2011-10-10 Pohlmann

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Künstlerisches Wort/Literatur
SWR2 E s s a y
Redaktion: Stephan Krass
Sendung: 10.10.2011, 22.05 – 23.00 Uhr
Die Währung als soziales Medium.
Aspekte einer Philosophie des Geldes
Von Friedrich Pohlmann
Das Manuskript ist ausschließlich zum persönlichen, privaten Gebrauch bestimmt.
Jede weitere Vervielfältigung und Verbreitung bedarf der ausdrücklichen
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In den letzten Jahren wurden wir Zeugen zweier großer Finanzkrisen, derjenigen von 2008,
die die Weltwirtschaft an den Rand des Totalzusammenbruchs brachte, und der sehr ungenau
„Verschuldungskrise“ genannten Euro-Krise – Krisen, die trotz ihrer ganz unterschiedlichen
Entstehungsursachen, sich mittlerweile miteinander verbunden und zu einer Fundamentalkrise
des Finanzsystems ausgeweitet haben, die die mächtigsten Volkswirtschaften samt ihren
politischen und gesellschaftlichen Systemen substanziell bedroht. Was man in deren Verlauf
an
Beobachtungen
sammeln
konnte,
hatte
oftmals
einen
über
die
desaströse
Gegenwartsrealität ins Grundsätzliche hinausweisenden Charakter, in ein Terrain der
Reflexion im Übergangsbereich zwischen einem aktualitätsbezogenen ökonomischen
Fachdiskurs und einer Philosophie des Geldes. Eine Philosophie des Geldes verlängert die
Fäden rein ökonomischen Denkens in eine tiefere Erkenntnisschicht und lockert die Grenzen
zu anderen Disziplinen, so dass auch deren Perspektiven, beispielsweise solche
psychologischer Art, in das Nachdenken über das Geld Eingang finden können. Ich begnüge
mich zunächst mit wenigen Hinweisen, welche Merkmale beider Finanzkrisen sich für
derartige Reflexionen über das Geld geradezu aufdrängen. Da ist zunächst der Eindruck von
einer weitgehenden Ohnmacht politischen Handelns. Die Politiker agieren wie Getriebene,
um, so der Jargon, „die Finanzmärkte zu beruhigen“, treffen dabei aber nicht selten
Maßnahmen, die Probleme nicht „lösen“, sondern nur auf eine andere, höhere Ebene
verlagern, also langfristig krisenverschärfend wirken. Nicht die politischen Akteure
„herrschen“ also, sondern ominöse Gebilde namens „Finanzmärkte“, oder noch knapper im
Anschluss an den Volksmund: es „herrscht das (große) Geld“. Wie aber läßt sich dieser Topos
verstehen? Und: Gibt es signifikante Unterschiede zwischen den Finanz- und den „normalen“
Gütermärkten? Bezeichnet die sogenannte „Herrschaft der Finanzmärkte“ eine neue Stufe in
der „Herrschaft des Geldes“, die den ganzen Kapitalismus charakterisiert? Und was hat es mit
der vielgeschmähten „Geldgier“, die das Geschehen auf diesen Märkten unzweifelhaft
antreibt, genau auf sich? Zweite Erkenntnis beider Finanzkrisen ist die vom „Fluch der guten
Tat“, der katastrophalen Folgen, die die ökonomische Umsetzung moralisierender politischer
Aktionsprogramme nach sich ziehen können, die Erkenntnis also von der Eigenlogik der
Ökonomie, die Gutgemeintes in Plagen zu verwandeln vermag. Die große Finanzkrise von
2008 hatte eine ihrer wichtigsten Wurzeln in Programmen zur Weltverbesserung, die jedem
Amerikaner – an erster Stelle den benachteiligten Minderheiten - zu Hausbesitz und
Wohlstand verhelfen sollte, und zwar vermittels einer Spezies von Immobilienkrediten, denen
eine wundersame Kraft zur quasi-selbsttätigen Tilgung durch endlos steigende Preise der mit
ihnen erworbenen Immobilien zugeschrieben wurde. Und der Euro war von Anfang an ein
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mehr als „nur“ eine Währung, sondern ein politisches Projekt. Ursprünglich als der von den
Deutschen zu zahlende Preis für ihre staatliche Einheit erzwungen, avancierte er dann mittels
einer verschwommen-harmonistischen Europa-Ideologie zu einem höchst erstrebenswerten
Gut, zu einem nicht nur ökonomischen, sondern auch politischen Gewinn für alle, einem
Wundermittel europäischer Völkerverständigung. Mittlerweile freilich dämmert den meisten,
dass genau diese ideologische Überfrachtung der Währung – ihr Missverständnis als
zwischenstaatlicher Moralbringer – für einen Großteil des ökonomischen Widersinns
verantwortlich ist, der in ihren gigantischen Rettungsmaßnahmen steckt; und dass diese
„Rettungsschirme“ genau das hervorbringen, was die gemeinsame Währung „ein für alle mal“
aus der Welt schaffen sollte: innerstaatliche Entdemokratisierungen und verschärften Zwist
und Neid zwischen den europäischen Völkern. Dritter Aspekt ist die Tatsache, dass,
abgesehen von der leicht vorhersagbaren Eurokrise, keine der großen Finanzkrisen der letzten
Jahrzehnte von der ökonomischen Fachwissenschaft prognostiziert wurde. Bedürfen gewisse
ihrer Grundaxiome einer Revision? Versteht sie ihren zentralen Gegenstand, das Geld, nicht
hinreichend? Apropos „Gegenstand“: Welchen Gegenstandscharakter hat überhaupt das
Geld? Ist es ein Ding? Ein Zeichen? Oder im wesentlichen nur eine in sozialer Praxis
vollzogene kognitive Operation? Und schließlich der vierte Gesichtspunkt, der den
Mechanismus
des
sich
rapide
aufzehrenden
Vertrauens
bei
den
politischen
Bändigungsversuchen beider Finanzkrisen anspricht: Versuchte man zunächst eine
Stabilisierung der Finanzmärkte, indem man die Vertrauensverluste im Bankensystem durch
Garantien der Staaten, also von politischen Akteuren mit größerem Vertrauensreservoir
auszugleichen trachtete, so reproduzierte man in der Folge diese Technik des
Vertrauensmanagements auf sukzessive höherer Ebene, indem beispielsweise der Verlust des
Vertrauens zu kleineren Ländern durch Garantien mächtigerer kompensiert werden sollte. Das
aber führte nur dazu, dass die Garanten selbst mehr und mehr ins sogenannte „Visier der
Märkte“ gerieten und immer mächtigeren Akteuren bis hin zum mächtigsten – den USA schrittweise Vertrauen entzogen wurde. In Europa wird mittlerweile die Kreditwürdigkeit
Italiens offen angezweifelt und auch diejenige Frankreichs nicht mehr fraglos unterstellt, und
wenn der Großteil der Euro-Länder nur noch an den Garantien Deutschlands hängt, dann sind
auch diese bald nicht mehr viel wert. Mit der Thematisierung des Vertrauensaspektes ist nun
freilich ein Merkmal angesprochen, das die Reflexion über das Geld weit über die Krisen der
Gegenwart hinausweist. Der Vertrauensaspekt schlägt eine Brücke in die grundsätzlichste
Denksphäre über das Geld, ins Terrain der Deutungen seines „Wesens“, seiner
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Grundcharakteristika als eines sozialen Konstrukts und Mediums. Mit ihrer Reflexion wollen
wir beginnen.
