Die Öffnung religiöser Räume seit den 1950er Jahren

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Jenseits der Kirche
Die Öffnung religiöser Räume seit den 1950er Jahren
Herausgegeben von
Frank Bösch und Lucian Hölscher
geschichte der religion
in der neuzeit
Herausgegeben von Lucian Hölscher
Band 5
Jenseits der Kirche
Die Öffnung religiöser Räume
seit den 1950er Jahren
Herausgegeben von
Frank Bösch und Lucian Hölscher
Gedruckt mit Unterstützung der
Deutschen Forschungsgemeinschaft
und des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam
Inhalt
Frank Bösch / Lucian Hölscher
Jenseits der Kirche
Raum und Religion in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7
1. Die Öffnung kirchlicher Räume
Stefan Böntert
Katholischer Kirchenbau zwischen theologischem Anspruch
und gesellschaftlichem Wandel
Raumkonzepte in der Liturgiereform nach dem II. Vatikanum . . . . . 29
Wiebke Arnholz
Der Raumtypus Gemeindezentrum
Eine Mikrostudie zur architektonischen Neuordnung des katholischen
Gemeindelebens seit den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59
Katrin Bauer
Katholisches Gemeindeleben in Hochdahl –
ein Generationenprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84
2. Neue Räume jenseits der Kirchen
Thomas Mittmann
Kirche im performativen Wandel –
Die Entwicklung der Katholikentage und der
Evangelischen Kirchentage in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . 107
Frank Bösch
Verwandlungen des sozialistischen Raums:
Papst Johannes Paul II. in Polen 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149
Pascal Eitler
»Orte der Kraft«
Körper, Gefühle und die religiöse Topologie des »New Age« . . . . . . . . 176
5
inhalt
3. Kirchliche Räume im Medienzeitalter
Ronald Funke
Mediale Kirchenräume
Katholische und evangelische Fernsehgottesdienste
seit den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203
René Schlott
»Bühne für den Papstwechsel«
Die Papsttode und die Verwandlung des Petersplatzes . . . . . . . . . . . . . 241
Jana Ebeling
Religiöser Straßenprotest?
Medien und Kirchen im Streit um den § 218 in den 1970er Jahren . . . . 256
Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288
6
Jenseits der Kirche
Raum und Religion in der Moderne
Frank Bösch / Lucian Hölscher
Bis vor wenigen Jahrzehnten waren Kirchen noch der bevorzugte Ort
kirchlicher Gemeindeversammlungen und der christliche Gottesdienst
hatte in den Sakralbauten seine eigentliche Heimat. Insofern fiel »Kirche«
im Sinne des Kirchengebäudes und »Kirche« im Sinne der christlichen Gemeinde noch in größerem Maße in eins als heute. In der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts hat sich diese Identität von religiösem Ort und religiösem
Ereignis zunehmend gelockert: Gottesdienste, religiöse Veranstaltungen
fanden vermehrt auch außerhalb des Kirchenraums statt. Mitunter mieden
sie geradezu den traditionellen Kirchenraum, um sich auf offenen Plätzen,
in Messehallen oder Fußballstadien ein großes Publikum zu erschließen
oder über die Medien in die breite Öffentlichkeit hinein zu wirken. Die
räumliche Verlagerung kirchlicher Versammlungen »in die Stadt« und in
die allgemeine Öffentlichkeit hinein ging mit neuen Anstrengungen der
großen christlichen Kirchen einher, das Ghetto ihrer Selbstabschließung
in der modernen säkularen Gesellschaft aufzubrechen. Sie strebten danach,
säkulare Räume für die Kirche zu erschließen, die die Grenze zwischen
religiösen und säkularen Veranstaltungen aufweichten.1 Während die klassischen sakralen Räume an Bedeutung verloren und nun vornehmlich ästhetisch erfahren wurden, gewann die Religion in öffentlichen Räumen eine
stärkere, wenn auch meist nur temporäre Präsenz. Und bereits diese räumliche Veränderung sorgte dafür, dass sich die Sprache, Darstellung und
Rolle der Religion markant veränderte.
Zugleich wurden jedoch auch die Kirchengebäude und ihre Innenräume
selbst neu gestaltet, um den Bedürfnissen eines neuen Gemeinde- und
Gottesdienstverständnisses Rechnung zu tragen. Statt sich etwa in parallelen Sitzreihen auf den Altar hin auszurichten, saß die Gemeinde seit den
1960er Jahren häufiger als früher im Kreis, blickte in Gebet und Predigt
stärker auf ihre eigene Mitte als auf den Altar und symbolisierte so in der
räumlichen Ordnung des Gottesdienstes ihr gewandeltes Gottesverhältnis.
Auch städtebaulich hat sich der Ort der Kirchen verschoben: Statt den weithin sichtbaren Mittelpunkt städtischer Anlagen zu bilden, suchten neuere
1 Vgl. allein zur Vielfalt der Orte, an denen heute Gottesdienste stattfinden (von der
Akademie bis zum Zoo): Gotthard Fermor u. a. (Hg.), Gottesdienst-Orte. Handbuch Liturgische Topologie, Leipzig 2007.
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frank bösch / lucian hölscher
Kirchenbauten häufiger die Nähe zu ihren Gemeinden in den Wohn­
gebieten. Sie schmiegten sich auch baulich in die Anlage der Wohnviertel
und duckten sich oft geradezu in deren enge Nachbarschaft. Bei zahlreichen Kirchenneubauten dominierten dabei die mit dem »wandernden Gottesvolk« verbundene »Zeltarchitektur« oder der Typus der »Kirche für
andere«, d. h. Bauformen, die sich an die säkularen Baustile in den Wohngebieten anpassten und sich mit multifunktionellen Räumen auch nichtsakralen Zwecken öffneten.2
Der Raum, dies können schon diese wenigen Beobachtungen zeigen, bildet eine wesentliche Dimension der Kirchen- und Religionsgeschichte. In
ihm dokumentiert und symbolisiert sich die kirchliche Selbstverortung in
der modernen Gesellschaft, das Selbstverständnis der Kirchen nach innen
wie nach außen. Deshalb lohnt es sich, den räumlichen Ordnungen kirchlicher Veranstaltungen und Präsenz verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen, ihre Wandlungen im Laufe der Zeit zu verfolgen und an ihnen die
Beziehungen abzulesen, welche die Kirchen im Innern wie nach außen aufbauen. Raumordnungen geben ihre soziale und religiöse Bedeutung allerdings oft nur im Zusammenhang mit dem zeitlichen Ablauf der Veranstaltungen zu erkennen, die sich in ihnen entfalten. Nur in der konkreten
Nutzung, im Verlauf religiöser Veranstaltungen erschließt sich ihr Sinn.
Kirchliche Räume haben so auch immer eine performative und zeitliche
Dimension.3 Verlauf und räumliches Arrangement bilden zwei Seiten derselben Sache.
Der vorliegende Band vereinigt sozial- und architekturgeschichtliche,
kulturanthropologische, mediengeschichtliche und theologische Studien,
die die Bedeutung der räumlichen Ordnung und des performativen Vollzugs religiöser Institutionen in der modernen Gesellschaft ausloten. Ausgehend von den christlichen Konfessionen in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg zeigen die Artikel an ausgewählten
Beispielen, wie sich die räumlichen Konstellationen religiöser Veranstaltungen und damit auch die Kirchen und christlichen Konfessionen insgesamt
gewandelt haben. Dabei spielten eine Fülle äußerer und innerer Faktoren
mit: die Überholung und Ablösung traditioneller religiöser Formen, die
Säkularisierung der Kirchen und der europäischen Gesellschaften insgesamt, ihre zunehmende Mobilisierung, Vermischung und massenmediale
Erschließung, um nur einige zu nennen. Im Zuge ihrer Entfaltung sind alt2 Vgl. zur Konzeption und Ausgestaltung: Kerstin Wittmann-Englert, Zelt, Schiff
und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg 2006, S. 11,
113.
