Leseprobe - Verlag Ferdinand Schöningh

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VERÖFFENTLICHUNGEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE
VERÖFFENTLICHUNGEN
DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE
IN VERBINDUNG MIT THOMAS BRECHENMACHER · ULRICH VON HEHL ·
MICHAEL KISSENER
HERAUSGEGEBEN VON WILHELM DAMBERG
REIHE B: FORSCHUNGEN · BAND 130
KATHOLIZISMUS IN DEUTSCHLAND
Zeitgeschichte und Gegenwart
FERDINAND SCHÖNINGH
WILHELM DAMBERG / KARL-JOSEPH HUMMEL
(Hrsg.)
KATHOLIZISMUS IN DEUTSCHLAND
Zeitgeschichte und Gegenwart
2015
FERDINAND SCHÖNINGH
Dieser Band wurde seitens der Kommission für Zeitgeschichte
redaktionell betreut von Ulrich von Hehl
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen
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© 2015 Ferdinand Schöningh, Paderborn
(Verlag Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Jühenplatz 1, D-33098 Paderborn)
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Zustimmung des Verlages nicht zulässig.
Umschlaggestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh, Paderborn
ISBN 978-3-506-78078-2
INHALTSVERZEICHNIS
VORWORT . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
7
ZUR EINFÜHRUNG: KATHOLIZISMUSFORSCHUNG HEUTE . . . . . . . . . . . . . . . . . .
9
I. GRÜNDERJAHRE DER KATHOLIZISMUSFORSCHUNG
MARK EDWARD RUFF
»Katholische Kirche im Dritten Reich« – Kritik und Kritiker
in der Adenauer-Ära . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
25
HANS MAIER
Christlicher Widerstand im Dritten Reich – Perspektiven
der Wahrnehmung nach 1945 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
39
ANTONIUS LIEDHEGENER
Demokratie – Pluralismus – Zivilgesellschaft.
Gesellschaftspolitischer Wandel und deutscher Katholizismus in den
1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
49
FRANZ-XAVER KAUFMANN
Vom Konzil zur Gemeinsamen Synode: Katholizismus
im Aufbruch . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
67
II. ZUR ZUKUNFT DER KATHOLIZISMUSFORSCHUNG:
KONTEXTE UND FRAGEN
FRANK BÖSCH
Der Katholizismus in der Mediengesellschaft.
Zeithistorische Forschungsperspektiven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
79
FRANZISKA METZGER
Zwischen Sakralisierung und Entfremdung – Zu Transformationen
der Sprache des Katholizismus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .
93
MATTHIAS SELLMANN
Katholische Kirche heute: Siebenfache Pluralität als Herausforderung
der Pastoralplanung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 113
6
Inhaltsverzeichnis
III. PERSPEKTIVEN KÜNFTIGER KATHOLIZISMUSFORSCHUNG
FERDINAND KRAMER
Thesen zur Katholizismusforschung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143
OLAF BLASCHKE
Thesen zur Katholizismusforschung – Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . 149
THOMAS BRECHENMACHER
Anmerkungen zu künftigen Aufgaben der Kommission für
Zeitgeschichte in der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung . . . 159
HARRY OELKE
Thesen zur Katholizismusforschung – Ein Kommentar . . . . . . . . . . . . 163
THOMAS GROSSBÖLTING
Religionsgeschichte als »Problemgeschichte der Gegenwart« –
Ein Vorschlag zu künftigen Perspektiven der Katholizismusforschung
169
WILHELM DAMBERG – MICHAEL KISSENER
Anstelle eines Schlusswortes: Ein Dialog . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 187
LITERATURVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 195
DIE GREMIEN DER KOMMISSION FÜR ZEITGESCHICHTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 219
AUTORENVERZEICHNIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 225
SUMMARY . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 227
PERSONENREGISTER . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 229
VORWORT
Die Kommission für Zeitgeschichte widmet sich seit jetzt über fünf Jahrzehnten
der Dokumentation und Erforschung des deutschen Katholizismus. Dabei stand
die Bedeutung der Vergangenheit für die jeweilige Gegenwart von Anfang an im
Zentrum des Interesses. Die Beschäftigung mit der eigenen Geschichte war kein
Selbstzweck. Das Gespräch der jungen Historiker der Gründergeneration mit den
Zeitzeugen des Dritten Reiches drehte sich immer wieder um die Frage: Wie
konnte es zum Scheitern der ersten deutschen Demokratie kommen und welchen
Anteil trugen die Katholiken und die katholische Kirche an den Ereignissen des
Jahres 1933? Der Schwerpunkt der späteren Editionen und Forschungen lag dann
zwar zunächst bei der Geschichte des Nationalsozialismus; das Interesse reichte
jedoch schon bald bis zu den Wurzeln des Katholizismus im 19. Jahrhundert
zurück und richtete sich darüber hinaus auf Entwicklungen des Katholizismus
nach 1945. Aktuelle Fragestellungen und Probleme bestimmten immer auch den
Blickwinkel auf den sich in und mit der Zeit verändernden Gegenstand. Der Katholizismus war als Forschungsgegenstand immer der gleiche und gleichzeitig mit
wechselnder Geschwindigkeit in ständigem Wandel, z. B. in den Jahren vor und
nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil.
Es gehört zu den selbstverständlichen wissenschaftlichen Qualitätsstandards,
regelmäßig zu überprüfen, von welchem Standpunkt aus man welchen Forschungsgegenstand im Blick hat. Die Einladung, gleichermaßen zeitgeschichtliche und
aktuelle Reflexionen über den Katholizismus in Deutschland anzustellen, den
Wandel der Vergangenheit und die künftigen Perspektiven der Katholizismusforschung zu bedenken, vermindert die Gefahr, bestimmte geschichtliche Interpretationen wie z. B. das häufig verbreitete »Krisenszenario« für unveränderlich und
maßgeblich zu halten. Viel mehr noch: Die Analyse der jeweilig eigenen Gegenwart
gehört selbst auf den Prüfstand der zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung.
Daher setzt der vorliegende Band andere Akzente als dies bisher und üblicherweise in Tagungsbänden geschehen ist und geschieht: Er lädt zum Diskurs über
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Katholizismus und seiner zeitgeschichtlichen Erforschung ein. Die Beiträge gehen auf eine Veranstaltung zurück,
die 2012 in der Münchner »Katholischen Akademie in Bayern« aus Anlass des
50-jährigen Bestehens der Kommission für Zeitgeschichte stattfand. Die Lektüre
offenbart ein so auch beabsichtigtes breites Spektrum historischen Verstehens des
»Katholizismus in Deutschland« und methodischer Zugänge zu seiner Erforschung.
Dass der Band in dieser Weise veröffentlicht werden konnte, ist keineswegs
selbstverständlich. Die Herausgeber wissen sich deshalb an erster Stelle allen
Autoren zu besonderem Dank verpflichtet. Sie haben mit ihren Beiträgen nicht
nur zum Gelingen der Tagung beigetragen, sondern regen mit deren Veröffentlichung nun auch die Diskussion über die künftige Katholizismusforschung an.