Der Frage, was Geld eigentlich „ist“, ist im Laufe einer weit über zweitausendjährigen
Geistesgeschichte höchst unterschiedlich nachgedacht worden, aber nur selten erreichten die
Antworten die pragmatische Nonchalance Milton Friedman’s, eines der Begründer des
sogenannten modernen „Monetarismus“: „Geld“, so Friedman, das sind einfach „die
Geldscheine, die wir in der Tasche tragen“, höchst nützliche hergestellte Dinge, die kein Gran
geheimnisvoller seien als etwa Schreib- oder Toilettenpapier. Für Karl Marx hingegen wurde
das Geld, je mehr er es zu begreifen suchte, zu einem höchst „vertrackten Ding, voll
metaphysischer Spitzfindigkeit und theologischer Mucken“, womit er, gemessen an
philosophischen Ansprüchen, zweifelsohne Recht hat. In der ökonomischen Fachwissenschaft
und auch in der Soziologie dominieren seit ihren Anfängen „Erklärungen“ und „Begriffe“ des
Geldes, die aus der klassifizierenden Deskription von Geldfunktionen herausdestilliert wurden
und oftmals hilfreiche Einsichten vermitteln, aber kaum jemals den Status philosophisch
reflektierter Kategorien erreichen. Da wird etwa dem Geld die Funktion eines allgemeinen
Tauschmittels, einer Recheneinheit oder eines Wertaufbewahrungsmittels zugesprochen oder
es wird als „Zeichen“ für einen davon verschiedenen ökonomischen Wert gedeutet, und im
Anschluß an derartige Auflistungen wird dann gewöhnlich implizit oder explizit unterstellt,
dieser Funktionen wegen sei das Geld historisch auch „erfunden“ worden. Die
Unzulänglichkeit derartiger „Erklärungen“ wurde nur selten erkannt. Wenn man etwa, wie
Adam Smith und ein Großteil seiner nationalökonomischen Nachfolger, aus den nützlichen
Funktionen des Geldes in differenzierten Tauschwirtschaften seine historische Entstehung
„abzuleiten“ versucht, wird übersehen, daß differenzierte Tauschwirtschaften ohne Geld
prinzipiell unmöglich sind, also das Abzuleitende bereits voraussetzen. Ein ähnlicher Fehler
findet sich bei Karl Marx oder Georg Simmel, die das Geld als reale Vergegenständlichung
und Zeichen für einen „Tauschwert“ der Waren deuten, der ihnen als angeblich Gemeinsames
auch schon in „geldlosen“ Austauschbeziehungen inhärent sei, ein Fehler deshalb, weil
tatsächlich die Begriffe des Wertes und der Wertschöpfung getrennt vom Geld gar nicht
denkbar sind. Auch leuchtet sofort die Fragwürdigkeit von Reden vom Wert als einer quasidinglichen Entität und diejenige vom Geld als „Wertaufbewahrungsmittel“ ein, wenn wir uns
den rapiden Wertverlust „aufbewahrten“ Geldes während eines Börsencrashs oder einer
Inflation vor Augen halten. Auf dem Höhepunkt der Inflation im Jahre 1923 fiel der „Wert“
des Geldes als Zahlungsmittel für ein Brot im Laufe einiger Stunden um Hunderte von
Millionen. Fügen wir hinzu, dass auch die Deutung des Geldes als eines Zeichens – sie
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verdankt sich dem früher üblichen Bezug des Geldes auf einen Goldstandard – fragwürdig ist:
Das Geld, egal wie seine materiale Vergegenständlichung – sei es Münze, Banknote oder
Rechengeld im Internet – zeigt auf nichts außerhalb seiner selbst, es gibt kein Signifikat, zu
dem es ein Signifikant wäre. Zwar sind Preise formal als Zeichen, also semiotisch
interpretierbar, weil hier jeweils Warenquantitäten auf Geldquantitäten – und umgekehrt –
zeigen. Doch wofür sind Preise „Zeichen“? Nur für andere Preise. Das Geld „zeigt“ nur auf
sich selbst, vergleichbar den Zahlen, die auch nur auf andere Zahlen – in den Relationen
„größer/kleiner“, „teilbar“ usw. – zeigen. Insofern eignet dem Gelde eine vollkommen leere
Identität. Wie sehr das Nachdenken über das Geld von erkenntnishemmenden Konventionen
verstellt wird, zeigen übrigens bereits so scheinbar neutrale Floskeln wie die von den
Wirkungen oder Funktionen „des“ Geldes, deren auch ich mich hier ganz selbstverständlich
bedient habe, erzeugen sie doch den Anschein wirkender Funktionen eines Dings. Aber die
Wirkungen und Funktionen, die man sich angewöhnt hat, „dem Gelde“ zuzuschreiben, sind
doch nichts anderes als Projektionen von von Menschen beim Geldgebrauch ausgeübten
praktischen und kognitiven Prozessen, und die Rückführung jener verdinglichenden
Projektionen auf diese Prozesse ist ein wesentlicher Bestandteil der Entschleierung des
Geldrätsels und einer Philosophie des Geldes.
