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Zentrum für Medizinische Ethik
MEDIZINETHISCHE MATERIALIEN
Heft 171
Public Health Gen-Ethik
Peter Dabrock, Peter Schröder
August 2006
Autoren:
Prof. Dr. theol. Peter Dabrock, M.A., Juniorprofessur für Sozialethik, Philipps-Universität
Marburg, FB Ev. Theologie - Sozialethik/Bioethik, Lahntor 3, 35032 Marburg,
[email protected],
Tel
06421/28-22447,
Fax
06421/28-22462,
http://www.theologische-bioethik.de/
Dr. phil. Peter Schröder, Landesinstitut für den Öffentlichen Gesundheitsdienst NRW (lögd),
Westerfeldstraße 35-37, 33611 Bielefeld, Tel 0521/8007-261, Fax: 0521/8007-202,
http://www.phgen.nrw.de/
Inhaltsverzeichnis
1. MEDIZINISCHE UND GESELLSCHAFTLICHE HERAUSFORDERUNGEN
DURCH GENETIK UND PUBLIC HEALTH GENETIK
1
2. ZUR NOTWENDIGKEIT EINER GESELLSCHAFTLICHEN DEBATTE
ÜBER PUBLIC HEALTH GENETIK
4
3. ETHISCHE GRUNDPRINZIPIEN
5
4. PUBLIC HEALTH GENETIK UND SOZIALE GERECHTIGKEIT
24
5. SOZIALETHISCHE PERSPEKTIVEN AUF PUBLIC HEALTH GENETIK
30
6. PRIORISIERUNGSREGEL BEIM GRUNDKONFLIKT
AUTONOMIERESPEKT VS. GEMEINWOHL(-PFLICHTIGKEIT)
7. AUSBLICK
33
36
Herausgeber:
Prof. Dr. phil. Hans-Martin Sass
Prof. Dr. med. Dr. phil. Jochen Vollmann
Prof. Dr. med. Michael Zenz
Zentrum für Medizinische Ethik Bochum,
Ruhr-Universität Bochum, Gebäude GA 3/53,44780 Bochum,
TEL (0234) 32-22749/50, FAX +49 234 3214-598
Email: [email protected]
Internet: http://www.medizinethik-bochum.de
Der Inhalt der veröffentlichten Beiträge deckt sich nicht immer mit der Auffassung des
ZENTRUMS FÜR MEDIZINISCHE ETHIK BOCHUM. Er wird allein von den Autoren
verantwortet. Das Copyright liegt beim Autor.
© Peter Dabrock, Peter Schröder
1. Auflage August 2006
Schutzgebühr: € 6,00
Bankverbindung:
Sparkasse Bochum Kto.-Nr. 133 189 035
BLZ: 430 500 00
ISBN:3-931993-52-3
PUBLIC HEALTH GEN-ETHIK
Peter Dabrock, Peter Schröder
1. MEDIZINISCHE UND GESELLSCHAFTLICHE HERAUSFORDERUNGEN
DURCH GENETIK UND PUBLIC HEALTH GENETIK
1.1. Auf dem Weg zur molekularen Medizin
Die Medizin entwickelt sich in rasantem Tempo von ihrer morphologischen und phänotypischen Orientierung hin zu einer molekularen und genotypischen Orientierung (vgl.
WHO 2002; Paul 2004; Feuerstein, Kollek, Uhlemann 2002; Brand et al. 2004). Neben der
Diagnose werden die Prognose und Prädiktion zu immer wichtigeren Aussagegrößen. Richtig
ist zwar, dass die Forschung noch lange im Grundlagenbereich verharren wird, dass sie entgegen früheren linearen Erwartungen („ein Gen verursacht eine Krankheit“) auf hochkomplexe
Krankheitsätiologien aufmerksam geworden ist (neben wenigen hochpenetranten monogenetischen Erkrankungen gibt es zahlreiche polygen und polymorph verursachte Krankheiten, wobei zudem unterschiedliche Umwelteinflüsse unterschiedlich wirken können. Daraus folgt,
dass durch die Wahrnehmung solcher komplexer Krankheitsverursachungen Prognose und
Prädiktion immer nur Wahrscheinlichkeitsgrößen sein werden. Dennoch werden nach derzeitiger Einschätzung diese Prädiktionen das Verständnis von Gesundheit und Krankheit und den
individuellen wie sozialen Umgang mit diesen Lebensführungsphänomenen nachhaltig prägen
und verändern.
1.2. Auf dem Weg zur Public Health Gen-Ethik
Nicht nur auf der individuumsbezogenen Ebene, sondern auch auf der Ebene der gesellschaftlichen Gesundheitsversorgung deuten sich – wenn auch noch sehr schemenhaft –
präzisere, schnellere, wirksamere, nebenwirkungsärmere Präventions-, Diagnose- und Therapiemöglichkeiten für Einzelne wie für bestimmte Patientenkollektive und bestimmten Umwelteinflüssen ausgesetzten Personen(-kreise) an (French, Moore 2003). Wahrscheinlich werden Menschen und Menschengruppen demnächst durch bestimmte Chip-Technologien
Prognosewerte über Krankheitsanfälligkeiten erhalten. Sensible Daten können zum Zwecke
von Gesundheitssystem- und Versorgungsforschung in unterschiedlichsten Formen von Biobanken gespeichert werden. Präventionsempfehlungen an betroffene Individuen und Bevölkerungssubpopulation können mit den ermittelten, gespeicherten und ausgewerteten Daten einhergehen. Diese mögliche Integration genetischen Wissens in die Aufgaben von Public
1
Health, also in die öffentliche Sorge um die Gesundheit aller durch öffentliche oder öffentlich
beauftragte Organisationen, nennt man Public Health Genetik.
1.3. Scheitern eindeutiger Handlungsstrategien aufgrund komplexer Risikokommunikation
Die in anderen Technikfeldern bewährte Technikfolgenabschätzung (Bora 1999;
Grunwald 2003) gerät dort, wo sie nicht nur an technischen, sondern auch an sozialen Folgen
der Implementation von Genetik in Klinik und Gesundheitsversorgung interessiert ist, auf
dünnen Boden. Denn das Verständnis von Risikokommunikation (vgl. Luhmann 1991; Japp
2000) wird in Zeit-, Sach- und Sozialdimension gleich massiv herausgefordert. So ist noch
spekulativ, wann es zu nachhaltigen medizinischen und Gesundheitsversorgungseffekten
durch Genetik kommt, so ist noch nicht sachlich und pragmatisch geklärt, wie weit genetische
Grundlagenforschung in die medizinische Genetik umgesetzt wird und wie man von humangenetischer Diagnostik zur prädiktiven Genetik und von dort zu individuums- bzw. kollektivbezogenen Handlungsstrategien kommt. Schließlich sind auf der sozialen Ebene die Risiken
der Kommunikation zwischen Experten und Laien zu berücksichtigen. Vermittlung, Einsicht
und Legitimität können derzeit (nur) aufgrund von Wahrscheinlichkeiten getroffen werden –
ob Befürworter oder Gegner dieser Entwicklung, niemand hat eine Alternative. In moraltheoretischer Tradition ist nur dort die vorsichtigere Alternative zu wählen (Tutiorismus), wo hohe
Güter auf dem Spiel stehen, die nicht durch Missbrauchseindämmung geschützt werden können.
1.4. Ängste und Befürchtungen gegenüber der molekularen Medizin
Aufgrund der komplexen Risikostruktur genetischer Informationen trifft diese insbesondere in Deutschland vor dem Hintergrund der hiesigen Geschichte auf geballte Zurückhaltung, Angst und Skepsis. So wird von nicht wenigen befürchtet, dass die zum Großteil keineswegs Sicherheiten, sondern nur Wahrscheinlichkeiten kommunizierende prädiktive Medizin zur Gefährdung der Privatsphäre, zu Stigmatisierungen und Diskriminierungen auf unterschiedlichsten Ebenen, in unterschiedlichsten Szenarien und gegenüber unterschiedlichsten
Gruppen führen kann. Befürchtungen betreffen Arbeits- und Versicherungsverhältnisse wie
die Reproduktion, die immer mehr von vermeintlichen „Perfektionsansprüchen“ geleitet werden könnte, wiewohl die überwältigende Zahl von Erkrankungen nicht unmittelbar nur genetisch, sondern immer auch und überwiegend durch Umwelt- und Verhaltenseinflüsse bedingt
ist. Aufgrund dieses prädiktiven Drucks sehen manche in der „Genetisierung“ der Gesell2
schaft eine neue, besonders perfide Form von biopolitischer Sozialdisziplinierung nicht nur
des Körpers, sondern auch unserer individuellen Lebensweisen wie unseres sozialen Miteinanders auf die Gesellschaft zukommen.1
Andere sehen in einem nach ihrer Auffassung obsoleten genetischen Determinismus
eine Hemmschwelle für eine breite gesellschaftliche Akzeptanz möglicherweise zukünftiger
Entwicklungen, die zu Überregulation führen und so medizinischen, ökonomischen und Public Health-Fortschritt gefährden.
1.5. Spezifische Konfliktfelder von Public Health Genetik
Neben den vielfach diskutierten, vornehmlich individuumsbezogenen Problemaspekten (vgl. 3.5) künftiger angewandter Genetik (Schutz der Privatsphäre, Vertraulichkeit, informed consent, Schutz vor Diskriminierung und Stigmatisierung) transportiert Public Health
Genetik weitere spezifische gesellschaftliche Herausforderungen, die alle um den möglichen
Konflikt zwischen individuumsbezogenem Autonomierespekt und gesellschaftlichen Gesamtnutzen oder Gemeinwohl gruppiert sind. Im Einzelnen gehören (Michigan Center for Genomics & Public Health o.J.) zu den Konfliktfeldern die folgenden: der spezifisch populationsbezogene Fokus gegenüber dem individualisierenden der traditionellen humangentischen Medizin, der mögliche Vorrang eines kollektiven Wohlfahrtsgedankens gegenüber der individuellen Autonomie, die mögliche Diskriminierung von Populationen, eine drohende Ausweitung
gesundheitlicher Ungleichheiten, der Streit um Verteilungsgerechtigkeit, die mögliche Begrenzung des Prinzips der informierten Zustimmung, der Streit um die Güter „individueller
Schutz der Privatsphäre“ vs. „Gruppenrechte“, neue strategische Herausforderungen für die
Gesundheitsversorgung, die Beachtung von kulturellen und rechtlichen Besonderheiten, wenn
bestimmte Gruppen untersucht werden, die Entwicklung von Kriterien öffentlicher Debatten,
eine Ethik unterschiedlicher Präventionsstrategien, das Abwägen der sozialen Vor- und
Nachteile von Public Health Genetik, die Bewahrung der Umwelt, das Verhältnis von Zwang
und Freiwilligkeit und der Gegensatz von genotypischer vs. phänotypischer Prävention.
1
Insofern diese meistens von Foucault beeinflussten Sozialtheorien die gesamte Moderne unter
solchen machtorientierten Diskurspraktiken sehen und im Grunde nie einen konstruktiven Ausweg
formulieren (Lemke 2000; Lösch 2001; Gehring 2006), nehmen sie bisweilen den Gestus einer geschlossenen Theorie ein. Positiv gewendet: so richtig es ist, auf implizite Machtmuster in Diskurspraktiken zu achten, so sehr muss man sich bewusst sein, dass es nicht um die Verhinderung, sondern nur
um die Kultivierung von Macht bspw. durch Transparenz, Zeit- und Kompetenzbeschränkung etc.
gehen kann; meistens stellen die protestkommunikativen Kritiker von Biotechnologie und -politik
jedoch nur ihre Kritik am vermeintlichen biopolitischen Syndrom vor, ohne darauf aufmerksam zu
machen, dass auch ihre Position nicht machtfrei und diskursiv disziplinierend daher kommt.
3
2. ZUR NOTWENDIGKEIT EINER GESELLSCHAFTLICHEN DEBATTE ÜBER
PUBLIC HEALTH GENETIK
2.1. „Man kann nicht nicht antworten“
Will man nicht einem kulturpessimistischen oder technikfeindlichen Fatalismus folgen, der aufgrund seiner Protest- und Verweigerungshaltung meistens nur denen in die Hand
spielt, die möglichst weit ihre ökonomischen Interessen durchsetzen wollen2, dann muss der
soziale Umgang mit individuumsbezogener wie Public Health bezogener Genetik in der Gesellschaft eingeübt und gestaltet werden. Dazu wird man zuvörderst fragen müssen, welche
Vorstellungen von gutem und gerechtem Leben auch in Zukunft prägend sein sollen. Gesellschaftliche Debatten sind von Nöten, in denen im Vollzug deutlich wird, dass eine verantwortliche Zukunftsorientierung einen kritischen Blick zurück voraussetzt. Auf diese Weise
kann aus den Quellen des Selbst und der Kulturen geschöpft werden, indem aus in ähnlichen
Kontexten begangenen Fehlern gelernt wird und bewährte Muster aufgegriffen werden, um
den kommenden Herausforderungen nicht haltlos gegenüber zu stehen. Allerdings geht in der
Regel ein solches Sich-Einlassen auf neue Situationen auch einher mit dem Eingeständnis,
dass Bewährtes durch neue Ansprüche seinerseits verändert wird, dass Gefundenes von daher
neu erfunden werden muss. Schmerzhafte Prozesse von Verlust lassen sich selbst beim Rückgriff auf Bewährtes kaum vermeiden. Die in Deutschland nicht nur, aber auch aufgrund geschichtlicher Erfahrung besonders ausgeprägte Skepsis gegenüber den Entwicklungen der
molekularen Medizin mag sich u.a. eben auch aus dieser Verlustangst heraus erklären.
Angesichts der Reserve gegenüber den Risiken des molekulargenetischen Fortschritts (vgl.
1.3-1.5) muss man sich aber ebenso Rechenschaft darüber ablegen, dass nicht nur Handlungen, sondern auch Unterlassungen verantwortet werden müssen. Neue Herausforderungen
können nicht nicht beantwortet werden. Auch die Unterlassung ist eine Antwort auf Herausforderung. Nun scheint es intuitiv so, dass Unterlassungsgebote weniger dramatisch wirken
als Handlungsverbote. Schließlich hat die Forschung bisher kaum Anwendungen auf der klinischen oder Public Health-Ebene aufweisen können. Aus diesem Umstand kann man leicht
ein Argument gegen die ohne Zweifel kostenintensive Grundlagenforschung zimmern und bei
prognostizierten Risiken daraus gemäß dem Grundsatz, im Zweifel die sichere Variante zu
wählen, ein Unterlassungsgebot folgern.
Solch eine Reserve gegenüber der Forschung stellt zunächst ein Einstellungsmuster
dar, das sich in Deutschland kulturell verdichtet findet. Diesseits berechtigter ethischer Reser2
Dieses Ziel ist im Übrigen nur dann unanständig, wenn elementare Güter anderer verletzt werden.