3 Den Aspekt der Performanz betont auch: David Plüss, Sichtbare Religion im öffentlichen Raum, in: Praktische Theologie 47/4, 2012, S. 204-210.
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raum und religion in der moderne
vertraute Raum- und Zeitkonzepte aufgelöst und durch neue ersetzt, traditionelle räumliche und zeitliche Grenzen eingerissen, an ihrer Stelle neue
errichtet worden.
Getragen werden die Studien von der Vermutung, dass sich der religiöse
Wandel der letzten fünf Jahrzehnte gerade in der neuen Organisation räumlicher Ordnungen und zeitlicher Vollzüge abbildete und durchsetzte. Diesen diagnostischen Ansatz will der vorliegende Band zur Diskussion stellen
und damit zugleich auf die elementare Bedeutung der Dimensionen von
Raum und Zeit für die soziale Existenz von Religionen hinweisen. In gewisser Weise lässt sich von einer doppelten Zunahme »ephemerer Räume«
sprechen: von Räumen, die sich ereignisbezogen konstituieren, und von
neu gebauten Kirchenräumen, die sich nun aber im Rückblick als vergleichsweise temporär erweisen, wie manches heute bereits wieder geschlossene Gemeindezentrum zeigt. Einleitend sollen dafür zunächst einige
grundsätzliche Überlegungen zu räumlichen Dimensionen benannt werden, in denen sich christliche Großorganisationen schon seit langem entfaltet haben.
1. Raum als Gegenstand der (Religions-)Geschichte
Materielle Räume sind nicht einfach nur »Container«, die mit beliebig
wechselnden Inhalten gefüllt werden. Vielmehr lassen sie sich als bewusst
gewählte Anordnungen verstehen, die das Handeln von Menschen beeinflussen und gewünschte soziale Ordnungen und Deutungen repräsentieren,
die dann durch die konkreten Nutzungen einen bestimmten Sinn erhalten.
Entsprechende historische Ansätze kamen frühzeitig auf, insbesondere
durch die Historiker der französischen Annales-Schule, und seit den 1990er
Jahren häufte sich der Ruf nach einem »spatial turn«.4 In der Kirchen- und
Religionsgeschichte, aber auch in der Geschichtswissenschaft insgesamt
fanden diese Ansätze jedoch bisher vergleichbar wenig Beachtung. Auf
theologischer Seite wurde zwar die »Religion des Raumes« und »die Räumlichkeit der Religion« diskutiert, aber noch kaum in historische Thesen zum
Wandel der Religion eingebettet.5 In der historischen Forschung wurde
4 Zur historischen Entwicklung der Ansätze und aktuellen Konzepten vgl. Susanne
Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt 2013. Als Überblick zum Aufkommen des »spatial turn« vgl. auch: Doris Bachmann-Medick,
Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006,
S. 284-328.
5 Das wachsende Interesse der Theologie am Thema des Raumes verdeutlichen die
gegenwartsbezogenen, auch sozialwissenschaftlich inspirierten Beiträge in: Tho-
9
frank bösch / lucian hölscher
zwar verschiedentlich die Bedeutung des Raums hervorgehoben, dies jedoch eher auf geographische Räume und deren kulturelle Repräsentation
bezogen und weniger auf die Ausdrucks- und Prägekraft von konkreten
materiellen Räumen, die durch bewusste Bauweisen oder durch konkrete
Arrangements und Praktiken entstanden.6
Unser Buch legt seinen Schwerpunkt gerade nicht auf geographische
Räume, wenngleich diese nicht minder kulturell geprägt und konstruiert
sind. Von seinen Grundideen her dienten vor allem Konzepte der Soziologie als Inspiration. Insbesondere der französische Soziologe Henri Lefebvre
machte frühzeitig darauf aufmerksam, dass Räume produziert werden, soziale Beziehungen herstellen und Wahrnehmung, Nutzung und Aneignungen prägen.7 Dabei unterschied er zwischen dem gedachten Raum (espace
conçu), dem erfahrenen Raum (espace perçu) und dem erlebten Raum (espace vécu). Gerade die Ebenen der Konzeption und der praktischen Erfahrung des Raums greifen die Beiträge auf. Dass Räume und Raumpraktiken dabei stark mit Machtfragen verbunden sind, unterstrich vor allem die
Sozialtopologie von Pierre Bourdieu. Er sensibilisierte dafür, die Materialisierung von sozialen Strukturen in Räumen zu fassen und damit Beziehungen und Ausgrenzungen ernst zu nehmen.8 Gerade für die räumliche
Konstituierung der liturgischen Reformen seit den 1960er Jahren, die die
Kirchenstrukturen zu demokratisieren suchten, erscheint dies anschlussfähig. Wie Bourdieu am Beispiel von algerischen Familien in Frankreich
ausführte, kann der Wechsel von Räumen zudem zum Bruch von Routinen führen.9 Auch dies lässt sich als ein Aspekt der räumlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fassen, ohne dass die
Kirchen die tatsächliche Raumaneignung stets steuern konnten.
6
7
8
9
10
mas Erne/Peter Schüz (Hg.), Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der
Religion, Göttingen 2010.
Vgl. zuletzt etwa: Christof Dipper/Lutz Raphael, »Raum« in der Europäischen
Geschichte. Einleitung, in: Journal of Modern European History 9/1, 2011, S. 2741. Im gleichen Heft auch ein Beitrag zur kartographischen Repräsentation der
Religion: Ute Schneider, Die Farben der Religion. Topographie und Topik der
»Deux France«, in: Journal of Modern European History 9/1, 2011, S. 117-139.
Henri Lefebvre, The Production of Space, Oxford 1991 [La production de l’espace,
Paris 1974].
Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und Klassen. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 7-46. Zu diesem Ansatz vgl. etwa: Sighard Neckel,
Felder, Relationen, Ortseffekte. Sozialer und physischer Raum, in: Moritz Csáky/
Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem »spatial turn«, Bielefeld 2009, S. 45-55.
Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M. 1991, S. 25-34.
raum und religion in der moderne
Wegweisende Anstöße für raumbezogene Analysen gab in der deutschsprachigen Forschung vor allem die Soziologin Martina Löw. Im Anschluss
an ihre Studien gehen wir von einem »prozessualen Raumbegriff« aus, »der
das Wie der Entstehung von Räumen erfasst« und soziale und materielle
Räume verschränkt denkt.10 Entsprechend geht es uns weniger darum, den
Raum im metaphorischen Sinne aufzugreifen,11 sondern als eine materiell
basierte, aber konstruierte Einheit, die eine spezifische Kommunikation
ermöglicht. Damit rückt die Verbindung zwischen der jeweiligen materiellen und diskursiven Ausgestaltung von Räumen und ihrer jeweiligen kommunikativen Aktualisierung in den Vordergrund. Dem entsprechend ist die
Konstituierung von Räumen mit dem jeweiligen medialen Ensemble einer
Zeit verbunden. Insbesondere die dynamische Medialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte die Konstituierung von Räumen, ebenso aber natürlich auch das Fernsehen in den 1950er/60er Jahren
und schließlich, wenn auch für Historiker noch nicht aktuell, das Internet.12
Für diese historische Veränderung wurde der Begriff der »Verräumlichung«
vorgeschlagen, »als Set jener kommunikativen Praktiken, mit dem Individuen Raumbezüge herstellen und sich entsprechend orientieren«.13 Ob
durch die Medien umgekehrt der Ort des Handelns zunehmend an Bedeutung verliert und durch die mediale Kopräsenz eine »raumzeitliche Abstandsvergrößerung« entsteht, wäre zu hinterfragen. Denn parallel zur Medialisierung nahm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts offensichtlich
auch die temporäre persönliche Begegnung in materiellen Räumen bei
religiösen Events zu.14
Vor allem Michel de Certeau betonte anschaulich, dass Räume sich durch
Praktiken konstituieren. Nach Certeau ist »der Raum ein Ort, mit dem
10 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 15.
