PROZESS - IT Flexibilität ist Trumpf Chemieanlage mit moderner Prozessvisualisierung ausgerüstet Eine sichere Prozessführung war beim Bedienen chemischer Reaktoren schon immer ein Thema mit höchster Priorität. Wegen der hohen Investitionskosten wird aber auch die Flexibilität chemischer Anlagen, also die Fähigkeit, verschiedene Produkte mit verschiedenen Parametern kostengünstig herzustellen, zunehmend wichtiger. Eine bei Montreux geplante Anlage wurde mit dem Prozessvisualisierungssystem Simatic WinCC ausgestattet. Veronique Chatelain, Siemens A&D Renens Der große Trumpf der neuen Hydrieranlage des britischen Pharma- und Feinchemie-Zulieferers Sigma Aldrich ist ihre Vielseitigkeit: Sie lässt sich für eine große Zahl typischer Reaktionen, wie etwa die Reduktion von Nitrogruppen, Ketonen (in Alkohol), Doppel- und Dreifachbindungen sowie die Sättigung von Aromaten, einsetzen. Diese Prozesse sind technisch heikel, weil das Wasserstoffgas so gut wie möglich in die Flüssigkomponenten diffundieren muss, damit genügend Kontaktfläche für den Ablauf der chemischen Reaktion entsteht. „Diese enorme notwendige Reaktionsoberfläche zu generieren ist tatsächlich nicht ganz einfach“, bestätigt Prozessingenieur Pascal Heitzmann. Eine explosive Sache Sein Arbeitgeber, die Biazzi SA in Chailly bei Montreux, verfügt aber zweifellos über das nötige Prozess-Know-how. Schließlich zählt das Unternehmen in Sachen Hydrierungsund auch Nitrierungstechnologie weltweit zu den führenden und hat über 300 Anlagen im Betrieb. Biazzi hat auch die Anlage, die mit einem 400-l-Reaktor ausgerüstet ist, für Sigma Aldrich in der Schweiz erstellt, ge- 1: Die Bedienung der Anlage ist über nur 25 Masken möglich prüft, nach England transportiert, dort in Betrieb genommen und validiert. Hydrierungsprozesse sind normalerweise stark exotherm, d.h. sie geben sehr viel Hitze ab und bauen in geschlossenen Systemen schnell großen Druck auf. Die Automatisierung der Anlage konzentriert sich folgerichtig auf zwei Hauptregelungen: die der Gaszuführung und – davon abhängig – des Drucks einerseits sowie der Temperatur andererseits. Während ersteres technisch kaum Probleme bereitet, wird letzteres über einen ausgeklügelten Plattenwärmeübertrager erledigt, durch den ein Kühlmittel fließt und die Wärme abtransportiert. Auf der Automatisierungsseite hat sich Biazzi zusammen mit dem Lausanner Engineering-Büro Online Automation nach eingehender Evaluation fast ausschließlich für Komponenten eines Herstellers entschieden. „Das hat sich als richtige Entscheidung herausgestellt, zumal dieser auch im Stande ist, ganze Systeme aus einer Hand zu liefern“, meint Heitzmann rückblickend. Zudem, so der Prozessingenieur weiter, sei das offene und durchgängige Automatisierungskonzept Totally Integrated Automation (TIA) richtungsweisend, weil dadurch unnötige Schnittstellen und viel Engineering-Zeit gespart werden kann. Alle Komponenten im Rahmen des TIA-Konzepts verfügen über dreifache Durchgängigkeit bei Projektierung und Programmierung sowie Datenhaltung und Kommunikation. So werden also die Prozesse im Reaktor mit einer speicherprogrammierbaren Steuerung Simatic S7–400 gesteuert. An die in der CPU-Baugruppe integrierte Feldbusschnittstelle ist ein Profibus-DP angekoppelt, über den drei dezentrale Peripheriestationen ET 200M angesteuert werden. Diese wiederum schalten den gesamten Ex-Bereich sowie einen Frequenzumrichter Micromaster und zwei Ventilmodule Festo CPV14 vor Ort. Zur Leitebene ist die SPS über einen Profibus FMS mit einem Industrie-PC verbunden. Auf dem Industrie-PC sind das Prozessleitsystem Simatic PCS7 und die Prozessvisualisierung Simatic WinCC installiert. Projektingenieur Stéphane Olgiati erklärt, warum der DP-Bus nen laufen praktisch alle auf Windows NT; daher ist es für uns wichtig, dass auch WinCC auf NT basiert. Außerdem sind heute die meisten Bediener mit einer MicrosoftPlattform vertraut.