeth hatte 1421 nämlich Albrecht V. von Habsburg geheiratet, der bei seiner Wahl zum Kaiser 1438 zum ersten Mal die Kronen Böhmens,
Ungarns und Deutschlands auf sich vereinigte. Mittlerweile jedoch war das Königreich Burgund unwiderruflich verloren; der letzte deutsche Kaiser, der zum König
von Burgund gekrönt wurde, war 1356 Karl IV.; nach seinem Tod 1378 wurde das
Königreich aufgelöst und größtenteils von Frankreich einverleibt. Zu dieser Zeit
hatten die Kaiser auch schon weitgehend die Kontrolle über die Restbestände des
Königreichs Italien verloren.
Die Luxemburger Kaiser hatten ihren Ehrgeiz auf den Osten konzentriert und
so in gewisser Weise die deutschen Territorien an den Rand gedrängt, wodurch sie
den neuen Herrschern über Burgund, die dem Haus Valois angehörten (und von
1363 an Herzöge von Burgund waren), ermöglichten, sich zu konsolidieren und die
1. Ursprünge und Grenzen
unter deutschen Fürsten entstandene Unzufriedenheit auszunutzen. So waren die
Habsburger alsdann gezwungen, ihre Aufmerksamkeit dem Westen zuzuwenden.
Sie reagierten auf die Herausforderung durch Karl den Kühnen wechselweise mit
Annäherungsversuchen, militärischer Gewalt und schließlich, wirkungsvoller,
durch ein Heiratsbündnis zwischen Karls Tochter wie Erbin Maria und Maximilian,
dem Erben Friedrichs III. Die Heirat fand 1477 statt, kurz nach Karls Tod. Auf diese
Weise konnten die Habsburger das Burgund und auch noch die Franche-Comté
dem Reich einverleiben. Das war das Vorspiel zu weiteren Plänen, die vorsahen,
dass – erneut durch Heirat – Ansprüche auf Aragon und Kastilien bekräftigt wurden. Diese Ausweitung war eine Reaktion auf die wachsende Feindseligkeit Frankreichs, wo nacheinander Ludwig XI. (1461–1483), Karl VIII. (1483–1498) und Ludwig XII. (1498–1515) ein Auge auf das burgundische Erbe, darüber hinaus aber
auch auf die kaiserlichen Territorien in Italien warfen.
Der territoriale Ehrgeiz der Luxemburger und nach ihnen der Habsburger, der
seinen Höhepunkt mit Maximilian I. erreichte (er war nach 1486 König und Mitherrscher neben seinem Vater Friedrich III., ab 1493 Alleinherrscher, von 1508 bis
1519 Kaiser), führte zu Macht, aber auch zu Unsicherheit. Die Habsburger schufen
ein Reich, das universeller war als alles, was die vorherigen Dynastien besessen
hatten. Aber sie benötigten Ressourcen, um ihre Ansprüche durchsetzen oder gegen benachbarte Feinde wie etwa die Könige Frankreichs verteidigen zu können,
und das nötigte sie, Druck auf die deutschen Territorien auszuüben. Ihre Forderung nach einer Reform des Reichs, nach Gesetzen und Institutionen, mit denen sie
ihre Rechte sichern konnten, ist Ausdruck dessen.
Die Landkarte Europas wurde von Maximilians Besitztümern beherrscht – von
den Herrschaftsgebieten und Territorien, die er ererbt hatte, und von denen, die er
durch Heirat erworben und deren Oberherrschaft er mit dem Kaisertitel übernommen hatte. Aber diese territoriale Ansammlung war nur dem Anschein nach ein
monolithischer Block. Der Kaiser hatte zwar Macht und Einfluss, aber je nach
Gebiet in höchst unterschiedlichem Ausmaß. Es gab Rechtssatzungen verschiedensten und mitunter beträchtlichen Alters, deren wahre Bedeutung und Werthaltigkeit für die Ausübung kaiserlicher Macht dadurch sehr uneinheitlich ausfielen.Wohl waren alle unter dem Schirm des Heiligen Römischen Reichs versammelt,
aber im Hinblick auf die realen Möglichkeiten der Institutionen und des Regierens
bedeutete der Titel zu verschiedenen Zeiten recht Unterschiedliches.