4
ven ist allerdings zu beachten, dass es nun einmal ein Grundprinzip echter Grundlagenforschung darstellt, dass das Ergebnis noch nicht im Vorhinein feststeht. Wenn mittel- und langfristige Prognosen erfolgreiche Entwicklungen, die nach heutiger Einschätzung zwar ethisch
bedenklich, aber nicht völlig verwerflich sind, als nicht völlig utopisch erscheinen lassen, gilt
es zudem ehrlich und selbstkritisch im Gedankenexperiment zu fragen, ob man diese Errungenschaften auch im Falle ihres Nutzens noch ablehnen würde. Die Medizinethik sieht in solchem potentiellem moralischen Trittbrettfahrertum zu Recht ein ethisches Problem und diskutiert es unter dem Stichwort der Komplizenschaft (vgl. Kissell 1999).
2.2.
Befähigung als notwendige Bedingung der gesellschaftlichen Debatte um Public
Health Genetik
Gerade weil die Forschung noch nicht anwendungsfähige Ergebnisse bereitstellt, kann
die Gelegenheit genutzt werden, in aller Ruhe eine öffentliche Debatte über sachliche, soziale
und zeitliche Chancen und Risiken der Gentechnik zu führen. Selten ergab sich in der neueren
Technikgeschichte eine derartige Gelegenheit, technische Entwicklungen bereits so frühzeitig
in ihrem Wohl und Wehe zu diskutieren und zu bewerten. So sehr Emotionen dabei eine Rolle
spielen dürfen, so wenig dürfen sie die Debatte vorrangig prägen. Deshalb muss Wert darauf
gelegt werden, dass diese Diskussionen durch Bildung und Förderung auf unterschiedlichsten
Ebenen intensiv vorbereitet werden.
Man mag an der Effizienz solcher öffentlicher Diskurse zweifeln. Ihr prognostiziertes
Ergebnis erscheint ferner unter Berücksichtigung vorhandener Erhebungen empirischer Sozialforschung durchaus offen. Dass durch die verschiedenen Formen öffentlicher Debatten überhaupt eine Öffentlichkeit entsteht, und sei sie unvermeidlich medial vermittelt und unter
solchen Bedingungen immer vielfältigen Interessen und Beeinflussungen ausgesetzt, ist ein
gesellschaftlicher Wert in sich. Deshalb erscheint nicht ein bestimmtes Ergebnis sozialethisch
geboten, sehr wohl aber eine öffentlich geförderte oder gewährte Bereitstellung von Foren,
die solche Debatten wirklich und nicht nur formal ermöglichen. Durchaus kontroverse Meinungsbildung erweist sich nämlich als öffentliches Gut einer zivilgesellschaftlich gebundenen, rechtsstaatlichen Demokratie.
3. ETHISCHE GRUNDPRINZIPIEN
Weil Public Health Genetik eine öffentliche Aufgabe des freiheitlich demokratischen
Rechtsstaats darstellt, dessen Grundlagen nicht suspendiert werden dürfen und sollen, muss
die ethische Reflexion mit den allgemeinen ethischen und rechtlichen Normierungen öffentli5
chen Zusammenlebens beginnen. Dabei decken sich manche mit den aus der individuumsbezogenen Humangenetik bekannten Problemen, anderen mit den normativen Implikaten aus
den allgemeinen Verfahrensregeln von Screeningverfahren; darüber hinaus ergeben sich spezifische normativ-ethische Herausforderungen aus dem geschilderten Aufgabenprofil von
Public Health Genetik.
3.1. Menschenwürde
In bioethischen Debatten wird die Menschenwürde zunehmend als ethische und rechtliche Zentralkategorie eingeschätzt (Deutscher Bundestag 2002). Dies gilt seit langem in
Deutschland so, wird aber zunehmend als ein europäisches Spezifikum gegenüber dem amerikanischen Bioethikdiskurs betrachtet (Häyry 2003). Aber auch dort gewinnt die Konzeption
zusehends an Bedeutung (The Report of the President’s Council 2002). Gerade ihr zunehmender Gebrauch in Fragen des Lebensanfangs (Gebrauch von Embryonen zu Forschungszwecken, Schwangerschaftsabbruch) und des Lebensendes (Hirntodkriterium und Sterbehilfe)
verdeutlicht jedoch die begrenzte Wirkung der Menschenwürde-Konzeption. So wird die relativ unstrittige Frage danach, was Menschenwürde meint, in der Bioethik zunehmend verdrängt durch die überaus strittige Vorfrage, wem Menschenwürde zukommt. Mit den neurologischen, reproduktionsmedizinischen und gentechnischen Möglichkeiten verschwimmen
nämlich die traditionellen, exakten Extensionsangaben für das Menschenwürde-Konzept. In
Frageform formuliert: Ist ein Hirntoter ein Toter oder ein Sterbender, kommt ihm Menschenwürde zu? Wäre dann nicht aber zumindest bei der Organtransplantation, die derzeit ja noch
vom Hirntodkriterium abhängt, die erweiterte Zustimmungslösung, ganz zu schweigen von
der Informations- oder der Widerspruchslösung, eine Würde-Verletzung und damit ethisch
abzulehnen? Will man aber diese Konsequenz ziehen? Oder man stelle die Kardinalfrage zum
Lebensbeginn: Ab wann ist der Mensch ein Mensch? Gibt es einen so offensichtlichen Einschnitt, dass man – in der einprägsamen Formulierung von Robert Spaemann, der diesen Einschnitt bekanntermaßen kategorisch ablehnt – einen Übergang von einem Etwas zu einem
Jemand konstatieren könnte (Spaemann 1996)? Sind Embryonen Würde-Träger oder nicht?
Ab wann jedoch wären sie es, wenn sie es nicht von Anfang an wären? Aber was ist der Anfang?
In Fragen von Public Health Genetik ist dem in der Regel nicht so. Auf diesem Feld
der Integration genetischen Wissens in Public Health-Ziele kann auf die ursprüngliche, wenig
umstrittene verfassungsrechtliche und fundamentalethische Intension von Menschenwürde
zurückgegriffen werden. In diesen Perspektiven versteht man unter Menschenwürde das, was
6
die Menschen einander keineswegs verletzten dürfen, anders formuliert, was jedem, und zwar
jedem einzelnen Menschen in seinen Sein und Mitsein wesentlich ist, was ihm unbedingt,
unverlierbar, unauslöschlich, unantastbar zu gelten hat (Dabrock et al. 2004; Geier, Schröder
2003). Trotz unterschiedlicher religiöser, theologischer, philosophischer oder weltanschaulicher Begründung kann man dann mit hohem Geltungsanspruch behaupten, dass es die Würde
eines Menschen verletzt, wenn wir ihn oder sie demütigen, ihn oder sie verzwecklichen, ihn
wie eine Sache behandeln und ihn oder sie als jemand misshandeln. In dieser nach Günter
Dürig als „Objekt-Formel“ bezeichneten Definition wird der Sinn der Menschenwürde erstrangig ex negativo, abwehrrechtlich bestimmt. Auf diese Weise entfaltet sie auch vordringlich
ihre normative Kraft im Bereich Public Health Genetik. Konkret heißt dies, dass aus der jedem Menschen zukommenden Menschenwürde (Art. 1 Abs. 1 GG) und dem daraus abgeleiteten allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 GG iVm Art. 1 Abs. 1 GG) jedem Menschen das Recht auf informationelle Selbstbestimmung zugesprochen wird (Bundesärztekammer 2003). Das schließt das Recht auf Wissen ebenso ein wie das Recht auf Nichtwissen.
Im Zeitalter des molekulargenetischen Wissens ergeben sich aus diesem formalen Recht jedoch spezifische ethische Konflikte und Kollisionen (Schröder 2004).
Wenn das in Deutschland (noch) nicht in Kraft getretene Menschenrechtsübereinkommen zur Biomedizin des Europarates in Art. 11 jede Form von Diskriminierung einer
Person aufgrund ihres genetisches Erbes verbietet und zudem in Art. 12 prädiktive genetische
Tests nur zu Gesundheitszwecken und für gesundheitsbezogene Forschung erlaubt, dann werden hier ebenfalls auch ohne explizite Nennung des Würde-Axioms die Grundwerte des Instrumentalisierungs- und Demütigungsverbot verteidigt. Allerdings liegt auch hier der Konflikt erst in der konkreten Identifikation der Situationen und Kriterien, wann Gesundheitszwecke erfüllt sind oder wann Forschung gesundheitsbezogen ist. Ob im Sinne eines signifikanten
gesellschaftlichen Gesamtnutzens Tests oder Forschung in das allgemeine Persönlichkeitsrecht eines Einzelnen auch nur in engsten Grenzen eingreifen dürfen, wird seit längerem in
Deutschland am Beispiel der fremdnützigen Forschung an Nichteinwilligen hochkontrovers
diskutiert und immer wieder mit Hinweis auf die NS-Vergangenheit mehrheitlich abgelehnt.
Sollte dieser moralische Heroismus zum nachhaltigen Schaden der Betroffenen selbst führen,
wird man auch diese Unterlassungen verantworten müssen. So wird wie so häufig im Bereich
der Bioethik deutlich, dass ihr eine gewisse kritische Selbstaufklärung über ihre eigenen
Kommunikationen gut täte. Deshalb folgen wenige Grundsatzüberlegungen über Leitunterscheidungen angewandter Ethiken, die für Normierungen und Bewertungen von Public Health
Genetik relevant erscheinen.
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3.2. Die sozialethische und zivilgesellschaftliche Grundunterscheidung zwischen Rechtem und Gutem
Ob bestimmte Techniken oder Verfahren sozial verantwortet werden können, hängt
von unterschiedlichen Bedingungen ab. Dies gilt auch für die ethische Einschätzung der möglichen Integration von Genetik in Public Health. Auf der rechtlichen und ethischen Grundlage
des Menschenwürde-Axioms und neben den noch näher darzulegenden allgemeinen und spezifischen Health Technology Assessment-Kriterien sind spezielle Kriterien angewandter Ethik
zu beachten. In der pluralistischen und funktional ausdifferenzierten Gesellschaft kann man
nicht davon ausgehen, dass ein allgemeiner breiter Konsens in Fragen nach Zielen und Präferenzen individueller und kollektiver Lebensführungen herrscht. Weil aber das Zusammenleben dennoch die gemeinsame Anerkennung elementarer Werte und Regeln voraussetzt, hat
sich in der politischen Philosophie die Unterscheidung zwischen Rechtem und Gutem etabliert (Rawls 1975; Forst 1994; Mack 2002; Gosepath 2004).
(Juristische und ethische) Normen des Rechten bringen zum Ausdruck, was sich Menschen mehr oder minder notwendig schulden bzw. zugestehen müssen, wollen sie auch ohne
gemeinsame Ziele friedlich nebeneinander leben. Ihre Anerkennung ist daher sowohl dem
Würde-Axiom wie dem Stabilitätsgrundsatz einer Gesellschaft verpflichtet. Über das moralisch Gerechte hinaus kann das juristisch Rechte die zu einer Zeit gültigen Normen mit Zwang
einklagen.
Vorstellungen des Guten dagegen formulieren Werte und Ziele von Individuen und
gesellschaftlichen Gruppen. Akzeptiert man diese in der Geschichte des liberalen, demokratischen Rechtsstaates halbwegs bewährte Grundunterscheidung, dann lassen sich für die Bewertung sozialethischer Konfliktfälle, zu denen auch die Abwägung der Chancen und Risiken
von Public Health Genetik zählt, verschiedene Regeln ableiten:
• Im Konfliktfall unterschiedlicher Auffassungen gibt es einen Vorrang des
Rechten vor dem Guten.
• Freiheit gilt so lange wie sie die Freiheit des / der Anderen nicht gefährdet.
• Gegenüber Ansprüchen partikularer Gemeinschaftsgüter, die nicht allgemein
verbindlich sind, ist zunächst die negative Freiheit jedes Einzelnen zu schützen.
• Gebote und Verbote sind rechtfertigungspflichtig, sofern sie nicht unmittelbar
einsichtig freiheitsgefährdende Handlungen verhindern sollen.
• Wegen des Vorranges der negativen Freiheit besitzen Unterlassungsgebote einen Vorrang vor zum aktiven Handeln auffordernden Handlungsgeboten.
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• Missbrauchseinschränkung im Einzelfall ist einem allgemeinen Verbot vorzuziehen.
• Rechtfertigungspflichtig ist seit der Neuzeit bewährterweise nicht das rechtmäßig erworbene Eigentum, sondern die damit keineswegs ausgeschlossene
Redistribution zum Zwecke der Wohlfahrtssteigerung der Gemeinschaft oder
einzelner Mitglieder der Gemeinschaft.
Sozialtheoretisch bedarf diese Grundunterscheidung zwischen Rechtem und Gutem
mit den daraus abgeleiteten Regeln jedoch einer ergänzenden Betrachtung (Mack 2002): Auch
wenn Rechtes und Gutes unterschieden werden müssen, so lassen sie sich nicht messerscharf
trennen. Was in der einen gesellschaftlichen Formation bereits als Gutes angenommen wird,
wird in anderen noch unter das Gerechte gefasst. Staatsziele oder Begriffe wie Solidarität,
Nachhaltigkeit oder angemessene Grundversorgung verdeutlichen, dass es zwischen dem unbedingt Einklagbaren einerseits und nur wertbasierten Zielen und Bindungen andererseits
Zwischenstufen gibt. Entsprechend kennt die politische Theorie solche Verpflichtungen, die
jedoch eine Wertdimension beinhalten. Man spricht von einer „schwachen Theorie des Guten“, von Grundgütern oder Konditionalgütern. Martha Nussbaum zählt dazu (keineswegs mit
dem Anspruch, eine erschöpfende Liste zu präsentieren) die Fähigkeiten, nicht frühzeitig sterben zu müssen, sich guter Gesundheit zu erfreuen, die Vermeidung unnötigen Schmerzes, die
Nutzung der eigenen Sinne und Gedanken, Bindungen einzugehen, Vorstellungen des Guten
zu entwickeln, soziale und umweltbezogene Beziehungen einzugehen, zu lachen, zu spielen,
Freude zu empfinden, selbstbestimmt zu leben (Nussbaum 1999; Nussbaum 2006).
Für das zivilgesellschaftliche Leben ist diese Einsicht in die Grauzone zwischen Rechtem und Gutem deshalb von enormer Bedeutung, weil sie einen gestaltungsnotwendigen wie
gestaltungsfähigen Spielraum lässt. Über ihn werden in der Gesellschaft Deliberationen geführt mit dem Ziel der Einigung oder zumindest Prüfung, welche gesellschaftlichen Grundwerte als verbindlich anzusehen sind. In solchen Diskursen wird bspw. von kontroversen
Ausgangspunkten darüber nachgedacht, welcher Umgang mit Behinderung und Behinderten,
mit sozial Schwächeren, mit Geschlechterrollen oder mit Familienbildern die gegenwärtige
oder die zukünftige Gesellschaft prägen soll. Findet sich ein halbwegs robuster Konsens, ist
ein intensives Bemühen um entsprechende Umsetzungsstrategien zu seiner Implementierung
angeraten, weil das dahinter stehende Ziel mehrheitlich gewollt ist.