11 Eher eine metaphorische Verwendung des Raums i. S. von Öffentlichkeit verwenden: Bernd Schröder/Wolfgang Kraus (Hg.), Religion im öffentlichen Raum/
La Religion dans l’espace public. Deutsche und französische Perspektiven/Perspectives allemandes et françaises, Bielefeld 2010.
12 Zur Beziehung zwischen Medienwandel und historischen Veränderungen vgl.
generell: Frank Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck bis zum
Internet, Frankfurt a. M. 2011; speziell zur Verbindung zur Religion vgl. Frank
Bösch/Lucian Hölscher (Hg.), Kirche – Medien – Öffentlichkeit. Transformatio­
nen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945, Göttingen 2009.
13 Alexander C. T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold, Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840-1930, in: Dies. (Hg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005,
S. 15-49, hier S. 30.
14 Diese »popular religion« wurde vielfältig hervorgehoben: vgl. etwa Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt
2009.
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frank bösch / lucian hölscher
man etwas macht« (prägnanter im Orginal: »l’espace est un lieu pratiqué«),
»ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeit­
lichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.«15 Entsprechend nehmen die hier versammelten Arbeiten über die Anordnung
und den Wandel von religiösen Räumen hinaus auch die Performanz kirchlicher Veranstaltungen in den Blick.16 Gefragt wird nach den räumlichen
Anordnungen und Abläufen, den konzeptionellen und programmatischen
Vorgaben, nach Ritualen, Gesten und anderen performativen Akten im Zusammenhang mit kirchlich konnotierten Veranstaltungen, nach den dabei
beobachtbaren visuell-körperlichen Interaktionen zwischen Akteuren und
dem Publikum und nach Inszenierungsstrategien und -regeln. Die jeweilige Anordnung kann unterschiedliche Lesarten entfalten. Stuhlkreise etwa
dienten bei kirchlichen Versammlungen oft nicht nur der Auflösung frontaler Kommunikationsformen, sondern auch als Symbol für die Geschlossenheit der »Runde«, die sich hier versammelte. Ähnliches gilt auch für die
neuen, offenen Gottesdienstformen, die seit den frühen 1970er Jahren
­unter dem Programmbegriff »Neue Liturgie« bei den Evangelischen Kirchentagen Konjunktur hatten und die dem einzelnen Kirchentagsbesucher
im Kollektiv eigene Entwicklungs- und Erfahrungsmöglichkeiten einräumen sollten wie etwa die »Liturgische Nacht« oder das »Feierabendmahl«.
Wie gegenwartsbezogene Untersuchungen zeigen, werden auch die Kirchenbauten von unterschiedlichen Kirchenbesuchern unterschiedlich gedeutet.17
Die Analyse performativer Akte im kirchlichen Raum dient der Frage,
wie weit Kirche als Veranstaltung im Vollzug beschrieben werden kann.
Dabei ist davon auszugehen, dass kirchliche Veranstaltungen in hohem
Maße symbolisch aufgeladen sind, d. h. dass Gesten und Riten, liturgische
Abläufe, Kleiderordnungen, räumliche Anordnungen und Interaktionen,
ja selbst das Verhältnis von Vorgaben und spontanen Aktionen immer einen
religiösen Übersinn aufweisen, der von den Beteiligten gleichermaßen erfahren, aber different gedeutet wird. Gerade im Untersuchungszeitraum
scheinen sich die performativen Ausdrucksinventare der Kirchen stark gewandelt zu haben. Dabei ging es zum einen um den Gewinn neuer Glaub-
15 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218.
16 Zum Potential des »performative turn« für die Geschichtswissenschaften vgl.
Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hg.), Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln u. a. 2003, sowie Bachmann-Medick, Cultural Turns (s. Anm. 4).
17 Anna Körs, Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen. Eine raumsoziologische Studie zur Besucherperspektive, Opladen 2012.
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raum und religion in der moderne
würdigkeit und Sinnkonstruktionen durch die Abkehr von »überholten« Ausdrucksinventaren, andererseits aber auch um die Überwindung
von symbolischen Barrieren innerhalb der Gemeinden und zur säkularen
Gesellschaft.
In dem Maße, in dem kirchliche Räume und Akteure allerdings alte Distinktionsmerkmale gegenüber der gesellschaftlichen Außenwelt auflösten,
nährten sie auch ein neues Bedürfnis nach symbolischer Auszeichnung
kirchlicher Handlungsabläufe. Wenn sich der Pfarrer etwa nicht mehr am
Talar erkennen ließ, weil er in Jeans und Rollkragenpullover auftrat, dann
gab er seine soziale Rolle doch oft durch andere Zeichen zu erkennen.
Dies konnten spezifische Formen sprachlichen Verhaltens, aber auch eine
Anstecknadel oder andere sichtbare Zeichen sein. Welche Zeichen und
Symbole geschaffen wurden (z. B. der Schal und das Halstuch auf Kirchentagen), welche sich erfolgreich durchzusetzen vermochten (z. B. Lichterketten), wie sich kirchliche Akteure kurzum performativ zu erkennen gaben (etwa durch charakteristische Gesten und Redewendungen), ist
Gegenstand des hier skizzierten Untersuchungsfeldes. Die PerformanzAnsätze blicken auf »Aufführungen« an konkreten Orten, bei denen Bedeutungen im Vollzug von Handlungen entstanden, wobei alle Anwesenden (auch die »Zuschauer«) zur Sinnbildung beitrugen. Wenngleich dies
häufig auch nicht leicht zu fassen ist, sollen die Beiträge versuchen, eine
dichte Beschreibung der Raumanordnung mit den jeweiligen Nutzungen
und Deutungen zu verbinden.
Räumlich strukturiert sind schließlich die Erinnerung und die Narra­
tivierung von Geschichte. Vor allem die Studien von Karl Schlögel plädierten anschaulich dafür, durch genaue Beobachtung von Orten und
den mit ihnen verbundenen Geschichten Räume sichtbar zu machen.18
Das vielfach boomende, aber sehr unterschiedlich ausgelegte Konzept der
»Erinnerungs­orte« unterstreicht diese Verbindung, die zumindest teilweise auf konkrete Räume bezogen wurde. Wenig bekannt ist heute, dass
Maurice Halbwachs bereits 1938 anhand der sozialen Topographie des
Evangeliums aufzeigte, wie Vorstellungen von den biblischen Orten auf
Dauer gestellt wurden.19 Auch für künftige religionsgeschichtliche Studien wäre entsprechend zu fragen, wie die durch bestimmte Praktiken
und Anordnungen konstituierten Orte erzählerisch tradiert wurden. Unser Buch streift dies an prominenten Beispielen – wie »Essen 1968« oder
18 Vgl. bes. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisierungsgeschichte
und Geopolitik, München 2003.
19 Erschienen zuerst 1941, auf Deutsch: Maurice Halbwachs, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003.
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frank bösch / lucian hölscher
Stätten berühmter Papstbesuche in Polen – aber auch anhand der Erinnerung an den Alltag in gewöhnlichen Gemeindezentren in den 1970er/80er
Jahren.