Jeder Versuch, eine genaue Karte des Reichs zusammenzustellen, stößt auf
zwei Schwierigkeiten. Zum einen sind die äußeren Grenzen nie mit Sicherheit zu
bestimmen. Sie veränderten sich sehr häufig und sind nirgendwo mit wirklicher
Genauigkeit anzugeben. Zum anderen ist es rein technisch fast unmöglich, die
inneren Grenzen so wiederzugeben, dass ihre Komplexität mit dem bloßen Auge
überhaupt wahrgenommen werden kann. Dieses Problem wird weiter unten im
41
42
I · Deutschland und das Heilige Römische Reich
Hinblick auf die Struktur des kaiserlichen Herrschaftssystems erörtert. Zunächst
jedoch soll eine Skizzierung der Außengrenzen um 1500 nicht nur die Frage der
geografischen Ausdehnung beleuchten, sondern auch Faktoren, die die Funktionsweise des Systems in bestimmten Gebieten einschränkten. 5
In gewisser Hinsicht ist schon die Frage nach den Grenzen des Heiligen Römischen Reichs anachronistisch. Sie waren weder festgelegt noch eindeutig, denn,
weil sie sich aus den feudaladligen Beziehungen zwischen König und Vasallen
ergaben, wandelten sie sich mit der Veränderung dieser Beziehung, sei es, dass
Dynastien oder Adelslinien erloschen, sei es durch Heiratsverträge. Überdies
konnte ein Adliger als Vasall zwei Oberherren gleichzeitig dienen, woraus sich ein
kompliziertes Geflecht von Rechten, Ansprüchen und Ambitionen ergab. Ebenso
wichtig war die Tatsache, dass das »Heilige Römische Reich Deutscher Nation«
mehr als nur ein deutsches Reich war. In seinen Gebieten lebte ein multinationales
Gemisch von Gruppen mit ganz unterschiedlichen Sprachen: Französisch, Holländisch, Friesisch, Sorbisch, Tschechisch, Slowenisch, Italienisch, Ladinisch und Rätoromanisch. Zudem umfasste das Reich keineswegs alle deutschsprachigen Gebiete, denn die sogenannten Sprachinseln, die deutschsprachigen Siedlungen in
Osteuropa, gehörten nicht dazu. 6
Dennoch kann in den Jahrzehnten um 1500 von der Entstehung eines »deutschen« Reichs gesprochen werden. Theoretisch bestand das Reich im 15. Jahrhundert aus drei großen Blöcken oder Gebietsgruppen: Italien, Deutschland und Burgund. In der Praxis blieb davon jedoch nur das Königreich Deutschland übrig. Zu
Maximilians ständigen Bestrebungen gehörte die Wiedereingliederung der verlorenen italienischen und burgundischen Territorien; einmal versuchte er sogar,
die Provence und damit das alte Zentrum des burgundischen Königreichs, Arles
und die umliegenden Gebiete, zurückzuerobern. Aber all diese Pläne schlugen fehl
und so bestand das Reich am Ende seiner Regierung mehr als je zuvor fast ausschließlich aus dem Königreich Deutschland.
Vielleicht hat Maximilian die drei Königreiche als Einheit auffassen wollen,
aber weder Italien noch Burgund gehörten ganz zum Reich der frühen Neuzeit,
insoweit es sich als ein die deutschen Territorien einigendes Band entwickelte.
Zugleich verlor die Idee einer universellen christlichen Monarchie zunehmend an
Einfluss und wurde schließlich mehr zum Bestandteil der dynastischen Mythologie
der Habsburger, als dass sie noch im System selbst eine Rolle gespielt hätte, dem in
erster Linie all jene angehörten, die »Sitz und Stimme« im Reichstag hatten.Von den
drei Erzkanzlern (die Erzbischöfe von Mainz, Trier und Köln für jeweils Deutschland, Burgund und Italien) trug nur der Erzbischof von Mainz den Titel eines sacri
imperii per Germaniam archicancellarius (Reichserzkanzler für Deutschland).