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3.3. Zur Anwendung der Grundunterscheidung im Blick auf Public Health Genetik
Die allgemeinen Überlegungen zum Verhältnis von Rechtem und Gutem erhalten im
Bereich von Public Health Genetik eine unverkennbare soziale Sprengkraft. Auf der einen
Seite werden im Bereich privatwirtschaftlicher Unternehmungen zahlreiche z.T. nicht valide
oder wenig aussagekräftige Verfahren (z.B. Gentests) solange zugelassen oder zumindest im
globalen Kontext nicht verhindert werden können, wie ihnen nicht grobe Fahrlässigkeit, unlauterer Wettbewerb oder Sittenwidrigkeit nachgewiesen werden kann. Durch entsprechende
Marketingkampagnen werden Menschen beeinflusst, möglicherweise werden sie verunsichert
oder ihnen wird – was noch fataler ist – falsche Sicherheit vermittelt. Solange aber diese vermeintlichen Informationen nicht gegen die angesprochenen rechtlichen und sittlichen Minimalbedingungen verstoßen, ist jede einengende Regelung des freien Marktes in der Beweislast. Auf der anderen Seite, die hier vornehmlich interessiert, müssen öffentlich verantwortete
und empfohlene genmedizinische Maßnahmen sehr wohl auf ihre Performabilität, soziale Akzeptanz und ethische und rechtliche Richtigkeit befragt werden können. Insofern die Entwicklungen von Angebot und Nachfrage auf dem freien Markt ihrerseits Einfluss auf die möglicherweise überzogenen Erwartungen der Bürger an öffentliche Gesundheitsversorgungen haben werden, kommt der öffentlich geförderten Gesundheitsmündigkeit (health literacy) im
Umgang mit genetischer Information eine enorme Bedeutung zu (Sass 2003; Sass 2006). Gerade angesichts der noch so unsicheren, schwer prognostizierbaren Entwicklungen besteht
durchaus ein ethisch gebotener, öffentlicher Bildungsauftrag von Public Health Genetik darin,
die Bürger zur eigenverantwortlichen Entscheidung überhaupt erst zu befähigen. Über das
Gut öffentlicher Debatten hinaus
(vgl. 2.3) geht es bei der Befähigung in diesem Fall darum, eine gerechte Bedingung zur Verfolgung eigener Vorstellungen von Gutem bereitzustellen.
Daher mag auf der Schwelle von Rechtem und Gutem in solchen, von unterschiedlichen
Vorstellungen des Guten geprägten Debatten darüber kontrovers debattiert werden,
•
ob durch Public Health Genetik das Verständnis der Gesellschaft von Solidarität, Freiheit und Gleichheit im Umgang mit Gesundheit und Krankheit verändert wird,
•
ob durch die Berücksichtigung eines genetischen Risikobegriffs das Verhältnis von
Solidarität und Eigenverantwortung in der Sozialpolitik neu bestimmt werden muss,
•
ob wir uns von daher immer mehr zu einer Gesellschaft ungleicher Risikogruppen
entwickeln und wie diese neue mögliche Ungleichheit operationalisiert werden soll.
In jedem Fall ist bei geplanten rechtlichen Regulierungen der Vorrang des Rechten vor
dem Guten zu berücksichtigen. Zugleich darf nicht aus dem Auge verloren werden, dass das
10
Rechte in ethischer Perspektive nur dann das Gerechte bleibt, wenn es den Bürgerinnen und
Bürgern (und nicht nur einflussreichen Lobbygruppen) die Möglichkeit bietet, auf die jeweilige kulturelle Gestaltung des Rechten Einfluss zu nehmen. Diese Einflussnahme setzt ihrerseits die Möglichkeit der Informationsgewinnung wie Kommunikationsbefähigung voraus.
3.4. Mittlere Axiome
Auf der rechtsstaatlichen Schwelle von Rechtem und Gutem benötigt man auf der Suche nach einem gesellschaftlichen overlapping consensus kriteriale Mindestbedingungen.
Neben der Menschenwürde-Konzeption und der formalen Grundunterscheidung von Rechtem
und Guten dienen dabei vor allem die sogenannten Mittleren Prinzipien. Sie artikulieren Standards der Bestimmung des Gerechten, das bei unterschiedlichen Vorstellungen des Guten
vorausgesetzt werden muss, wenn man gesellschaftlich bioethische Konfliktfelder zu gestalten sucht. Entsprechend hat auch eine Ethik für Public Health Genetik sie zu berücksichtigen.
Bis in die zweite Hälfte des letzten Jahrhunderts gab es kaum methodologische Bemühungen zu ergründen, was (bio-)medizinische Ethik oder Ethik des Gesundheitswesens sein
oder wie sie betrieben werden sollte. Ethische Kodizes wurden innerhalb der medizinischen
und pflegerischen Professionen erstellt. Generaliter ging es darum, die Gesundheit des Patienten zu fördern und gesundheitlichen Schaden zu minimieren. Durch publik gewordene moralische Vergehen in der medizinischen Forschung (z.B. die Tuskeegee Syphilis Studie, ganz zu
schweigen von den Verbrechen nationalsozialistischer „Forscher“ im Dritten Reich) wachgerüttelt, begann eine explizite systematische Auseinandersetzung mit ethischen Grundlagen für
Medizin und biomedizinische Forschung. Eine zentrale interdisziplinäre Kommission, die
1974 gebildet wurde, um der gesteigerten Nachfrage nach ethischer Leitung zu entsprechen,
war die US-amerikanische National Commission for the Protection of Human Subjects of Biomedical and Behavioral Research. In dieser Kommission kristallisierte sich der Wunsch
heraus, eine allgemeinverständliche gemeinsame Sprache für Ethik der medizinischen Forschung zu finden. In Prinzipien fand man Vokabular, das dieser Anforderung gerecht werden
kann.
Der bei der Erstellung des Abschlussberichts – der später als The Belmont Report bekannt wurde – federführende Philosoph dieser Kommission war Tom Beauchamp. Beauchamps Arbeit für die Kommission verlief parallel zu seiner universitären Zusammenarbeit
mit James Childress. Als Ergebnisse wurden kurz hintereinander der Belmont Report (1978)
mit den Prinzipien „respect for persons“, „beneficence“ und „justice“ und die erste Auflage
des von Beauchamp und Childress geschriebenen Buchs Principles of Biomedical Ethics
11
(1979) veröffentlicht. In diesem Buch wird „respect for persons“ zuerst als „autonomy“ und
später als „respect for autonomy“ interpretiert und als zusätzliches Prinzip zu „beneficence“
und „justice“ noch „nonmaleficence“ geführt. Principles of Biomedical Ethics liegt derweil in
der fünften Auflage vor (Beauchamp, Childress 2001) und gehört zu den einflussreichsten
bioethischen Werken, das neben seiner akademischen Wirkung auch als praktisches Lehrbuch
explizite Anwendung und Zuspruch erfährt. Die in diesem Buch zuerst so explizierten Prinzipien prägen seitdem bioethische Diskurse und dienen auch als Instrumentarium in Bewertungen von Public Health und Public Health Genetik relevanten Berichten (Droste, Gerhardus,
Kollek 2003). Häufig wird der Ansatz allerdings auch auf die Nennung der vier Prinzipien
reduziert. An diesen Aspekt knüpft Kritik an, mit der sich auseinandersetzen muss, wer politikberatende Berichte, die sich auf mittlere Prinzipien stützen, verfasst.
Bernard Gert, K. Danner Clouser und Charles Culver bemängeln beispielsweise eine
in der Praxis häufig beobachtete dogmatische Akzeptanz und unreflektierte Anwendung der
vier Prinzipien. Ihnen erscheinen Beauchamp und Childress’ Prinzipien lediglich wie Checklisten, unfundierte Faustregeln oder sogar nur Erinnerungshilfen, da ihrem Ansatz keine umfassende ethische Theorie zugrunde liegt (Gert, Culver, Clouser 1997). Prinzipiismus („principlism“) ist ein Ansatz, definieren Gert et al., der Prinzipien in den Mittelpunkt stellt, ohne
eine Theorie vorzuweisen, aus der diese abgeleitet werden. Hier wird einem Anthologie Syndrom stattgegeben, in dem die Prinzipien unverbunden nebeneinander stehen, wodurch moralisches Denken undeutlich dargestellt und die Anwendbarkeit von Prinzipien unmöglich wird.
Beauchamp und Childress argumentieren, dass man bioethische Prinzipien nicht allein
aus einer Theorie generieren kann. Für sie ist es eindeutig, dass eine prinzipielle Übereinstimmung über ethische Normen auf der Generalisierungsstufe von Prinzipien geschehen
kann, unbesehen möglicher Hintergrundtheorien, die ohnehin erst nachträglich von den Theoretikern konstruiert werden, um ihre moralische, prinzipielle Überzeugung zu rekonstruieren.
Dass sich Menschen auf Prinzipien einigen können, postulieren Beauchamp und Childress, ist
aufgrund der Normen der „common morality“ möglich, die man sich wie eine „initial shared
data base” aller Menschen vorstellen muss. Letztlich ist es auch für den Bereich der „public
policies“ – und so auch für das konkrete Anliegen, moralische Eckpunkte für die Implementierung von Genetik in die Zielvorstellungen von Public Health festzusetzen – nur notwendig,
dass man eine Übereinstimmung über Prinzipien hat und nicht über die Hintergrundtheorien.
Insofern ist für Beauchamp und Childress diese mittlere Axiomatik für die Anwendung durchaus ausreichend und eine vielversprechende Ausgangsbasis, die zudem eine weltanschauliche
Offenheit in Bezug auf ethische Begründungen respektiert.
12
Dass Beauchamp und Childress Prinzipien fokussieren, liegt also an ihrer Überzeugung, dass Prinzipien auf einem abstrakten Niveau die generellsten und umfassendsten moralischen Normen darstellen. Prinzipien sind für Beauchamp und Childress prima facie gültig.
Das bedeutet, dass sie nicht absolut gelten, sondern abgewogen werden können. Wenn aber
kein gewichtiger Grund dagegen spricht, gelten sie. Mit dieser moralpragmatischen Regel
wird natürlich keine moraltheoretische Begründung geliefert, aber in heuristischer und genealogischer Perspektive die Beweislastigkeitsfrage moralischer Bewertung, aber auch die Frage
nach der semantischen Füllung der jeweiligen mittleren Prinzipien gestellt. Ihre Prinzipiengruppe stellt einen Rahmen dar, innerhalb dessen man moralische Probleme identifizieren und
über diese reflektieren kann. Dieser Rahmen aus prima facie Prinzipien ist inhaltlich noch
nicht besonders gehaltvoll. Diese Prinzipien sind noch „dünn“ und an sich nicht fähig, die
moralisch relevanten partikularen Nuancen konkreter Umstände kontextsensibel zu adressieren. Es können zwei Strategien angewandt werden, um Prinzipien stärker oder „dicker“ zu
machen: „balancing“ und „specification“. „Specification“ bedeutet, den Geltungsbereich der
jeweiligen Norm zu verfeinern. Und „balancing“ meint eine Gewichtung der Normen. Im
„balancing“ werden die Normen, die nur ein relatives Gewicht haben, gegeneinander abgewogen. Diese Konfliktlösungsstrategie ist besonders zentral für die Erörterung von Einzelfällen. Spezifikation sehen Beauchamp und Childress hingegen als besser geeignet für die Entwicklung von politischen Handlungsstrategien, weil hier aus den abstrakteren Normen – also
beispielsweise den vier Prinzipien – Regeln konkretisiert werden. Die Spezifikation muss so
geschehen, dass sie mit den anderen Normen noch kohärent ist. Hierbei werden möglicherweise konfligierende Normen so lange ausdifferenziert, bis der konkrete Konflikt gelöst ist. In
einzelnen Fällen würde also ein spezifiziertes Prinzip in seiner Ausformulierung die anderen
Prinzipien mit berücksichtigen – beispielsweise indem diese das Prinzip flankieren oder „in
check“ halten. Die Spezifikation von Prinzipien ist nach Ansicht von Beauchamp und
Childress besonders geeignet, um Leitlinien zu erstellen, weil hier generelle Normen für konkrete Konfliktfelder ausdifferenziert werden. Von europäischen Kritikern wird angemerkt,
dass andere Prinzipien, die besonders in Europa gewachsen sind – wie bspw. Solidarität oder
Verletzlichkeit – und auch Tugenden bei Beauchamp und Childress nicht hinreichend berücksichtigt werden bzw. anstelle von Prinzipien fokussiert werden sollten. Letztlich, so scheint
es, obliegt es aber auch einer Interpretation der Prinzipien, was diese jeweils bedeuten (je
nach Interpretation resp. Spezifikation können Solidarität und „justice“ oder Verletzlichkeit
und „beneficence“ synonym gebraucht werden). Eine sic et non Entscheidung, entweder auf
„europäische“ Prinzipien oder die von Beauchamp und Childress zu rekurrieren, wäre ein
13
Dogma der gegenseitigen Ausschließlichkeit, das für Fortschritt im bioethischen Diskurs wenig hilfreich ist (Häyry 2003).
In jedem Fall darf der Rekurs auf mittlere Prinzipien nicht darüber hinweg täuschen,
dass die Gesellschaft als ganze sowie durch ihre Bürger, Bürgergruppen, aber auch Interessensverbände vor der Aufgabe steht, den hinter den mittleren Prinzipien stehenden moralischen Vorstellungen wie wohlüberlegten moralischen Urteilen konkretes Leben einzuhauchen. Zu dieser anzuerkennenden Lebendigkeit gehört dann aber auch die Anerkenntnis, dass
bisweilen trotz „specification“ und „balancing“ der einzelnen Prinzipien es zwischen ihnen zu
tief greifenden Konflikten kommen kann (Leist 1998, 768; Dabrock 2002; Dabrock 2005a).
Dennoch helfen die so verstandenen mittleren Prinzipien, im Dickicht angewandter Ethik zur
nicht unerheblichen Vorklärung, einen „overlapping consensus“ in einer pluralen Gesellschaft
zu finden. Zu ihrem neuzeitlichen Kern zählt dabei vor allem der Autonomierespekt. Entsprechend verwundert seine Bedeutung für Public Health Genetik nicht.
3.5.
Normative Implikate für Public Health Genetik aus der individuumsbezogenen
Humangenetik
3.5.1. Autonomierespekt durch Informed Consent
Mit der Betonung auf „Autonomie“ und Autonomierespekt wurde ein medizinethisches Anliegen verfolgt, das in der Etablierung des Instruments des „informed consent“ in
medizinischer Praxis und Forschung eine ihrer wichtigsten Ausprägungen hat.
