Jenseits der Kirche Die Öffnung religiöser Räume seit den 1950er Jahren Herausgegeben von Frank Bösch und Lucian Hölscher geschichte der religion in der neuzeit Herausgegeben von Lucian Hölscher Band 5 Jenseits der Kirche Die Öffnung religiöser Räume seit den 1950er Jahren Herausgegeben von Frank Bösch und Lucian Hölscher Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft und des Zentrums für Zeithistorische Forschung, Potsdam Inhalt Frank Bösch / Lucian Hölscher Jenseits der Kirche Raum und Religion in der Moderne . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1. Die Öffnung kirchlicher Räume Stefan Böntert Katholischer Kirchenbau zwischen theologischem Anspruch und gesellschaftlichem Wandel Raumkonzepte in der Liturgiereform nach dem II. Vatikanum . . . . . 29 Wiebke Arnholz Der Raumtypus Gemeindezentrum Eine Mikrostudie zur architektonischen Neuordnung des katholischen Gemeindelebens seit den 1960er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 59 Katrin Bauer Katholisches Gemeindeleben in Hochdahl – ein Generationenprojekt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 84 2. Neue Räume jenseits der Kirchen Thomas Mittmann Kirche im performativen Wandel – Die Entwicklung der Katholikentage und der Evangelischen Kirchentage in der Bundesrepublik Deutschland . . . . . 107 Frank Bösch Verwandlungen des sozialistischen Raums: Papst Johannes Paul II. in Polen 1979 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 149 Pascal Eitler »Orte der Kraft« Körper, Gefühle und die religiöse Topologie des »New Age« . . . . . . . . 176 5 inhalt 3. Kirchliche Räume im Medienzeitalter Ronald Funke Mediale Kirchenräume Katholische und evangelische Fernsehgottesdienste seit den 1950er Jahren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 203 René Schlott »Bühne für den Papstwechsel« Die Papsttode und die Verwandlung des Petersplatzes . . . . . . . . . . . . . 241 Jana Ebeling Religiöser Straßenprotest? Medien und Kirchen im Streit um den § 218 in den 1970er Jahren . . . . 256 Über die Autorinnen und Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 288 6 Jenseits der Kirche Raum und Religion in der Moderne Frank Bösch / Lucian Hölscher Bis vor wenigen Jahrzehnten waren Kirchen noch der bevorzugte Ort kirchlicher Gemeindeversammlungen und der christliche Gottesdienst hatte in den Sakralbauten seine eigentliche Heimat. Insofern fiel »Kirche« im Sinne des Kirchengebäudes und »Kirche« im Sinne der christlichen Gemeinde noch in größerem Maße in eins als heute. In der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich diese Identität von religiösem Ort und religiösem Ereignis zunehmend gelockert: Gottesdienste, religiöse Veranstaltungen fanden vermehrt auch außerhalb des Kirchenraums statt. Mitunter mieden sie geradezu den traditionellen Kirchenraum, um sich auf offenen Plätzen, in Messehallen oder Fußballstadien ein großes Publikum zu erschließen oder über die Medien in die breite Öffentlichkeit hinein zu wirken. Die räumliche Verlagerung kirchlicher Versammlungen »in die Stadt« und in die allgemeine Öffentlichkeit hinein ging mit neuen Anstrengungen der großen christlichen Kirchen einher, das Ghetto ihrer Selbstabschließung in der modernen säkularen Gesellschaft aufzubrechen. Sie strebten danach, säkulare Räume für die Kirche zu erschließen, die die Grenze zwischen religiösen und säkularen Veranstaltungen aufweichten.1 Während die klassischen sakralen Räume an Bedeutung verloren und nun vornehmlich ästhetisch erfahren wurden, gewann die Religion in öffentlichen Räumen eine stärkere, wenn auch meist nur temporäre Präsenz. Und bereits diese räumliche Veränderung sorgte dafür, dass sich die Sprache, Darstellung und Rolle der Religion markant veränderte. Zugleich wurden jedoch auch die Kirchengebäude und ihre Innenräume selbst neu