Die zunehmende Entmaterialisierung des Geldes in der Geschichte der Geldwirtschaft, von
der Münze über die Banknote bis hin zum digitalen Buchgeld, mit dem in der Gegenwart der
Großteil der Finanzoperationen getätigt wird, bedeutet nicht, dass sich das Geld vollständig
von materiellen Verkörperungen abzulösen vermöchte – Geld muss prinzipiell immer auch als
quasi-dingliche Entität besessen werden können. Aber seine materielle Verflüchtigung
erleichtert doch die Erkenntnis, dass der Geldcharakter des Geldes nie, auch nicht in den
Zeiten der Goldmünze, an seiner dinglichen Natur hing: Geld ist, obwohl greifbar, nur ein
scheinbares Ding; ist keine physis, sondern eine spezifische Form der Vergesellschaftung,
ausschließlich basieren auf gesellschaftlich akteptierten Bedeutungszuschreibungen als eines
„Werts“: Geld ist das als allgemeiner Wert geltend gesetzte. Aber das als geltend gesetzte gilt
nur, wenn ihm qua Gebrauch Geltung verschafft wird, Geld basiert also auf einer zirkulären
Struktur der Anerkennung, die sich in der historischen Realität typischerweise als
Wechselspiel zwischen Anerkennungspostulaten seitens der politischen Zentralinstanz und
seiner faktischen Legitimierung mittels seines Gebrauchs im Verkehr der Marktteilnehmer
konkretisiert hat. Geld im vollen Wortsinn ist eine griechische Erfindung. Das gemünzte
Geld, „nómisma“, und das Gesetz, „nómos“, wurden als die beiden Grundlagen der antiken
Gesellschaftsordnung der pólis, des Stadtstaates, gedacht, und sie meinen beide, wie unser
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Wort „Geld“, etwas was „gilt“. Aber diese Geltung bedarf der wieder und wieder erneuerten
Beglaubigung im praktischen Handeln, einer Anerkennung „von unten“, deren einzige Basis
das Vertrauen ist. So konstituiert das Vertrauen in den Wert des Geldes seinen Wert und
damit das Geld als Geld, und wenn man einer Währung das Vertrauen entzieht, sie
gewissermaßen durch zunehmenden Nichtgebrauch strafend, dann verliert sie ihren Wert und
damit in letzter Konsequenz ihren Geldcharakter und damit auch ihre Macht: Aus „Geld“ ist
ein gewöhnliches Ding geworden. Die zirkuläre Struktur der Anerkennung teilt das Geld mit
manchen sozialen Phänomenen, an erster Stelle solchen aus dem Bereich der politischen
Macht. Ein König beispielsweise ist nicht König, weil seiner Person, so wie es manche
politischen Mythologien behaupten, gewissermaßen eine geheimnisvolle Königssubstanz
anhaftete, sondern er ist König, weil sich seine Untertanen als Untertanen auf ihn als König
beziehen. Je mehr sie ihn in ihren Beziehungen nicht mehr als König und sich als Untertanen
anerkennen, desto stärker ist seine Königsstellung bedroht. Und genau das gilt auch für jede
Währung und zuletzt für das Geld als solches: Die Geltung des Geldes im Geldgebrauch
beglaubigend, verschaffen wir ihm jene Anerkennung, auf der seine universale „Herrschaft“
beruht.
Dass in der Geschichte der Geldtheorien sozusagen der „ersten“, derjenigen des Aristoteles,
eine Ausnahmestellung zukommt, ist manchmal, und nicht zuletzt auch von Karl Marx,
hervorgehoben worden. Es gibt neuere Interpretationen, die sogar eine Überlegenheit der
kategorialen Beschaffenheit von Aristoteles’ Geldbegriff über alle seine Nachfolger
behaupten, auch über den von Marx, und zwar ironischerweise gerade hinsichtlich jenes
Merkmals, in dem Marx selbst im Anschluß an Adam Smith und David Ricardo seinen
großen Beitrag zur Aufklärung des Geldrätsels sah, dem Verständnis des „Wertes“. Marx hat
den Tauschwert der Waren substanzialistisch gedeutet, als eine ihren Austauschrelationen
gewissermaßen vorgelagerte „Kristallisation von Arbeit“, während Aristoteles den Wert
ausschließlich
als
ein
Produkt
sozialer
Zuschreibungen
versteht,
die
in
den
Austauschbeziehungen qua Geldgebrauch erst entstehen. Das Geld ist also ein messendes
Medium, das das zu Messende – den Wert - in den Akten des Messens im Austausch selbst
hervorbringt, ist also ein Inbegriff jenes gar nicht so seltenen Typus von Relationen, der seine
Relate erst erzeugt. Werfen wir einen etwas längeren Blick auf Aristoteles. Das Geld und den
Tausch hat Aristoteles an zwei Stellen untersucht, im ersten Buch seiner Politik und im
fünften der Nikomachischen Ethik, aber trotz der in beiden dominierenden unterschiedlichen
Perspektiven orientieren sie sich doch an demselben kategorialen Gerüst. Die grundlegende
Einheit der Wirtschaft ist für Aristoteles die Hauswirtschaft, der oikos, in dem auch die Lehre
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vom Wirtschaften, die Oikonomia, die Ökonomie, gründet. Aber das Geld hat nicht im
Mikrokosmos des oikos seinen Ursprung – der Zusammenhang der diversen Tätigkeiten
innerhalb des oikos selbst ist Produkt eines planenden Bewusstseins -, sondern in jener
Sphäre, in der sich die diversen Hauswirtschaften als tauschende gegenübertreten, es fungiert
als ein Mittler, der die wechselseitig passende Plazierung ihrer jeweils unterschiedlichen
Güterbedürfnisse ermöglicht. Das Geld ist damit gewissermaßen Stellvertreter und Produzent
des Zusammenhangs der unterschiedlichen Bedarfs- und Produktionsstrukturen der einzelnen
Hauswirtschaften, Ausdruck und Garant also einer größeren Einheit, derjenigen zwischen den
Hauswirtschaften, die – so Aristoteles’ bis in unsere Gegenwart aktuelle Kritik am
Platonschen Kommunismus – nur höchst unzulänglich nach dem Modell des planenden
Bewußtseins innerhalb des oikos verwirklichbar wäre. Aber diesen größeren Zusammenhang
stiftet das Geld nur, weil es das als geltend Gesetzte ist, als ein ausschließlich der sozialen
Übereinkunft entstammendes kategoriales Novum, und nicht etwa deswegen, weil es seiner
Existenz quasi vorgelagerte Wareneigenschaften in eine dinglich faßbare Form brächte.