8
Vorwort
Dieses vorliegende Ergebnis konnte allerdings nur erreicht werden, weil besondere Rahmenbedingungen es ermöglichten: Das gilt zunächst für die »Katholische
Akademie in Bayern«, wo die Kommission zum wiederholten Male gastfreundliche Aufnahme fand und auf ein interessiertes Publikum zählen konnte. Besonderen Dank schulden die Herausgeber aber auch den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern der Bonner Forschungsstelle der Kommission für Zeitgeschichte:
Brigitte Konopka, die mit stiller Routine im Hintergrund für eine reibungslose
Tagungsorganisation sorgte, sowie Dr. Andreas Burtscheidt, Petra Cartus, Dr.
Erik Gieseking und Dr. Christoph Kösters, die die redaktionelle Bearbeitung der
Tagungsbeiträge und ihre Drucklegung kompetent, zuverlässig und mit nimmermüdem Einsatz erledigten.
Seit 1995 verlegt der Paderborner Verlag Ferdinand Schöningh die »Blaue Reihe«, die mittlerweile auf stattliche 58 Quellenpublikationen und 130 Forschungsbände angewachsen ist. Dem Lektor Dr. Hans J. Jacobs sagen die Herausgeber
Dank für die stets angenehme Zusammenarbeit.
Bochum / Bonn im Advent 2014
Wilhelm Damberg / Karl-Joseph Hummel
ZUR EINFÜHRUNG:
KATHOLIZISMUSFORSCHUNG HEUTE
2012 konnte die Kommission für Zeitgeschichte auf ein 50-jähriges Wirken zurückblicken – für jedwede Aktivität im Wissenschaftsbetrieb unserer Zeit eine
geradezu transzendente Größe. Als sie jedoch am 17. September 1962 in München
bei der Katholischen Akademie in Bayern aus der Taufe gehoben wurde, existierten keinerlei forschungsstrategische Pläne für ein dauerhaftes Langfristprojekt.
Vielmehr wurde die Gründung der Kommission dadurch angestoßen, dass die
wissenschaftliche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus, dem konstitutiven Gegenstand der gerade ein Jahrzehnt jungen bundesrepublikanischen
Zeitgeschichtsforschung, die katholische Kirche in Gestalt einer kritischen Öffentlichkeit erreicht hatte.
Das Spannungsdreieck von »Katholizismus«, »Zeitgeschichte« und »Gegenwart« geriet am Ende der 1950er Jahre an allen seinen Eckpunkten mächtig in
Bewegung. Und die Institutionalisierung katholischer Zeitgeschichtsforschung
war Bestandteil dieses Diskurses über den deutschen Katholizismus. Dem widerspricht keineswegs, dass es unter den Beteiligten zum Zeitpunkt der Kommissionsgründung, also wenige Wochen vor der Eröffnung des Zweiten Vatikanischen
Konzils am 11. Oktober, keiner großen Selbstverständigungsprozesse bedurfte,
weder über den Forschungsgegenstand des »deutschen Katholizismus« noch über
die anzuwendenden Methoden und deren Ort im Verhältnis zur katholischen
Kirche: Es ging um die Erforschung der gesellschaftlich und politisch wirksam
gewordenen »Außenseite« der Kirche, welche seit der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts entscheidend von der katholisch organisierten Laienbewegung geprägt und
gestaltet worden war, in der NS-Zeit in schwere Konflikte geraten war und einen
irreversiblen Verlust hatte hinnehmen müssen. Das Verhältnis des jungen Forscherkreises zur Kirche in ihrer hierarchischen Verfasstheit und als sakramentalheilsvermittelnde Institution wurde durch das immer wieder zitierte Leitbild des
»sentire cum ecclesia« markiert, das kirchliche Loyalität und ein ausgeprägtes
Selbstbewusstsein gegenüber dem Klerus miteinander verband. Zu diesem ausgeprägt laienbezogenen Selbstverständnis von »Katholizismus« fügte sich, den wissenschaftlichen und öffentlichen Diskurs über die aufgebrochenen Fragen eben
nicht in der (damals fast ausschließlich von Klerikern betriebenen) Theologie oder
Kirchengeschichte anzusiedeln, sondern im Kontext der aufstrebenden historischen Disziplin der »Zeitgeschichte« und ihrer Methoden. Dabei lagen die umstrittenen Ereignisse ja erst relativ kurz, also 20–30 Jahre zurück, woraus sich auch
die Priorität ergab, der interessierten Öffentlichkeit die bis dahin unbekannten
Dokumente zugänglich zu machen. Die Auseinandersetzung sollte gleichermaßen
auf sicherem Fundament und hohem wissenschaftlichen Niveau geführt werden,
10
Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
was u. a. zur Publikation der »Akten deutscher Bischöfe über die Lage der Kirche
1933 – 1945« führte.
Als im Oktober 2012 Wissenschaftler unterschiedlicher Fachdisziplinen zusammenkamen, um am Gründungsort der Kommission deren Anfängen nachzugehen
und die Perspektiven künftiger Katholizismusforschung zu erörtern, standen –
wie übrigens schon 1987 aus Anlass des 25-jährigen Jubiläums1 – erneut die Verschiebungen im Verhältnis von »Katholizismus«, »Zeitgeschichte« und »Gegenwart« im Mittelpunkt: Welche Veränderungen haben sich im letzten halben
Jahrhundert im deutschen Katholizismus, dem Forschungsgegenstand der Kommission, vollzogen, wie sich Forschungsorganisation, ihr Kontext und ihre Methoden verändert? Und in welchem Licht stellt sich heute, im Rückblick, die
Gründungsgeschichte der Kommission dar? Welche Kontexte und kulturellen
(Selbst-/Fremd-)Wahrnehmungen bestimmten 1962 den Beginn einer modernen,
zeitgeschichtlichen Katholizismusforschung? Welche sind es heute? Und schließlich: Lassen sich aus historischer Rückschau und gegenwärtiger Standortbestimmung weiterführende Fragestellungen für die künftige Katholizismusforschung
gewinnen?2
I. WISSENSCHAFTSKONTEXTE
Im zurückliegenden Jahrzehnt konnte man in Deutschland eine beispiellose Umsteuerung der Forschung auf Förderstrukturen miterleben, die vielfach an einem –
um einen Begriff aus der Ökonomie zu benutzen – kurzfristig abrufbaren shareholder value orientiert waren. Zweifellos ist damit einerseits die Dynamisierung
der zuvor mancherorts arg verkrusteten Wissenschaftslandschaft gelungen. Andererseits nahm diese Landschaft zuweilen absurde Züge an, wenn die Evaluierung der Förderung vorbereitet und der nächste Antrag konzipiert werden mussten, kaum dass sich das Personal eingearbeitet hatte. Mittlerweile scheint sich der
Pulverdampf der Wissenschaftsinitiativen ein wenig verzogen und ein Umdenken
in Richtung auf Nachhaltigkeit eingesetzt zu haben, aber zweifellos ragt die
50-jährige Kommission für Zeitgeschichte in ihrem Forschungsfeld wie ein Solitär aus einer anderen Epoche in diese Gegenwart des Wissenschaftsbetriebs hinein.
Möglich war und ist dies, weil sie auf zwei dauerhaften Säulen stand und steht:
Erstens dem freien, lebenslangen Engagement von Wissenschaftlern für die Er1
2
Vgl. Ulrich von HEHL / Konrad REPGEN (Hrsg.), Der deutsche Katholizismus in der zeitgeschichtlichen Forschung, Mainz 1988.