“ Schnell vertraut mit der Bedienung 2: Das Hauptbedienbild dient zur Orientierung und zeigt alle Anlagenteile auf einen Blick nicht – wie theoretisch möglich – bis zum Leitsystem durchgezogen wurde: „Der Profibus-DP ist vor allem auf die Aktor/Sensorebene ausgelegt. Der FMS-Bus dagegen ist ideal für den Datenaustausch zwischen der SPS und dem System zum Bedienen und Beobachten (B&B) auf dem PC. Aus Gründen der Betriebssicherheit ist die Prozessebene so weit von der Leitebene unabhängig, dass die SPS den Prozess auch bei Problemen auf der Überwachungsebene, wie etwa einem PCAbsturz, unabhängig weitersteuern kann.“ Neben den prozessbedingten Vorgaben muss die Hydrieranlage aber auch gesetzlichen und kundenspezifischen Anforderungen genügen. Weil die hier produzierten Stoffe Eingang in pharmazeutische Produkte finden, muss die Anlage als Ganzes den Good Manufacturing Practices (cGMP) entsprechen, das heißt, die einzelnen Komponenten der Anlage sowie der gesamte Prozess müssen nach gewissen Regeln validiert werden. Darüber hinaus sind auch die Standards und Normen verschiedener Landesbehörden – die höchste Hürde ist in dieser Hinsicht die US-amerikanische Food and Drug Administration (FDA) – zu erfüllen. Genaue Reproduzierbarkeit ist besonders wichtig Die Referenz-Validation wurde beinahe vollständig durch das Engineering-Büro erstellt. Sie war gemäß Daniel Roth, seinem technischen Direktor, auf Grund der Verwendung von Komponenten eines einzigen Herstellers einfacher: „Die Teile sind oft von vorneherein für die Validierung anerkannt, und auch die Features des Visualisierungssystems WinCC haben uns die Aufgabe erleichtert.“ Eine der Eigenschaften von WinCC (Windows Control Center) ist in diesem Zusammenhang besonders wichtig: die der genauen Reproduzierbarkeit. Prinzipiell muss die Anlage flexibel sein; das heißt, das hergestellte Produkt und die dazugehörigen Parameter müssen von Tag zu Tag mit vertretbarem Aufwand verändert werden können. Und doch muss ein und dasselbe Produkt immer wieder bis ins kleinste Detail genau gleich hergestellt werden, egal ob der Batch vor zwei Jahren oder vorgestern produziert wurde. Zu diesem Zweck stellt WinCC eine Bibliothek aller Parameter für jedes einzelne Produkt zur Verfügung, von der die benötigten Daten zu einem späteren Zeitpunkt wieder heruntergeladen werden können. Die Bibliothek ist über die in WinCC integrierte Standard-Datenbank Sybase SQL Anywhere realisiert, in der alle listenorientierten Projektierungs- und Prozessdaten abgelegt werden und die durch applikationsspezifische Objekte erweitert wurde. Der Zugriff auf die Datenbank ist mit der Datenbankabfragesprache SQL (Structured Query Language) oder über ODBC-Treiber (Open Database Connectivity, einem standardisierten Protokoll für den Zugriff auf Datenbanken unter Microsoft Windows) möglich. Das B&B-System WinCC wurde durch Online Automation in Lausanne projektiert und programmiert. Deren technischer Direktor Roth schätzt vor allem die Tatsache, dass dieses Prozessvisualisierungssystem auf dem 32-Bit-Betriebssystem Windows NT basiert: „Unsere eigenen Überwachungsapplikatio- Das bestätigen auch Olgiati und Heitzmann, die die Operateure von Sigma Aldrich vor Ort ausgebildet haben. „Die Leute waren etwa fünf Tage lang, allerdings nicht zu 100 %, mit der Anlage in Kontakt und haben sie danach beherrscht, nicht zuletzt auch auf Grund ihrer Vertrautheit mit Windows“, meint Heitzmann. Und Olgiati fügt bei: „Die Ausbildung war kurz und schmerzlos, weil das ganze Überwachungssystem sehr intuitiv aufgebaut hat.