gestaltet, um den Bedürfnissen eines neuen Gemeinde- und Gottesdienstverständnisses Rechnung zu tragen. Statt sich etwa in parallelen Sitzreihen auf den Altar hin auszurichten, saß die Gemeinde seit den 1960er Jahren häufiger als früher im Kreis, blickte in Gebet und Predigt stärker auf ihre eigene Mitte als auf den Altar und symbolisierte so in der räumlichen Ordnung des Gottesdienstes ihr gewandeltes Gottesverhältnis. Auch städtebaulich hat sich der Ort der Kirchen verschoben: Statt den weithin sichtbaren Mittelpunkt städtischer Anlagen zu bilden, suchten neuere 1 Vgl. allein zur Vielfalt der Orte, an denen heute Gottesdienste stattfinden (von der Akademie bis zum Zoo): Gotthard Fermor u. a. (Hg.), Gottesdienst-Orte. Handbuch Liturgische Topologie, Leipzig 2007. 7 frank bösch / lucian hölscher Kirchenbauten häufiger die Nähe zu ihren Gemeinden in den Wohn­ gebieten. Sie schmiegten sich auch baulich in die Anlage der Wohnviertel und duckten sich oft geradezu in deren enge Nachbarschaft. Bei zahlreichen Kirchenneubauten dominierten dabei die mit dem »wandernden Gottesvolk« verbundene »Zeltarchitektur« oder der Typus der »Kirche für andere«, d. h. Bauformen, die sich an die säkularen Baustile in den Wohngebieten anpassten und sich mit multifunktionellen Räumen auch nichtsakralen Zwecken öffneten.2 Der Raum, dies können schon diese wenigen Beobachtungen zeigen, bildet eine wesentliche Dimension der Kirchen- und Religionsgeschichte. In ihm dokumentiert und symbolisiert sich die kirchliche Selbstverortung in der modernen Gesellschaft, das Selbstverständnis der Kirchen nach innen wie nach außen. Deshalb lohnt es sich, den räumlichen Ordnungen kirchlicher Veranstaltungen und Präsenz verstärkte Aufmerksamkeit zu widmen, ihre Wandlungen im Laufe der Zeit zu verfolgen und an ihnen die Beziehungen abzulesen, welche die Kirchen im Innern wie nach außen aufbauen. Raumordnungen geben ihre soziale und religiöse Bedeutung allerdings oft nur im Zusammenhang mit dem zeitlichen Ablauf der Veranstaltungen zu erkennen, die sich in ihnen entfalten. Nur in der konkreten Nutzung, im Verlauf religiöser Veranstaltungen erschließt sich ihr Sinn. Kirchliche Räume haben so auch immer eine performative und zeitliche Dimension.3 Verlauf und räumliches Arrangement bilden zwei Seiten derselben Sache. Der vorliegende Band vereinigt sozial- und architekturgeschichtliche, kulturanthropologische, mediengeschichtliche und theologische Studien, die die Bedeutung der räumlichen Ordnung und des performativen Vollzugs religiöser Institutionen in der modernen Gesellschaft ausloten. Ausgehend von den christlichen Konfessionen in der Bundesrepublik Deutschland seit dem Zweiten Weltkrieg zeigen die Artikel an ausgewählten Beispielen, wie sich die räumlichen Konstellationen religiöser Veranstaltungen und damit auch die Kirchen und christlichen Konfessionen insgesamt gewandelt haben. Dabei spielten eine Fülle äußerer und innerer Faktoren mit: die Überholung und Ablösung traditioneller religiöser Formen, die Säkularisierung der Kirchen und der europäischen Gesellschaften insgesamt, ihre zunehmende Mobilisierung, Vermischung und massenmediale Erschließung, um nur einige zu nennen. Im Zuge ihrer Entfaltung sind alt2 Vgl. zur Konzeption und Ausgestaltung: Kerstin Wittmann-Englert, Zelt, Schiff und Wohnung. Kirchenbauten der Nachkriegsmoderne, Lindenberg 2006, S. 11, 113. 3 Den Aspekt der Performanz betont auch: David Plüss, Sichtbare Religion im öffentlichen Raum, in: Praktische Theologie 47/4, 2012, S. 204-210. 