2. Religiöse Räume und christliches Territorialprinzip
in historischer Perspektive
Wie sich religiöse Gemeinschaften räumlich und zeitlich organisieren, ist
alles andere als trivial. In ihrer raum-zeitlichen Organisation bilden sich in
hohem Maße ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft, ihre äußeren Beziehungen zu den Menschen und zu anderen Institutionen, aber auch ihre
innere Verfasstheit ab. So finden sich zum Beispiel in allen Religionen heilige Zeiten und heilige Räume, die sich von profanen Räumen unterscheiden; Orte und Zeitpunkte, an denen sich religiöse Handlungen verdichten,
indem dort etwa viele Gläubige zusammenkommen, gemeinsam ihre Riten begehen und sich so von anderen Zeiten und Räumen absondern.20 So
verfügt die Evangelische Kirche in Deutschland derzeit über immerhin
75 000 Gebäude, darunter gut 20 000 Kirchen und Kapellen und knapp
3400 Gemeindezentren mit Gottesdienstraum.21 Zugleich ist und war die
Unterscheidung zwischen sakralen und profanen Räumen schon immer
eine Grenzziehung, die in der Praxis die beteiligten Akteure aushandelten.
Das galt bereits im Mittelalter und der Frühen Neuzeit für die Gotteshäuser, deren Kirchenräume bereits »Multifunktionalität« aufwiesen: wo zahllose säkulare Praktiken stattfanden, seien es Handel und Lagerung von
Waren, Zuflucht und Armenspeisung oder Feste und weltliche Kommunikation.22 Umgekehrt agierten die Kirchen und die religiöse Praxis vielfältig in säkularen Räumen – von der Pilgerfahrt bis zum Feldgottesdienst.
Gerade im Anschluss an Luthers Ablehnung einer verdinglichten Frömmigkeit und Calvins enger Verzahnung kommunaler und kirchlicher Aufgaben fiel es den Protestanten leichter, sich jenseits der Kirche zu ver­
sammeln.
Religiöse Organisationen verdichten sich zudem als weltliche Institu­
tionen in Verwaltungszentren, von denen bestimmte Leistungen für die
20 Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Göttlichen. Köln
2008.
21 EKD, Statistik auf Basis der Erhebung 2010; http://www.ekd.de/statistik/kirchen.
html [22.5.2013].
22 Vgl. die Beiträge in: Susanne Rau/Gert Schwerhoff (Hg.), Topographien des Sakra­
len. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, Hamburg 2008, besonders
Susanne Rau, Raum und Religion. Eine Forschungsskizze, in: Ebd., S. 10-37.
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raum und religion in der moderne
Gesellschaft erbracht werden. Auch diese Leistungen sind meist an bestimmte Räume gebunden. Grenzziehungen zu benachbarten Verwaltungsräumen haben z. B. in Europa seit dem 19. Jahrhundert zur kleinteiligen
Kartierung religiöser Verwaltungsbezirke geführt.23 Bis dahin waren die
Grenzen zwischen Gemeinden, Bistümern, Klöstern in der Regel nicht genau festgelegt, sie richteten sich mehr nach den personalen Beziehungen
und Ereignissen, an denen die Gläubigen teilnahmen, als nach kartographisch festgelegten Grenzen. Die kartographische Einhegung religiöser Gemeinden im 19. Jahrhundert hatte auch organisatorisch gravierende Folgen
für die innere Gestalt kirchlicher Gemeinden: Durch sie wurde der geographische Raum, den Gemeinden einnahmen, zur Grundlage einer erstrebten
geistlichen Gemeinschaft, gewissermaßen einer »Gemeinschaft der Hei­
ligen vor Ort«. Die kirchliche Gemeinde verwandelte sich aus einem reinen
Personenverband in ein Raumgebilde, sie bildete, vor allem seitdem sie sich
rechtlich und räumlich von der politischen Gemeinde gelöst hatte,24 im
Kleinen der Gemeinde vor Ort die Basiseinheit christlicher Gemeinschaft
überhaupt.
Doch mit der Verräumlichung der kirchlichen Gemeinden setzte zugleich auch deren Krise in der modernen Gesellschaft ein: Zunächst löste
sich durch die Zuzüge religionsfremder Einwohner die geistliche Einheit
der räumlich umgrenzten Einwohnerschaft auf.25 Dann begann die christliche Ortsgemeinde aber auch durch den Kirchenaustritt bisheriger Gemeindemitglieder zu erodieren. Sie mutierte dadurch im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr zu einem gesellschaftlichen Verein unter anderen,
zu einem Personenverband, der sich weder politisch noch räumlich mit dem
Gemeinwesen insgesamt deckte. Auch dieser Prozess setzte früh ein, in den
großen Städten Deutschlands schon im ausgehenden 17. Jahrhundert, er ergriff aber im Laufe der Zeit mehr und mehr auch ländliche Gebiete.
Was damit in Frage gestellt wurde, wird allerdings erst wirklich deutlich,
wenn man die Bedeutung räumlicher Verbände für den Zusammenhalt religiöser Gemeinschaften langfristig ins Auge fasst: Die religiöse Gemeinschaft ist als Abendmahlsgemeinschaft von zentraler Bedeutung für die
23 Lucian Hölscher (Hg.), Atlas zur religiösen Geographie im protestantischen
Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg,
Berlin 2003.
24 Cord Cordes, Geschichte der Kirchengemeinden der evangelisch-lutherischen
Landeskirche Hannovers 1848-1980, Hannover 1983; Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, München 2005, S. 253-259.
25 Diese Ansiedlung von Konfessionsfremden ist im Rheinland schon seit dem
17. Jahrhundert zu beobachten, sie führte im 18. und 19. Jahrhundert aber weiter
zur festen Etablierung religiöser Minderheiten in allen größeren Städten und Regierungsbezirken Deutschlands. Vgl. ebd. S. 164 ff., 194 ff.
15
frank bösch / lucian hölscher
abendländische Organisation des Christentums. Im Laufe des Hoch- und
Spätmittelalters wuchs ihr aber auch zunehmend eine politische Bedeutung
zu: Christliche Gemeinschaft organisierte sich mehr und mehr als politische
Gemeinschaft, vor allem in den protestantischen Landeskirchen fielen seit
den Reformationen des 16. Jahrhunderts politische und Kirchengemeinde
mehr und mehr zusammen. Räumliche Nachbarschaft gewann dadurch
eine elementare Bedeutung für den religiösen Zusammenhalt des Gemeinwesens. In der Sitzordnung der Kirchen bildete sich die politische Ordnung
ab, politische und kirchliche Rechte und Pflichten griffen, etwa bei der Aufrechterhaltung der moralischen und wirtschaftlichen Ordnung des Gemeinwesens, eng ineinander.26
Auch nach der Neuregelung des Verhältnisses von Kirche und Staat zu
Beginn des 19. Jahrhunderts ergänzten sich diese zunächst immer noch
wechselseitig: Der Staat sicherte die äußere Existenz der Kirchen, die Kirchen den inneren Zusammenhalt des Staates. So sorgte etwa die staatliche
Polizei für den Schutz von Gottesdiensten vor Störungen und die ungehinderte Abhaltung von Prozessionen. Umgekehrt übernahmen kirchliche
Gemeinden zahllose Aufgaben in der politischen Gemeinde: von der Registrierung von Geburten, Eheschließungen und Sterbefällen über die
Eingliederung neu Hinzugezogener bis hin zur Armenfürsorge, von der
Organisation von Gemeindefesten bis zur Versorgung der Bevölkerung
mit Lesestoffen. Obwohl sozial längst auseinandergedriftet, halten die
Kirchen daher auch heute noch am Territorialprinzip ihrer Gemeinde­
ordnung grundsätzlich fest.
Dieses Territorialprinzip verstärkte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts
sogar noch beträchtlich: Vergleichbar der flächendeckenden Versorgung
mit Lebensmitteln, Wasser und Energie, gingen die Kirchen im ausgehenden 19. Jahrhundert daran, die Bevölkerung in den schnell wachsenden Ballungszentren auch mit kirchlichen Einrichtungen, vor allem mit neuen Kirchenbauten zu versorgen. Kirchliche Verwaltungsbehörden führten schon
im ausgehenden 19. Jahrhundert den Rückgang des Kirchenbesuchs in erster Linie auf die Unterversorgung der städtischen Bevölkerung mit kirchlichen Räumen für den Gottesdienst zurück und antworteten darauf mit
einem intensiven Kirchenbauprogramm. Dass es nicht an der räumlichen
Ferne zur nächsten Kirche lag, wenn Kirchenmitglieder weiterhin nicht
am kirchlichen Leben teilnahmen, sondern an der inneren Entfremdung
zur christlichen Lebensform, nahm man hier erst langsam und in einem
schmerzlichen Lernprozess zur Kenntnis.