Vgl. Katholizismus in Deutschland – Zeitgeschichte und Gegenwart. Tagung der Katholischen
Akademie in Bayern in Zusammenarbeit mit der Kommission für Zeitgeschichte, Fr., 26.10.2012
bis Sa., 27.10.2012. Tagungsbericht: Christoph Kösters, Kommission für Zeitgeschichte, Bonn, in:
H-Soz-u-Kult, 22.03.2013. URL: http://hsozkult.geschichte.hu-berlin.de/tagungsberichte/id=4707
(Stand: 26.7.2013).
Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
11
forschung der Geschichte des deutschen Katholizismus – ohne Zielvereinbarungen und Bonuszahlungen. Für deren große Zahl seien stellvertretend die Kommissions-Vorsitzenden Konrad Repgen, Rudolf Morsey und Ulrich von Hehl
genannt. Sie haben ihre ohnehin staunenswerte Schaffenskraft als Historiker zu
einem sehr großen Teil der Katholizismusforschung gewidmet, so dass wohl von
einer in dieser Form nicht mehr einholbaren Lebensleistung gesprochen werden
darf. Zweitens kam die beständige (aber keineswegs ausschließliche) Förderung
durch die Deutsche Bischofskonferenz hinzu, nachdem sich die damals Verantwortlichen zu der Einsicht durchgerungen hatten, dass die Kirche im eigenen
Interesse die Dokumente nicht zu fürchten habe, wie es seinerzeit Kardinal Döpfner formulierte3, sondern dieses Transparenzprinzip avant la lettre vielmehr die
Grundlage für kirchliche Überzeugungskraft darstelle. Dieses Gemeinschaftsunternehmen machte es möglich, auf der Grundlage von Quelleneditionen und
kontinuierlicher Einzelforschung einen im internationalen Maßstab wohl einzigartigen Wissensbestand zum Verhältnis der Katholiken zur deutschen Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts aufzubauen.
Aus heutiger Sicht mag es verwundern, dass die »Kommission für Zeitgeschichte bei der Katholischen Akademie in Bayern« – so ihr ursprünglicher Name – bei
ihrer Gründung 1962 in der zeitgeschichtlichen Forschungslandschaft eher ein
»Nachzügler« war: Mit dem im Rahmen des Konkordatsprozesses (1955 – 1957)
angestoßenen Interesse, ein historisch zuverlässiges Bild von Kirche und Katholizismus am Übergang von der Weimarer Republik zur NS-Diktatur zu gewinnen,
folgte sie dem allgemeinen zeitgeschichtlichen Forschungsdiskurs und seiner Institutionalisierung. Für diese Entwicklung stehen beispielsweise das 1950 gegründete »Institut für Zeitgeschichte« oder die 1952 errichtete »Kommission für Geschichte des Parlamentarismus und der politischen Parteien«4.
Zu Beginn der vielzitierten »langen Sechziger Jahre« wurde nicht über eine
konfessionsübergreifende Einrichtung nachgedacht5. Mehr noch als in den je eigenen Interessen lag dies in den Besonderheiten der deutschen Wissenschaftslandschaft und der Konfessionen begründet. Fragen an die jüngste Vergangenheit
3
4
5
»Kirche fürchtet Dokumente nicht«, in: ECHO DER ZEIT, Nr. 18 vom 2. Mai 1965, S. 4.
Vgl. 50 Jahre Institut für Zeitgeschichte. Eine Bilanz, hrsg. v. Horst MÖLLER / Udo WENGST, München 1999; Martin SCHUMACHER, Gründung und Gründer der Kommission für Geschichte des
Parlamentarismus und der politischen Parteien, in: Karl Dietrich BRACHER u. a. (Hrsg.), Staat und
Parteien. Festschrift für Rudolf Morsey zum 65. Geburtstag, Berlin 1992, S. 1029–1054. Hinzuweisen ist auch auf die Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften.
Vgl. Helmut NEUHAUS, 150 Jahre Historische Kommission bei der Bayerischen Akademie der
Wissenschaften. Eine Chronik, München 2008.
Ein früher, 1952 unternommener Versuch Heinrich Krones, die Erforschung beider christlichen
Kirchen im Dritten Reich beim Institut für Zeitgeschichte anzusiedeln, war erfolglos geblieben. Vgl.
Jochen-Christoph KAISER, Wissenschaftspolitik in der Kirche. Zur Entstehung der Kommission für
die Geschichte des Kirchenkampfes in der nationalsozialistischen Zeit, in: Anselm DOERING-MANTEUFFEL / Kurt NOWAK (Hrsg.), Kirchliche Zeitgeschichte. Urteilsbildung und Methoden, Stuttgart – Berlin – Köln 1996, S. 125 – 163, hier S. 142 – 144.
12
Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
beider Kirchen wurden primär nicht an den Fakultäten der Geschichtswissenschaft behandelt, sondern (besonders auf evangelischer Seite) an den Theologischen Fakultäten. So siedelte die 1955 vom Rat der EKD gegründete »Kommission für die Geschichte des Kirchenkampfes in der Nationalsozialistischen Zeit«
die »Kirchliche Zeitgeschichte« deshalb institutionell zunächst in Hamburg, später dann in München an der Evangelisch-Theologischen Fakultät an6. Die in der
Kommission für Zeitgeschichte zusammengeschlossenen katholischen Historiker, Politikwissenschaftler und Kirchenhistoriker hingegen begriffen ihren in der
ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts formierten Forschungsgegenstand »Katholizismus« nicht als Frage an die Theologie, sondern »profan« und als Frage an
seine politische und gesellschaftliche Gestalt im Sinne geschichtswissenschaftlicher Deutungstradition der Görres-Gesellschaft7. Daraus erwuchsen je »hauseigene« Historiographien der nationalsozialistischen Zeit, die, den konfessionellen
Milieus zugeordnet, diese diskursiv stabilisierten und ihre Auflösung bis heute
überdauerten8.
Vorgeschichte und formelle Konstituierung der Kommission für Zeitgeschichte waren auf kontroverse Diskurse bezogen9, und das ist auch so geblieben. Die
öffentlichen Debatten, die Ernst-Wolfgang Böckenförde, Guenter Lewy, John
Conway und in anderer Form Rolf Hochhuth über das Verhalten von Papst und
deutscher Kirche im »Dritten Reich« anstießen, befeuerten die Arbeit der Kommission in ihren Anfängen. Die sogenannte Repgen-Scholder-Kontroverse
1978/79, in der es um die These eines Junktims zwischen der Zustimmung des
Zentrums zum Ermächtigungsgesetz und dem Abschluss des Reichskonkordats
ging, ist mittlerweile selbst fester Bestandteil zeitgeschichtlicher Katholizismusforschung und ihrer wissenschaftshistorischen Aufarbeitung geworden10. Die
theoriegeleitete Öffnung für sozial- und mentalitätsgeschichtliche Zugänge zum
Katholizismus ging später mit einer bewussten Abkehr von der »etablierten«
6
7
8
9
10
Vgl. Jochen-Christoph KAISER, Wissenschaftspolitik (wie Anm. 5), S. 125 – 163.