8 raum und religion in der moderne vertraute Raum- und Zeitkonzepte aufgelöst und durch neue ersetzt, traditionelle räumliche und zeitliche Grenzen eingerissen, an ihrer Stelle neue errichtet worden. Getragen werden die Studien von der Vermutung, dass sich der religiöse Wandel der letzten fünf Jahrzehnte gerade in der neuen Organisation räumlicher Ordnungen und zeitlicher Vollzüge abbildete und durchsetzte. Diesen diagnostischen Ansatz will der vorliegende Band zur Diskussion stellen und damit zugleich auf die elementare Bedeutung der Dimensionen von Raum und Zeit für die soziale Existenz von Religionen hinweisen. In gewisser Weise lässt sich von einer doppelten Zunahme »ephemerer Räume« sprechen: von Räumen, die sich ereignisbezogen konstituieren, und von neu gebauten Kirchenräumen, die sich nun aber im Rückblick als vergleichsweise temporär erweisen, wie manches heute bereits wieder geschlossene Gemeindezentrum zeigt. Einleitend sollen dafür zunächst einige grundsätzliche Überlegungen zu räumlichen Dimensionen benannt werden, in denen sich christliche Großorganisationen schon seit langem entfaltet haben. 1. Raum als Gegenstand der (Religions-)Geschichte Materielle Räume sind nicht einfach nur »Container«, die mit beliebig wechselnden Inhalten gefüllt werden. Vielmehr lassen sie sich als bewusst gewählte Anordnungen verstehen, die das Handeln von Menschen beeinflussen und gewünschte soziale Ordnungen und Deutungen repräsentieren, die dann durch die konkreten Nutzungen einen bestimmten Sinn erhalten. Entsprechende historische Ansätze kamen frühzeitig auf, insbesondere durch die Historiker der französischen Annales-Schule, und seit den 1990er Jahren häufte sich der Ruf nach einem »spatial turn«.4 In der Kirchen- und Religionsgeschichte, aber auch in der Geschichtswissenschaft insgesamt fanden diese Ansätze jedoch bisher vergleichbar wenig Beachtung. Auf theologischer Seite wurde zwar die »Religion des Raumes« und »die Räumlichkeit der Religion« diskutiert, aber noch kaum in historische Thesen zum Wandel der Religion eingebettet.5 In der historischen Forschung wurde 4 Zur historischen Entwicklung der Ansätze und aktuellen Konzepten vgl. Susanne Rau, Räume. Konzepte, Wahrnehmungen, Nutzungen, Frankfurt 2013. Als Überblick zum Aufkommen des »spatial turn« vgl. auch: Doris Bachmann-Medick, Cultural Turns. Neuorientierungen in den Kulturwissenschaften, Reinbek 2006, S. 284-328. 5 Das wachsende Interesse der Theologie am Thema des Raumes verdeutlichen die gegenwartsbezogenen, auch sozialwissenschaftlich inspirierten Beiträge in: Tho- 9 frank bösch / lucian hölscher zwar verschiedentlich die Bedeutung des Raums hervorgehoben, dies jedoch eher auf geographische Räume und deren kulturelle Repräsentation bezogen und weniger auf die Ausdrucks- und Prägekraft von konkreten materiellen Räumen, die durch bewusste Bauweisen oder durch konkrete Arrangements und Praktiken entstanden.6 Unser Buch legt seinen Schwerpunkt gerade nicht auf geographische Räume, wenngleich diese nicht minder kulturell geprägt und konstruiert sind. Von seinen Grundideen her dienten vor allem Konzepte der Soziologie als Inspiration. Insbesondere der französische Soziologe Henri Lefebvre machte frühzeitig darauf aufmerksam, dass Räume produziert werden, soziale Beziehungen herstellen und Wahrnehmung, Nutzung und Aneignungen prägen.7 Dabei unterschied er zwischen dem gedachten Raum (espace conçu), dem erfahrenen Raum (espace perçu) und dem erlebten Raum (espace vécu). Gerade die Ebenen der Konzeption und der praktischen Erfahrung des Raums greifen die Beiträge auf. Dass Räume und Raumpraktiken dabei stark mit Machtfragen verbunden sind, unterstrich vor allem die Sozialtopologie von Pierre Bourdieu. Er sensibilisierte dafür, die Materialisierung von sozialen Strukturen in Räumen zu fassen und damit Beziehungen und Ausgrenzungen ernst zu nehmen.8 Gerade für die räumliche Konstituierung der liturgischen Reformen seit den 1960er Jahren, die die Kirchenstrukturen zu demokratisieren suchten, erscheint dies anschlussfähig. Wie Bourdieu am Beispiel von algerischen Familien in Frankreich ausführte, kann der Wechsel von Räumen zudem zum Bruch von Routinen führen.9 Auch dies lässt sich als ein Aspekt der räumlichen Veränderungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts fassen, ohne dass die Kirchen die tatsächliche Raumaneignung stets steuern konnten. 