Dieser Prozess der Segmentierung, der Ausdifferenzierung zwischen der Peripherie und den deutschen Kerngebieten, lässt sich am besten mit Blick auf den
1. Ursprünge und Grenzen
Süden beobachten. So hatten beispielsweise die italienischen Territorien einen erheblichen Teil des Reichs der Hohenstaufen ausgemacht. Einige Gebiete – wie etwa
Venedig am Ende des 15. Jahrhunderts – fanden den Weg in die Unabhängigkeit,
während andere dem Reich erhalten blieben: Savoyen, die Herzogtümer von Mailand, Modena und Parma, desgleichen die Republiken von Genua, Lucca, Pisa,
Florenz und Siena. Sie alle betrachteten den Kaiser weiterhin als Oberherrn. Jedoch waren sie, mit Ausnahme von Savoyen, im Reichstag nicht vertreten und in
den »Reichskreisen«, jenen regionalen Institutionen, die zu Beginn des 16. Jahrhunderts geschaffen wurden, war auch Savoyen nicht enthalten. 7 Die – oft von
hohen Tributzahlungen und Bestechungen begleiteten – Rituale der Lehensvergabe wurden bei der Inthronisierung einer lokalen Dynastie oder eines Kaisers
auch weiterhin durchgespielt. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts erstreckte sich
Reichsitalien über 250 bis 300 Lehen mit insgesamt 50 bis 70 Familien. 8 Aber diese
Territorien waren nicht der Rechtsprechung der kaiserlichen Gerichte unterworfen
und zahlten dem Kaiser keine Steuern. Johann Jakob Moser, der bedeutende Kommentator der Reichsgesetze im 18. Jahrhundert, konstatierte in seinen Werken
wiederholt, dass Italien unzweifelhaft zum Reich gehöre, aber keine wirkliche Verbindung mit Deutschland besitze. Er sei, fügte er hinzu, selbst als Experte des
deutschen Rechts nicht in der Lage, dessen Verfassung zu erklären. 9
Die italienischen Territorien wurden schließlich Teil eines enger definierten
habsburgischen Patrimoniums und bildeten die Grundlage für den Anspruch der
Dynastie auf Gebiete in Italien bis ins 19. Jahrhundert hinein. Während der Erzbischof von Köln den Titel sacri imperii per Italiam archicancellarius (Reichserzkanzler für Italien) bis zum Ende des Reichs beibehielt, wurden die kaiserlichen
Interessen in Italien de facto durch in Wien bestellte Gesandte vertreten, so etwa
während der Herrschaft Josephs II. durch Leopold II., den Großherzog der Toskana. Trotz aller Interessen und Absichtserklärungen spielten die italienischen Gebiete für das frühneuzeitliche Reich jedoch keine besondere Rolle und bleiben daher
in dieser Arbeit unberücksichtigt. 10
Eine andere Art von Ausschließung betrifft die Schweizer Eidgenossenschaft.