Vgl. Rudolf MORSEY, Die Görres-Gesellschaft zur Pflege der Wissenschaft. Streiflichter ihrer Geschichte, Paderborn [u. a.] 2009.
Vgl. Wilhelm DAMBERG, Katholizismus und pluralistische Gesellschaft, in: Karl-Joseph HUMMEL
(Hrsg.), Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung. Tatsachen, Deutungen, Fragen. Eine Zwischenbilanz, 2., durchges. Aufl., Paderborn [u. a.] 2006, S. 115 – 129, hier S. 121; Andreas HOLZEM,
Die Geschichte des »geglaubten Gottes«. Kirchengeschichte zwischen »Memoria« und »Historie«,
in: Andreas LEINHÄUPL-WILKE / Magnus STRIET (Hrsg.), Katholische Theologie studieren. Themenfelder und Disziplinen, Münster 2000, S. 73 – 103 (hier 81-89).
Vgl. dazu den Beitrag von Mark E. RUFF in diesem Band.
Zuletzt dazu Thomas BRECHENMACHER (Hrsg.), Das Reichskonkordat 1933. Forschungsstand, Kontroversen, Dokumente, Paderborn [u. a.] 2007; Karl-Joseph HUMMEL / Michael KISSENER (Hrsg.),
Die Katholiken und das Dritte Reich. Kontroversen und Debatten, 2., durchges. Aufl., Paderborn
[u. a.] 2010; Mark Edward RUFF, Clarifying present and past. The Reichskonkordat and drawing
lines between church and state in the Adenauer era, in: SCHWEIZERISCHE ZEITSCHRIFT FÜR RELIGIONSU. KULTURGESCHICHTE 106 (2012), S. 257 – 279; Hubert WOLF, Reichskonkordat für Ermächtigungsgesetz? Zur Historisierung der Scholder-Repgen-Kontroverse über das Verhältnis des Vatikans zum
Nationalsozialismus, in: VIERTELJAHRSHEFTE FÜR ZEITGESCHICHTE 60 (2012), S. 169 – 200.
Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
13
Katholizismusforschung einher11. Insbesondere Auseinandersetzungen um eine
angebliche oder tatsächliche »apologetische« Grundtendenz der Kommissionsforschung konnten scharfe Formen annehmen und waren leider gelegentlich auch
mit persönlichen Verletzungen verbunden – faktisch haben sie nicht immer, aber
auch den Forschungsstand vorangetrieben.
Diese knappe Skizzierung der Wissenschaftskontexte läßt erkennen, welchen
Herausforderungen sich eine institutionalisierte Katholizismusforschung heute
und künftig zu stellen hat. Es spricht für ihre Forschungsleistungen, dass die
Kommission für Zeitgeschichte ihre wissenschaftliche Pilotfunktion jahrzehntelang behauptet hat. Heute indes ist sie ein (fester Bestand-)Teil eines methodisch
und inhaltlich deutlich geweiteten Feldes sozial- und kulturgeschichtlich geleiteter Religionsforschung12. Dies lässt etwa eine Übersicht laufender geschichtlicher
Forschungsprojekte zu Religion, Politik und Konfession erkennen: von 204 gelisteten Forschungsvorhaben (Stand Februar 2012)13 befassten sich noch knapp
40 % (79) mit dem deutschen Katholizismus im engeren Sinne und lediglich neun
ausschließlich mit seiner Geschichte zwischen 1933 und 1945.
II. WANDEL DES FORSCHUNGSGEGENSTANDES
Aber nicht nur die Wissenschaftslandschaft hat sich gewandelt: Heinz Hürten war
der erste, der schon in den 1980er Jahren darauf aufmerksam gemacht hat, dass
die Veränderungen von Kirche und Katholizismus seit dem Zweiten Vatikanischen Konzil auch Konsequenzen für die von der Kommission für Zeitgeschichte verfolgten Fragestellungen haben würden14. Denn mit der Einschmelzung des
sozialen und politischen Laienengagements in kirchenamtliche Strukturen (»Verkirchlichung«), der tiefgreifenden Veränderung der Stellung der Kirche in der
»Welt« und einer schwindenden kirchlichen Massenbasis für das »Mitsein« (Gustav Gundlach) der Katholiken in der Gesellschaft sei – so Hürten – historisch eine
11
12
13
14
Vgl. A. DOERING-MANTEUFFEL / K. NOWAK (Hrsg.), Kirchliche Zeitgeschichte (wie Anm. 5); Antonia LEUGERS, 20 Jahre Schwerter Arbeitskreis Katholizismusforschung. Eine Tagungsglosse, in:
THEOLOGIE.GESCHICHTE 1 (2006), S. 351 – 356.
Vgl. die kritische Einordnung bei Benjamin ZIEMANN, Sozialgeschichte der Religion. Von der Reformation bis zur Gegenwart, Frankfurt a. M. 2009.
Die Zusammenstellung basierte auf den öffentlichen zugänglichen Recherchedatenbanken Gepris
(DFG) und Historische Bibliographie online, außerdem den Internetseiten einzelner Einrichtungen
(Max-Weber-Kolleg, Erfurt, ZZF Potsdam) sowie Auskünften von Universitätslehrstühlen in
Mainz, Bonn, München, Münster, Potsdam, Würzburg (für Geschichtswissenschaften) und Bochum, Erfurt, Frankfurt a. M., Münster, Trier, Tübingen, Würzburg (für Kirchengeschichte).
So bereits auf dem Symposium von 1987 anlässlich des 25-jährigen Bestehens der Kommission für
Zeitgeschichte. Vgl. Heinz HÜRTEN, Zukunftsperspektiven kirchlicher Zeitgeschichtsforschung, in:
U. von HEHL / K. REPGEN, Der deutsche Katholizismus (wie Anm. 1), S. 97 – 106, hier S. 101: »Mit
diesem Wandel vom politischen und sozialen Katholizismus der Vergangenheit zur kirchlich geordneten Laientätigkeit hat unsere Disziplin einen ihrer bevorzugten Gegenstände verloren.«
14
Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
Achsendrehung erfolgt, die sich nachhaltig auf das Feld der Katholizismusforschung und seine methodische Ausrichtung auswirke. Pointiert formulierte er die
Frage, ob der Kommission mit dem Verschwinden des »Katholizismus« alter
Prägung nicht auf die Dauer der zentrale Forschungsgegenstand abhanden komme und die »profane« Zeitgeschichtliche Katholizismusforschung zu einer Katholischen (Kirchlichen) Zeitgeschichte theologischen Zuschnitts mutiere15.