6 7 8 9 10 mas Erne/Peter Schüz (Hg.), Die Religion des Raumes und die Räumlichkeit der Religion, Göttingen 2010. Vgl. zuletzt etwa: Christof Dipper/Lutz Raphael, »Raum« in der Europäischen Geschichte. Einleitung, in: Journal of Modern European History 9/1, 2011, S. 2741. Im gleichen Heft auch ein Beitrag zur kartographischen Repräsentation der Religion: Ute Schneider, Die Farben der Religion. Topographie und Topik der »Deux France«, in: Journal of Modern European History 9/1, 2011, S. 117-139. Henri Lefebvre, The Production of Space, Oxford 1991 [La production de l’espace, Paris 1974]. Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und Klassen. Leçon sur la leçon. Zwei Vorlesungen, Frankfurt a. M. 1985, S. 7-46. Zu diesem Ansatz vgl. etwa: Sighard Neckel, Felder, Relationen, Ortseffekte. Sozialer und physischer Raum, in: Moritz Csáky/ Christoph Leitgeb (Hg.), Kommunikation – Gedächtnis – Raum. Kulturwissenschaften nach dem »spatial turn«, Bielefeld 2009, S. 45-55. Pierre Bourdieu, Physischer, sozialer und angeeigneter physischer Raum, in: Martin Wentz (Hg.), Stadt-Räume, Frankfurt a. M. 1991, S. 25-34. raum und religion in der moderne Wegweisende Anstöße für raumbezogene Analysen gab in der deutschsprachigen Forschung vor allem die Soziologin Martina Löw. Im Anschluss an ihre Studien gehen wir von einem »prozessualen Raumbegriff« aus, »der das Wie der Entstehung von Räumen erfasst« und soziale und materielle Räume verschränkt denkt.10 Entsprechend geht es uns weniger darum, den Raum im metaphorischen Sinne aufzugreifen,11 sondern als eine materiell basierte, aber konstruierte Einheit, die eine spezifische Kommunikation ermöglicht. Damit rückt die Verbindung zwischen der jeweiligen materiellen und diskursiven Ausgestaltung von Räumen und ihrer jeweiligen kommunikativen Aktualisierung in den Vordergrund. Dem entsprechend ist die Konstituierung von Räumen mit dem jeweiligen medialen Ensemble einer Zeit verbunden. Insbesondere die dynamische Medialisierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts veränderte die Konstituierung von Räumen, ebenso aber natürlich auch das Fernsehen in den 1950er/60er Jahren und schließlich, wenn auch für Historiker noch nicht aktuell, das Internet.12 Für diese historische Veränderung wurde der Begriff der »Verräumlichung« vorgeschlagen, »als Set jener kommunikativen Praktiken, mit dem Individuen Raumbezüge herstellen und sich entsprechend orientieren«.13 Ob durch die Medien umgekehrt der Ort des Handelns zunehmend an Bedeutung verliert und durch die mediale Kopräsenz eine »raumzeitliche Abstandsvergrößerung« entsteht, wäre zu hinterfragen. Denn parallel zur Medialisierung nahm in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts offensichtlich auch die temporäre persönliche Begegnung in materiellen Räumen bei religiösen Events zu.14 Vor allem Michel de Certeau betonte anschaulich, dass Räume sich durch Praktiken konstituieren. Nach Certeau ist »der Raum ein Ort, mit dem 10 Vgl. Martina Löw, Raumsoziologie, Frankfurt a. M. 2001, S. 15. 11 Eher eine metaphorische Verwendung des Raums i. S. von Öffentlichkeit verwenden: Bernd Schröder/Wolfgang Kraus (Hg.), Religion im öffentlichen Raum/ La Religion dans l’espace public. Deutsche und französische Perspektiven/Perspectives allemandes et françaises, Bielefeld 2010. 12 Zur Beziehung zwischen Medienwandel und historischen Veränderungen vgl. generell: Frank Bösch, Mediengeschichte. Vom asiatischen Buchdruck bis zum Internet, Frankfurt a. M. 2011; speziell zur Verbindung zur Religion vgl. Frank Bösch/Lucian Hölscher (Hg.), Kirche – Medien – Öffentlichkeit. Transformatio­ nen kirchlicher Selbst- und Fremddeutungen seit 1945, Göttingen 2009. 