Das Ziel des „informed consents“ ist es, Patienten oder Probanden über Verfahren und Risiken von medizinischen Interventionen hinreichend zu informieren, damit diese wohlinformiert einer Behandlung oder einem Versuch, dessen Chancen und Risiken sie mit Hilfe eines
Arztes abschätzen können, aufgeklärt zustimmen. Nach einer informierten Zustimmung soll
diese Entscheidung als aufgeklärt und selbstbestimmt, als freiwillig angesehen werden können. Die dahinter liegende Idee ist es, die Fähigkeit zur Selbstbestimmung („Autonomie“) der
Person zu respektieren und mit diesem Modell dem Wandel einer paternalistischen Arztethik
zu einer die Würde des Patienten/Probanden respektierenden Ethik zu vollziehen. Man könnte
die Notwendigkeit, einen „informed consent“ vor substantiellen Interventionen einzuholen,
als eine Spezifikation des Autonomierespekt-Prinzips beschreiben.
Bedingungen für einen sinnvollen und effektiven „informed consent“ sind die Fähigkeiten des betreffenden Probanden oder Patienten, die Reichweite eigener Entscheidungen
absehen und die Möglichkeit freiwillig entscheiden zu können. Der Arzt muss in einem Aufklärungsgespräch die Informationen offen legen und erklären, die für die geplante Interventi14
on relevant sind – wobei diese Relevanz sicherlich von Arzt zu Arzt verschieden interpretiert
wird: Ab welcher Wahrscheinlichkeit sind Risiken wichtig zu kommunizieren? Welche Informationen verunsichern den Patienten so sehr, dass der therapeutische Nutzen einer Intervention fragwürdig wird?
Ferner sollte der Arzt, so wird oft gefordert, dem Patienten einen Plan vorschlagen, wie in
seinem Fall vorzugehen ist. Dies ist im therapeutischen Arzt-Patienten Verhältnis sicherlich
von anderer Bedeutung als im Verhältnis von Forscher zu Proband. Die dem Patienten bzw.
Probanden gegebenen Informationen müssen sodann von diesem verstanden werden, soll ein
gültiger „informed consent“ stattfinden. Nur dann kann der Patient oder Proband sich autonom für die Intervention entscheiden, den behandelnden Arzt oder Forscher autorisieren und
so letztlich die informierte Zustimmung geben (Beauchamp, Childress 2001; Faden, Beauchamp, 1986, S. 235ff). Hier sind Elemente beschrieben, die – wenn sie erfüllt werden – einen
„validen“ „informed consent“ darstellen. Ob diese Validität zumindest im therapeutischen
Verhältnis immer erreicht wird, darf bezweifelt werden, befindet sich doch ein Patient oft in
großer Not und möchte dem Arzt einfach vertrauen. „Machen Sie, was Sie tun würden, wenn
Sie an meiner Stelle wären!“ ist vermutlich ein oft gehörter Satz, weil das Vertrauen in die
Kunst des Arztes integratives Element der Arzt-Patient Beziehung ist. Trost, Selbstvertrauen
und klare Handlungsanweisungen durch den Arzt sind häufig wichtige und gesuchte Kommunikationsformen.
Aber es gibt auch Kritik am „informed consent“, der man sich für eine mögliche Nutzung
eines „informed consent“ in Public Health Genetik stellen muss. Der „informed consent“ erscheint für Kritiker vielmehr wie ein ritualisierter Vertrauensbeweis des Patienten gegenüber
dem Arzt als eine wirkliche, faktische Einwilligung nach Aufklärung (vgl. die Diskussion in
Tauber 2003).
Gesunde Personen treffen Vereinbarung eher in der Sprache der „Verträge“. Warum
sollten gesunde Personen, die in Interaktion treten, also nicht „informed contracts“ etablieren,
statt sich des Instruments des „informed consent“ zu bedienen? Der „informed consent“ etabliert einen stillschweigenden (Behandlungs-)Vertrag. Warum diesen nicht explizieren? In der
genetischen Forschung treffen sich häufig Gesunde, die ein partnerschaftliches Abkommen
schließen können. Natürlich muss ein „informed contract“ die auf für einen „informed consent“ grundlegenden Bedingungen wie Freiwilligkeit und Offenlegung aller relevanter Informationen erfüllen.
Bietet ein „informed consent“ zumeist nur die Möglichkeit der Aufklärung und Zustimmung (O’Neill 2002), also der Wahl eines „Alles oder Nichts“, liegt es im Wesen eines
15
Vertrags, Details festzulegen und gegebenenfalls sogar auszuhandeln. Da die Probanden solcher genetischer Studien oft gesund sind, bietet sich für diese mehr Zeit zur Reflexion und
freien Entscheidung. Individuell könnte ausgemacht werden, ob Spender über mögliche genetische Ergebnisse, die individuell für sie interessant sein könnten, informiert werden.
Auch hat der „informed consent“ selten die Möglichkeit eingeräumt, dass es Möglichkeiten gibt, die in der Forschung gewonnenen Gewebe und Daten für verschiedene, auch noch
nicht festgelegte Zwecke über längere Zeiträume zu speichern und zu verwenden. Diesem
Aspekt, dass man gewisse Gewebeproben schon aus frühen, alten Studien besitzt, aber nicht
weiß, wie oder ob man diese nutzen darf, weil speziell hierfür kein „informed consent“ vorliegt, kann man in einem Kontraktmodell besser begegnen. Der mögliche Nutzen, der sich für
Proband und seine Familie aus der Forschung ergeben würde, ist bisher selten im „informed
consent“ berücksichtigt worden (Sass 2001; Sass 2006). Die beiden Vertragspartner können
die Verträge individuell gestalten. In den Verträgen können sie festlegen, ob oder was Probanden wissen möchten oder ob von den Probanden Interaktion der Forscher in der weiteren
Familien gewünscht wird oder nicht. In einem Vertrag können beide Seiten ihre Rechte und
Pflichten besonders gut definieren.
3.5.2. Autonomierespekt durch Vertraulichkeit
3.5.2.1. Datenschutz, Schweigepflicht
Im Bewusstsein, dass eine „Schweigepflicht des Arztes“ besteht (rechtlich festgeschrieben in § 203 StGB), geben sich die meisten Patienten heutzutage zufrieden, um ein vertrauensvolles und offenes Verhältnis zu ihrem Arzt zu pflegen. In der Regel haben sie keine
Angst, dass sie stigmatisiert oder gesellschaftlich gar ausgeschlossen werden, wenn sie wegen
tabuisierter Krankheit oder Symptome (zum Beispiel Hämorrhoiden, Verletzung aufgrund
ungewöhnlicher sexueller Praktiken oder Fußpilz) bei ihrem Arzt waren. Dass die gewonnenen und dokumentierten Informationen, seien sie direkt gesundheitsbezogen oder familiärsozialer Natur, dabei das intime Verhältnis von Patient und Arzt verlassen, wird oftmals übersehen. Praxismitarbeiter, Apotheker, weitere Ärzte und Pflegepersonal erhalten Einblick in
diese Informationen, wenngleich sie die Informationen auch vertraulich handhaben sollen.
Für Macklin hat die Annahme, dass genetische Informationen vertraulich behandelt
werden sollen, zwei Grundlagen. Eine Grundlage findet diese Annahme darin, dass in westlichen Kulturkreisen die Privatsphäre geachtet wird. So ist es relativ unproblematisch, wenn der
Arzt intime Fragen stellt. Die zweite Grundlage dieser Annahme sieht Macklin in der Rolle
16
des Arztes und des Zwecks des Arztbesuchs, dem Patienten zu helfen, also dem Prinzip „beneficence“ zu folgen (Macklin 1992).
Es scheint entsprechend nicht unplausibel zu folgern, dass die Schweigepflicht des
Arztes und der Datenschutz, so wie es für bisherige medizinische Informationen galt, auch für
genetische Informationen aufrecht erhalten wird – und andere Personen einschließt, die die
Ergebnisse genetischer Diagnostik erfahren (beispielsweise Labormitarbeiter). Diese Personengruppen können ggf. auch explizit in den Personenkreis aufgenommen werden, den § 203
StGB festschreibt (Deutscher Bundestag 2002).
Ärztliche Schweigepflicht und Datenschutz müssen vermutlich für den Bereich der
genetischen Intervention nicht strenger reguliert werden als bei anderen medizinischen Interventionen. Datenschutz, Schweigepflicht und Respektierung der Privatsphäre allein können
aber nicht die Lösung aller Informationsprobleme für die Konfliktbereiche der genetischen
Information sein (Schröder 2004). Einige Herausforderungen werden im Folgenden gezeigt.
3.5.2.2. Datenübermittlung zu Partnern und Verwandten
Die Schweigepflichtproblematik ist ein Thema der Bioethik seit den frühen Tagen dieser Disziplin. Prominent diskutiert wurde der „Tarasoff Fall“, in dem der Student Prosenjit
Poddar seine Kommilitonin Tatiana Tarasoff nach Vorankündigung bei seinem Psychologen
Lawrence Moore, der Tarasoff nicht warnte, tötete.
Schweigepflicht, Datenschutz und medizinische Informationen treffen im familiären
Kontext, der für die Genetik als Lehre von der Vererbung natürlich von besonderer Wichtigkeit ist, in verschiedenen Konfliktfeldern zusammen. Soll ein Hausarzt einer unwissenden
Ehefrau sagen, dass sich ihr Ehemann mit HIV infiziert hat? Wo ist die Grenze der Vertraulichkeit medizinischer Informationen? Wann ist das Potential der Drittschädigung so groß,
dass diese Informationen weitergegeben werden müssen und gegen das Selbstbestimmungsrecht der einzelnen Person verstoßen werden kann? Dass dies nur im äußersten Einzelfall geschehen kann, ist allein deshalb offensichtlich, weil ansonsten das notwendige Vertrauensverhältnis von Patient zu Arzt unterwandert und ausgehöhlt würde und ganze gesundheitssystemische Institutionen in Frage gestellt würden. Dass diese Weitergabe von Informationen noch
nicht gerechtfertigt ist, wenn es darum geht, im Einzelfall einem Betrieb oder einer Versicherung bessere Bilanzen zu verheißen, scheint plausibel.
Es gibt empirische Hinweise, dass im Bereich der genetischen Prädiktion Betroffene
dazu tendieren, ihr genetisches Wissen generell den anderen Familienmitgliedern mitzuteilen
(Smith, Croyle 1995). Somit kann Information innerhalb der Familie als Stigmatisierungs17
und Diskriminierungsgrundlage dienen. Ein Verweis auf die Möglichkeit, den Status „einfach“ nicht weiter zu sagen, scheint eher für Ausnahmefälle zuzutreffen. Auch ist es im Einzelfall durchaus sinnvoll – ja vielleicht sogar moralisch geboten –, anderen Familienmitgliedern von einem genetischen Status zu erzählen, damit diese entscheiden können, wie sie mit
ihrem persönlichen Risiko umgehen. Vielleicht können aufgrund der Informationen Präventionsmaßnahmen folgen oder Lebenspläne geändert werden.
Mit der Möglichkeit der genetischen Prädiktion wird es entsprechend auch Problemsituationen im Zusammenhang mit der Schweigepflicht geben. Eine Motivation für eine Person,
ihr Wissen über ihre Prädisposition nicht an relevante Verwandte weiter zu geben, kann die
Angst vor Exklusion, Vorwürfen, Stigmatisierung und Diskriminierung innerhalb der Familie
sein. Eine Frage in diesem Kontext ist dabei, wann es geboten erscheint, seine „Privatsphäre“
mit anderen zu teilen. Zimmerli beantwortet diese Frage wie folgt: „It is quite obvious that
every human being has a moral right to preserve his/her genetic privacy, at least to the same
extent as he/she has the right to preserve his/her social privacy. However, it is equally obvious
that nobody should be entitled to claim genetic privacy if somebody else, and/or a higher
value, would be seriously endangered by it. On the basis of this we already see that genetic
privacy is not an unconditionally defendable ‚categoric’ good. Given, for example, that
knowledge about the genetic constitution of a given person could help to protect other people,
or to prevent the person concerned from committing criminal acts, it would not be sufficient
to claim individual genetic privacy.“ (Zimmerli 1990, S. 96; HiO)
Konfliktfälle können auftreten, wenn der behandelnde Arzt oder Berater erkennt, dass
gegen die Interessen eines Verwandten oder Partners vehement verstoßen werden. Soll der
Arzt jemandem sagen, dass er im Risiko zu einer Krankheit steht, die man gegebenenfalls
positiv beeinflussen kann? Dürfen Kinder testen, wenn Eltern ihren Status nicht wissen wollen? Abgesehen von den plausiblen moralischen Ausführungen, die Zimmerli darstellte, stellt
sich die Frage, wie diese Konflikte rechtlich gelöst werden können. Hier besteht Diskussionsund Handlungsbedarf, denn diese Konfliktfälle von Schweigepflicht auf der einen Seite und
Schadensverbot und Chancengleichheit auf der anderen Seite werden sehr häufig in Stellungnahmen oder „Policy Papieren“ nicht berücksichtigt.
Hier hat der Schweizer Gesetzvorentwurf „Bundesgesetz über genetische Untersuchungen beim Menschen“ eine Differenzierung und institutionelle Möglichkeit explizit berücksichtigt, wie mit solchen Konfliktfällen umgegangen werden kann. Es wird vorgesehen,
dass Ärzte in Konfliktsituationen eine Entbindung vom Berufsgeheimnis bei einer kantonalen
Behörde beantragen können, um überwiegende Interessen von Verwandten oder (Ehe18
)Partnern zu wahren. Die Behörde hat die Möglichkeit, eine Expertenkommission zur Beratung zu hören (Die Bundesversammlung der Schweizerischen Eidgenossenschaft 2002).