Ob sich mit der so diagnostizierten »Formveränderung«16 des deutschen Katholizismus auf die Dauer auch dessen zeitgeschichtliche Erforschung erübrigt,
ist indes sehr fraglich – dies gälte nur dann, wenn sich das Forschungsinteresse
ausschließlich auf eine bestimmte Sozialform des Christentums katholischer Prägung richten sollte. In der Tat sind diese Sozialformen seit der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts offenkundig in einem Wandel begriffen. Aber die grundlegende
Forschungsfrage, in welcher Weise sich das Handeln von katholischen Christen
in der Welt vollzieht, ist damit nicht ad acta gelegt. Beispielsweise veränderten sich
in den 1970er Jahren die Wege kirchlicher Einflussnahme auf die Politik, vermochten sich aber gleichwohl weiterhin Geltung zu verschaffen17. Katholische Politiker
sind seitdem nicht mehr exklusiv in einer Partei, der CDU bzw. CSU, aktiv, sondern in fast allen Parteien tätig. Trotz voranschreitender »Entkirchlichung« der
deutschen Gesellschaft blieb der Konfessionsfaktor für das Wahlverhalten der
Katholiken bis in die 1980er Jahre erstaunlich stabil. Die Kirchen wurden ein
Faktor im Prozess der europäischen Integration, das Papsttum blieb auch im
Kalten Krieg und der »Postmoderne« ein weltpolitisch bedeutsamer Akteur18.
Und schließlich hat sich die Caritas seit den 1960er Jahren mit über einer halben
Million Arbeitnehmern zum größten nichtstaatlichen Arbeitgeber Deutschlands
entwickelt, dessen Aktivitäten nach wie vor in der Bevölkerung höchstes Ansehen
15
16
17
18
Zuletzt Heinz HÜRTEN, Katholizismus als Forschungsaufgabe. Gedanken zum Abschied, in: DERS.,
Verkirchlichung und Entweltlichung. Zur Situation der Katholiken in Kirche, Gesellschaft und
Universität, hrsg. von Ludwig BRANDL, Regensburg 2011, S. 90 – 104; Heinz HÜRTEN, 50 Jahre
Kommission für Zeitgeschichte. Überlegungen zu Problemen der Katholizismusforschung, in: Von
Freiheit, Solidarität und Subsidiarität. Staat und Gesellschaft der Moderne in Theorie und Praxis.
Festschrift für Karsten Ruppert zum 65. Geburtstag, hrsg. v. Markus RAASCH / Tobias HIRSCHMÜLLER, Berlin 2013, S. 753 – 760.
H. HÜRTEN, Zukunftsperspektiven (wie Anm. 14), S. 100.
Vgl. Antonius LIEDHEGENER, Macht, Moral und Mehrheiten. Der politische Katholizismus in der
Bundesrepublik Deutschland und den USA seit 1960, Baden-Baden 2006. Vgl. auch den Beitrag von
Antonius LIEDHEGENER in diesem Band.
Vgl. Karl-Joseph HUMMEL, Seelsorgepolitik für eine versöhnte Zukunft. Karol Wojtyla / Papst Johannes Paul II., Julius Döpfner und Joseph Höffner 1965 – 1987, in: Ortskirche und Weltkirche in
der Geschichte. Kölnische Kirchengeschichte zwischen Mittelalter und Zweitem Vatikanum. Festgabe für Norbert Trippen zum 75. Geburtstag, hrsg. v. Heinz FINGER / Reimund HAAS / HermannJosef SCHEIDGEN, Köln – Weimar Wien 2011, S. 917 – 960; Michael KISSENER, Die Bischöfe und die
deutsch-französische Annäherung nach dem Zweiten Weltkrieg, in: HISTORISCHES JAHRBUCH 132
(2012), S. 110 – 123; DERS., Boten eines versöhnten Europa? Deutsche Bischöfe, Versöhnung der
Völker und Europaidee nach dem Zweiten Weltkrieg, in: Die europäische Integration und die
Kirchen. Akteure und Rezipienten. Hrsg. v. Heinz DUCHHARDT / Małgorzata MORAWIEC, Göttingen
2010, S. 53 – 72.
Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
15
genießen – von den hunderttausenden mehr oder weniger ehrenamtlichen Mitarbeitern der Kirche einmal ganz abgesehen.19 Es kann also keine Rede davon sein,
dass sich die katholischen Sozialformen – trotz deutlicher Erosionsprozesse in
manchen Bereichen – gewissermaßen rückstandsfrei auflösen. Sie unterliegen seit
den 1960er Jahren komplexen Transformationsprozessen, die sich nicht ohne
weiteres als einfacher Bruch mit einem »Säkularisierungs«-Zähler und einem
»Verkirchlichungs«-Nenner darstellen lassen.
In welcher Weise sich die Ablösungs-, Auflösungs- und Wandlungsprozesse
vollzogen, ist noch vergleichsweise unerforscht. Wichtig wäre es deshalb, die
verwandten Begrifflichkeiten, gerade auch zum Zweck der Selbstbeschreibung,
systematischer zu untersuchen, als das bisher der Fall gewesen ist. Eine Geschichte des vielfach unreflektiert verwendeten Katholizismus-Begriffs wäre solch ein
dringendes Desiderat20. Hans Maier hat in diesem Zusammenhang darauf hingewiesen, dass die Methoden der Selbstbewahrung und Selbstverteidigung des Milieukatholizismus in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts durch die Wahrnehmung christlicher Weltverantwortung gemeinsam mit Anderen abgelöst werden.
Das Wort »Katholizismus« verliere den Charakter der Abgrenzung und entwickele neue Akzente der Öffnungs- und Bewegungsbereitschaft, größere Weite und
Universalität21.
Folglich hätte eine »Katholizismusforschung« die vielfältigen, zum Teil kontroversen »Katholizismen« (Plural!) politischen, gesellschaftlichen und kirchlichen
Handelns zu reflektieren und in die allgemeinen Transformationen des Religiösen,
in dessen seit den 1960er Jahren fluider werdende und neue Formen, einzubetten22.
Hier sind tiefgreifende religionsgeschichtliche Veränderungen im Gange, ohne
deren Verständnis auch das Wirken von Kirche und Katholiken in Deutschland
nach 1989 nicht mehr adäquat analysiert und verstanden werden kann. An dieser
Stelle hätte auch die Geschichte der Katholiken in der DDR und die Fortführung
ihrer Erforschung ihren Ort23. Will man den »Katholizismus«-Begriff nicht aufgeben, sondern in seiner übergreifenden Bedeutung für die Zeitgeschichtsfor19
20
21
22
23
Vgl. Traugott JÄHNICHEN / Andreas HENKELMANN / Uwe KAMINSKY (Hrsg.), Caritas und Diakonie
im »goldenen Zeitalter« des bundesdeutschen Sozialstaats. Transformationen der konfessionellen
Wohlfahrtsverbände in den 1960er Jahren, Stuttgart 2010.
Vgl. Karlies ABMEIER / Karl-Joseph HUMMEL (Bearb.), Der Katholizismus in der Bundesrepublik
Deutschland 1980 – 1993. Eine Bibliographie, Paderborn [u. a.] 1997; Ulrich von HEHL / Heinz
HÜRTEN (Bearb.), Der Katholizismus in der Bundesrepublik Deutschland 1945 – 1980. Eine Bibliographie, Mainz 1983.
Hans MAIER, Art. »Katholizismus«, in: Lexikon für Theologie und Kirche, Bd. 5, 3., völlig neu
bearb. Aufl., Freiburg i. Br. 1996, Sp. 1368 – 1370.
Vgl. Wilhelm DAMBERG (Hrsg.), Soziale Strukturen und Semantiken des Religiösen im Wandel.
Transformationen in der Bundesrepublik Deutschland 1949 – 1989, Essen 2011.