13 Alexander C. T. Geppert/Uffa Jensen/Jörn Weinhold, Verräumlichung. Kommunikative Praktiken in historischer Perspektive, 1840-1930, in: Dies. (Hg.), Ortsgespräche. Raum und Kommunikation im 19. und 20. Jahrhundert, Bielefeld 2005, S. 15-49, hier S. 30. 14 Diese »popular religion« wurde vielfältig hervorgehoben: vgl. etwa Hubert Knoblauch, Populäre Religion. Auf dem Weg in eine spirituelle Gesellschaft, Frankfurt 2009. 11 frank bösch / lucian hölscher man etwas macht« (prägnanter im Orginal: »l’espace est un lieu pratiqué«), »ein Resultat von Aktivitäten, die ihm eine Richtung geben, ihn verzeit­ lichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren.«15 Entsprechend nehmen die hier versammelten Arbeiten über die Anordnung und den Wandel von religiösen Räumen hinaus auch die Performanz kirchlicher Veranstaltungen in den Blick.16 Gefragt wird nach den räumlichen Anordnungen und Abläufen, den konzeptionellen und programmatischen Vorgaben, nach Ritualen, Gesten und anderen performativen Akten im Zusammenhang mit kirchlich konnotierten Veranstaltungen, nach den dabei beobachtbaren visuell-körperlichen Interaktionen zwischen Akteuren und dem Publikum und nach Inszenierungsstrategien und -regeln. Die jeweilige Anordnung kann unterschiedliche Lesarten entfalten. Stuhlkreise etwa dienten bei kirchlichen Versammlungen oft nicht nur der Auflösung frontaler Kommunikationsformen, sondern auch als Symbol für die Geschlossenheit der »Runde«, die sich hier versammelte. Ähnliches gilt auch für die neuen, offenen Gottesdienstformen, die seit den frühen 1970er Jahren ­unter dem Programmbegriff »Neue Liturgie« bei den Evangelischen Kirchentagen Konjunktur hatten und die dem einzelnen Kirchentagsbesucher im Kollektiv eigene Entwicklungs- und Erfahrungsmöglichkeiten einräumen sollten wie etwa die »Liturgische Nacht« oder das »Feierabendmahl«. Wie gegenwartsbezogene Untersuchungen zeigen, werden auch die Kirchenbauten von unterschiedlichen Kirchenbesuchern unterschiedlich gedeutet.17 Die Analyse performativer Akte im kirchlichen Raum dient der Frage, wie weit Kirche als Veranstaltung im Vollzug beschrieben werden kann. Dabei ist davon auszugehen, dass kirchliche Veranstaltungen in hohem Maße symbolisch aufgeladen sind, d. h. dass Gesten und Riten, liturgische Abläufe, Kleiderordnungen, räumliche Anordnungen und Interaktionen, ja selbst das Verhältnis von Vorgaben und spontanen Aktionen immer einen religiösen Übersinn aufweisen, der von den Beteiligten gleichermaßen erfahren, aber different gedeutet wird. Gerade im Untersuchungszeitraum scheinen sich die performativen Ausdrucksinventare der Kirchen stark gewandelt zu haben. Dabei ging es zum einen um den Gewinn neuer Glaub- 15 Michel de Certeau, Kunst des Handelns, Berlin 1988, S. 218. 16 Zum Potential des »performative turn« für die Geschichtswissenschaften vgl. Jürgen Martschukat/Steffen Patzold (Hg.), Geschichtswissenschaft und »performative turn«. Ritual, Inszenierung und Performanz vom Mittelalter bis zur Neuzeit, Köln u. a. 2003, sowie Bachmann-Medick, Cultural Turns (s. Anm. 4). 17 Anna Körs, Gesellschaftliche Bedeutung von Kirchenräumen. Eine raumsoziologische Studie zur Besucherperspektive, Opladen 2012. 