3.5.2.3. Datenübermittlung zu Versicherungen und Arbeitgebern – Das Beispiel gendiagnostischer Prädiktion
Wenn sich Gendiagnostik bevölkerungsbezogen ausweitet, werden Konflikte mit Versicherungen und in der Arbeitswelt virulent. Die Initiative „1000 Fragen“ hat im Zusammenhang mit postnataler genetischer Prädiktion eine Frage zum Versicherungswesen auf einem
Plakatmotiv dargestellt. Die Frage, die M.S. aus Wetzlar zugeordnet wird, lautet: „Will ich
alles wissen oder nur meine Versicherung?“3
Der Versicherer will – so versichern uns Versicherer (vgl. Regenauer 2001) – nicht
unbedingt alles wissen (und wenn er wollte, dürfte er auch nicht alles wissen). Der Versicherer will nur wissen, was der Versicherungsnehmer auch weiß, um eine faire Wissensparität zu
bekommen. Da der Versicherer aber nicht immer wissen kann, was der Versicherungsnehmer
weiß, ergeben sich Probleme. Wer selbst nichts über seinen genetischen Status wissen will,
muss eventuell in Kauf nehmen, eine Versicherung nicht oder nur mit Risikoausschluss zu
bekommen. Diese Einschränkungen gelten aber nicht nur für Gentests im Kontext der Versicherungen, sondern auch bei der Risikobewertung eines Versicherungsbewerbers für Cholesterinspiegel, Bluthochdruck und für die versicherungsmathematische Einschätzung anderer
Risikofaktoren (von Beruf bis Lebensstil). Dies erscheint solange mit einem gerechten Versicherungssystem vereinbar, solange eine Grund(ver)sicherung jedem Menschen garantiert ist,
die ihm eine Freisetzung der Handlungsfähigkeit und „Befähigung zu einer längerfristig integral-eigenverantwortlichen Lebensführung zum Zwecke der Teilnahmemöglichkeit an sozialer Kommunikation“ (Dabrock 2001, S. 206; HiO; Dabrock 2005b) ermöglicht. So wäre die
Nutzung von Gendiagnostik beziehungsweise die Einbeziehung ihrer Ergebnisse in die medizinische Risikofaktorenabschätzung der privatwirtschaftlichen Versicherer gerechtigkeitstheoretisch zulässig, solange eine Sozialversicherung beziehungsweise gesicherte Privatversicherung Befähigung absichert.
Im Bereich der Arbeitswelt ist nach weiterer Verbreitung prädiktiver Gendiagnostik
folgendes Szenario denkbar: Ein Bewerber legt ein Gesundheitszeugnis vor, aus dem hervorgeht, dass er für keine spätmanifesten Krankheiten oder Suszeptibilitäten prädispositioniert ist
oder dass er andere „gute Gene“ hat. Ein Mitbewerber will aber kein solches Zeugnis vorlegen. Wie sollte der Arbeitgeber mit einer solchen Situation umgehen (dürfen)? Der Arbeits3
http://www.1000fragen.de/index.php?mo=4&pt=3&pi=25
19
platz, um den sich die Bewerber bemühen, bedeutet kein Sicherheitsrisiko bei einem Krankheitsschub oder -ausbruch. Es ist auch kein Beruf, in dem man mit bestimmten arbeitsplatzspezifischen Stoffen, die bei bestimmten Menschen krankheitswertige Reaktionen hervorrufen
können, in Berührung kommt. In einem solchen Fall darf der Arbeitgeber wohl nicht verlangen, seine Arbeitnehmer zu testen, oder gendiagnostische Informationen, die vom Arbeitnehmer vorgebracht werden, verwenden. Eine Möglichkeit wäre, dem Arbeitnehmer mit dem
Gesundheitszeugnis gesetzlich zu verbieten, dieses vorzuzeigen, wohingegen der Arzt, der
den Arbeitnehmer auf seine Eignung untersucht, später nur seine arbeitsplatzspezifische Eignung überprüft.
Dem Amts- oder Betriebsarzt kommt daher in Zukunft wohl generell eine neue, besondere Verantwortung zu: Er muss wissen, ob relevante Prädispositionen – um die er vom
Arbeitnehmer weiß – ein berufsbezogenes Sicherheits- oder Gesundheitsrisiko ausmachen. Ist
dies der Fall, kann er dem Arbeitgeber die Einstellung nicht empfehlen; der Arbeitnehmer
sollte aber die Chance erhalten, durch einen Gentest eine mögliche Nichtbetroffenheit nachzuweisen, durch die das Wissen um das familiäre Risiko gegenstandslos wird. Sollte das Ergebnis negativ ausfallen, die Person aber trotzdem aufgrund dieses „Gesundheitsrisikos“ nicht
eingestellt werden, läge hier eine klare Diskriminierung vor. In dieser Hinsicht ist diese Untersuchungsmethode nur eine Weiterführung bisheriger Methoden.
In Fällen dagegen, in denen kein Gesundheits- oder Sicherheitsrisiko an dem zur Disposition stehenden Arbeitsplatz besteht, muss der Betriebsarzt das Wissen um die Prädisposition des Bewerbers für sich behalten und kann „grünes Licht“ für die Einstellung geben. Die
Gesundheitsinformationen, die der Betriebsarzt gewonnen hat, müssen vor dem Arbeitgeber
vertraulich behandelt werden. Vergessen werden darf aber nicht, dass für Arbeitnehmer Gendiagnostik vor der Einstellung prinzipiell auch Chancen darstellen kann: „Insgesamt können
genetische Analysen bei sinnvollem Einsatz eine wertvolle Hilfe für die Berufs- und Lebensplanung sein.“ (Hennen et al. 2001, HiO) Ein Beispiel wäre, wenn vor der Wahl der Lehre
festgestellt werden kann, dass jemand empfindlich auf Stoffe reagiert, mit denen er in dem
angestrebten Beruf unweigerlich zu tun hat (Beispiel: Bäckerasthma). Ein allgemeines
„Screening“ des Arbeitnehmers auf alle spätmanifesten und multifaktoriellen Krankheiten, die
testbar sind, ist im Interesse des Arbeitnehmers nicht sinnvoll. Hier sollten die Interessen des
Arbeitnehmers die des Arbeitgebers überwiegen, da ersterer innerhalb des Arbeitsverhältnisses zumeist in einer schwächeren Position ist. Der Arbeitgeber trägt so weiterhin wie bisher
das Risiko der Erkrankung seines Arbeitnehmers (wie auch durch Unfall etc.). Sollte der Arbeitnehmer vor seiner Einstellung von einer genetischen Prädisposition wissen, sollte er viel20
leicht sogar lügen dürfen, wenn das Wissen nicht für den betreffenden Arbeitsplatz in Bezug
auf Dritte relevant ist (z.B. größeres Unfallrisiko).
Zusammenfassend formuliert: Gleiche Chancen muss es für die geben, die für einen
Arbeitsplatz gleich qualifiziert sind, unbesehen ihrer allgemeinen gesundheitlichen (probabilistischen) Zukunft – aber nicht unbesehen möglicher arbeitsplatzspezifischer Suszeptibilitäten, die krankheitswertige Auswirkungen für den Arbeitnehmer haben können, oder wenn
durch genetische Prädispositionen ein Sicherheitsrisiko besteht.
3.5.3. Verfahrenselemente
3.5.3.1. Arztvorbehalt vs. Arztoption?
Vermutlich werden, auch um Public Health Ziele zu verfolgen, Gentests weitere
Verbreitung finden. Dabei wird von einigen Personen und Institutionen gefordert, einen Arztvorbehalt für Gentests zu etablieren. Ein Arztvorbehalt, der auch von der Deutschen Forschungsgemeinschaft als unentbehrlich erachtet wird, bedeutet, einen Gentest nur bei ärztlicher Indikation „flankiert durch eine Verschreibungspflicht“ (Taupitz 2000, S. 38; vgl. Deutsche Forschungsgemeinschaft 2003) als zulässig zu sehen. Dadurch soll gewährleistet werden,
dass die Ratsuchenden fachkundige Beratung und Interpretation der Ergebnisse bekommen.
Auch die Bundesärztekammer votiert für einen Arztvorbehalt. Sie argumentiert mit dem Hinweis, dass genetische Prädiktion kein eindeutiges Wissen liefert und deshalb fachkundiger
Interpretation bedarf (Bundesärztekammer 2003).
Aber es gibt natürlich auch Einwände gegen einen Arztvorbehalt, die im Folgenden
den Vorteilen gegenüber gestellt werden sollen.
„Als Einwände gegen einen Arztvorbehalt werden diskutiert:
•
Eingriff in das allgemeine Persönlichkeitsrecht von Testwilligen
•
Die Ausführung des Rechts auf Wissen von Menschen wird eingeschränkt
•
Ärztinnen und Ärzte werden berechtigt, Befunde zu erheben, die per definitionem medizinisch irrelevant sind
•
Einschränkung der Berufsfreiheit derjenigen, die genetische Analysen inklusive Beratung ohne ärztliche Approbation anbieten wollen
Als Vorteile eines Arztvorbehaltes sind zu bewerten:
•
Beschränkung der Durchführung von Gentests auf das etablierte System der medizinischen Versorgung
21
•
Qualitätssicherung
•
Der Einzelne wird davor geschützt, mit den Ergebnissen von Gentests unsachgemäß
umzugehen (Unterstützung der Selbstbestimmung des Individuums)
•
Daten fallen unter das Arztgeheimnis
•
Verhinderung eines ‚freien Testmarktes’“ (Geisler 2001, HiO)
Der dritte Einwand scheint wenig plausibel. Ärzten ist es bereits zu Recht gestattet, „medizinisch irrelevante“ Befunde zu erheben beziehungsweise medizinisch irrelevante Handlungen
durchzuführen. Als Beispiel sei hier das Polieren von Zähnen genannt. Es erscheint überzeugender, wenn bestimmte „per definitionem medizinisch irrelevant[e]“ Leistungen besser von
Ärzten durchgeführt werden als von niemandem oder von „Quacksalbern“ oder „Scharlatanen.“ Der vierte Einwand ist sehr schwach, weil es auch andere Handlungen gibt, die NichtÄrzten verboten sind.
Die ersten beiden Einwände hingegen sind gravierender; sie sind allerdings grundlegend identisch: Es geht hier um die Einschränkung der Selbstbestimmung des mündigen Bürgers. Diese Einwände würden dann unterminiert, wenn jeder Bürger bei Ärzten niederschwellig und günstig Gentests durchführen könnte: Entweder sie sind medizinisch indiziert und
werden sogar von der Krankenversicherung bezahlt, oder sie werden wie individuelle Gesundheitsleistungen (IGEL) gehandhabt respektive von einer möglichen individuellen privaten (Zusatz-)Versicherung abgedeckt. Bei einem solchen Modell kommt der Ratsuchende, der
die Möglichkeit hat, jede Prädisposition, die testbar ist, zu testen, in den Genuss der Vorteile
eines Arztvorbehalts, die Geisler in Punkten zwei bis vier nennt.
Eine Schwierigkeit des Arztvorbehalts ist, dass er nicht praktikabel sein beziehungsweise vom Internetmarkt unterminiert werden könnte – vor allem dann, wenn bei einem virtuellen medizinischen Tourismus ausländische Angebote über das Internet auch von deutschen
Bürgern bequem genutzt werden können. Diese Unterminierungspraxis könnte allerdings
wiederum unterminiert werden, indem man nahezu alle möglichen Tests, also auch die „lifestyle-Tests“, einfach und kostengünstig – beziehungsweise kostenlos bei medizinischer Indikation – beim Arzt bekommt; zumindest eine Beratung, die losgekoppelt von dem käuflichen
Erwerb eines Tests ist. Dadurch ist zumindest auch ein sachgemäßeres Verständnis durch die
Interpretation des Arztes gegeben, sofern dieser dafür ausgebildet ist. Die krankheitsbezogenen Gentests sollten ohnehin in die grundlegenden medizinischen Versorgungsleistungen aufgenommen werden (beziehungsweise dort bleiben). Wenn sich ein Arztvorbehalt durchsetzt,
muss also zugleich gesichert sein, dass alle gesundheitsbezogenen Gentests von der gesetzli22
chen Krankenversicherung abgesichert werden beziehungsweise dies zum Basispaket von
privaten Krankenversicherungen gehören sollte und ferner auch nicht solidarisch finanzierte
Gentests über den Arzt oder Berater – gegen eigene Bezahlung – erfolgen können, damit
sachgemäße Interpretation gewährleistet bleibt.
Jedoch liegt dem Arztvorbehalt ein Wertungswiderspruch zugrunde, der sich auf die
Mündigkeit des Ratsuchenden bezieht. Mit gleicher Begründung des Arztvorbehalts dürften
nämlich auch Schwangerschaftstest, Blutdruckmessgeräte oder ähnliches nicht in Apotheken,
Supermärkten und Drogerien verkauft werden, weil diese viele Eigenschaften mit prädiktiven
Gentests teilen. Auch wenn ihre Ergebnisse nicht so interpretationsoffen sind, so können sie
doch falsch sein (zum Beispiel durch falsche Anwendung) und gerade Schwangerschaftstests
können einzelnen (beispielsweise jungen Teenagern) nahezu „fatales Wissen“ liefern, das
ebenfalls mehrere Menschen anbelangt.
Wenn also problematisch am Arztvorbehalt ist, dass er die Möglichkeit des mündigen
Ratsuchenden nicht genügend respektiert und für ihn nur unter Inkaufnahme eines Wertungswiderspruchs argumentiert werden kann, könnte dann ein eingeschränkter Markt mit Zertifizierungsmethoden eine Option sein. Zertifizierte Gentests könnten außerhalb der Arzt- oder
Beraterpraxen verkauft oder angeboten werden; zum Beispiel in Apotheken, wo Bürger bereits Blutdruck, Gewicht, Blutzucker etc. messen lassen können. Hier könnte eine „Drogerien“ oder „Apothekenpflicht“ gelten. Dies könnte beispielsweise für Tests gelten, die zwar
krankheitswertige Aussagen, aber kein „fatales Wissen“ (wie beispielsweise ein Test auf die
Huntingtonsche Krankheit) liefern können – wie dies im Zusammenhang mit den für Public
Health Genetik besonders relevanten multifaktoriellen Volkskrankheiten der Fall ist – und
deren Ergebnis und dessen Implikationen leicht verständlich für den Laien sind (sofern solche
Tests dereinst verfügbar würden). Wenn ein Test, den der Bürger beispielsweise in einer Apotheke durchführt, positiv ist, kann er dies außerdem – genau wie bei diagnostiziertem Bluthochdruck, hohem Blutzucker oder nach festgestellter Schwangerschaft – zum Anlass nehmen, einen Arzt aufzusuchen.
Diese zertifizierten Tests, die man dann in Apotheken und/oder Drogerien erwerben
könnte, müssten aber nicht wahrgenommen werden und würden vermutlich weniger nachgefragt werden, wenn es weiterhin die Arztoption gibt, die bedeutet, dass alle Gentests niederschwellig über den Arzt zugänglich sind – eine Arztoption wäre also wie ein Arztvorbehalt
mit der kleinen Einschränkung, dass zertifizierte Gentests, die kein fatales Wissen liefern
können, auch anders erwerbbar sind.
23
3.5.3.2. Was bedeutet Bindung an Gesundheitszwecke für Public Health Genetik?
Die Verfügbarkeit genetischer Diagnostik könnte ferner, wie bereits angesprochen,
über eine Bindung von Gendiagnostik an Gesundheitszwecke reguliert werden. Bedeutet Bindung an Gesundheitszwecke oder medizinische Zwecke jedoch, nur solche Gentests zu erlauben, die therapeutische oder präventive Maßnahmen nach sich ziehen lassen können, wäre
dies wenig plausibel. In dem Fall könnten zum Beispiel außer im Bezug auf Familienplanung
keine Tests auf die Huntingtonsche Krankheit zugelassen werden. Gentests auf die Huntingtonsche Krankheit können aber individuell sehr sinnvoll sein, auch um fernab der Familienplanung die eigene Lebensplanung beeinflussen zu können. Und Personen, die schon mit einem solchen familiären Schicksal belastet sind, sollten nicht hier auch noch bevormundet oder
gezwungen werden, ihren Wunsch zu pathologisieren, damit ihm Folge geleistet werden kann.