Vgl. Josef PILVOUSEK, Zum Stand zeitgeschichtlicher Katholizismusforschung in den Neuen Ländern, in: THEOLOGISCHE REVUE 110 (2014), S. 3 – 20; Christoph KÖSTERS / Claudio KULLMANN /
Antonius LIEDHEGENER / Wolfgang TISCHNER, Was kommt nach dem katholischen Milieu? Forschungsbericht zur Geschichte des Katholizismus in Deutschland in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, in: ARCHIV FÜR SOZIALGESCHICHTE 49 (2009), S. 485 – 526.
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Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
schung auch künftig beibehalten, wofür vieles spricht, bedarf er der Weiterentwicklung in einer Weise, welche seine Transformationen und Pluralisierungen
seiner Sozialform einschließt.
III. »ZEITGESCHICHTE« UND »GEGENWART«
Ein veränderter Forschungsgegenstand bedingt nun aber zugleich die Frage nach
veränderten Fragestellungen, Methoden und Organisationsformen. Ihnen hat sich
die Kommission für Zeitgeschichte nach fünfzig Jahren zweifellos zu stellen, erst
recht im Kontext der veränderten Wissenschaftslandschaft. Eine solche Reflexion
aber sieht sich der komplexen Aufgabe gegenüber, drei Zeitebenen und ihre Verschiebungen in den Blick nehmen zu müssen: erstens, die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts, mit der Fokussierung auf das Verhältnis von Kirche und Nationalsozialismus als dem ursprünglich zentralen, wenngleich niemals ausschließlichen
Forschungsgegenstand; zweitens, die frühen 1960er Jahre, als sich junge katholische Wissenschaftler mit den damaligen Zeitzeugen der ersten Zeitebene zusammensetzten, um die kritischen Prozesse zu analysieren; und drittens, unsere Gegenwart, in der eine neue Generation von Forschern eben diese erste und zweite
Zeitebene thematisiert – und die jungen Wissenschaftler von damals selbst zu
Zeitzeugen geworden sind. Im vorliegenden Tagungsband werden alle diese Zeitebenen zur Geltung gebracht und auf die Zukunft hin reflektiert24.
Konzeptionell hat damit der gesamte, aus mehreren Forschergenerationen bestehende Vorstand der Kommission für die Tagung einen Zugang gewählt, der in
der zeitgeschichtlichen Auseinandersetzung mit dem Katholizismus weniger eine
Bilanz als vielmehr eine Ortsbestimmung im Kontext historischer Verschiebungen von Wissenschaft und Kirche vorzunehmen versucht: Unter Einbeziehung
von Beobachtern und Kritikern der Kommission sollten im günstigen Fall weitere Orientierungen und Standards für die künftige Arbeit der Kommission für
Zeitgeschichte gewonnen werden. Dabei ist zu betonen, dass die in diesem Band
zusammengetragenen Beiträge das Resultat eines offen angelegten Tagungsdiskurses sind, was auch einschließt, dass sie für die Veröffentlichung zum Teil überarbeitet und erweitert wurden25. Am Beginn steht die zeitgeschichtliche Reflexion
der Gründerjahre der Katholizismusforschung (und ihrer Vorgeschichte), also die
oben erwähnte zweite Zeitebene. Die Vorgänge und Abläufe, die zur Konstituierung der Kommission im September 1962 führten, sind inzwischen verschiedent24
25
Zu den Ebenen zeitgeschichtlicher Reflexion vgl. Hans Günter HOCKERTS, Zugänge zur Zeitgeschichte. Primärerfahrung, Erinnerungskultur, Geschichtswissenschaft, in: Konrad H. JARAUSCH
(Hrsg.), Verletztes Gedächtnis: Erinnerungskultur und Zeitgeschichte im Konflikt, Frankfurt
a. M. – New York 2002, S. 39 – 73.
Das trifft insbesondere für den Beitrag von Thomas GROSSBÖLTING zu.
Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
17
lich behandelt und vor allem von Rudolf Morsey minutiös rekonstruiert worden26.
Das leitende Interesse der hier publizierten Beiträge zur Münchener Tagung zielt
indes darüber hinaus und richtet sich auf die Kontexte, in denen die Gründerväter
der Kommission damals zu Werke gingen. Mark Ruff (Jahrgang 1969) und Hans
Maier (Jahrgang 1931) behandeln die zeitgenössischen Diskurse über das Verhältnis von Kirche, Nationalsozialismus und Widerstand, das die Zeitgenossen damals
so sehr in den Bann schlug. Wer waren die Akteure? Welche Deutungsmuster
wurden entwickelt? Welche Erfahrungen standen im Hintergrund, die seinerzeit
gerade so weit zurücklagen wie heute die deutsche Wiedervereinigung? Zwischen
der »Erlebnisgeneration« des christlichen Widerstands nach 1945 und der Generation, die sich Anfang der 1960er Jahre dessen gründliche Erforschung zu eigen
macht, erweisen sich die 1950er Jahre als eine Inkubationszeit. In ihr sind die
zentralen Konfliktlagen angelegt, so dass unter veränderten medialen Bedingungen die heftigen Auseinandersetzungen zum Teil Züge von »Stellvertreter«-Kriegen trugen.
Bekanntlich waren die 1960er Jahre für den deutschen Katholizismus aufgewühlte Zeiten, sowohl in politischer Hinsicht als auch mit Blick auf die Kirche.
Aus diesem Grunde wird zunächst gefragt, wie sich der deutsche Katholizismus
gegenüber dem gesellschaftspolitischen Wandel der 1960er Jahre positionierte,
und sodann das Augenmerk auf die inneren kirchlichen Entwicklungslinien gerichtet, die sich zwischen dem Zweiten Vatikanischen Konzil (1962 – 1965) und
der Gemeinsamen Synode der Bistümer Deutschlands (1972 – 1975) ausmachen
lassen.
Antonius Liedhegener (Jahrgang 1963) und Franz-Xaver Kaufmann (Jahrgang
1932) zeigen, dass die politische Mitgestaltung der Demokratie und die Aneignung
eines pluralistischen Verständnisses von Gesellschaft durch den verbandlich organisierten Laienkatholizismus zu Beginn der 1960er Jahre mit dem innerkirchlichen Aufbruchs- und Modernisierungsschub des Zweiten Vatikanischen Konzils
zusammentrafen. Der zeitweise eruptive politische und gesellschaftliche Transformationsprozess bedeutete keine »demokratische Neugründung« der Republik,
sondern konnte sich in gefestigten demokratischen Strukturen vollziehen. Hingegen stieß der Versuch an Grenzen, den gesellschaftlichen Modernisierungsschub
und den kirchlichen Paradigmenwechsel auf der Würzburger Synode für die
deutsche Kirche theologisch zukunftsweisend zu fassen. Unverkennbar begann
26
Vgl. Rudolf MORSEY, Gründung und Gründer der Kommission für Zeitgeschichte 1960 – 1962, in:
HISTORISCHES JAHRBUCH 115 (1995), S. 453 – 485; Olaf BLASCHKE, Geschichtsdeutung und Vergangenheitspolitik. Die Kommission für Zeitgeschichte und das Netzwerk kirchenloyaler Katholizismusforscher 1945 – 2000, in: Thomas PITTROF / Walter SCHMITZ (Hrsg.), Freie Anerkennung übergeschichtlicher Bindungen. Katholische Geschichtswahrnehmung im deutschsprachigen Raum des
20. Jahrhunderts, Freiburg 2009, S. 479 – 521; Christoph KÖSTERS / Petra VON DER OSTEN, Ludwig
Volk (1926 – 1984) – ein katholischer Zeithistoriker, in: Ronald LAMBRECHT / Ulf MORGENSTERN
(Hrsg.), »Kräftig vorangetriebene Detailforschungen«. Aufsätze für Ulrich von Hehl zum 65. Geburtstag, Leipzig – Berlin 2012, S. 27 – 56.