12 raum und religion in der moderne würdigkeit und Sinnkonstruktionen durch die Abkehr von »überholten« Ausdrucksinventaren, andererseits aber auch um die Überwindung von symbolischen Barrieren innerhalb der Gemeinden und zur säkularen Gesellschaft. In dem Maße, in dem kirchliche Räume und Akteure allerdings alte Distinktionsmerkmale gegenüber der gesellschaftlichen Außenwelt auflösten, nährten sie auch ein neues Bedürfnis nach symbolischer Auszeichnung kirchlicher Handlungsabläufe. Wenn sich der Pfarrer etwa nicht mehr am Talar erkennen ließ, weil er in Jeans und Rollkragenpullover auftrat, dann gab er seine soziale Rolle doch oft durch andere Zeichen zu erkennen. Dies konnten spezifische Formen sprachlichen Verhaltens, aber auch eine Anstecknadel oder andere sichtbare Zeichen sein. Welche Zeichen und Symbole geschaffen wurden (z. B. der Schal und das Halstuch auf Kirchentagen), welche sich erfolgreich durchzusetzen vermochten (z. B. Lichterketten), wie sich kirchliche Akteure kurzum performativ zu erkennen gaben (etwa durch charakteristische Gesten und Redewendungen), ist Gegenstand des hier skizzierten Untersuchungsfeldes. Die PerformanzAnsätze blicken auf »Aufführungen« an konkreten Orten, bei denen Bedeutungen im Vollzug von Handlungen entstanden, wobei alle Anwesenden (auch die »Zuschauer«) zur Sinnbildung beitrugen. Wenngleich dies häufig auch nicht leicht zu fassen ist, sollen die Beiträge versuchen, eine dichte Beschreibung der Raumanordnung mit den jeweiligen Nutzungen und Deutungen zu verbinden. Räumlich strukturiert sind schließlich die Erinnerung und die Narra­ tivierung von Geschichte. Vor allem die Studien von Karl Schlögel plädierten anschaulich dafür, durch genaue Beobachtung von Orten und den mit ihnen verbundenen Geschichten Räume sichtbar zu machen.18 Das vielfach boomende, aber sehr unterschiedlich ausgelegte Konzept der »Erinnerungs­orte« unterstreicht diese Verbindung, die zumindest teilweise auf konkrete Räume bezogen wurde. Wenig bekannt ist heute, dass Maurice Halbwachs bereits 1938 anhand der sozialen Topographie des Evangeliums aufzeigte, wie Vorstellungen von den biblischen Orten auf Dauer gestellt wurden.19 Auch für künftige religionsgeschichtliche Studien wäre entsprechend zu fragen, wie die durch bestimmte Praktiken und Anordnungen konstituierten Orte erzählerisch tradiert wurden. Unser Buch streift dies an prominenten Beispielen – wie »Essen 1968« oder 18 Vgl. bes. Karl Schlögel, Im Raume lesen wir die Zeit. Über Zivilisierungsgeschichte und Geopolitik, München 2003. 19 Erschienen zuerst 1941, auf Deutsch: Maurice Halbwachs, Stätten der Verkündigung im Heiligen Land. Eine Studie zum kollektiven Gedächtnis, Konstanz 2003. 13 frank bösch / lucian hölscher Stätten berühmter Papstbesuche in Polen – aber auch anhand der Erinnerung an den Alltag in gewöhnlichen Gemeindezentren in den 1970er/80er Jahren. 2. Religiöse Räume und christliches Territorialprinzip in historischer Perspektive Wie sich religiöse Gemeinschaften räumlich und zeitlich organisieren, ist alles andere als trivial. In ihrer raum-zeitlichen Organisation bilden sich in hohem Maße ihre Stellung innerhalb der Gesellschaft, ihre äußeren Beziehungen zu den Menschen und zu anderen Institutionen, aber auch ihre innere Verfasstheit ab. So finden sich zum Beispiel in allen Religionen heilige Zeiten und heilige Räume, die sich von profanen Räumen unterscheiden; Orte und Zeitpunkte, an denen sich religiöse Handlungen verdichten, indem dort etwa viele Gläubige zusammenkommen, gemeinsam ihre Riten begehen und sich so von anderen Zeiten und Räumen absondern.20 So verfügt die Evangelische Kirche in Deutschland derzeit über immerhin 75 000 Gebäude, darunter gut 20 000 Kirchen und Kapellen und knapp 3400 Gemeindezentren mit Gottesdienstraum.21 Zugleich ist und war die Unterscheidung zwischen sakralen und profanen Räumen schon immer eine Grenzziehung, die in der Praxis die beteiligten Akteure aushandelten. Das galt bereits im Mittelalter und der Frühen Neuzeit für die Gotteshäuser, deren Kirchenräume bereits »Multifunktionalität« aufwiesen: wo zahllose säkulare Praktiken stattfanden, seien es Handel und Lagerung von Waren, Zuflucht und Armenspeisung oder Feste und weltliche Kommunikation.22 Umgekehrt agierten die Kirchen und die religiöse Praxis vielfältig in säkularen Räumen – von der Pilgerfahrt bis zum Feldgottesdienst. Gerade im Anschluss an Luthers Ablehnung einer verdinglichten Frömmigkeit und Calvins enger Verzahnung kommunaler und kirchlicher Aufgaben fiel es den Protestanten leichter, sich jenseits der Kirche zu ver­ sammeln. Religiöse Organisationen verdichten sich zudem als weltliche Institu­ tionen in Verwaltungszentren, von denen bestimmte Leistungen für die 20 Mircea Eliade, Das Heilige und das Profane. Vom Wesen des Göttlichen. Köln 2008. 