Insofern läßt sich das Geld als ein genialer sozialer Kunstgriff verstehen, als ein höchst
nützliches Werkzeug, das aber gerade deswegen, weil es nur sozialer Kunstgriff ist und ihm
keine anderweitige „Natur“ eignet, die ihm innere Grenzen setzte, der Möglichkeit des
Mißbrauchs offensteht. Ihn erörtert Aristoteles in seiner Analyse von der Kunst des
Gelderwerbs, der Chrematistik, die sich grundlegend von der Oikonomia, der Kunst der
Haushaltsführung unterscheidet, und die im Wucher, der Obolostatike, seine prägnanteste
Form gewinnt. Was es damit auf sich hat, läßt sich am besten mittels einiger Formeln
skizzieren, die Karl Marx für den Austausch entwickelt hat. Das Geschehen auf den
Warenmärkten stellt sich in seiner formalsten Gestalt als ein endloser Zirkulationsprozeß –
Ware-Geld-Ware-Geld-Ware…usw. – dar, und wenn sich das Geld dabei nur auf die
Vermittlung verschiedener Waren beschränkt, sie, gemäß den unterschiedlichen Bedürfnissen
der Marktteilnehmer „richtig“ plazierend, dann verwirklicht es seine nützliche, durch nichts
ersetzbare soziale Werkzeugfunktion. Nun liegt auf der Hand, daß der endlose
Zirkulationsprozeß Ware-Geld-Ware usw. aus einer anderen Perspektive auch anders lesbar
wird, nicht als Vermittlung von Waren durch Geld, sondern des Geldes durch Waren: GeldWare-Geld-Ware-Geld … eine Lesart, die freilich sinnlos bleibt, solange man die durch die
Waren vermittelte Geldquantität als gleich ansetzt. Sinn ergibt sie nur unter der
Voraussetzung eines sich dabei permanent vergrößernden Geldquantums: Geld-Ware
Mehrgeld usw., einer Formel, die die Grundformel des Handels bezeichnet und als private
Akkumulation eines genuin sozialen Mediums deutbar ist. Diese Formel ist durch Weglassung
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des
mittleren
Gliedes
noch
einmal
zum
zweistelligen
Ausdruck
Geld-Mehrgeld
komprimierbar, der die Geldvermehrung durch die Zinsnahme definiert, die man im größten
Teil der Geschichte des Geldes als Wucher bewertete. „Eigentlich“ hat das Geld, so
Aristoteles, betrachtet man nur seine soziale Grundfunktion als Tauschmittler, einen nur
dienenden Charakter und es ist „unfruchtbar“, aber im vereinseitigten Streben nach Geldbesitz
verwandelt es sich aus einem Mittel zum Selbstzweck, und im Zins scheint ihm eine
eigentümliche Kraft zur Selbstvermehrung zuzuwachsen, die in der Herkunft des griechischen
Wortes für Zins – dem Wort tokos, das sich von tiktein „gebären“ ableitet – besonders
sinnfällig wird. In ihm kündigen sich schon die prokreative Aura und die sexuellen
Konnotationen an, die in der Folgezeit immer wieder Reden über die scheinbare Kraft des
Geldes zur Selbstvermehrung begleitet haben. Aristoteles versucht die eigentümliche Tendenz
zur Grenzenlosigkeit zu verstehen, die dem Erwerb des Geldes durch seine Verkehrung von
einem Tauschmedium zu einem Selbstzweck zuwächst. Auf dem Gebiet sinnlichen Begehrens
ist Schrankenlosigkeit im vollen Wortsinn unmöglich, immer setzt hier die „Natur“ des
Begehrenden und die des Begehrten dem Wollen Grenzen, deren Überschreitung
Selbstzerstörung bewirkt. Aus der bewußten gemeinschaftlichen Reflexion und Setzung
derartiger Grenzen sind soziale Regeln der Moral erwachsen, die die menschlichen
Leidenschaften zügeln und ordnen. Aber gerade weil dem Geld keine „innere Natur“ eignet,
weil es auschließlich „soziales Konstrukt“ ist, ein vollkommen abstraktes Mittel, dem sich
tendenziell jeder Gegenstand sinnlichen Begehrens fügt und das jeden dieser Gegenstände
quasi unbegrenzt zu erlangen verspricht, erzeugt es gleichsam eine Lücke, die der
vollkommen schrankenlosen Leidenschaft eine Bewegungsform verschafft. Die Pathologie
und destruktive Wirkung dieser Leidenschaft enthüllt Aristoteles im Verweis auf die MidasLegende, die unbegrenzte Goldgier des König Midas, die ihn schließlich – nach der
Verwandlung auch aller Subsistenzmittel in Geld – bis an den Rand des Hungertodes führt.
Bis an die Schwelle der Neuzeit haben alle Gesellschaften durch Tabuierungen und präzise
soziale Regelungen der Zinsnahme eine Einhegung dieser Leidenschaft versucht. Aber weil
auch in bedarfsorientierten Austauschprozessen als Zwischenstufe jedes Kaufakts ein auf den
Gelderwerb als Ziel gerichtetes Interesse zum Tragen kommt und dem Geld in Relation zu
allen verfügbaren Waren ein absoluter Mittelcharakter zukommt, der den Geld- gegenüber
dem Warenbesitzer privilegiert, war diese Einhegung immer auch ein prekäres Unterfangen.
In der Moderne hat man dann mehr und mehr derartige Regeln durch solche ersetzt, die diese
schrankenlose Leidenschaft stimulieren, und deshalb ist auch erst hier bei tendenziell allen
Gesellschaftsmitgliedern jene Verkehrung entstanden, die Georg Simmel die psychologische
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Wandlung eines „absoluten Mittels“ in einen „absoluten Zweck“ genannt hat, eine Wandlung,
die
bedingt,
dass
nunmehr
„jeder
erreichte
Punkt
(des
Gelderwerbs)
nur
als
Duchgangsstadium zu einem darüber hinaus liegenden Definitivum empfunden wird“.
Wir wollen im folgenden drei Aspekte etwas näher betrachten: die Beziehungen zwischen
Geldwirtschaft und persönlicher Freiheit; den spezifischen Charakter des Rationalismus und
Intellektualismus, den der Geldgebrauch in der Moderne erzeugt hat; und schließlich eine
genauere Bestimmung der Geldgier. Dann kehren wir wieder in die Gegenwart zurück und
profilieren einige der Bedeutungsebenen im Topos von der „Herrschaft der Finanzmärkte“.
Die Kritik, die das Geld während seiner gesamten Geschichte auf sich gezogen hat und die in
der Gegenwart durch die Finanzkrisen wieder kräftig genährt wurde, darf nicht vergessen
machen, in welch fundamentaler Weise die moderne Freiheit des Individuums am Geld hängt.