Eine gewisse Kluft zwischen der Konföderation mit ihren kommunalen Traditionen
und dem wesentlich aristokratischen Reich hatte es bereits gegeben; sie vertiefte
sich im Lauf des 15. Jahrhunderts, als die Schweizer sich den territorialen Ansprüchen und Bestrebungen der Habsburger widersetzten. Nach 1471 kamen die »eidgenössischen Orte« nicht mehr zum Reichstag, sondern hielten ihre eigenen
Zusammenkünfte, die sogenannten Tagsatzungen, ab. Ein letzter Versuch Maximilians, sie zu unterwerfen, scheiterte 1499; danach waren sie in der Lage, sich die
Unabhängigkeit von der Rechtsprechung des Reichs bestätigen zu lassen. Zwar
verblieben sie formell im Reich, doch nahmen selbst Grenzstädte wie Basel und
Schaffhausen nach 1530 nicht mehr am Reichstag teil und die Eidgenossenschaft
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I · Deutschland und das Heilige Römische Reich
hielt an ihrer Autonomie innerhalb des Reichs fest, bis ihre Souveränität im Westfälischen Frieden von 1648 endlich anerkannt wurde. 11
Im Westen bot die Grenze ein differenzierteres Bild. Viele Bereiche des Elsass
gehörten zum Territorium der Habsburger, während Straßburg und die zehn oberelsässischen freien Reichsstädte eindeutig zum Reich gehörten. Weiter nördlich
waren die Herzöge von Lothringen Vasallen des Kaisers, aber auch, im Hinblick
auf das Herzogtum Bar, dessen Bindung an das Reich nur nominell war, des Königs
von Frankreich. 12 Komplizierter war die Lage, was die burgundischen Gebiete betraf. Die Freigrafschaft Burgund (auch Franche-Comté), eingezwängt zwischen
Lothringen im Norden und Savoyen im Süden, hatte (ab dem 9. Jahrhundert) eindeutig zum Reich gehört, wobei die freie Reichsstadt Besançon im Zentrum eine
wichtige Enklave bildete. Das Ausmaß der Integration der Freigrafschaft ins Reich
wurde jedoch durch ihren Status als Habsburger Gebiet eingeschränkt. Zudem ging
sie 1556 in die Hände der spanischen Linie der Habsburger über und spielte eine
entscheidende Rolle im Dauerkonflikt zwischen Frankreich und Spanien, bis sie
1674–1678 schließlich an Frankreich fiel.
Die nördlichen Teile der burgundischen Erbschaft lagen in Brabant, Flandern
und den Niederlanden; auch sie blieben gegenüber dem eigentlichen Reich randständig.13 Während jene Teile der südlichen Niederlande, die bei Habsburg blieben
(und bis 1713/14 spanisch, danach österreichisch waren), formell einem burgundischen Reichskreis zugeordnet wurden, waren sie ab 1548 von der Rechtsprechung des Reichs ausgenommen und von Abgaben an das Reich befreit. So gehörte
die allmählich entstehende Holländische Republik formell bis 1648 zum Reich.
Während die politischen, geistigen und kulturellen Entwicklungen in diesen Gebieten großen Einfluss auf die deutschen Territorien ausübten, können sie selbst in
keiner Weise als »Reichsstände« betrachtet werden. Zwar spielten sie eine erheblich größere Rolle als die italienischen Gebiete, doch liegt das an ihrer größeren
Bedeutung für die machtpolitischen Interessen der österreichischen Habsburger.
Wie dem Erzbischof von Köln erging es auch dem von Trier: Sein Status wurde
durch den ihm verliehenen Titel eines sacri imperii per Galliam et regnum Arelatense archicancellarius (Reichserzkanzler für Frankreich und das Königreich Arles)
eher aufgebläht als wirklich angehoben. 14
Noch am klarsten verlief die Grenze im Norden, obgleich es auch hier eine
Besonderheit gab, die für das frühneuzeitliche Reich von erheblicher Bedeutung
war. Das Herzogtum Holstein gehörte zum Reich, während Schleswig dänisch war.
Im Vertrag von Ripen 1460 wurden beide vereinigt, als Christian I. von Dänemark
die Gebiete der mittlerweile erloschenen herzoglichen Linie von Schauenburg erbte (er beanspruchte sie als Erbe des Hauses Oldenburg). So wurde der König von
Dänemark Vasall des Kaisers und war, was Holstein anging, der Rechtsprechung
des Reichs unterworfen. Daraus entstand eine Situation, die in der späteren Ge-
1. Ursprünge und Grenzen
schichte des Reichs häufiger wiederkehren sollte, so etwa im Hinblick auf Savoyen
und Polen oder auf Hannover und Großbritannien. Die Existenz nichtdeutscher
Monarchen als Vasallen des Kaisers und Fürsten des Reichs bildete eine Art
Grundlage für ein europäisches Staatensystem. Zugleich waren diese Monarchen
keine Habsburger und schränkten somit deren Macht im Reich weiter ein, weshalb
Übergriffe von ihrer Seite zumindest potenziell zu Ursachen für Kriege in Europa
werden konnten.