26 David Warren Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch
im Württemberg der frühen Neuzeit, Berlin 1986.
16
raum und religion in der moderne
3. Der Wandel kirchlicher Räume nach 1945
Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten die Großkirchen erneut – auch unter
dem Einfluss sprudelnder Kirchensteuern – der drohenden Abwendung
weiter Bevölkerungsteile mit einem massiven Kirchenbauprogramm zu begegnen. Neben den vielfältigen Wiederaufbauten nach Kriegsschäden, die
die Kirche im städtischen Raum als »Siegerin in Trümmern« und als scheinbar zeitlose Instanz in der Moderne auswiesen, entstanden nun auch wieder
zahllose Neubauten. Jeder Christ solle, so hieß es damals, im städtischen
Raum seine Kirche jetzt endlich in fußläufiger Distanz finden können.
Vor allem in den 1960er Jahren ermöglichten die Einnahmen im Zuge des
Wirtschaftswunders diesen einmaligen kirchlichen Bauboom.
Ein Ausdruck dieses revitalisierten Territorialprinzips waren die neu eingerichteten Gemeindezentren, deren Raumordnungen sich zwei exemplarische Studien im vorliegenden Band widmen. Gemeindezentren sollten der
Gemeinde jetzt weit über den Kirchenbau hinaus eine räumliche Heimat
bieten, indem sie auch Räume für Arbeitsgruppen, für den kirchlichen
Unterricht, für Bibliotheken, Jugendgruppen und Kindergärten, ja sogar
Wohnräume für den Pfarrer und den Küster und anderes mehr einschlossen. Die Rechnung ging damals allerdings ebenso wenig auf wie in den
Zeiten des ersten großen Kirchenbauprogramms nach 1890: Abgesehen von
besonderen Not- und Versorgungslagen kehrten die Gläubigen ihren Kirchen bald auch dann meist den Rücken, wenn der nächste Kirchenraum in
unmittelbarer Nähe lag. Andere religiöse, politische und kulturelle Angebote zogen die Menschen häufig stärker an und von den Kirchen weg. Die
räumliche Nähe der Kirchengebäude spielte dabei teils aufgrund der wachsenden Mobilität der Bevölkerung, teils aufgrund der wachsenden Bedeutung der Massenmedien eine immer geringere Rolle.
Dennoch hatten die neu gebauten Gemeindezentren eine größere Bedeutung für den Wandel von Kirche und Religion. Wie der Beitrag von
Katrin Bauer am Beispiel des katholischen Kirchenzentrums HochdahlSandheide zeigt, trug die Anlage wesentlich zur Formierung und Erneuerung des Gemeindelebens auf der Grundlage der Reformen des Zweiten
Vatikanischen Konzils bei, wenn sie auch letztlich nicht die partielle Rückkehr zu traditionellen kirchlichen Formen nach einer Generation verhindern konnte. Ergänzend hierzu arbeitet Wiebke Arnholz in einer dichten
architekturästhetischen Beschreibung die enge dialektische Verknüpfung
von sakralen und säkularen Räumen in diesem Gemeindezentrum heraus:
Wie sich der sakrale Gottesdienstraum für die aktive Mitwirkung der Laien
öffnete, so öffnete sich der säkulare Raum der anschließenden Gebäude
für die Ausstrahlung kirchlicher Sendungsaufträge in die städtische Gesellschaft. Deshalb wäre es voreilig, bei der Anlage von Gemeindezentren
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seit den 1960er Jahren nur von einer immer weiterführenden säkularen
Anpassung der Kirchen auszugehen. Vielmehr lässt sich seit den 1980er
Jahren auch ein Trend zur Re-Sakralisierung ausmachen. Bereits 1981 kam
eine Studie zu 17 Gemeindezentren zu dem Schluss, dass sich in allen untersuchten Fällen die Tendenz zeige, den zentralen Mehrzweckraum auf
eine einzige Funktion, den sonntäglichen Gottesdienst, zu reduzieren und
dafür den Raum formal zu resakralisieren.27 Unsere Fallstudien unterstreichen in ihrem Ausblick zur Gegenwart ähnliche Tendenzen.
Die Neuordnung des Raumes ergriff im Laufe des 20. Jahrhunderts aber
auch den Binnenraum der Kirchenbauten selbst. Angestoßen durch die
liturgischen Reformbewegungen der 1920er Jahre, verstärkt dann aber vor
allem durch das Zweite Vatikanische Konzil und auf protestantischer Seite
durch die kirchliche Reformbewegung der 1960er Jahre, wandelte sich nach
und nach die Raumstruktur und die Raumordnung der Kirchengebäude:
Statt der traditionellen Langhäuser mit ihrer Frontalordnung zum Hochaltar hin entstanden mehr und mehr Zelt- und Rundbauten. Im Gottesdienst fand das Miteinander von Pfarrer und Gemeinde auch in der räumlichen Anordnung von Altar und Kirchensitzen seinen Ausdruck. Der
Gottesdienstbesucher sah sich dadurch plötzlich aus der Rolle des passiven
Zuschauers in die des aktiven Teilnehmers gedrängt. Mit der räumlichen
Neuordnung ging auch eine weitreichende Revision symbolischer Inventare einher. Und wo möglich wurde davon auch die Einbettung der Gottesdiensträume in das architektonische Ensemble der städtischen Umgebung
berührt.
Auf welchen theologischen Grundlagen diese räumliche Neukonfiguration christlicher Gottesdienste in den 1960er Jahren ruhte, zeigt Stefan
Böntert in seinem Beitrag zum Wandel kirchlicher Raumordnungen nach
dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Die bauliche Anlage und innere Ausgestaltung von Kirchenräumen stand seither immer in enger Wechselwirkung zur Reform der Liturgie. Theologische Überlegungen etwa zum
»Ort« Gottes im Gottesdienst ließen sich, wie Böntert zeigt, liturgisch gar
nicht anders einlösen als durch die räumliche Neuverortung von Altar und
Tabernakel, Ambo und Kanzel inmitten bzw. gegenüber der Gemeinde.
Kirchen­gebäude änderten so nicht nur ihre äußere Gestalt, sondern auch
ihre innere Gestaltung im Vollzug religiöser Handlungen.
Hinzu kamen neue Formen von Gotteshäusern, welche die experimentelle Öffnung der Kirchen gegenüber der Gesellschaft weiter vorantrieben.
Als recht erfolgreich erwiesen sich etwa die Autobahnkirchen, die in gewisser Weise an die vormoderne Tradition der Wegkapelle anschlossen.
27 Martin Görbing u. a., Planen – Bauen – Nutzen. Erfahrungen mit Gemeindezentren, Gießen 1981.
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raum und religion in der moderne
Zu den ersten Autobahnkirchen, die 1958 in Berlin und Augsburg entstanden, sind rund vierzig weitere dazugekommen, die immerhin eine jeweils sechsstellige Besucherzahl pro Jahr erreichen.28 Nahezu zeitgleich
entstand 1960 in Berlin die erste »Ladenkirche« als Projekt der Kirchen­
reformbewegung: In einem angemieteten Bäckerladen mitten im »Kiez«
versammelte sich hier die Gemeinde in weltlichen Mehrzweckräumen,
ohne Altar, Kanzel oder Kreuz an der Wand, und sprach bei den Gottesdiensten miteinander.29 Die Ladenkirche im engeren Sinn setzte sich zwar
nicht durch, als Modell war sie aber durchaus wegweisend.