Überzeugender ist es, nur diejenigen Tests solidarisch zu finanzieren, die aussagekräftig sind
und gesundheitlichen Nutzen mit sich bringen und etwas weitläufiger auch die Lebensplanung
beeinflussen können.
4. PUBLIC HEALTH GENETIK UND SOZIALE GERECHTIGKEIT
In den bisherigen eher auf die Schutz- und Entfaltungsmöglichkeiten des Einzelnen
zielenden Ausführungen wurde schon mehrfach vom ethischen Kriterium der Befähigung zur
eigenverantwortlichen Lebensführung ausgegangen. Spätestens an dem Punkt, an dem deutlich wird, dass diesem individuumsbezogenen Anspruchsmaß immer auch ein gesellschaftliches Verpflichtungsmaß entspricht, muss sich die Blickrichtung hinwenden zur sozialtheoretischen Begründung des Befähigungskriteriums aus dem sozialethischen Grundkriterium der
Gerechtigkeit. Damit bekommt ein weiteres der mittleren Prinzipien für die Ethik von Public
Health Genetik materielle Konturen. Dass Gerechtigkeit bei der Gestaltung von Public Health
Genetik prägend sein muss, lässt sich durch einen einfachen Syllogismus zeigen: „Gerechtigkeit ist die höchste Tugend sozialer Institutionen.“ (Rawls 1975, S. 17). So steht es auf der
ersten Seite eines der einflussreichsten Werke der neueren Philosophiegeschichte: der voluminösen Theorie der Gerechtigkeit von John Rawls. Public Health Genetik meint – wie erwähnt – die Integration genetischen Wissens in Public Health. Public Health zielt auf die öffentliche Sorge um die Gesundheit aller und wird von öffentlichen oder paraöffentlichen Institutionen verantwortet. Deshalb muss Public Health Genetik wie Public Health sich mit der
ersten Tugend sozialer Institutionen, der sozialen Gerechtigkeit auseinandersetzen. Entsprechend diesem Syllogismus wird erst die Entfaltung des mittleren Prinzips „Gerechtigkeit“
durch das schon mehrfach erwähnte, aber noch nicht hinreichend begründete Maß der Befähi24
gung dargestellt, um anschließend zu zeigen, wie sich dieses auf die Fragen der Genetik in der
öffentlichen Gesundheitsversorgung auswirkt.
4.1.
Auszuschließende soziale Verpflichtungsrelationen in der „sozialen Demokratie
in den Formen des Rechtsstaats“
Weil die „soziale Demokratie in den Formen des Rechtsstaats“ (BVerfGE 5, 85/198)
keine weltanschauliche Werte- und Lebensdeutungsgemeinschaft bildet, sondern weil der
moderne Rechtsstaat zunächst nur die Freiheit des einen gegen die Freiheit des anderen zu
schützen hat, können in seinem Rahmen moralisch-perfektionistische oder umfassende Programme wie beispielsweise eine bestimmte gesundheitsförderliche Lebensweise nicht verallgemeinert werden. Zudem können pauschale Ansprüche auf strikte soziale Gleichheit auch
nicht vor dem eigentumstheoretischen Axiom der Neuzeit bestehen; schließlich implizieren
solche Forderungen, sollen sie sozialrechtlich durchgesetzt werden, zwangsbewehrte Umverteilungsstrategien und damit Eingriffe in Eigentum und Freiheit der Bessergestellten. Zudem
widersprechen sie dem allgemeinen Gleichheitsgrundsatz, der ja festlegt, dass Gleiches gleich
und folglich Ungleiches ungleich zu behandeln ist. Dabei stünden sie ferner kontrovers zum
Solidaritätsgrundgedanken, dass der Kranke und nicht der Gesunde der Hilfe (vgl. Mk 2, 17)
und folglich ersterer eines größeren Anteiles an möglichen Umverteilungen oder gemeinsamen Ressourcen bedarf.
Aber auch andere sozialethischen Alternativkandidaten halten der Prüfung für die Bestimmung sozialer Verpflichtungsrelationen nicht stand: Reine Nutzentheorien können ausgeschlossen werden, weil sie die Suche nach dem Guten nicht mit der Achtung der Rechte jedes
Einzelnen verknüpfen (Höffe 1987). Insofern das Verständnis von Wohlergehen stark von
subjektiven Empfindungen abhängt, sind darauf aufbauende Theorien nicht verallgemeinerungsfähig (Pauer-Studer 2000) und insofern für die pragmatische Ausgestaltung sozialer Gerechtigkeit unbrauchbar. Radikale Freiheitstheorien blenden die politische Notwendigkeit ab,
grundlegende Rechte für jede Person anzuerkennen; sie leben a) theoretisch vom Abgrenzungsgestus gegenüber einem verzeichneten Egalitarismus, der eben nicht eine strikte, sondern nur eine Chancengleichheit zu erreichen sucht, b) politisch-pragmatisch von der Missachtung des Umstandes, dass auf breiter Basis öffentliche Gelder öffentliche Güter (Forschung etc.) investiert wurden, deren Erträge nach dieser Theorie nun rein marktwirtschaftlich
abgeschöpft werden sollen. Das ist jedoch eine so nicht zu akzeptierende Ursprungsvergessenheit.
25
4.2. Decent minimum statt minimales Minimum
Wenn eine im weltweiten Maßstab betrachtet als halbwegs wohlgeordnet und stabil zu
charakterisierende Gesellschaft unter den Rahmenbedingungen des modernen, freiheitlichliberalen, demokratischen, und auch das sei nicht vergessen: sozialen Rechtsstaats gerecht
sein will (und sei es unter dem Nutzengesichtspunkt der Bewahrung ihrer Stabilität), dann
kann sie das inhaltliche Maß der sozialen Gerechtigkeit nicht als minimales Minimum festlegen (verfassungsrechtlich definiert als Existenzminimum gemäß Art. 1 + 2 GG). Vielmehr
muss sie sich um ein decent minimum, ein anständiges Minimum bemühen. Was ein decent
minimum auszeichnet, wird zwar gesellschaftlich debattiert und mag sich von Gesellschaftsformation zu Gesellschaftsformation aufgrund seiner konstitutiven Kontextgebundenheit unterscheiden. Seine Bestimmung muss sich jedoch zumindest an den gesellschaftlich vorhandenen Konditionalgütern orientieren. Zu ihnen zählen materielle ebenso wie ideelle Güter wie
z.B. Achtung und Anerkennung. Eine Bereitstellung von solchen Konditionalgütern darf sich
begründungstheoretisch nicht nur aus politischer Solidarität oder aus der Wohltätigkeit von
Bessergestellten ableiten, sondern erfüllt das begründungstheoretisch höher stehende Kriterium eines gerechten Anspruchs.
Gegen die minimalistische Variante und für das anständige Mindestmaß sprechen moralische Intuitionen und diverse ethische wie sittlich-politische Rechtfertigungsstrategien:
Eklatante Ungleichheiten, die die einen überproportional übervorteilen, während die anderen
von fast allen Formen sozialer Kooperation ausgeschlossen würden, führen bei vielen Menschen (zumindest im Nahbereich) zu Protest- oder Empörungsreaktionen. Ein (mehr oder
minder) ausgeprägter Sinn für Ungerechtigkeit scheint sich in fast allen bei der Wahrnehmung
extremer Ungerechtigkeiten zu regen. Internationale Menschenrechtsabkommen, die inzwischen schon als globales, auf jeden Fall als europäisches Ethos gelten können, leiten aus der
allen Menschen zugesprochenen Menschenwürde nicht nur bürgerliche Freiheit, politische
und rechtliche Gleichheit, sondern auch das Recht auf Teilhabemöglichkeit am gesellschaftlichen Leben ab. Laut der in vielen Kulturen sich findenden Goldenen Regel als auch insbesondere ihrer moraltheoretischen Vertiefung im kategorischen Imperativ sind solche Handlungen
und Entscheidungen zu verallgemeinern, die in jedem Menschen einen Selbstzweck sehen,
dem mit innerem Respekt zu begegnen ist. Auch mit vertragstheoretischen Gedankenexperimenten lässt sich weniger emphatisch rechtfertigen, dass auch gemäß eigennützigem Kalkül
Anderen Lebenschancen zur Verfügung gestellt werden müssen. Selbst die minimalistische
Anspruchstheorie der Gerechtigkeit, die nur das als gerecht betrachtet, was unter Beachtung
26
fairer Verfahren angeeignet oder übertragen wurde, ist so auslegbar, dass zur fairen Prozeduralität die Befähigung zur Aneignung und Übertragung zählt.
4.3. Chancengleichheit als erste Präzisierung des decent minimum
Bei der Bestimmung des decent minimum spielt der Verursachungshintergrund ebenso
eine Rolle wie der Zweck und das Maß der Zuteilung: Insofern das decent minimum eines
liberalen-demokratischen Rechtsstaats zunächst impliziert, dass Autonomierespekt Vorrang
vor Umverteilung nach sich ziehenden Gleichheitsansprüchen besitzt, erscheinen vielen (jenseits eines minimalen Minimum) nur solche Ungleichheitsfolgen in der Gesellschaft kompensationsfähig und können als Pflichtgrund für eine Redistribution der Bessergestellten angesehen werden, die aus einer nicht verschuldeten Konstellation resultieren. (Über private Absicherungen und Versicherungen ist damit nichts ausgesagt.)
Im Nachgang zu dieser Weichenstellung ist allerdings wiederum strittig, ob das Nichtverschuldungsprinzip nur für gesellschaftlich bedingte Ungleichheiten gilt oder auch schon
bei natürlichen Ungleichheiten greift, sofern diese eine bedeutende gesellschaftliche Ungleichheit bewirken (Buchanan et al. 2000; dazu Dabrock 2003). Interessant an dieser Differenz ist die Wahrnehmung der bis heute in den unterschiedlichen Positionen transportierten
Menschenbilder. In der nur an gesellschaftlichen Ungleichheiten orientierten Position, dem
social structural view, zählt erstrangig nur der kooperationsfähige Mensch. Die Ungleichheit
noch nicht oder insbesondere nicht mehr kooperationsfähiger Personen wird eher aus Klugheits- oder Solidaritäts-, denn aus originären Gerechtigkeitsgründen korrigiert, kompensiert
oder nivelliert. Im brute luck view, der Position, die jede Form von Ungleichheit, sofern sie
nur nicht selbstverschuldet ist, für korrekturbedürftig hält, wird das Menschenbild nicht so
sehr vom Gedanken der Kooperationsfähigkeit, sondern grundlegender von realer Kommunikationsfähigkeit bestimmt.
Wenn als Hintergrund das Nichtverschuldensprinzip als Bedingung für Umverteilungen gelten mag, so bleibt nach Ablehnung von Nutzen, strikter Gleichheit, Wohlfahrtsgleichheit und radikaler Freiheit als Zweck und Maß des Ungleichheitsausgleichs das im Übrigen
von vielen intuitiv akzeptierte Maß der Chancengleichheit. Bei seiner Bestimmung kann es
nicht nur aufgrund der Differenz von social structural view und brute luck view zu Divergenzen kommen, auch seine in die Debatte eingebrachten Subkriterien von Ressourcengleichheit,
Wohlfahrtschancengleichheit oder Fähigkeitengleichheit sind kaum mehr als Schlagworte,
weil sie zwar meistens von einem bestimmten Autor oder einer bestimmten Autorin konzipiert und begründet wurden, aber jeweils eigene Füllungen erlauben. Von daher muss man
27
jeweils ausführen, was man darunter versteht. Allen Formen eines fair equality of opportunity-Ansatzes ist gemeinsam: Sie anerkennen eine Beschränkung und ein Ziel und intendieren
so weder eine Versklavung der Talentierten noch knüpft sie eine Eigenverantwortlichkeit
lähmende, engmaschige soziale Hängematte.
4.4. Befähigung als Maßangabe für das decent minimum der Chancengleichheit
Dem hier vertretenen Modell des Fähigkeiten-Ansatzes (Capabilities-Approach) (Sen
1999; Nussbaum 1999; Nussbaum 2006; Pauer-Studer 2000 ; vgl. auch für eine ähnliche Position Powers, Faden 2006) geht es um die Inklusion der einzelnen Individuen in die Gesellschaft (Dabrock 2005b; Dabrock 2006). Unter Berücksichtigung der notwendigen Bedingung
des Würde-Axioms entfaltet er den nicht nur qua Wohltätigkeit gewährten, sondern gerechterweise einklagbaren Anspruch auf soziale Grundgüter (capabilities) nach dem Kriterium, ob
mit ihrer Hilfe ein Individuum zur längerfristigen, integral-leiblichen, eigenverantwortlichen
Teilnahme an interpersoneller Kommunikation (functioning) befähigt wird. Seine Legitimation zieht dieses Gerechtigkeitsverständnis daraus, dass die grundlegenden Achtungs- und
Menschenrechtsindikatoren ‚Würde’ und ‚Freiheit’ solange abstrakt-leere Konzeptionen bleiben, solange sie nicht eine auf die jeweilige Gesellschaft bezogene Befähigung zur realen und
nicht nur formalen Freiheit gewähren. Weil der Capabilities-Approach diese reale Freiheit als
gerechtigkeitstheoretisches Leitkriterium wählt, fällt er auch nicht in die Normalismusfalle
(Waldenfels 1998). D.h.: Er versucht nicht nur, dafür Sorge zu tragen, dass Defizite eines
normal competitors in sozialer Kooperation ausgeglichen werden, sondern er fragt auch, wie
die Fähigkeiten jedes Individuums möglichst effektiv gefördert werden können – allerdings
nicht mit dem Ziel seines subjektiven Wohlergehens, sondern nur zum Zweck der Bereitstellung dessen tragfähiger Bedingungen, nämlich der Teilnahmemöglichkeit an interpersoneller
Kommunikation. (Schließlich kann niemand zur Teilnahme an der Gesellschaft gezwungen
werden.) Soziale Gerechtigkeit gegenüber einem Behinderten muss sich entsprechend in höherer gesellschaftlicher Zuwendung als gegenüber Nichtbehinderten ausdrücken, sofern er
diese zum genannten Zwecke benötigt. Gegen mögliche Missverständnisse sei betont: Geht es
um Bedingungen, soziale Kommunikation aufnehmen und pflegen zu können, dann sind keineswegs – wie möglicherweise denkbar – schwerst geistig Behinderte aus diesem Kriterium
ausgeschlossen. Sie haben nur andere Formen von Kommunikation! Um auf diese Vielfalt im
Kommunikationsverständnis hinzuweisen, wird der hier vertretene Ansatz über das Kriterium
integral-eigenverantwortlicher Lebensführung definiert.