Georg Simmel hat das vielfältig demonstriert. Das Geld als Grundbedingung für die endlos
verlängerten Ketten marktvermittelter Arbeitsteilung in der Moderne und für die
Differenzierung der Gesellschaft in diverse, qua Systemfunktion eigenlogisch funktionierende
Teilsysteme macht den Einzelnen zwar in jeder Faser seiner Existenz von einem gar nicht
überschaubaren Netz spezialistischer Vorleistungen anderer abhängig, das in der Gegenwart
globale Ausmaße besitzt, aber diese ungeheuer gewachsene Abhängigkeit von anderen ging
doch einher mit einer außerordentlichen Reduktion der Abhängigkeit von bestimmten
Anderen, mit einer Entpersonalisierung der Abhängigkeit, so daß außerhalb der Privatsphäre
soziale Abhängigkeiten sich gewöhnlich in spezialistischen Rollenbeziehungen äußern. Sie
betreffen nicht die einzelnen als „ganze Personen“, sondern nur gleichsam objektivierte
Partikel ihrer selbst. Das ermöglicht ein individuelles „Für-Sich“ der Person, eine individuelle
Identität, die von ihren Rollenbeziehungen weitgehend unberührt bleiben kann. Ich skizziere
nur einige Facetten der geldvermittelten Entpersonalisierung, ohne die moderne Freiheits- und
Individualitätsansprüche gar nicht denkbar sind. Da im Geld gewissermaßen jeder Anbieter
wirtschaftlicher Leistungen und jede Ware des Gebietes, innerhalb dessen es gilt, ideell
repräsentiert ist und die Quellen seiner Herkunft in ihm selbst vollständig ausgelöscht sind,
erzeugt es eine kaum übersehbare Vielfalt sozialer Handlungs- und Wahloptionen. Es löst den
Einzelnen aus engen sozialen und örtlichen Bindungen und wirkt als Stimulus räumlicher
Mobilität; es befreit ihn von den Zwängen, die das dingliche Eigentum früher immer auf
seinen Besitzer ausübte und es stiftet eine große Distanz zwischen Person und Besitz,
zwischen Sein und Haben. Und als zentrales Medium und Hebel einer sich immer weiter
verästelnden funktionalen sozialen Differenzierung verwandelt es die früher häufig
willkürlichen und ungerechten Zumutungen der persönlichen Abhängigkeit in unpersönliche
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spezialistische Rollenanforderungen, aus denen die „ganze Person“ des einzelnen weitgehend
ausgeklammert bleibt und befördert zugleich die Individualität auch im Sinne personaler
Differenz und Vielseitigkeit, indem nunmehr die Integration in ganz divergente soziale Kreise
und Beziehungen möglich wird, in denen sich die Person zu einem mannigfach differenzierten
Individuum,
einer
„Persönlichkeit“
hochbilden
kann.
Unsere
Vorstellungen
und
Verwirklichungen individueller Freiheit sind also substanziell mit dem Geld verknüpft.
Betrachten wir nun Beziehungen zwischen dem Geld und dem modernen Rationalismus und
Intellektualismus. Wer sich mit den kognitiven und emotionalen Auswirkungen der
entwickelten Geldwirtschaft befassen will, ihrer Prägekraft für den „geistigen Habitus“ der
Gesellschaften der Moderne, muß sich zunächst von dem sowohl in Alltagsauffassungen als
auch in den höheren Sphären elaborierter Theoriebildung weitverbreiteten Deutungsfehler
lösen, dass Geld eine materielle Entität sei, ein Ding, das dann erst auf irgendwelchen
geheimnisvollen Zweit- oder Drittwegen sich des Bewusstseins formend „bemächtige“.
Derartige Redeweisen sind Ausdruck jener dualistischen Denkmodelle, die vor allem in ihren
marxistischen Varianten – in den Formeln vom „Sein“ und „Bewußtsein“, „Basis“ und
„Überbau“,
„Materialismus“
und
„Idealismus“
oder
in
der
Metapher
von
der
„Wiederspiegelung“ des Objektiven im Subjekt – auf endlose Holzwege geführt haben. Geld
„ist“, obwohl greifbar, überhaupt nichts außerhalb des Bewußtseins, ist eine „Kategorie des
Denkens“, wie Oswald Spengler pointiert formulierte; eine abstrakt-quantitative Relation, die
nur „gilt“, weil und sofern sie in jedem Tausch und in jeder Geldrechnung gleichermaßen
handelnd wie denkend als geltend reproduziert wird. Die konventionellen Dualismen vom
„Sein und Bewußtsein“ oder „Handeln und Denken“ zeigen ihre Sinnlosigkeit nirgends
deutlicher als in Bezug auf das Geld, weil das Handeln mit Geld im Kern ein Denkakt ist, also
das Geld nicht als Ding, sondern als „Kategorie des Denkens“ unser Denken prägt. Wie aber
läßt sich diese Prägung genauer bestimmen?
Was sich im Bewußtsein als Geldstruktur geltend macht, scheint zunächst eine ganz einfache
Denkform, der wir gemeinhin schon deswegen wenig Aufmerksamkeit schenken, weil wir uns
ihrer permanent in quasi habitualisierter Alltäglichkeit bedienen - in unseren Rechnungen in
Geld, den Preisvergleichen oder den Staffelungen zukünftiger Bedürfnisse in Orientierung an
unserem Einkommen. Dabei machen wir im Prinzip immer dasselbe: Wir beziehen qualitativ
ganz divergente Dinge und Bedürfnisse auf ein vollkommen abstraktes Maß, die Geldeinheit,
mittels derer wir sie quantitativ in Beziehung setzen. Aber diese Denkform, in der wir uns qua
Geld bewegen, ist tatsächlich von höchster Artifizialität, denn sie ist vollkommen abstrakt,
herausgelöst aus jeglicher Verbindung zur sinnlichen Anschaulichkeit: Im Geld rechnend,
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überspannen wir das Wirkliche mit einem sich ins Mikroskopische verästelnden Netz rein
quantitativer Beziehungen, konstruieren eine Schattenwelt reiner Zahlenverhältnisse, der nicht
selten ein höherer Wirklichkeitscharakter zugesprochen wird als dem sinnlich Erfahrbaren.
Das Geld als Denkform ist also nichts anderes als abstrakt-quantitative Relation, abstraktquantitative Relation freilich auf der Basis eines Apriori – des Glaubens an seinen „Wert“.