“ Tatsächlich ist die Bedienung der Anlage, die rund 1 800 Power Tags, also Prozessvariablen mit Prozessverbindung zur Steuerung umfasst, über nur 25 Masken möglich. Einzig das Hauptbild, das aus Sicherheitsgründen die gesamte Hydrieranlage zeigt, ist etwas komplex geraten. „Von dieser Maske aus wählt der Operator, in welchem Bereich er etwas bedienen möchte. Die Maske für diesen Bereich ist dann sehr viel übersichtlicher“, erklärt Roth die Bedienphilosophie. WinCC geht aber noch weiter: Wenn die Parameter für einen chemischen Prozess von den Verantwortlichen erst einmal festgelegt sind, wobei der Zugang über Passwörter hie- KOMPAKT Prozessvisualisierung Die neue Hydrieranlage eines britischen Pharma- und Feinchemie-Zulieferers wurde mit dem Prozessvisualisierungssystem WinCC zum Bedienen und Beobachten ausgestattet. Eine der wichtigsten Eigenschaften dieses Prozessvisualisierungssystem ist die genaue Reproduzierbarkeit. Hierzu stellt WinCC eine Bibliothek aller Parameter für jedes einzelne Produkt zur Verfügung; die Bibliothek ist über die Standard-Datenbank Sybase SQL Anywhere realisiert, in der alle listenorientierten Projektierungsund Prozessdaten abgelegt werden und die applikationsspezifischen Objekte erweitert wurden. Das Visualisierungssystem basiert auf Windows NT, ermöglicht einfache sowie sichere Bedienung über lediglich 25 Masken und ist auf Kundenbedürfnisse skalierbar. PROZESS - IT rarchisch geregelt ist, wird der Operateur vom System durch den Prozess geführt. Das sequenziell ausgelegte System öffnet dem Operator jeweils die Maske, die für den momentan ablaufenden Prozessschritt relevant ist. Der Bediener weiß also immer, wo genau im Prozess er sich befindet. Werden Parameter in unzulässiger Weise verändert, gibt das System Alarm, und zwar visuell in der betreffenden Maske und auch als Klartext-Meldung. Störungen können so frühzeitig erkannt und rasch lokalisiert werden, so dass die Verfügbarkeit der Anlage erhöht wird. Roth, der bereits verschiedene B&B-Lösungen mit WinCC realisiert hat, schätzt auch die Skalierbarkeit des Systems für einfachere oder komplexe Aufgaben. Dadurch können beim Anwender unnötige Kosten durch Überkapazitäten vermieden werden, und doch bleibt die Flexibilität für spätere Ausbauschritte erhalten. „In diesem Fall handelt es sich um eine einfache Konfiguration mit nur einem PC zur Visualisierung. Für Biazzi wäre aber beispielsweise eine Lösung interessant, im Rahmen derer der Kunde einen zweiten PC installiert, der direkt mit uns Verbindung aufnehmen könnte. Das ließe sich mit WinCC sehr leicht einrichten.“ Tatsächlich lässt sich eine WinCC-Einplatzlösung mit der Programmoption WinCC/Server markant ausbauen: Ein WinCC-Server kann damit bis maximal 16 WinCC-Clients über eine TCP/IP-Verbindung mit Daten und Meldungen versorgen. Branchenspezifische Lösungen möglich Aufbauen lässt sich mit WinCC allerdings nicht nur vom Umfang her, sondern auch thematisch: Das B&B-System ist nämlich 3: Chemiereaktor von Biazzi technologie- und branchenneutral konzipiert und kann dann über sogenannte WinCC- Optionen, Add-ons oder eigene Lösungen eines Kunden branchenspezifisch umgesetzt werden: Mit der Option „Storage“ wurde eine Langzeitdatenerfassung realisiert, mit der sich die in dieser Branche hohen Anforderungen an das Reporting erfüllen lassen. Mit der Option „Open Development Kit“ wurden eigene Applikationen mit Zugriff auf WinCC-Daten und Funktionen entwickelt. Mit dem Add-on „Picture Tree Manager“ werden die Bildhierarchien übersichtlich dargestellt. Mit dem Add-on „Dynamic Link Library“ wird dynamisch Zugriff auf Excel-Tabellen genommen, die den Text für die einzelnen Masken enthalten. Schließlich hat die Online Automation auch ActiveX-Objekte für diese Lösung entwickelt. Ungefähr ein halbes Jahr nach der Inbetriebnahme der britischen Hydrieranlage im Mai bzw. Juni 2000 konnte Roth eine erste Bilanz ziehen: „Wir sind mit WinCC ganz und gar zufrieden. Das System läuft stabil und zuverlässig, was sich längst nicht immer von anderen Systemen sagen lässt. Mit WinCC haben wir ein Software-Tool, mit dem sich spezifische Anforderungen – auch zukünftige – gut umsetzen lassen.“