28
Trifft zudem die so genannte Wilkinson-These zumindest indirekt (Wilkinson 2001)
zu, nach der in solchen Gesellschaften, die eine vergleichsweise hohe gesellschaftliche Stratifikation aufweisen, eine größere gesundheitliche Ungleichheit zu beklagen ist als in solchen,
die von weniger Ungleichheiten gekennzeichnet sind, kann man von diesem Effekt bei der
Zuteilung sozialer Ressourcen (und das heißt möglicherweise auch solcher für genetische
Maßnahmen in Public Health) nicht abstrahieren. D.h.: Zwar ist Freiheit das eigentliche Ziel
von Ethik und demokratischem Rechtsstaat, aber durch die Wilkinson-These wird der intrinsische Wertcharakter von Gleichheit zumindest gegenüber der neueren Egalitarismus-Kritik
rehabilitiert (Krebs 2000). Diese bezweifelt, dass Gleichheit, die immer eine Relation zwischen zwei Vergleichsobjekten aufbaut, eine sozialethisch oder -politisch legitime Forderung
darstellt. Im Umkehrschluss hält sie nur einen menschenrechtlich begründeten absoluten
Standard an Lebensbedingungen für einklagbar. Demgegenüber gibt die Wilkinson-These zu
bedenken, dass zumindest mit Bezug zur Gesundheit die soziale Relationen berücksichtigende
Chancengleichheit sehr wohl eine intrinsisch moralische Bedeutung besitzt. Nicht als moralisches Endziel wie die Freiheit, aber sehr wohl als moralisches und nicht nur außermoralisches
Mittel zu diesem Ziel kann man die Gleichheit bewerten, wenn denn Gesundheit ein konditionales Gut ist und die Verteilung dieses Gutes in der Gesellschaft nicht völlig unabhängig davon ist, wie es um die gesellschaftliche Stratifikation in dieser Gesellschaft bestellt ist.
Inhaltlich umfasst die freiheitsfunktionale Ausgestaltung des Capabilities-Approach
auch die Problemstellung der jüngsten Debatte im Feld der sozialen Gerechtigkeit. In ihr wird
debattiert, ob soziale Gerechtigkeit monozentrisch vom Prinzip der Anerkennung (Honneth)
oder bifokal vom Doppelprinzip ‚Umverteilung und Anerkennung’ (Fraser) begründet werden
soll (Fraser, Honneth 2003). Abgesehen davon, dass der recognition-Ansatz von Honneth
unter einen Begriff drei sehr divergente Formen sozial bezeugter Achtung (Liebe, Recht,
Leistung) bringen soll, die Selbstvertrauen, Selbstachtung und Selbstwertgefühl des Individuums stärken, unterläuft er die bewährte modernitätstypische Unterscheidung zwischen
Rechtem und Guten (vgl. Gosepath 2004). So richtig es ist, dass jeder Mensch diese Formen
der Anerkennung benötigt, so wenig kann er sie vom (generalisierten) Anderen einfordern. Da
aber nur der generalisierte Andere (und nicht der konkrete Andere) derjenige ist, an den
(symbolisch) gesellschaftliche Forderungen gestellt werden können, kann die reine Anerkennungstheorie bestenfalls auf die Ebene der schwachen Theorie des Guten reduziert als Begründungselement sozialer Gerechtigkeit fungieren. Zu Recht hat Nancy Fraser hervorgehoben, dass Teilhabemöglichkeit nicht nur über die soziokulturelle Verdrängungs-, sondern auch
über ökonomische Verdinglichungsmechanismen gestört oder gar verhindert wird. Damit bes29
tätigt sie die freiheitsfunktionale Gesamtintention des Capabilities-Approach. Sie kann dabei
zwischen diesem Grundprinzip und die sozialen Grundgüter nochmals eine Zwischenebene
einziehen, die die lange Zeit aggregatorisch wirkende Zusammenstellung der Güterliste von
Nussbaum systematisch ordnen und so aufdecken kann, durch welche Mechanismen diese
Güter gefährdet werden. Diese präzisierende Differenzsensibilität kann ebenso wie das
Grundprinzip der Befähigung für die sozialethische Fragen von Public Health Genetik genutzt
werden.
5. SOZIALETHISCHE PERSPEKTIVEN AUF PUBLIC HEALTH GENETIK
Ob man die dargestellten allgemeinethischen und sozialethischen Kriterien auf die molekulare Medizin im Allgemeinen wie Public Health Genetik im Besonderen anwenden kann,
hängt entscheidend davon ab, wie man genetisches Wissen einschätzt. Hält man es für exzeptionell, müssen verschärfte oder andere Kriterien gesucht werden. Erachtet man es für nicht
exzeptionell, kann auf die dargestellten Unterscheidungen zurückgegriffen werden. Deshalb
stellt sich die prinzipielle Frage: Ist genetisches Wissen exzeptionell einzuschätzen? (Murray
1997)
5.1. Keine Exzeptionalität, aber Spezifität genetischen Wissens
Ohne Zweifel zeichnet sich genetisches Wissen durch Besonderheiten wie lange und
(je nach Form) sehr genaue Voraussagekraft aus. Es ist zudem durch seine Bedeutung für reproduktive Entscheidungen wie die Schlussmöglichkeit auf familiäre Charakteristika von
symbolischer und sozialer Sprengkraft. Aus den genannten Gründen wie kurzfristigen Nutzenerwägungen von Versicherungen und Arbeitgebern wie unter der Erinnerung an die menschenverachtende Praxis der Eugenik der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die in den Gräueltaten der Nazis ihren schrecklichen Höhepunkt fand, wie unter kultureller Fortwirkung eines
kruden genetischen Determinismus und Reduktionismus ist genetisches Wissen zudem mit
Stigmatisierungs- und Diskriminierungsängsten verbunden. All das spricht für die Besonderheit genetischen Wissens. Eine Exzeptionalität, die zudem einen Sonderweg im Umgang mit
genetischen Daten gegenüber anderen medizinischen Verfahren rechtfertigen könnte, leitet
sich aus den genannten Gründen nicht ab. Lange Vorhersagekraft, Bedeutung für reproduktive
Entscheidungen und familiäres Wissen, Stigmatisierungspotential trifft mal mehr, mal weniger auch auf andere medizinische und nicht medizinische Lebensbedingungen zu. Allein die
Dichte der Aspekte und die sich daraus ergebende mögliche kumulative Wirkung lässt die
Charakterisierung der molekularen Medizin als eines für die Persönlichkeitsrechte der einzel30
nen Gesellschaftsmitglieder wie ganzer Gruppen hochsensiblen Bereichs zu. Gegen die Exzeptionalitätsthese spricht auch die Einsicht in die komplexe Interaktion zwischen Genom,
intraorganismischen Prozessen und Umwelt. Wie sollen medizinisch und rechtlich im Umgang mit Krankheit und kranken Menschen genetische von anderen Informationen lupenrein
getrennt werden? Neben der Schwierigkeit der Abgrenzung handelt man sich den Vorwurf
ein, Betroffene ohne (explizite) genetische Komponente rechtlich weniger zu schützen als
solche, die eine genetische Komponente nachweisen können. Genau dieser (dann notwendige)
Nachweis kann entweder eine gesellschaftliche Diskriminierung und Stigmatisierung bestätigen und möglicherweise aufgrund des Neides angesichts besseren Schutzes noch verstärken.
Wer von daher die Separierung genetischen Wissens von anderen medizinischen Informationen und sei es zum Zwecke der Verhinderung einer fortschreitenden (vermeintlichen) „Medikalisierung“, „Genetisierung“ oder „Molekularisierung“ der Gesellschaft will, verfällt selbst
einem genetischen Reduktionismus, den er zu bekämpfen sucht. Statt also genetisches Wissen
exzeptionell zu behandeln, sollte man es als einen, wenn auch hochsensiblen Faktor medizinischen Wissens, als einen Baustein im (so) gewünschten Diagnose- und Therapieprozess auf
der Individuumsebene und von öffentlichen Gesundheitsmaßnahmen auf der Public Health
Ebene begreifen.
5.2.
Konsequenzen des Befähigungsgerechtigkeitsansatzes für den Umgang mit Public
Health Genetik
5.2.1. Formale und materiale Rahmenbedingungen außerhalb der Gerechtigkeitsfrage
Wenn es in Public Health Genetik um die Integration eines nicht exzeptionellen, aber spezifischen, nämlich genetischen Wissens in die Aufgabenbestimmung von Public Health geht,
dann sind neben der Berücksichtigung der genannten ethischen Grundwerte der Würde, der
sich daraus ableitenden informationellen Selbstbestimmung wie der zu ihrer Gewährleistung
nötigen Datenschutz- und Vertraulichkeitsregeln und vor der Entfaltung des Befähigungskriteriums sozialer Gerechtigkeit noch die Qualitäts- und Effizienzkriterien des HTAAssessment zu beachten. Weil in Zeiten knapper Ressourcen der nicht zielgerichtete Einsatz
der (als) vorhanden(en definierten) Mittel die Knappheit verschärft und damit selbst zu einem
Gerechtigkeitsproblem wird, müssen nicht nur in ökonomischer Perspektive, sondern auch in
ethischer die Ressourcen, die für Public Health Genetik zur Verfügung stehen, effizient und
effektiv eingesetzt werden.
Die Überprüfung auf Effektivität und Effizienz schließt neben Prozess-, Struktur- und Ergebnisqualitätssicherung die Frage nach analytischer und klinischer Validität und Reliabilität,
31
nach Sensitivität und Spezifität, nach positivem prädiktivem und negativem Wert ein wie insbesondere im Blick auf Tests und Screeningverfahren die bekannten WHO-Kriterien von Wilson und Junger (Wilson, Junger 1968). Nach ihnen ist über das Gesagte hinaus zu prüfen, ob
eine große Relevanz der Erkrankung vorhanden, angemessene Behandlungsmöglichkeiten
verfügbar sind, eine Infrastruktur für Diagnostik und Behandlung genutzt werden kann, ein
Latenz- oder ein frühes symptomatisches Stadium erkennbar sind, eine hohe Akzeptanz des
Screenings angenommen werden kann, ein bekannter Krankheitsverlauf vorausgesetzt wird,
eine einheitliche und eindeutige Definition der Zielgruppe erfolgt, ein kostengünstiges Screening in Relation zu möglichen medizinischen Gesamtkosten implementiert, sowie eine Kontinuität des Screeningprogramms gewährleistet werden kann.
Obwohl in den hier genannten Rahmenbedingungen (wie bspw. durch die Utilitätskriterien)
bereits ethische Fragestellungen angerissen werden, kann man sie unter Berücksichtigung des
Befähigungsgerechtigkeitsansatzes noch weiter entfalten.
5.2.2. Entfaltung gemäß Anerkennung und Umverteilung
Wenn man nach Nancy Fraser das Kriterium der Befähigung zur Teilnahmemöglichkeit an Kommunikation nochmals unter dem Aspekt von Umverteilung und Anerkennung
entfalten kann, dann bedeutet dies: Fokussiert man sich auf den Aspekt der Anerkennung, so
sind (wie schon auf der Ebene des allgemeinen Individuumsschutzes gegenüber genetischem
Wissen) Stigmatisierung und Diskriminierung zu vermeiden. Das schließt aber unter Beachtung des allgemeinen Gleichheitsgrundsatzes auch ein, dass genetisches Wissen, da es nichts
exzeptionell anderes als andere brisante Informationen beinhaltet, gleichwertig mit diesen zu
betrachten ist. Wenn deshalb andere Informationen aus der Vergangenheit im Lebensversicherungs- und Berufsbereich zur jeweiligen Risikokalkulation oder zur Anstellungsfähigkeit herangezogen werden, ist (vorerst) nicht einzusehen, warum dies nicht auch für genetisches
Wissen gelten sollte. Abzulehnen und rechtlich zu verhindern ist dagegen ein Zwang zum
Gentest allein zum Zwecke der jeweiligen Vertragsabschlüsse. Nochmals anders verhält es
sich im Krankenversicherungsschutz, der jedem eine umfangreiche Grundversorgung gewähren sollte, weil Gesundheit ein konditionales Lebensgut darstellt. Deshalb muss der Kontrahierungszwang zumindest soweit gehen, dass das genannte decent minimum gewährt wird –
unabhängig von Informationen aus bereits bekannten genetischen Tests.
Neben der Vermeidung von Stigmatisierung und Diskriminierung, die auch gegenüber
ganzen Bevölkerungsgruppen gelten muss, zielt die Befähigungsgerechtigkeit auf Umverteilung. Wenn das Maß einer gerechten Gesundheitsversorgung an der alters- und konstitutions32
bedingten, integralen Teilnahmefähigkeit an sozialer Kommunikation festgemacht wird, ist
nicht einzusehen, warum genetische Maßnahmen, sofern sie diesem Ziel dienen und den unter
3.2.1 skizzierten Kriterien genügen, von diesem Umverteilungskriterium ausgeschlossen werden sollten. Diese sind dann nochmals mit dem (auf objektiven, subjektiven und sozialen Dimensionen aufruhenden) jeweiligen kulturellen Verständnis von Krankheit und Gesundheit
und deren modalen Aspekten wie Tragbarkeit, Dringlichkeit, Beeinflussbarkeit, Konsumferne
abzugleichen. Sollten Public Health Genetik Maßnahmen wie andere krankheitsverhindernde
und gesundheitsfördernde Maßnahmen bewertet werden können (und nicht einem genetischen
Exzeptionalismus unterliegen), dann erhalten sie zudem durch die angesprochene WilkinsonThese eine weitere Bedeutung. Wollte man sie (sofern sie den anderen Effizienz-, Qualitätsund Ethikkriterien genügen) nicht unter Maßnahmen des decent minimum fassen, könnte die
gesundheitliche Ungleichheit in einer Gesellschaft weiter zunehmen.
5.2.3. Begleitendes Gerechtigkeitsnetzwerk
Das an kommunikativer Freiheit orientierte Kriterium der Befähigungsgerechtigkeit wird
auch dann nachhaltig in Public Health Genetik pragmatisch umgesetzt werden können, wenn
es seinerseits durch ein Netzwerk aus diversen anderen Gerechtigkeitselementen gestärkt
wird. Zugleich wird so dem Trug der einfachen Lösung entgegen gesteuert. Solche ergänzenden Gerechtigkeitsaspekte sind (vgl. Dabrock 2003; Dabrock 2005b):
-
Beteiligungs- und Verfahrensgerechtigkeit, insofern sie Partizipation und Transparenz
fördern, selbst wenn sie vordergründig betrachtet Entscheidungsprozesse verlangsamen;
-
Generationengerechtigkeit, weil angesichts knapper Ressourcen die Chancengleichheit
zukünftiger Generationen, die nicht gefragt wurden, ob sie ins Dasein kommen wollten,
zur Disposition steht;
-
Kompensationsgerechtigkeit, weil man diejenigen, die bei möglichen Priorisierungsentscheidungen posteriorisiert wurden, nicht ins Nichts fallen lassen darf;
-
Leistungsgerechtigkeit, weil gesundheitsbewusstes Verhalten auf der Patientenseite und
gute Medizin auf der ärztlichen Seite nicht unberücksichtigt bleiben dürfen.