Im Nordosten gestalteten sich die Dinge wieder auf eine andere Weise kompliziert. Während Pommern, Brandenburg und Schlesien Lehnsgebiete des Reichs
waren, galt dies nicht für die umfangreichen Ländereien des Deutschen Ordens. 15
Dessen Besitzungen erstreckten sich über Nordpolen bis nach Litauen, Lettland
und Estland. Ihre Aneignung war das Ergebnis der Eroberungen im 13. Jahrhundert, als der Deutsche Orden sich vom Heiligen Land abwandte und seine Energien
der Eroberung und Christianisierung des heidnischen Ostens widmete. Der Orden
war dem Kaiser durch die auf 1226 datierte Goldene Bulle von Rimini zur Loyalität
verpflichtet, doch entwickelte sich die Beziehung zum Reich größtenteils aufgrund
der drohenden Haltung, die Polen und Russland den Eroberern gegenüber einnahmen, weil sie deren aggressives Vordringen zutiefst missbilligten. Eine polnische
Gegenoffensive im 15. Jahrhundert führte zu umfassenden territorialen Verlusten
für den Orden und praktisch zu seiner Teilung: Die preußischen Gebiete wurden
nun Polen und dem Papsttum unterstellt, während die weiter nördlich gelegenen
Territorien des litauischen Zweigs zum Zankapfel zwischen Polen und Russland
wurden. Dadurch konnte der Orden dort ein gewisses Maß an Unabhängigkeit
behalten, während der preußische Zweig Polen dadurch in Schach zu halten suchte, dass er Adlige aus deutschen Fürstenhäusern zu Hochmeistern wählte, so 1498
(Friedrich von Sachsen) und 1511 (Albrecht von Brandenburg-Ansbach). Dennoch
wurde das Gebiet 1525, anlässlich der Säkularisierung des Ordens, zum Herzogtum
Preußen. Allerdings blieb es im Besitz des Hauses Hohenzollern, was die weitere
Verbindung zum Reich gewährleistete. Hingegen wurden die Gebiete des litauischen Zweigs 1561, aufgrund der Säkularisierung durch Landmeister Gotthard
Ketteler, zum Herzogtum Kurland und lagen somit außerhalb des Reichs.
Direkt südlich an Brandenburg grenzend, lag ein Gebietskomplex, der zum
Königreich Böhmen gehörte und besondere Privilegien genoss, die es anderswo
im Reich in dieser Art nicht gab. Um 1500 gehörten zu diesem Territorialgebilde,
außer Böhmen selbst, das Herzogtum Schlesien sowie die Markgrafschaften Mähren und Ober- wie Niederlausitz. Diese Länder fielen 1526 durch Erbschaft direkt
an die Habsburger. Anders als ihre burgundischen Besitzungen jedoch, deren Sonderprivilegien mit der Oberherrschaft der Habsburger einhergingen, hatte die böhmische Krone im Reich schon seit langer Zeit eine Sonderstellung eingenommen.