21 EKD, Statistik auf Basis der Erhebung 2010; http://www.ekd.de/statistik/kirchen. html [22.5.2013]. 22 Vgl. die Beiträge in: Susanne Rau/Gert Schwerhoff (Hg.), Topographien des Sakra­ len. Religion und Raumordnung in der Vormoderne, Hamburg 2008, besonders Susanne Rau, Raum und Religion. Eine Forschungsskizze, in: Ebd., S. 10-37. 14 raum und religion in der moderne Gesellschaft erbracht werden. Auch diese Leistungen sind meist an bestimmte Räume gebunden. Grenzziehungen zu benachbarten Verwaltungsräumen haben z. B. in Europa seit dem 19. Jahrhundert zur kleinteiligen Kartierung religiöser Verwaltungsbezirke geführt.23 Bis dahin waren die Grenzen zwischen Gemeinden, Bistümern, Klöstern in der Regel nicht genau festgelegt, sie richteten sich mehr nach den personalen Beziehungen und Ereignissen, an denen die Gläubigen teilnahmen, als nach kartographisch festgelegten Grenzen. Die kartographische Einhegung religiöser Gemeinden im 19. Jahrhundert hatte auch organisatorisch gravierende Folgen für die innere Gestalt kirchlicher Gemeinden: Durch sie wurde der geographische Raum, den Gemeinden einnahmen, zur Grundlage einer erstrebten geistlichen Gemeinschaft, gewissermaßen einer »Gemeinschaft der Hei­ ligen vor Ort«. Die kirchliche Gemeinde verwandelte sich aus einem reinen Personenverband in ein Raumgebilde, sie bildete, vor allem seitdem sie sich rechtlich und räumlich von der politischen Gemeinde gelöst hatte,24 im Kleinen der Gemeinde vor Ort die Basiseinheit christlicher Gemeinschaft überhaupt. Doch mit der Verräumlichung der kirchlichen Gemeinden setzte zugleich auch deren Krise in der modernen Gesellschaft ein: Zunächst löste sich durch die Zuzüge religionsfremder Einwohner die geistliche Einheit der räumlich umgrenzten Einwohnerschaft auf.25 Dann begann die christliche Ortsgemeinde aber auch durch den Kirchenaustritt bisheriger Gemeindemitglieder zu erodieren. Sie mutierte dadurch im Laufe des 20. Jahrhunderts mehr und mehr zu einem gesellschaftlichen Verein unter anderen, zu einem Personenverband, der sich weder politisch noch räumlich mit dem Gemeinwesen insgesamt deckte. Auch dieser Prozess setzte früh ein, in den großen Städten Deutschlands schon im ausgehenden 17. Jahrhundert, er ergriff aber im Laufe der Zeit mehr und mehr auch ländliche Gebiete. Was damit in Frage gestellt wurde, wird allerdings erst wirklich deutlich, wenn man die Bedeutung räumlicher Verbände für den Zusammenhalt religiöser Gemeinschaften langfristig ins Auge fasst: Die religiöse Gemeinschaft ist als Abendmahlsgemeinschaft von zentraler Bedeutung für die 23 Lucian Hölscher (Hg.), Atlas zur religiösen Geographie im protestantischen Deutschland von der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zum Zweiten Weltkrieg, Berlin 2003. 24 Cord Cordes, Geschichte der Kirchengemeinden der evangelisch-lutherischen Landeskirche Hannovers 1848-1980, Hannover 1983; Lucian Hölscher, Geschichte der protestantischen Frömmigkeit, München 2005, S. 253-259. 