Diese Denkform aber ist übertragbar, und sie wurde auch aus der ökonomischen Sphäre in
andere Denksphären übertragen, und zwar an erster Stelle in diejenige der Mathematik und
dann der Naturwissenschaft, und sie hat dadurch an der Herausbildung moderner
Weltbildstrukturen einen kaum überschätzbaren Anteil gehabt. Ich muß mich hier auf ganz
wenige Hinweise beschränken: Erst im Jahre 1202 hat der Italiener Leonardo Pisano, genannt
Fibonacci, bei Versuchen, Warenmengen in Geldarten umzurechnen, in seinem Werk Liber
Abaci das moderne mathematische Ziffernsystem begründet, ein Werk, das als eines der
wichtigsten der Mathematik überhaupt gilt, aber für Werner Sombart zugleich das Geburtsjahr
des modernen Kapitalismus bezeichnet, weil erst auf seiner Grundlage ökonomisch exakte
Kalkulationen möglich wurden. Und auch die zentralen Erkenntnismaximen der modernen
Naturwissenschaft - die Auflösung substanzialistischer Kausallogiken zugunsten des Ideals
quantitativer Meßbarkeit der internen Relationen immer kleinerer Einheiten - haben
unübersehbare Strukturerverwandtschaften zum Geld als Denkform. Georg Simmel hat diese
Verwandtschaft in vielen Wendungen umkreist, zum Beispiel der folgenden: „Dem Ideal der
Naturwissenschaft“, so schreibt er, „die Welt in ein Rechenexempel zu verwandeln, jeden Teil
ihrer in mathematischen Formeln festzulegen, entspricht die rechnerische Exaktheit des
praktischen Lebens, die ihm die Geldwirtschaft gebracht hat; sie erst hat den Tag so vieler
Menschen mit Abwägen, Rechnen, zahlenmäßigem Bestimmen, Reduzieren qualitativer
Werte auf quantitative ausgefüllt.“
Kommen wir nun zur Geldgier. Die Geldgier ist eine Leidenschaft, aber eine Leidenschaft mit
einem höchst eigenartigen Gepräge, die zudem, das sei sofort unterstrichen, keineswegs als
eine individuelle Pathologie gedeutet werden sollte, denn ihre fraglos pathologische Form bei
bestimmten Personen und Institutionen darf nicht vergessen machen, dass sie in temperierter
Form tendenziell jeden in der modernen Geldwirtschaft erfasst: Die Geldgier ist das
„normale“ psychische Korrelat zur modernen „Herrschaft des Geldes“. Machen wir uns
zunächst das zentrale Unterscheidungsmerkmal zwischen den Begriffen „Gier“ und
„Begierde“ klar: Begierden sind gerichtete Verlangen, denen, man denke zum Beispiel an den
Sexualakt oder die Völlerei, immer das Element der zeitweiligen Befriedigung eignet, sie
bewegen sich also im Rhythmus der zyklischen Wiederkehr von Bedürfnisspannung und
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Bedürfnislöschung. Die Gier hingegen ist eine ihrem Wesen nach nicht befriedigungsfähige
Leidenschaft, weil sie sozusagen endlos im Modus des Verlangens selbst verbleibt, eine
Eigentümlichkeit, die deshalb in der Geldgier ihre quasi idealtypische Verkörperung findet,
weil die ungegenständliche Gegenständlichkeit des Geldes, sein Charakter als eines absoluten
Mittels, keinen konkreten und mithin begrenzten Nutzen repräsentiert, sondern die reine
Potentialität endloser Möglichkeiten. So kennt die Geldgier keine Sättigungsgrenze, im
permanenten Verlangen nach mehr Geld ist der zyklische Rhythmus der Begierden in einen
linear unendlichen Prozess verwandelt, dem dann jedes Detail des Lebens unterworfen wird.
Nun sind derartige psychologische Betrachtungen der Geldgier ganz unzureichend, wenn
dabei unterschlagen wird, dass der ihr eignende linear-unendliche Prozesscharakter ja das
zentrale objektive Charakteristikum des modernen Kapitalismus selbst ist: Die Formel GeldWare-Mehrgeld… als endlose Bewegung ist der exakte Ausdruck der Geldgier und zugleich
die Grundformel für das zentrale Bewegungsgesetz des modernen Kapitalismus, für ein
Bewegungsgesetz, das sich in seine strukturellen und institutionellen Mechanismen so
eingelagert hat, dass für die Wirtschaftsakteure das Handeln im Sinne der Geldgier gar nicht
als eine von mehreren Optionen zur Verfügung steht, sondern funktionale Notwendigkeit
bezecinet. Dass man das Wort „Gier“ in anspruchsvolleren sozioökonomischen Fachdiskursen
der Gegenwart zu vermeiden trachtet und als einen Abkömmling naiver Denkattitüden
belächelt, hat nicht nur mit seinen negativen Konnotationen und moralisierenden
Implikationen zu tun, sondern vor allem damit, dass man sich angewöhnt hat, das Wort
ausschließlich in seiner psychologisch-personalisierenden Verwendung, im Hinblick auf eine
irrationale individuelle Leidenschaft, in den Blick zu nehmen. Dem stellt man dann eine
„systemische“ Betrachtungsweise entgegen, die das Handeln wirtschaftlicher Akteure als
rationale Reaktionen auf eigenlogische Imperative des ökonomischen Systems verstehbar zu
machen versucht. Dabei wird aber nur eine Einseitigkeit mit einer anderen beantwortet, es
wird übersehen, dass die Sinnkomponenten des Wortes „Gier“ sehr wohl eine Konvergenz
systemischer und psychologischer Perspektiven vorzunehmen gestatten; und es wird
gleichermaßen übersehen, dass es im modernen Kapitalismus Systemebenen gibt, in denen
das Grundprinzip der Gier in seiner unverstellten Nacktheit eine objektivierte Form gefunden
hat und Handlungsmuster der Akteure stimuliert, die mit den gängigen Zuschreibungen
ökonomischer ratio nur noch wenig zu tun haben. Diese Systemebenen aber sind, wie gleich
noch genauer auszuführen sein wird, die modernen Finanzmärkte. Verbleiben wir aber
zunächst noch auf einer grundsätzlicheren Ebene. Im Gegensatz zu den modernen
ökonomischen Wissenschaften mit ihren Modellen eines quasi affektneutralen „rationalen
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Selbstinteresses“ des homo oeconomicus war dem klassischen Liberalismus die starke
affektive Komponente einer auf endlose Geldvermehrung fixierten psychischen Disposition
noch wohlvertraut und wurde als eine moralisch höchst ambivalent zu bewertende
Leidenschaft, das heißt: als Gier gedeutet, freilich als eine quasi gezähmte Gier. Und auch die
Inkompatibilität dieser Leidenschaft mit traditionellen Moralordnungen wurde tendenziell
erkannt, aber man nahm an, dass in der liberalen Marktwirtschaft diese destruktive
Auswirkung kompensiert und sogar überkompensiert werde durch ihren unbeabsichtigten
Beitrag für das vielzitierte angebliche „Gemeinwohl“. Dass die Geldvermehrung als
Leidenschaft im modernen Kapitalismus normalerweise in verdeckter, gezähmter Form
auftritt, gewissermaßen als ein Hybrid aus Emotion und ratio, hat wesentlich damit zu tun,
dass ihre Triebkomponente sich gänzlich im Medium präziser rechenhafter Kalkulation
entfaltet und in einer gänzlich entpersonalisierten, objektivierten Rechtsordnung: die
Leidenschaft verkleidet sich gewissermaßen als formal-rationales Kalkül, das den Anschein
emotionsloser Zweckrationalität entstehen läßt, der freilich auch deshalb ganz falsch ist, weil
die Fixierung auf das Ziel endloser Geldvermehrung sich stark, wie jedermann weiß, aus
einer Quelle der Angst speist, der permanenten hintergründigen Angst vor einem
„Wertverlust“ des Geldes dadurch, dass ihm das Vertraeuen entzogen wird.