Zum einen war Böhmen (ab 1198) das einzige dem Kaiser untergeordnete König-
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I · Deutschland und das Heilige Römische Reich
tum im Reich. Der Böhmische König hatte, wie von der Goldenen Bulle 1356 bestätigt, als Kurfürst das Recht, den deutschen König zu wählen, doch nahm er
nicht an den Beratungen des Wahlkollegiums teil. Sein Land war, wie das aller
Kurfürsten, von der kaiserlichen Rechtsprechung insoweit ausgenommen, als die
Untertanen sich nicht an kaiserliche Berufungsgerichte wenden konnten (privilegium de non appellando) und die niedere Gerichtsbarkeit des Kaisers sich nicht auf
die böhmischen Territorien erstreckte (privilegium de non evocando). 16
Wohl noch wichtiger, und später von großer Bedeutung, war, dass es in Böhmen besondere politische und religiöse Traditionen gab. Das Recht der böhmischen
Stände, ihren König zu wählen, wurde bei jeder sich bietenden Gelegenheit bekräftigt, so auch 1471, als Georg von Podiebrad starb. Die Stände wählten daraufhin
Ladislaus II., einen polnischen Prinzen aus dem Geschlecht der Jagiellonen. Selbst
als der Habsburger Ferdinand I. die Krone 1526 durch Erbschaft übernahm, beharrten die Stände auf dem Recht, ihn vor der Krönung zu »wählen«. Verstärkt
wurde diese Tradition politischer Unabhängigkeit durch die spezifisch böhmische
Religion der Hussiten oder Utraquisten, die sich gegen die Anfeindungen seitens
des Reichs und der katholischen Kirche wie auch gegen die Aufstände der radikalen Taboriten (einer Hussitenfraktion) behaupten konnte. So bestärkte in Böhmen,
wie sonst nirgendwo im Reich, eine »nationale« Religion eine von den Ständen
vertretene »nationale« Ideologie. Am Ende des 16. Jahrhunderts wurde diese Konstellation zum Katalysator für den Ausbruch des Dreißigjährigen Kriegs. 17
Der Kreis schließt sich mit den direkt in habsburgischem Besitz befindlichen
Territorien im Südosten. Mit Ausnahme von Ungarn, das 1526 nach dem Tod des
letzten jagiellonischen Königs von Böhmen und Ungarn durch (eine allerdings umstrittene) Erbschaft an die Habsburger fiel, gehörten ihre Kernländer sämtlich zum
Reich. Zusammen mit den Herzogtümern Steiermark, Kärnten und Krain sowie
den Grafschaften Tirol und Görz (an der Adria gelegen) bildete das Erzherzogtum
Österreich einen mehr oder weniger kohärenten Block. Wie die anderen habsburgischen Territorien genossen auch sie Ausnahmeregelungen und Sonderprivilegien. Eine weitere Eigenschaft dieser Grenze war die extreme Spreizung der habsburgischen Lande, wobei Ungarn außerhalb des Reichsgebiets lag. 18 In Norditalien
grenzten die Bistümer von Brixen und Trient an das Gebiet der Habsburger und
ihre Herrscher waren bis 1803 Fürsten des Reichs. Allerdings spielten sie in der
Reichspolitik keine bedeutende Rolle.
Ab den 1440er Jahren mussten die Habsburger das Reich und insbesondere die
österreichischen Territorien vor den Türken schützen und gegen sie verteidigen.
Das verwickelte sie, und damit auch das Reich, mehr als zwei Jahrhunderte lang
in sporadische und häufig langwierige bewaffnete Konflikte. Dadurch wurde das
Reich zwar zusammengehalten, aber auf lange Sicht wurde auch die Abgrenzung
der Habsburger vom Reich selbst befördert. Diese beiden Prozesse sind zentrale
1. Ursprünge und Grenzen
Themen des Buches. Vor allem aber hatte die Tatsache, dass die Habsburger selbst
mit ihren Stammlanden an der Peripherie des Reichs angesiedelt waren, tiefgreifende Folgen für die zukünftige Entwicklung des Systems insgesamt. Zwar waren
die Habsburger zweifellos die mächtigste aller deutschen Dynastien, doch entglitt
ihnen die Hegemonie immer wieder. Wäre eine Macht wie die ihre in der Mitte des
Reichs oder wenigstens fest im Norden, Süden oder Westen verankert gewesen,
hätte sich das Reich ganz anders entwickelt, vielleicht gar zu einer »nationalen«
Monarchie nach Art der Franzosen.