Besondere Aufmerksamkeit widmen die Beiträge dieses Bandes über
die Gotteshäuser hinaus der in den Nachkriegsjahrzehnten beobachtbaren
Ablösung religiöser Veranstaltungen von deren traditionellen Zentren, den
Kirchen. Sie kann als Ausdruck und Katalysator der veränderten Stellung
der christlichen Kirchen in der säkularen Gesellschaft gelesen werden.
Dabei handelte es sich um einen dialektischen Prozess wechselseitiger
­Distanzierung und neuer Durchdringung: Während Kirchengebäude etwa
städte­baulich aus dem Zentrum der Städte verschwanden, erschlossen sich
kirchliche Veranstaltungen auch wiederum neue städtische Räume. Oft
begannen sich die Grenzen zwischen religiösen und säkularen Veranstaltungen sogar aufzulösen, religiöse Veranstaltungen verloren ihren tradi­
tionellen Ort im säkularen Raum.
Die Folgen solcher Enträumlichung religiöser Veranstaltungen und
kirchlicher Gemeinschaften waren beträchtlich. Die Erosion der kirch­
lichen Ortsgemeinden setzte völlig neue religiöse Raumordnungen frei,
deren Untersuchung den Hauptteil der Beiträge im vorliegenden Band
ausmacht: So entstanden in den Massenmedien neue, virtuelle Räume, die,
etwa bei Gottesdienstübertragungen, auch die traditionellen kirchlichen
Formate aufbrachen. Auch wurden die Kirchen selbst räumlich mobiler,
entwickelten in Kirchentagen, Akademien und der kirchlichen Presse überregionale Organisationsformen, deren Einzugsgebiete weit größer als die
Ortsgemeinden waren. So haben heute etwa funktional auf musikalische
Darbietungen ausgerichtete Angebote, Klöster und kirchliche Freizeiten
eine oft größere Anziehungskraft auf die kirchliche Öffentlichkeit als die
Angebote der Ortsgemeinde.
28 Bernhard Schmidt, Autobahnkirchen – »Tankstellen für die Seele«. Eine Momentaufnahme anlässlich der Errichtung der ersten Autobahnkirche am Berliner Ring,
in: Praktische Theologie 47/4, 2012, S. 247-255; Harald Rein, Grenzen der Seelsorge. Die Spannung zwischen territorialer Pfarrgemeinde und funktionaler Seelsorge am Beispiel der Autobahnkirchen in der Bundesrepublik Deutschland,
Frankfurt a. M. 1987.
29 Wittmann-Englert, Zelt (s. Anm. 2), S. 157.
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4. Jenseits des Kirchenraums
Einen geradezu experimentellen Charakter nahm die Aufkündigung tradi­
tioneller kirchlicher Raumordnungen an, wenn kirchliche Veranstaltungen
den Kirchenraum verließen, um auf Straßen, Plätzen oder Sportstadien eine
neue Heimat in der säkularen Umwelt zu suchen. Der Exodus war zunächst als Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Ghetto gemeint, in das sich
die Kirchen in Deutschland zum Teil schon nach dem Ersten, spätestens
aber nach dem Zweiten Weltkrieg gedrängt sahen. Zur Durchführung bedurfte es eines neuen Konzepts von Kirche, das Kirche und christliche
Gemeinde nicht mehr als Gegenüber zur Welt, sondern als lebendigen,
möglichst progressiven Teil der Gesamtgesellschaft verstand. Dieses ambitionierte, seit den 1950er Jahren unter dem Begriff der »Säkularisierung«
vorgetragene und umgesetzte Konzept ging bald daran, die Grenzen zwischen Kirche und Gesellschaft einzureißen, ohne doch an religiöser Sub­
stanz zu verlieren.30 Von den kirchlichen Kerngemeinden wurde dieser
Aufbruch zwar vielfach misstrauisch beobachtet, von den weniger engagierten Rändern der Kirchen dagegen meist akzeptiert und nur selten als
feindliche Besetzung des säkularen Stadtraums begriffen.31 Durch Anpassung ihrer performativen Formen an die zeitgenössische Popkultur konnten sich so etwa katholische Weltjugendtage als weltanschaulich und sozial offene Veranstaltungen präsentieren.32
Gleichwohl wurde der öffentliche urbane Raum seither in neuer Weise
zu einem Forum auch religiöser Positionierungen. Anders als die katho­
lischen Prozessionen an Fronleichnam, welche im 19. Jahrhundert von Protestanten in gemischt konfessionellen Gebieten noch als unerlaubte Vereinnahmung säkularer Räume für kirchliche Zwecke bekämpft worden waren,
wurden die Veranstaltungen der Katholiken- und evangelischen Kirchentage auf den Straßen und Plätzen der jeweiligen Gaststädte seit den 1960er
30 Insofern wird hier ein anderer, zeitgenössischer Begriff von Säkularisierung benutzt als analytisch meist üblich. Vgl. hierzu Lucian Hölscher, Kirche im Zeit­
alter der Säkularisierung, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 52, 2007, S. 3-11;
Ders., Die Säkularisierung der Kirchen. Sprachliche Transformationsprozesse in
den langen 1960er Jahren, in: Wilhelm Damberg (Hg.), Soziale Strukturen und
Semantiken des Religiösen im Wandel. Transformationen in der Bundesrepublik
Deutschland 1949-1989, Essen 2011, S. 203-214.
31 Ein solcher Konflikt ergab sich etwa im Frühjahr 2012 in Kassel beim Streit um
die Errichtung einer Statue des Bildhauers Stephan Balkenhol in einem katho­
lischen Kirchturm, wodurch die documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev
ihr Konzept der Kasseler Kunstausstellung gefährdet sah. Vgl. Matthias Heine,
Schwester Unlustig, in: Die Welt vom 25. Mai 2012.
32 Vgl. Winfried Gebhardt, Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis –
Medien – Organisation, Wiesbaden 2007.
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raum und religion in der moderne
Jahren auch von der jeweils anderen Konfession in der Regel nicht mehr als
illegitime Besetzung städtischer Räume verbucht. Nicht weil sie sich nicht
mehr als religiöse, ja sogar als konfessionelle Veranstaltungen verstanden,
sondern weil sie sich als Anbieter in einem offenen religiösen Feld sahen,
konnten sie die zeitweise Besetzung des öffentlichen Raums durchsetzen.
Die temporäre performative Besetzung des säkularen Raumes untersucht
Thomas Mittmann am Beispiel der Kirchen- und Katholikentage. Während
in den 1950er/60er Jahren noch unverwechselbare kirchliche Symbole,
Zeichen und Praktiken dominierten, macht Mittmann seit Ende der 1960er
Jahre einen eigenständigen räumlichen Bereich aus, in dem die Kirchen
nicht mehr unbedingt als solche erkennbar waren, weil nun alternative
räumliche Kompositionen und Ausdrucksinventare aufkamen. Er fasst dies
als eine »Selbstsäkularisierung« insbesondere der Evangelischen Kirchentage, bei der spezifisch kirchliche Kleidung und Symbole aufgegeben wurden, um die Öffnung zur Welt zu unterstreichen. Zugleich zeigt er, wie
die religiösen Individualisierungs- und Optionalisierungsprozesse innerhalb des kirchlichen Publikums auf der konzeptionellen Ebene zu einer
zunehmenden »Eventisierung« der Katholikentage und Evangelischen Kirchentage führten. Damit verbunden war aber auch eine gezielte Medialisierung dieser kirchlichen Massenereignisse, bei denen die Zuschauer und Zuhörer als eine eigene Gruppe adressiert wurden. Alle diese Trends führten
Mittmann zufolge dazu, dass die konfessionellen Besonderheiten von Kirchentag und Katholikentag immer mehr verschwanden.