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Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
sich Anfang der 1960er Jahre im deutschen Katholizismus die Schere zwischen
politischen und innerkirchlichen Transformationsverläufen zu öffnen. Andererseits hatte das Zweite Vatikanische Konzil mit seinem erneuerten Verständnis von
»Kirche«, »Welt« und »Apostolat der Laien« einen epochalen Wandel eingeleitet,
der nicht ohne Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Katholizismus bleiben
konnte. Die Wechselwirkungen zwischen »äußeren« und »inneren« Veränderungen waren komplex und verliefen keineswegs geradlinig. Die bis heute andauernden Auseinandersetzungen um die plurale oder integrale Gestalt des Katholizismus oder der Katholizismen können daher nicht nur als verlustreiche
»Assimilation« und Säkularisierung gedeutet werden.
Den Befunden konzentrischer Kontextualisierung, in die die Gründungsgeschichte der Kommission eingebettet wird, folgt der Blick auf die dritte Zeitebene, die Gegenwart und dann auch in die Zukunft. Die Aufmerksamkeit richtet
sich wiederum zunächst primär auf Kontexte der Katholizismusforschung: Welche veränderten wissenschaftsgeschichtlichen Kontexte gilt es in der Gegenwart
und künftig stärker zu beachten?
Frank Bösch und Franziska Metzger stellen exemplarisch zwei methodische
Zugänge vor, deren Einsatz der Erforschung des Wandels von Kirche und Katholizismus aufgrund des erwähnten Zusammenhangs von Gegenstands- und Methodenwechsel zweifellos großen Gewinn bringen wird. Die Klage über die »böse
Presse« ist zwar mindestens so alt wie der Katholizismus selbst. Aber erst in den
letzten Jahrzehnten ist ins allgemeine Bewusstsein gerückt, wie stark das religiöse Feld in der Öffentlichkeit über und durch die Medien bestimmt und definiert
wird. Aber die Logiken dieser Öffentlichkeit sind in ihrer wissenschaftsgeschichtlichen Relevanz bis heute nicht hinreichend erfasst. Die rapide zunehmende mediale Durchdringung der Gesellschaft und die wachsende Bedeutung von Presse,
Rundfunk und v. a. Fernsehen als Vermittler von Sinnbildungen und -deutungen
führte nicht zu einem Verschwinden, sondern zu einer Ausweitung und öffentlichen Pluralisierung religiöser Deutungsangebote, gegenläufigen Prozessen von
kirchlich-konziliarer »Welt«-Offenheit und medialer »Entweltlichung« der Kirchen sowie durchaus erfolgreichen Strategien gesteigerter kirchlicher Medienpräsenz, zumal der katholischen Kirche. Dass autoritäre Strukturen und konservative Wertvorstellungen der Kirchen zur Zielscheibe eines Journalismus wurden, der
sich in den 1960er Jahren bewusst als »kritisch« etablierte, wird nicht in Abrede
gestellt, sondern ist wesentlicher Bestandteil des Medialisierungskontextes.
Gleiches gilt in einem engen Zusammenhang damit für die Einsichten, die durch
eine systematische Sprach- und Begriffsforschung ermöglicht werden. Wie sehr
mit Begriffen oder dem passenden »wording« Politik gemacht werden kann, ist
mittlerweile allenthalben bekannt, aber für die Katholizismusforschung ist diese
Einsicht noch nicht wirklich fruchtbar gemacht. In den Sattelzeiten gesellschaftspolitischer Umbrüche konstituieren sich mit religiösen Begriffen Vorstellungsräume neu und verändern die Konstruktion sozialer Wirklichkeiten von Kirche,
Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
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Katholizismus und Religion. So wurden in den 1960er Jahren die Sakralisierung
von Geschichte aus heilsgeschichtlicher Perspektive und die mit ihr verknüpften
Wahrheitsdiskurse zunächst hinterfragt und schließlich aus ihren dominant theologischen Kontexten herausgelöst. Zugleich verloren die religiösen und moralischen Diskurse, die seit dem 19. Jahrhundert für die politische Sprache des Nationalen anschlussfähig gewesen waren, ihren sakralen Zug. Sie wandelten sich zu
politisch-ethischen Diskursen über Frieden, Solidarität, Gerechtigkeit und Menschenwürde, die die zeitgenössischen Begriffe und Vorstellungen der 1960/70er
Jahre aufnahmen. Diese Transformationen gingen mit neuen, pluralen Formen
von Sakralisierung einher: der Person in Menschenrechtsdiskursen, der Fundamentalisierung von Religion und Politik, der Spiritualisierung des Selbst und der
Entstehung neuer sakraler Räume.
Öffnet man diesen Kontext der Gegenwart über die Wissenschaft und ihre Methoden hinaus, erweitert sich das Fragespektrum noch einmal neu: Wie hat sich das
Gefüge von Kirche und Katholizismus seit den 1960er Jahren verändert? In welchem Umfeld hat sich deshalb Katholizismusforschung heute zu positionieren?
Matthias Sellmann entfaltet dazu ein pastoralsoziologisches Panorama, das sich
weit von der Welt der 1960er Jahre entfernt hat, in der jene Diskurse einsetzten,
auf die sich die Gründung der Kommission für Zeitgeschichte bezog und deren
Teil sie seither wurde. Der Wandel von Katholizismus und Kirche, der sich spätestens seit den 1990er Jahren vollzieht, ist ebenso fundamental wie irreversibel: von
einem weithin geschlossenen, gesellschaftlich fest eingebetteten Katholizismus im
Sinne religiöser »Institution« zur ständig hinterfragten pluralen »Organisation«
unter gesellschaftlichen Marktbedingungen. Mit dem Ende der einen, der homogenen und der kontrollierbaren Sozialform Kirche gerät diese nicht nur »in die
Zumutungen von Pluralität und Kontingenz«, es verändern sich auch in gravierender Weise »die bisher dominierenden innerkirchlichen Selbstbilder und hierauf
beruhenden Routinen«. Dass bei den jüngsten strukturellen und finanziellen Reformen (über-)diözesaner Kirchenorganisation die Empfehlungen von Unternehmensberatungen einbezogen wurden, macht diesen Wandel besonders augenfällig.