Bis auf ganz wenige noch zu benennende Ausnahmen war allen Religionen bis an die
Schwelle der Neuzeit das unaufhebbare Spannungsverhältnis des auf Geldvermehrung
fixierten Handelns zur traditionellen Moralordnung voll bewußt, seine Tendenz, letztere
seinem eigenlogischen Kalkül zu unterwerfen und ihren inneren Gehalt auszuhöhlen, sein
Charakter als ein „Moralzehrer“, wie sich der Ordoliberale Wilhelm Röpke einmal
ausgedrückt hat. Von den vielfältigen literarischen Zeugnissen für diese Inkompatibilität sei
hier nur auf die Volksmärchen und ihre literarisch anspruchsvolleren Abkömmlinge im 19.
Jahrhundert hingewiesen, Das „Kalte Herz“ von Wilhelm Hauff etwa oder Adelbert von
Chamissos „Peter Schlemihl“, die sie in eindringlicher Naivität bezeugen. Jedenfalls ist
deshalb insbesondere die Zinsnahme in traditionalen Sozialordnungen immer strikt reguliert
worden. Der Zins bezeichnet eine objektivierte und zugleich die reinste Form des
Geldvermehrungsstrebens, im Zins scheint dem Geld eine geheimnisvolle Kraft zur
Selbstvermehrung zuzuwachsen, die sich, wie schon erwähnt, besonders sinnfällig im
griechischen Wort für Zins, tokos, das Gebären, auf den Begriff bringt. Jedenfalls entstand
aus der Zinsnahme der reine Geldkapitalist als eine eigenständige Personifikation des
Geldvermehrungsstrebens, eine soziale Figur, die sich gewissermaßen aus den Ketten des
Warenhandelns herauskristalliert und sich den Produzenten und Händlern als Kreditgeber
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übergeordnet hat. Die Zinsnahme stand unter traditionellen Verhältnissen immer im Ruch des
Wuchers, weshalb das reine Geldhandelsgeschäft als eine moralisch höchst fragwürdige
Angelegenheit galt. Daß die Juden von früh auf eine besonders enge Affinität zum reinen
Geldhandel hatten, die aus der ausdrücklichen religiösen Erlaubnis der Zinsnahme von
Glaubensfremden entsprang, hat unübertroffen Werner Sombart in seinem heutzutage kaum
mehr bekannten Werk „Die Juden und das Wirtschaftsleben“ von 1911 untersucht. Aber als
Geldkaptalisten und Fremde zogen sie einen Doppelverdacht von seiten der Einheimischen
auf sich, ohne den die tradtionelle Judenfeindschaft unverstanden bleiben muß, der aber auch
eine der Quellen für den modernen Antisemitismus war. Gustav Freytags Roman „Soll und
Haben“, der bis vor einigen Jahrzehnten fester Bestandteil jeder bürgerlichen Privatbibliothek
war,
zeigt
das
besonders
deutlich.
Die
ungehemmte
soziale
Freigabe
des
Geldvermehrungsstrebens und insbesondere der Zinsnahme ist ein Signum der Moderne, die
identisch ist mit der Entfaltung dessen, was Max Weber „Geist des Kapitalismus“ genannt
hat. Dass an der Förderung dieses „Geistes“ bestimmte Formen des Protestantismus durch
transzendentale Rechtfertigung des Gewinnstrebens und Tabuierung des Sinnengenusses
Anteil hatten, soll nicht in Abrede gestellt werden.
Man kann den gegenwärtig viel benutzten Topos von der „Herrschaft der Finanzmärkte“
verschieden auslegen, sollte dabei aber folgende Komponenten besonders betonen: Dass seit
den 80iger Jahren des letzten Jahrhunderts das Geldkapital – das System aus Zentral- und
Privatbanken und Börse – zu einer mittels der Computertechnologie immer dichter vernetzten
globalen Institution geworden ist, mit einem über die Mechanismen der Staatsverschuldung
massiv gewachsenen Einfluss auf die staatliche Politik und einer ebenfalls massiv
gewachsenen Macht über die Unternehmen, bis in deren internes Kontrollsystem hinein. Der
Übergang von der Lehre des Keynesianismus zum Monetarismus kann als Indiz für den
Übergang vom klassischen Unternehmer- zum Finanzkapitalismus verstanden werden. Als
weiterer Bestandteil des Topos darf der Hinweise auf die außerordentliche Ausdehnung des
rein spekulativen Geschäfts im Banken- und Börsensystem nicht fehlen, die die Rede vom
„Kasinokapitalismus“ anspricht; eine Ausdehnung, durch die die ganz kurzfristig spekulativ
erworbene Rendite zu einem Leitmodell für das Gewinnprinzip überhaupt geworden ist. Es
hat die Bedeutung des klassischen Unternehmergewinns, der eher auf Langfristkalkulation
setzte, zurückgedrängt und auch unter den Normalbürgern einen signifikanten Wandel
ökonomischer
Mentalitäten
bewirkt.