Im Nachklang zu ’68 entstanden in den 1970er/80er Jahren zahlreiche
neue soziale Bewegungen, die den öffentlichen Raum besetzten. Oft wird
jedoch vergessen, dass die polarisierende Mobilisierung dieser Zeit nicht nur
die Linke erfasste. Auch auf Seite der Konservativen führten die liberalen
Reformen zu Protesten, Parteieintritten und neuen Organisationen.33 Das
galt insbesondere für die Abtreibungsgesetze, die vor allem in den USA
kirchliche Gruppen auf die Straße und in die Politik führten. Wie Jana Ebelings Beitrag zeigt, gewannen die deutschen Kirchen durch ihre öffentlichen
Proteste in der Straßen- und Medienöffentlichkeit zwar an Einfluss, dies
bescherte jedoch zugleich einen Kontrollverlust über die vielfältigen zugespitzten Aussagen und Bilder, die nun kursierten und kritisch der Kirche
insgesamt zugeschrieben wurden. Ebelings Beitrag nimmt dabei die Pro33 Vgl. Frank Bösch, Die Krise als Chance: Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren, in: Konrad Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht?
Die Strukturkrise der 1970er Jahre als zeithistorische Zäsur, Göttingen 2008,
S. 288-301; Massimiliano Livi u. a. (Hg.), Die 1970er Jahre – auch ein schwarzes
Jahrzehnt? Politisierungs- und Mobilisierungsprozesse zwischen rechter Mitte
und extremer Rechter in Italien und der Bundesrepublik 1967-1982, Bielefeld 2010.
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frank bösch / lucian hölscher
teste mit der medialen Perzeption zusammen in den Blick und argumentiert,
dass erst die undifferenzierte Darstellung der Medien die heterogenen Pro­
teste gegen die Reform des § 218 als eine kirchliche Mobilisierung erscheinen­
ließen. Auch sie macht dabei eine »Selbst-Säkularisierung« der Kirchen aus,
wenn diese sich in den Auseinandersetzungen nicht vornehmlich auf christliche, sondern auf rechtliche Grundsätze wie das Grundgesetz beriefen.
In welchem Maße die Medialisierung die Kirchen, die Religion und ihre
räumliche Verortung herausforderte, zeigt besonders der Beitrag von Ronald Funke. Ob der Gottesdienst regulär per Fernsehen ins Wohnzimmer
übertragen werden dürfe, wurde in einem jahrzehntelangen Aushandlungsprozess ausgelotet. Funke arbeitet dabei die unterschiedlichen Antworten
der beiden Konfessionen heraus. Die katholische Seite mit ihrem Selbstverständnis der einen universellen Kirche Christi strebte auch ein einheitliches
Fernsehbild des Katholizismus an und versuchte zudem, vor allem die kirchennahe Fernsehöffentlichkeit in den (echten) Kirchenraum zu integrieren. Dagegen führte die Vielfalt der evangelischen Kirchen in Deutschland
zu einer uneinheitlichen Präsentation des protestantischen Glaubens im
Fernsehen. Die protestantischen Fernsehgottesdienste fanden oft bewusst
in halb- oder nichtkirchlichen Räumen statt, um auf diesem Weg eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Der Fernsehgottesdienst wurde somit zu
einem Experimentierfeld. Durch ihn gerieten beide Konfessionen zudem in
eine neue Konkurrenzsituation, da vom Wohnzimmer aus nun auch Angehörige der jeweils anderen Konfession erstmals regelmäßiger die abwechselnd gezeigten Gottesdienste verfolgen konnten. Während sich die Kirchen
leerten, konnte die Zuschauerzahl der Gottesdienstübertragungen in den
1980er/90er Jahren von 360 000 auf 700 000 nahezu verdoppelt werden.
Kaum berücksichtigen konnten wir in unserem Band die differente Entwicklung der Kirchen im Sozialismus, obgleich auch hier der raumbezogene Blick lohnenswert erscheint. Gerade in protestantisch geprägten Staaten wie der DDR waren die Kirchen durch die Repression und die starken
Austritte kaum noch durch Gottesdienste, eigene Medien und außerkirch­
liche Aktivitäten in der Gesellschaft präsent, wohl aber durch kirchliche
Gebäude. Diese steinernen Bauten erschienen vielen wie ein mahnender
Hinweis auf eine Präsenz der Religion, die Diktaturen überdauern könne.
Auf dem Territorium der DDR gab es rund 10 000 Kirchenbauten, von
denen bis 1978 nur rund 60 Kirchen abgerissen worden sind. Diese Abrisse
waren jedoch spektakulär, wie bei der Garnisonskirche in Potsdam, der
Versöhnungskirche in Berlin oder der Paulinerkirche in Leipzig.34 In ge34 Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 193.
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raum und religion in der moderne
wisser Weise zeigten sie, dass auch das Verschwinden kirchlicher Räume,
die bis heute im öffentlichen Gedächtnis verankert sind, diesen öffentlich
neue Aufmerksamkeit geben konnte. In den 1980er Jahren wandelte sich
diese Politik der SED und sie gestattete, auch im Rahmen ihrer generellen
Hinwendung zur Altstadtsanierung, mit finanzieller Unterstützung der
westdeutschen Kirchen den Neu- und Wiederaufbau. Immerhin fünfzig
Kirchenneubauten lassen sich in der DDR während der Ära Honecker
ausmachen.35 Besonders in Neubaugebieten entstanden hierbei neue Gemeindezentren, auch um zu verhindern, dass sich die Gemeinden sonst
schwer kontrollierbar in Privatwohnungen träfen.
Bei den gesamtdeutschen Kirchentagen der 1950er Jahre, insbesondere in
Leipzig 1954, kam es noch zu einer Verwandlung des sozialistischen Raums:
Die roten Flaggen beider Rathäuser wichen den weißen Fahnen mit dem
violetten Kreuz, zu jeder vollen Stunde läuteten die Glocken und bereits
am Bahnhof wurden ankommende Christen von »dem sprechenden Plakat
der singenden Kruzianer«36 empfangen, wie auch der Beitrag von Thomas
Mittmann unterstreicht. In den folgenden Jahrzehnten kam es in der DDR
jedoch weniger zu einer Verlagerung der Kirche in den öffentlichen Raum
als vielmehr zu einer Öffnung kirchlicher Räume. Besonders die Kirchenmusik war ein Angebot an nichtgläubige Menschen. Auch hier wurden
neue Formate ausprobiert, um insbesondere die Jugend anzusprechen.
Schon Mitte der 1960er Jahre gab es etwa in der DDR vereinzelte JazzGottesdienste, in Ost-Berlin und anderen Orten auch Blues-Messen.37 Vor
allem aber verwandelte ihre Öffnung für regimekritische Aktivitäten die
Gestalt kirchlicher Räume, indem in den 1980er Jahren etwa Friedens-,
Frauen- und Umweltgruppen hier ein Dach fanden.38 Die Basisgruppe
»Kirche von unten« stand für diesen Prozess ab 1987. Bei der Kirchenleitung war zwar stets umstritten, inwieweit politischer Protest im Kirchenraum zulässig sei; aber gerade der Umsturz 1989 zeigte nachdrücklich, wel35 Insgesamt entstanden in der DDR 70 Kirchenneubauten und 400 neue Sakralräume; vgl. Verena Schädler, Katholischer Sakralbau in der SBZ und DDR, Regensburg 2013, S. 232 ff.
36 Alfred Lehmann, Die Stadt nahm uns auf, in: Heinrich Giesen (Hg.), Fröhlich in
Hoffnung. Der Deutsche Evangelische Kirchentag 1954 in Leipzig. Gesamtdeutsche Ausgabe. Im Auftrag des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages herausgegeben, Stuttgart 1954, S. 187 f., hier S. 188.
37 Kowalczuk, Endspiel (s. Anm. 34), S. 205; Henning Pietzsch, Jugend zwischen
Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970-1989, Köln
2005, S. 97.