Gleichwie man sich zu diesen religions- und organisationssoziologisch gestützten Analysen etwa aus ekklesiologischer, staatskirchenrechtlicher oder auch pastoraler Sicht stellt und diese Entwicklungen bewertet: Unstrittig dürfte sein, dass
die Kommission für Zeitgeschichte tief in einem Katholizismus wurzelt, zu dessen
historischer Beschreibung sie mehr als jede andere Forschungsorganisation beigetragen hat, der aber jetzt in einem unübersehbaren Wandel begriffen ist und
auch sie folglich vor die Frage nach ihrer zukünftigen Ausrichtung stellt. Es liegt
auf der Hand, dass dabei die Analysen der Vergangenheit und der Gegenwart
sowie Zukunftsoptionen in einem engen Zusammenhang stehen27. In gewisser
27
Vgl. Hans Günter HOCKERTS, Zeitgeschichte in Deutschland. Begriff, Methoden, Themenfelder, in:
HISTORISCHES JAHRBUCH 113 (1993), S. 98 – 127, hier S. 124.
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Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
Weise wiederholt sich so die Geschichte, denn dieses Szenario entspricht exakt
dem der Gründerzeit der Kommission für Zeitgeschichte.
IV. PERSPEKTIVEN KÜNFTIGER KATHOLIZISMUSFORSCHUNG
Dass die bisher beschriebene Pluralisierung von Kirche und Katholizismus seit
den 1960er Jahren auch eine Vervielfältigung der Zugänge zur Erforschung des
kirchlichen Wirkens von Kirche und Katholiken in der Gesellschaft mit sich
bringt – entsprechend einer potentiell vierten Zeitebene – liegt auf der Hand. Eine
Reihe von Beiträgen in diesem Band unternimmt es, dazu Entwürfe und Kommentare beizusteuern. Zunächst gliedert Ferdinand Kramer die Bandbreite möglicher Perspektiven auf. Sein Thesentableau positioniert die Katholizismusforschung künftig im erweiterten Feld der Religionsforschung. Erkennbar ist unter
anderem ein starkes Plädoyer, die früher nationalstaatliche Fokussierung der
Kommissionsforschung auf internationale Politik, Wirtschafts- und Sozialgeschichte auszuweiten. Auch die von Christen geprägte Politikgeschichte verbleibt
also auf der Forschungsagenda, etwa mit Blick auf den unabgeschlossenen Prozess
der europäischen Integration. Gegenstand und Blick der Katholizismusforschung
weiten sich, ohne ihren Fokus auf ihre historische Genese und die davon abgeleitete konfessionelle Prägung aufzugeben. Zugleich leitet sich daraus auch die Notwendigkeit ab, die Internationalisierung der Arbeitsweise und der Zusammensetzung der Kommission konsequent voranzutreiben – ein Weg, den sie bereits in
den letzten Jahren einzuschlagen begonnen hat.
Die Diskussionsbeiträge von Olaf Blaschke, Thomas Brechenmacher, Harry
Oelke und Thomas Großbölting loten Möglichkeiten und Grenzen der Katholizismusforschung in diesem erweiterten Feld exemplarisch aus. Olaf Blaschke plädiert dafür, die in Kramers Thesen angesprochenen internationalen, interkonfessionellen und geschlechtergeschichtlichen Erweiterungen des Forschungsfeldes im
konstruktivistischen Sinne einer »imagined community« auf der Basis eines relationalen Katholizismusbegriffs vorzunehmen. Dabei lenkt er die Aufmerksamkeit
auf die bislang vernachlässigte Genderforschung und insbesondere auf die Relationalität der Geschlechterperspektive. Außer der Hervorhebung des traditionellen
»Alleinstellungsmerkmals« der Grundlagenforschung der Kommission unterstreichen Thomas Brechenmacher und Harry Oelke den auch von Blaschke angeführten Gewinn, den die Katholizismusforschung aus einer bikonfessionellen bzw.
komparatistischen Perspektive ziehen kann. Die Überschneidungen bei Fragestellungen wie methodischen Zugängen ermöglichen es, Einsichten in ähnliche und
unähnliche Entwicklungsverläufe sowohl für die NS-Zeit als auch für die 1960/70er
Jahre zu erzielen, die gegenwärtig im Zentrum einer komplementären Katholizismus- und Protestantismusforschung stehen.
Zur Einführung: Katholizismusforschung heute
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Thomas Großbölting schließlich nimmt die methodischen und inhaltlichen Impulse der Kramer’schen Thesen auf und entwickelt sie zur Konzeption einer
»Religionsgeschichte als ›Problemgeschichte der Gegenwart‹« weiter: Die für die
deutsche Wissenschaftslandschaft so typischen institutionalisierten und ideologisierten Schranken zwischen allgemeiner und religiös-konfessioneller Geschichtsschreibung sind zugunsten einer erneuerten Religionsgeschichte zu überwinden,
deren Fragen in den allgemeinen Forschungsmainstream integriert werden. Um
den Wandel des religiösen Feldes seit den 1960er Jahren zu erforschen, bedarf es
statt übergreifender soziologischer Deutungsansätze kulturgeschichtlich geleiteter kontextueller Ansätze, die den Wandel anthropologisch, diskursiv und begriffsgeschichtlich, also qualitativ fassen. Einen Baustein einer so gedachten Religionsgeschichte bildet eine »Ideengeschichte von Religion«, die jene Begriffe
historisiert, die dem Katholizismus in den 1960/70er Jahren zu seiner Selbstbeschreibung dienten, sowie die veränderten Frömmigkeitsformen, Rollen- und
Leitbilder beschreibt.
Die in diesem Band dokumentierte Tagung zum 50-jährigen Bestehen der Kommission für Zeitgeschichte fand ihren Abschluss nicht – wie vielfach üblich – in
einer Zusammenfassung oder einem bilanzierenden Kommentar. Vielmehr werden die anstehenden Fragen und Aufgaben in einem Dialog zwischen dem ersten
und zweiten Vorsitzenden der Kommission für Zeitgeschichte thematisiert. Dies
schien den Organisatoren angesichts der Forschungslage eine angemessenere
Form der Schlußreflexion zu sein. Das Gespräch wurde für die Drucklegung lediglich sprachlich angepasst.
Die Kommission für Zeitgeschichte wirkt als ein freier interdisziplinärer Zusammenschluss von zeitgeschichtlich arbeitenden Wissenschaftlern, die sich der
Erforschung der Geschichte von Kirche und Katholizismus vorwiegend in
Deutschland widmen. Sie kann für sich in Anspruch nehmen, in den letzten fünf
Jahrzehnten einen international einzigartigen Beitrag zum kulturellen Gedächtnis
der katholischen Kirche und der Katholiken, aber auch mit Blick auf die deutsche
Gesellschaft (gleich ob katholisch oder nicht) geleistet zu haben. In welcher Form
dieses Projekt unter den veränderten Bedingungen christlichen Handelns in der
Gesellschaft der Gegenwart und Zukunft fortgeführt wird, hängt von dem Engagement der beteiligten Wissenschaftler und Wissenschaftlerinnen und nicht zuletzt auch von der Bereitschaft und dem Interesse der katholischen Kirche in
Deutschland selbst ab, sich ihrer Geschichte in Archiven und Erinnerungen zu
stellen und dazu beizutragen, die »Kette des Gedächtnisses« (Daniele HervieuLeger) fortzuführen, von deren Aktualisierung die Gestaltungskraft des gemeinsamen Glaubens für die Zukunft abhängt.
Für den Vorstand der Kommission für Zeitgeschichte
Wilhelm Damberg
I. GRÜNDERJAHRE DER KATHOLIZISMUSFORSCHUNG
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