Der Überblick über die wesentlichen Grenzgebiete des Reichs vermittelt einen
Eindruck von den vielen Abstufungen der kaiserlichen Herrschaft an der Peripherie. Die direkte Herrschaft der Habsburger im Südosten wird durch halbautonome
Formen in den Schweizer Kantonen ergänzt, und dies wiederum steht im Kontrast
zu der informellen, doch nicht weniger bedeutsamen Nichtmitgliedschaft der
Deutschordensgebiete (dem späteren Preußen) im Nordosten. In jedem Gebiet
führten jeweils unterschiedliche dynastische und juristische Traditionen zu graduellen Differenzen in der Rechtsprechung des Reichs und in einigen Fällen zu Unterschieden zwischen der Rechtsprechung des Kaisers als Angehörigem des Hauses
Habsburg und der des Reichs als juristischer Größe. Einige dieser Gebiete – Italien,
die Schweiz, die Niederlande – lösten sich allmählich vom Reich, was bei den verbleibenden Gebieten zu einem Prozess der Konsolidierung und schließlich zu
einem Deutschen Reich führte. Im Hinblick auf die Schweiz und die Niederlande
war diese Ablösung jedoch zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch keineswegs absehbar, sondern das Ergebnis eines Prozesses, der sich über die folgenden einhundert Jahre hinzog.
Der Vielfalt in den Randgebieten entsprach die Vielfalt im Inneren des Reichs.
Ihr nähert man sich am besten, indem man sich zuerst mit der Verfassung beschäftigt, bevor man die Landkarte des »deutschen« Reichs selbst in Augenschein
nimmt. Sie stellt einen wahrhaften Flickenteppich dar, in dem sich die Entwicklung
der Binnenstruktur des Reichs im Spätmittelalter spiegelt. Höhepunkt dieser Entwicklung war eine Reihe von Reformen des Systems um 1500. Sie besiegelten die
grundlegenden Charakteristika der Landkarte und legten so den Grundstein für die
weitere Entwicklung des Reichs in der frühen Neuzeit.
Anmerkungen
1
2
3
Zur Entwicklung dieser Namensgebung vgl. Nonn, »Heiliges Römisches Reich«.
Die folgenden Passagen beruhen auf den Studien von Boockmann, Stauferzeit, Leuschner,
Deutschland, sowie Herbers und Neuhaus, Reich, 1–127. Einen guten Überblick in Englisch
bietet Du Boulay, Germany.
Vgl. dazu LdM, V, 1304–1309, und VII, 777–778.
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I · Deutschland und das Heilige Römische Reich
4 Conrad, Rechtsgeschichte, Bd. I, 317–318, 326–327, und Bd. II, 66–74; Rabe, Geschichte,
109–111.
5 Eine Erörterung der Grenzen findet man in Conrad, Rechtsgeschichte, Bd. I, 339–343, und
Bd. II, 106–111, sowie in Rabe, Geschichte, 13–23.
6 Neuhaus, Reich, 5; vgl. auch die Kommentare zur Sprache S. 80–82.
7 Vgl. S. 61–61.
8 Köbler, Lexikon, 315–316; Aretin, Das Reich, 76–163; Aretin, Altes Reich, Bd. I, 112–115;
Conrad, Rechtsgeschichte, Bd. II, 110–111.
9 Moser, Grund-Riss, 75–77, 690–713.
10 Zu weiteren Informationen vgl. Schnettger, Genua, 23–38; Schnettger, »Imperio Romano«;
Aretin, Altes Reich, Bd. I, 112–115, 201–208, 310–312, Bd. II, 85–96, 128–134, 194–215,
351–380, 458–467, sowie Bd. III, 63–71, 168–171; Aretin, Das Reich, 76–163.
11 Blickle, »Eidgenossen«; Stadler, »Schweiz«.
12 Monter, Bewitched duchy, 21–58.
13 Mout, »Niederlande«; Press, »Niederlande«; Israel, Dutch Republic 1476–1806, 9–40, 64,
66, 68–70.
14 Regnum Arelatense hieß es, weil die burgundischen Krönungen ursprünglich in Arles
stattfanden.
15 Du Boulay, Germany, 110–114; Boockmann, Orden, 197–224.
16 Conrad, Rechtsgeschichte, Bd. II, 160, 164, 168.Vgl. auch Begert, Böhmen, passim.
17 Vgl. S. 553–562.
18 Evans, Making, 157–160.
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