6. PRIORISIERUNGSREGEL BEIM GRUNDKONFLIKT AUTONOMIERESPEKT
VS. GEMEINWOHL(-PFLICHTIGKEIT)
Wenn gleichzeitig individuumsbezogene Schutzstandards, die für Public Health Genetik Maßnahmen zutreffen müssen, und eine gerechte Verteilung gesellschaftlicher Güter, die
unter Knappheitsbedingungen effizient einzusetzen sind, greifen sollen, kann es zum Konflikt
33
zwischen Autonomierespekt und Gemeinwohl (und daraus abgeleiteter Gemeinwohlpflichtigkeit) kommen. Wie hoch ist bspw. der Verpflichtungsgrad, an Screeningverfahren teilzunehmen, wie hoch der, seine Daten für Biobanken zur Verfügung zu stellen? Über die anfänglich
angesprochene selbstkritische Frage nach eigener oder fremder free-rider-Mentalität hinaus
lässt sich cum grano salis unter Beachtung der möglichen Kollision der genannten moralischen und rechtlichen Güter von Autonomierespekt und Gemeinwohl(-pflichtigkeit) folgende
Bewertungstendenz bzw. folgendes sozialethisches Stufenmodell einführen (vgl. Brand,
Dabrock, Gibis 2003). Es trägt zudem dem allgemeinen Umstand Rechnung, dass im Allgemeinen Bewertungsfragen nicht einfach mit ‚Ja’ oder ‚Nein’ zu beantworten sind: Erfüllt eine
Public Health Genetik Maßnahme die eingeführten Effizienz- und Effektivitätskriterien wie
Validität, Reliabilität und Spezifität, lässt sich bei begrenztem Aufwand ein hoher individueller Nutzen im Sinne von Vermeidung einer schweren Krankheit und Förderung der individuellen Entwicklungsmöglichkeit sowie ein hoher gesellschaftlicher Nutzen im Sinne der Vermeidung hoher Kosten, die durch verzögerte Diagnosestellung, inadäquate Therapien durch
Fehldiagnosen etc auftreten würden, erzielen, und muss man zudem nicht mit einer gesellschaftlichen Stigmatisierung der Betroffenen rechnen, so besteht ein hoher sozialethischer
Verpflichtungsgrad. Dieser Verpflichtungsgrad entfaltet sich nach zwei Seiten. Sofern die
genannten Kriterien zutreffen, ist zum einen die öffentliche Gesundheitsversorgung zur Bereitstellung und damit gleichzeitig auch zur Sicherstellung dieser Public Health Genetik Maßnahmen verpflichtet – nicht zuletzt auch, um einer Entsolidarisierung entgegen zu wirken.
Zum anderen besteht in diesen Fällen auch seitens der betroffenen Individuen angesichts des
eher geringen Schadens für sie wie ihre Familie (Eingriff in die formale Selbstbestimmung;
minimale Diskriminierungstendenz), aber der hohen ökonomischen Folgen bei Nichtteilnahme eine hohe moralische Verpflichtung zur Teilnahme an der entsprechenden Maßnahme.
Obwohl die Teilnahme unter den genannten Bedingungen als ein moralisch-sittlicher Imperativ zu lesen ist, bedeutet dies nicht, ihn notwendigerweise unmittelbar in einen rechtlichen
Zwang zu transformieren. Angesichts der bewährten Sinnhaftigkeit einer auf negativer Freiheit und „informed contract“ aufbauenden Rechtskultur kann man darüber nachdenken, auf
der rechtlichen Ebene das Prinzip der Freiwilligkeit zu wahren und sich dabei dennoch nicht
allein auf die standardisierte nondirektive Beratung zu beschränken. Dass hier nicht einfach
ethische Ableitungen greifen, sondern die jeweilige gesellschaftliche Einstellung beachtet
werden muss, hängt damit zusammen, dass moralische Fragen im sittlich-politischen Diskurs
nicht einfach deduktiv zu handhaben sind, sondern mit kulturellen Standards abgeglichen
werden müssen. Denn nur so kann die neben der moraltheoretischen Geltung ebenso wichtige
34
Akzeptanz und Reproduzierbarkeit sittlicher Urteile gewahrt werden. Aus dem so als Metaregel zu Interpretierenden ist umgekehrt aber genauso eindeutig zu schließen: Wo die genannten
Rahmenbedingungen schwächer werden, sinkt der Verpflichtungsgrad zur Teilnahme an genetischen Gesundheitsversorgungsmaßnahmen, entsprechend sollte die Beratung nondirektiver durchgeführt werden. Umgekehrt formuliert: Die Ablehnung der Teilnahme wird moralisch weniger begründungspflichtig.
Im Übrigen stellt sich die gesundheitsökonomische und damit auch gerechtigkeitspraktische Frage, ob bei Public Health Genetik Maßnahmen überhaupt der hohe Beratungsstandard, wie er aus der medizinischen Humangenetik bekannt ist, aufrecht erhalten werden
kann. Sollte dies, was wahrscheinlich ist, kaum möglich sein, wird man zur Festlegung des
Beratungsumfangs neben den ökonomischen Zwängen vor allem die jeweils betroffene Eingriffstiefe in die informationelle Selbstbestimmung berücksichtigen müssen.
Die vorgeschlagene Priorisierungsregel transportiert keineswegs einen in der weltanschaulich
pluralen Gesellschaft inakzeptablen Gesundheitspaternalismus. Das Gegenteil trifft zu: Erst
durch die Sicherstellung elementarer Bedingungen (sog. konditionaler Güter) sind verschiedene mögliche Formen des gelingenden Lebens überhaupt realisierbar. Ohne Beachtung dieser primären Grundgüter bleibt ihrerseits die Rede von der Freiheit leer und kann zu Ungunsten der Benachteiligten ausgelegt werden, insofern diese unter einer rein formalen Freiheitsideologie, aber fehlender Gewährung von Chancengleichheit ihre Freiheit realiter nicht ausgestalten können. Diese reale Freiheit wählt der hier als Grundnorm zuvor eingeführte Befähigungsgerechtigkeitsansatz.
Zählt man die Verhältnisbestimmung von Gemeinwohl und Eigennutz zu dem ethischen Problemkomplex: „Autonomierespekt vs. Gemeinwohl“, dann ist hierin auch die Frage nach einem
direkten oder indirekten benefit-sharing einzelner Teilnehmer oder teilnehmender (Sub)Populationen an Public Health Genetik Maßnahmen zu thematisieren (Nationaler Ethikrat
2004). Wenn aus Biobanken oder pharmakogenetischen Forschungen ein wissenschaftlicher
oder finanzieller benefit erwächst, so könnten die Teilnehmer direkt, indirekt oder überhaupt
nicht beteiligt werden. Letztere Variante müsste sich dem Vorwurf der Ausbeutung stellen,
erstere sieht sich dem Verdacht ausgesetzt, über ökonomische Anreizstrukturen biopolitischer
Sozialdisziplinierung (s. Kap. 1.4.) Vorschub zu leisten. Sollte diese Variante des direkten
benefits für den Probanden allerdings gewollt sein, böte sich mit dem „informed contract“ ein
Instrument, das die Verteilung der benefits im Einzelfall rechtsgültig festschreibt. Bei der
mittleren Variante ist zu überlegen, wie (bei allem drohenden trade-off) ein möglichst effektiver und gerechter Weg jenseits von Ausbeutung und Sozialdisziplinierung zu finden ist. Als
35
Faustregel könnte gelten: Nicht Einzelne, sondern dem öffentlichen Gesundheitswesen, dem
die Einzelnen zugehören, sollten wissenschaftliche und finanzielle benefits angerechnet werden. Das jeweilige Maß gehört ebenso in die politische Deliberation (unter Beachtung von
echten Partizipationsrechten) wie auch deliberativ zu klären ist, ob die benefits dem Gesundheitssystem global zufließen sollen oder solchen weiteren Forschungs- oder Umsetzungsprojekten zu gute kommt, die nahe bei denen angesiedelt sind, in denen die Erträge erzielt wurden. Während man die letztere Möglichkeit generaliter als eine problematische, weil falsche
Anreize setzende Strategie einordnen zu gewillt ist, wird man im speziellen bei orphan-drugFragen oder umwelt- oder arbeitsmedizinischen Fragestellungen nochmals diese Möglichkeit
nicht prinzipiell ausschließen wollen.
7. AUSBLICK
Bringt man das Dargestellte auf den (metaphorischen) Punkt, mag man an die Liedzeile „Bleibt alles anders“ von Herbert Grönemeyer denken. Auf der einen Seite bleibt alles anders. Man kann bei der ethischen Bewertung von Public Health Genetik auf bewährte ethische
Kriterien und Urteilsmuster und auf aus bestimmten geschichtlichen Traditionen kommende
Vorstellungen über das Menschsein zurückgreifen. Dennoch bleibt alles anders. D.h.: Es
kommt oder es kann kommen durch die Entwicklung der Genetik und ihrer möglichen Anwendung auf Public Health zu einer Intensivierung von Konflikten, die die Anwendung dieser
althergebrachten ethischen Kriterien noch einmal vor neue Herausforderungen stellt. Inhaltlich im Blick auf das hier Vorgetragene präzisiert: Weil sich auf die Genetik teils überzogene
Hoffnungen, teils übertriebene Ängste richten, erscheint der Fähigkeitenansatz durch die konstitutive Integration der Bildungsdimension als eine sinnvolle normativ-ethische Konzeption,
um die (zumindest ökonomisch nicht mehr aufzuhaltende) Integration genetischer Maßnahmen in die Gesundheitsversorgung kritisch, aber auch konstruktiv begleiten zu können.
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Heft 156: Kreß, Hartmut: Sterbehilfe - Geltung und Reichweite des Selbstbestimmungsrechts
in ethischer und rechtspolitischer Sicht.1. Auflage September 2004, 3. Auflage
März 2005.
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klinischer Ethik. Dezember 2004.
Heft 158: Ilkilic, Ilhan; Ince, Irfan und Pourgholam-Ernst, Azra: E-Health in muslimischen
Kulturen. Dezember 2004.
Heft 159: Lenk, Christian; Jakovljevic, Anna-Karina: Ethik und optimierende Eingriffe am
Menschen. 2.Auflage Februar 2005.
Heft 160: Ilkilic, Ilhan: Begegnung und Umgang mit muslimischen Patienten. Eine
Handreichung für die Gesundheitsberufe. 1. Auflage Juli 2003 (Tübingen), 5.
Auflage April 2005.
Heft 161: Hartmann, Fritz: Vom Diktat der Menschenverachtung 1946 zur "Medizin ohne
Menschlichkeit" 1960; Zur frühen Wirkungsgeschichte des Nürnberger
Ärzteprozesses. 1. Auflage Februar 2005, 2. Auflage März 2005.
Heft 162: Strätling, Meinolfus u.a.: Die gesetzliche Regelung der Patientenverfügung in
Deutschland. Juni 2005.
Heft 163: Sass, Hans- Martin: Abwägungsprinzipien zum Cloning menschlicher Zellen.
Januar 2006.
Heft 164: Vollmann, Jochen: Klinische Ethikkomitees und klinische Ethikberatung im
Krankenhaus. Ein Praxisleitfaden über Strukturen, Aufgaben, Modellen und
Implementierungsschritte. Januar 2006.
Heft 165: Sass, Hans- Martin: Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror.
Verantwortungskulturen bei Triage, Endemien und Terror. Februar 2006.
Heft 164: Vollmann, Jochen: Klinische Ethikkomitees und klinische Ethikberatung im
Krankenhaus. Ein Praxisleitfaden über Strukturen, Aufgaben, Modellen und
Implementierungsschritte. 1. Auflage Januar 2006, 4. Auflage April 2006.
Heft 165: Sass, Hans- Martin: Medizinische Ethik bei Notstand, Krieg und Terror.
Verantwortungskulturen bei Triage, Endemien und Terror. 1. Auflage Februar
2006, 3. Auflage März 2006.
Heft 166: Sass, Hans-Martin: Gesundheitskulturen im Internet. E-Health-Möglichkeiten,
Leistungen und Risiken. 1. Auflage Februar 2006, 2. Auflage März 2006.
Heft 167: May, Arnd T.; Kohnen, Tanja: Körpermodifikation durch Piercing: Normalität,
Subkultur oder Modetrend? Mai 2006
Heft 168: Anderweit, Sabine; Ilkilic, Ilhan; Meier-Allmendinger, Diana; Sass, Hans-Martin;
Cheng-tek Tai, Michael: Checklisten in der klinisch-ethischen Konsultation. Mai
2006
Heft 169: Kielstein, Rita; Kutzer, Klaus; May, Arnd; Sass, Hans-Martin: Die Patientenverfügung in der ärztlichen Praxis. April 2006
Heft 170: Brenscheidt, Juliane; May, Arnd T.; May, Burkard; Kohnen, Tanja; Roovers, Anna;
Sass, Hans-Martin: Zentrum für Medizinische Ethik Bochum 1986 – 2006.
Heft 171: Dabrock, Peter; Schröder, Peter: Public Health Gen-Ethik. 1. Auflage August 2006.
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Zusammenfassung:
Die Integration molekulargenetischen Wissens in Public Health stellt die biomedizinische
Ethik vor neue Herausforderungen. Es gilt die Spannung zwischen a) der Ausrichtung auf
Gruppen und deren Nutzen, wie es Public Health eigen ist, und b) den Individualrechten, wie
sie im Bereich der individuumsbezogenen Humangenetik als Standard gelten, wahrzunehmen
und ethisch verantwortlich wie pragmatisch umsetzbar zu gestalten. Die Autoren diskutieren
in diesem Zusammenhang adäquate ethische Ansätze, mit denen man den sich anbahnenden
Konflikte begegnen kann. Neben Erörterungen zum "informed consent" und auch Fragen zur
Vertraulichkeit und Datenschutz, führen sie speziell den Befähigungsgerechtigkeitsansatz ein,
den sie als angemessene Konkretisierung des Prinzips Gerechtigkeit im Ausgleich zwischen
Gruppennutzen und Wahrung individueller Integrität plausibilisieren.
Abstract:
This paper deals with societal challenges of Public Health Genetics. After describing the challenges of molecular genetics in general and Public Health Genetics in particular, it reflects on
ethical norms in this context, including specific discussions of informed consent and confidentiality. A first emphasis is put on the difference between the idea of the good and the right.
Then the capabilities approach is introduced as the adequate concept of justice in Public
Health Genetics. Considering the conflict between respect for autonomy and common welfare, the implications of the capabilities approach for Public Health Genetics are discussed.
ISBN:3-931993-52-3
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