Bis
vor
kurzem
dominierte
in
den
Wirtschaftswissenschaften ein Bild von den Finanzmärkten, das sich im Zuge ihrer rapiden
14
Expansion ab den 70iger Jahren - damals erfolgte eine vollständige Freigabe des Handels mit
Finanzderivaten - als monetaristische Doktrin gebildet hatte: Dass die Finanzmärkte, gerade
aufgrund ihrer Ferne zu den Beschwernissen der Produktion, als ideale Schauplätze der
marktliberalen Vorstellungen über Preisbildungsmechanismen und perfekten Wettbewerb
aufzufassen seien, ausgestattet mit rational-gewinnorientierten Akteuren; und dass sich in
Crashs nur ein heilsamer Anpassungsmechanismus dokumentiere, der unerbittliche Gang
ökonomischer Vernunft gewissermaßen. Dieses Bild ist freilich durch die vielen Finanzkrisen
der letzten Jahrzehnte, von denen die Wissenschaft keine prognostiziert hat und die nach ihren
mathematisierten Wahrscheinlichkeitskalkülen überhaupt nicht hätten stattfinden dürfen,
erheblich erschüttert worden und hat in der Öffentlichkeit, genährt durch publikumswirksame
Publikationen von Insidern, zur Herausbildung eines tendenziell gegenteiligen geführt, in dem
sie als Inbegriffe der Irrationalität erscheinen und ihre Akteure als Personifikation eines gierund angstgetriebenen Herdenverhaltens. Schauen wir kurz auf einige der wichtigsten
Eigentümlichkeiten dieser Märkte. Den charakteristischsten Finanzderivaten, mit denen hier
gehandelt wird, fehlt jede Verankerung in einem materiellen Wertsubstrat, ihre Preise
beziehen sich nicht auf Güter, sondern selbst wieder auf Preise, ihre erwarteten zukünftigen
nämlich, so daß die Preise die Waren selbst sind. So entsteht ein vollkommen
selbstreferenzielles Marktgeschehen, dessen entscheidende Komponente die Zeit – die
Zukunftserwartung – ist. Damit aber wird die Spekulation zu einem integralen Systemelement
finanzökonomischer Transaktionen. Entscheidend wird in diesem System also sozusagen die
Bändigung der Zeit, die Reduktion von Ungewißheit bezüglich der Zukunft: Nur wenn, so
treffend Joseph Vogl, die Ungewissheit künftiger Preise mit den Preisen für die Ungewissheit
dieser Preise verrechnet werden kann, kommt es zur erhofften selbsttragenden Stabilität im
System. Komplizierte finanzmathematische Modelle, die der Computer leicht handhabbar
macht und Praktiken der Risikoversicherung behaupteten diese Verrechnungsmöglichkeit,
wodurch die Erfindung ständig neuer Derivate stimuliert und legitimiert wurde. Nun haben
aber nicht nur die tumultösen Entwicklungen der jüngeren Vergangenheit, sondern
insbesondere auch die Pionierarbeiten des polnisch-französischen Mathematikers Benoit
Mandelbrot auf dem Gebiet der mathematischen Auswertung von Preisbildungsmechanismen
auf
den
Finanzmärkten
erheblich
die
prinzipiellen
Zweifel
an
dieser
Verrechnungsmöglichkeit, diesem Bändigungsversuch von Ungewißheit genährt: Mandelbrot
gelang der Nachweis, daß die Preisbildungsmechanismen im Zeitverlauf keineswegs dem
wahrscheinlichkeitstheoretischen Modell der gaußschen Normalverteilung folgen, sondern
sich in diskontinuierlichen Sprüngen vollziehen, in denen wenige große Abweichungen den
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Effekt der gesamten Verteilungsstruktur bestimmen. Damit aber würden die konventionellen
Gleichgewichtsmodelle der Finanzmathematik obsolet. Tatsächlich enthüllen schon wenige
grundsätzliche Überlegungen die prinzipielle Differenz der Preisbildungsmechanismen auf
den Finanzmärkten zu denjenigen auf den Warenmärkten. Da der Finanzmarkt als ein System
von Antizipationen funktioniert, in dem die Erwartungen zukünftiger Preise Preisbildungen
und Kaufentscheidungen bestimmen, hängt hier alles an den Prozessen kollektiver
Erwartungsabstimmungen. Dabei kommt es mittels positiver Rückkoppelungsmechanismen
und Trendverstärkungen zu konformistischen Meinungsangleichungen: Steigende Preise
werden als Spiegel allgemeiner Wertschätzung begriffen und lösen weiter steigende
Bewertungen aus, während fallende Preise die Antizipation weiter fallender Preise als
gänzlich vernünftig erscheinen lassen. In den Worten Joseph Vogls: „Das ausgleichende Spiel
von Angebot und Nachfrage ist verkehrt und liefert den paradoxen Augenschein, dass sich
billige Kapitalwerte als teuer, teure aber als besonders günstig und gute Gelegenheit
erweisen“. Erschütterungen der Rationalitätsannahmen über die Finanzmärkte werden aber
nicht nur durch die Einsicht in derartige Mechanismen befördert, die eher das Bild des
Herdenverhaltens nahelegen, sondern auch, wenn man die einzelnen Akteure in diesem
System genauer in den Blick nimmt. Es hat in jüngster Zeit nicht nur vermehrt literarische
Ausgestaltungen der Figur des Finanzspekulanten und Insiderschilderungen gegeben, sondern
auch wissenschaftliche Erfassungsversuche des Phänomens. Der wesentliche Punkt aber läßt
sich auch hier in wenigen Worten zusammenfassen. Da auf den Finanzmärkten nicht mit
Gütern gehandelt wird, sondern über die Bildschirmrealität des Computers mit Erwartungen
und Erwartungserwartungen bezüglich künftiger Preise, und weil über Gewinne und Verluste
in extrem kurzfristigen Rhythmen entschieden wird, handeln die einzelnen Akteure in einem
institutionellen und mentalen Umfeld, das Züge einer selbstbezüglichen Spielwelt trägt und
über
permanente
Kicks
und
Thrills
die
Erwartungslust
quasi
endlos
befeuert.
Erwartungsgefühle werden stets aufs Neue und umso stärker stimuliert, je riskanter die
Gewinnaussichten und je höher die Belohnungssummen sind, die ein Bonus- und
Abfindungssystem mit „offenem Plünderungscharakter“, so Peter Sloterdijk, in Aussicht
stellt. Tendenzen zur Risikoausweitung werden im Binnenklima des Systems nicht nur durch
die Kontrollillusionen der Finanzmathematik gefördert, sondern vor allem durch die nach den
Erfahrungen der jüngsten Finanzkrisen zur Quasi-Gewißheit geronnenen Erwartung, dass das
politische System letztlich die Verantwortung für eigene Verantwortungslosigkeiten
übernimmt: Das Risiko für das gesamtökonomische System wird also zur zentralen Waffe
politischer Erpressung, durch die systemintern das entscheidende Motiv für marktliberale
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Rationalität – die ökonomische Haftung für die Folgen eigener Entscheidungen – ausgehöhlt
wird.
In der „Herrschaft der Finanzmärkte“ in der Gegenwart hat das alte alchemistische Ziel, Geld
aus Geld zu machen, einen historisch einmaligen Erfindungsreichtum und eine historisch
einzigartige Macht entfaltet. Aber gerade die systemstabilisierenden Maßnahmen der Staaten,
die diese Machtentfaltung ermöglichen und abstützen, bezeugen noch einmal auf paradoxe
Weise den zutiefst zweideutigen Charakter des Geldes als eines endlos begehrten Objektes
privater Akkumulation und eines öffentlichen, d.h. alle betreffenden und bewegenden Gutes.
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