38 Thomas Klein, »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen. Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre, Köln 2007, S. 289 f.;
Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Köln u. a.
1998, S. 685-689.
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frank bösch / lucian hölscher
che Macht die Öffnung der Kirchräume und der Schritt auf die Straße haben
konnten.
Deutlich früher und umfassender lässt sich dies in Polen ausmachen.
Der Artikel von Frank Bösch zeigt am Beispiel des ersten Papstbesuchs in
Polen 1979, wie der sozialistisch geprägte Raum im Zuge des Ereignisses
temporär in einen christlichen Raum verwandelt wurde. Er analysiert, wie
dies vorher mit dem Staat ausgehandelt wurde und Letzterer sich erstaunlich aktiv daran beteiligte, um eine gewisse Kontrolle zu wahren. Dabei
wird deutlich, wie es auf den Straßen zu einer Umwandlung von sozialistischen Symbolen, Ritualen und Deutungen hin zu einer temporär prak­
tizierten, christlich konnotierten Gegenwelt kam. Dies wurde zusätzlich
dadurch verstärkt, dass der Papst und die Besucher die üblichen Regeln
des kirchlichen Zeremoniells durchbrachen und so im öffentlichen Raum
eine neue Form der Kommunikation schufen, die sich deutlich von der
sozialistischen unterschied. Trotz des temporären Charakters des Papstbesuchs wird an diesem Beispiel die längerfristige Prägekraft der ephemeren Räume deutlich – im Anknüpfen an Praktiken und Zeichen oder in der
fest verkoppelten Erinnerung an die Papstauftritte auf den Wiesen vor
Krakau.
Wie stark die Medialisierung selbst beim Tod des Papstes und seiner
Aufbahrung Rituale verändern konnte und mit dem Petersplatz einen zen­
tralen Raum des Katholizismus neu als »Bühne für den Papstwechsel«
konstruierte, zeigt die Fallstudie von René Schlott: Der Petersplatz wurde
seit den 1950er Jahren, also parallel zum Ausbau der visuellen Kommunikation im Fernsehzeitalter, immer weiter als säkularer Raum für Freiluftmessen und Totengottesdienste erschlossen, die dabei ihr Zeremoniell änderten. Die Kirche suchte allerdings immer die Bilderhoheit zu wahren,
um auch medial das Zeremoniell auf den Papst hin auszurichten.
Unser Band konzentriert sich zwar auf die christliche Religion, doch
öffnet zumindest ein Artikel diese Perspektive. Anhand der »New-AgeBewegung« der siebziger und achtziger Jahre zeigt Pascal Eitler, wie damals eine eigene neue religiöse Topologie aufkam. Diese konstruierte und
popularisierte einerseits neuartige oder nahezu unbekannte religiöse bzw.
sakrale Räume, die sich bewusst vom klassischen Kirchenbau abgrenzten.
Dazu zählten natürliche oder eingerichtete »mystische« und »kultische
Orte« oder »Orte der Kraft«, an denen die »Suchenden« ihre Mitte finden
sollten, um sich spirituell und emotional erfahren und erheben zu können.
Anders als die christlichen Orte des Gottesdienstes sollten solche natür­
lichen »Orte der Kraft« gerade nicht gestaltet werden. Andererseits zeigt
Eitler in seinem Artikel aber auch, wie der Körper selbst zum Ort der
Religion wurde: Nicht in einem Gotteshaus, sondern im Körper und den
Gefühlen der »Suchenden« sollte das Göttliche gefunden werden.
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raum und religion in der moderne
Eine räumliche Verlagerung »jenseits der Kirche«, so lässt sich abschließend bilanzieren, kann unser Buch somit auf vielfältigen Ebenen aus­
machen: Erstens innerhalb der christlichen Architektur, indem klassische
Gotteshäuser neu konzipiert wurden und sich sowohl architektonisch als
auch von ihrer Nutzung her vom klassischen Kirchenbau abwandten; zweitens räumlich, indem neue Orte außerhalb der Kirchen aufgesucht wurden;
drittens medial, indem die Kirche und Religion in Wohnzimmer und auf
Leinwände verlagert wurden; viertens durch neue Konzeptionen des Glaubens, die etwa die Natur oder den Körper als zentrale Orte entdeckten. In
allen Fällen stand dies für eine Öffnung von Kirche und Glauben. Diese
gewann in den langen siebziger Jahren sicherlich besonders an Intensität.
In vielen Fällen zeigte sich jedoch, dass sie in den letzten Jahren wiederum
von gewissen Einschränkungen begleitet wurde. Insofern sollte man die
Öffnung der Kirchen und die Verlagerung auf außerkirchliche Räume nicht
vorschnell als einen ständig fortschreitenden Prozess verstehen, wenngleich
die Dynamik der bisherigen Veränderungen unbestreitbar ist.
* * *
Der vorliegende Band entstand im Rahmen der DFG-Forschergruppe
»Transformation der Religion in der Moderne« und stellt einige Teilergebnisse der von uns geleiteten Teilprojekte vor. Diese wurden ergänzt um
Beiträge, die ebenfalls im Mai 2012 auf einer Tagung in Bochum diskutiert
wurden. Allen Referenten, Kommentatoren und Teilnehmern sei für ihre
Hinweise gedankt. Dank für das Lektorat der Beiträge schulden wir zudem Frau Johanna Esch und Herrn Fabian Heese.
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1. Die Öffnung kirchlicher Räume
Katholischer Kirchenbau
zwischen theologischem Anspruch
und gesellschaftlichem Wandel
Raumkonzepte in der Liturgiereform
nach dem II. Vatikanum
Stefan Böntert
1. Liturgiereform – Kirchenreform – Kirchbaureform
Die Liturgiereform, die das II. Vatikanum (1962-1965) im Zuge der Erneuerung für die Kirche auf den Weg brachte, kann als das bedeutendste
Ereignis der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden.1
Zwar bezog sich der Wille zur Erneuerung nicht allein auf den Gottesdienst, sondern umfasste grundlegend das Selbstverständnis und Wirken
der Kirche unter den Bedingungen der Gegenwart. Dennoch gilt die veränderte Liturgie bis heute als das sichtbarste Resultat des Konzils.2 Dies
hängt sowohl mit der Tatsache zusammen, dass die Teilnehmer als erstes
Dokument die Liturgiekonstitution verabschiedet haben als auch damit,
dass die Kirche die Liturgie als ein Geschehen betrachtet, in dem ihr Selbstbild vorrangig zum Ausdruck kommt. In der Feier stellt sie sich nach außen
und innen dar, so dass sie im Gesamt des kirchlichen Lebens einen entscheidenden Kristallisationspunkt bildet.
Sosehr die Reform konkrete Modifikationen vornahm, so wenig entsprang sie dem Wunsch, allein in formaler Hinsicht Korrekturen durchzuführen. Die Maßnahmen beruhten auf der Neuformulierung theologischer Grundlagen und waren von dem Anliegen getragen, im Gespräch mit
den kulturellen Strömungen der Gegenwart den Glauben zu reflektieren,
ihn zu vertiefen und die Liturgie als einen seiner wichtigsten Vollzugsorte
1 Vgl. die umfassende Studie zum durchgehenden Phänomen der Reform in der
Liturgiegeschichte: Martin Klöckener/Benedikt Kranemann (Hg.), Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes. Teil I: Biblische Modelle und Liturgiereformen von der Frühzeit bis zur
Aufklärung. Teil II: Liturgiereformen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur
Gegenwart. Festschrift Angelus A. Häußling, Münster 2002.
2 Zu dieser Einschätzung vgl. statt anderer Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben ›Vicesimus quintus annus‹ zum 25. Jahrestag der Verabschiedung der Liturgiekonstitution (4.12.1988), Bonn 1993, Nr. 12.
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