25 Diese Ansiedlung von Konfessionsfremden ist im Rheinland schon seit dem 17. Jahrhundert zu beobachten, sie führte im 18. und 19. Jahrhundert aber weiter zur festen Etablierung religiöser Minderheiten in allen größeren Städten und Regierungsbezirken Deutschlands. Vgl. ebd. S. 164 ff., 194 ff. 15 frank bösch / lucian hölscher abendländische Organisation des Christentums. Im Laufe des Hoch- und Spätmittelalters wuchs ihr aber auch zunehmend eine politische Bedeutung zu: Christliche Gemeinschaft organisierte sich mehr und mehr als politische Gemeinschaft, vor allem in den protestantischen Landeskirchen fielen seit den Reformationen des 16. Jahrhunderts politische und Kirchengemeinde mehr und mehr zusammen. Räumliche Nachbarschaft gewann dadurch eine elementare Bedeutung für den religiösen Zusammenhalt des Gemeinwesens. In der Sitzordnung der Kirchen bildete sich die politische Ordnung ab, politische und kirchliche Rechte und Pflichten griffen, etwa bei der Aufrechterhaltung der moralischen und wirtschaftlichen Ordnung des Gemeinwesens, eng ineinander.26 Auch nach der Neuregelung des Verhältnisses von Kirche und Staat zu Beginn des 19. Jahrhunderts ergänzten sich diese zunächst immer noch wechselseitig: Der Staat sicherte die äußere Existenz der Kirchen, die Kirchen den inneren Zusammenhalt des Staates. So sorgte etwa die staatliche Polizei für den Schutz von Gottesdiensten vor Störungen und die ungehinderte Abhaltung von Prozessionen. Umgekehrt übernahmen kirchliche Gemeinden zahllose Aufgaben in der politischen Gemeinde: von der Registrierung von Geburten, Eheschließungen und Sterbefällen über die Eingliederung neu Hinzugezogener bis hin zur Armenfürsorge, von der Organisation von Gemeindefesten bis zur Versorgung der Bevölkerung mit Lesestoffen. Obwohl sozial längst auseinandergedriftet, halten die Kirchen daher auch heute noch am Territorialprinzip ihrer Gemeinde­ ordnung grundsätzlich fest. Dieses Territorialprinzip verstärkte sich im Laufe des 20. Jahrhunderts sogar noch beträchtlich: Vergleichbar der flächendeckenden Versorgung mit Lebensmitteln, Wasser und Energie, gingen die Kirchen im ausgehenden 19. Jahrhundert daran, die Bevölkerung in den schnell wachsenden Ballungszentren auch mit kirchlichen Einrichtungen, vor allem mit neuen Kirchenbauten zu versorgen. Kirchliche Verwaltungsbehörden führten schon im ausgehenden 19. Jahrhundert den Rückgang des Kirchenbesuchs in erster Linie auf die Unterversorgung der städtischen Bevölkerung mit kirchlichen Räumen für den Gottesdienst zurück und antworteten darauf mit einem intensiven Kirchenbauprogramm. Dass es nicht an der räumlichen Ferne zur nächsten Kirche lag, wenn Kirchenmitglieder weiterhin nicht am kirchlichen Leben teilnahmen, sondern an der inneren Entfremdung zur christlichen Lebensform, nahm man hier erst langsam und in einem schmerzlichen Lernprozess zur Kenntnis. 26 David Warren Sabean, Das zweischneidige Schwert. Herrschaft und Widerspruch im Württemberg der frühen Neuzeit, Berlin 1986. 16 raum und religion in der moderne 3. Der Wandel kirchlicher Räume nach 1945 Nach dem Zweiten Weltkrieg suchten die Großkirchen erneut – auch unter dem Einfluss sprudelnder Kirchensteuern – der drohenden Abwendung weiter Bevölkerungsteile mit einem massiven Kirchenbauprogramm zu begegnen. Neben den vielfältigen Wiederaufbauten nach Kriegsschäden, die die Kirche im städtischen Raum als »Siegerin in Trümmern« und als scheinbar zeitlose Instanz in der Moderne auswiesen, entstanden nun auch wieder zahllose Neubauten. Jeder Christ solle, so hieß es damals, im städtischen Raum seine Kirche jetzt endlich in fußläufiger Distanz finden können. Vor allem in den 1960er Jahren ermöglichten die Einnahmen im Zuge des Wirtschaftswunders diesen einmaligen kirchlichen Bauboom. Ein Ausdruck dieses revitalisierten Territorialprinzips waren die neu eingerichteten Gemeindezentren, deren Raumordnungen sich zwei exemplarische Studien im vorliegenden Band widmen. Gemeindezentren sollten der Gemeinde jetzt weit über den Kirchenbau hinaus eine räumliche Heimat bieten, indem sie auch Räume für Arbeitsgruppen, für den kirchlichen Unterricht, für Bibliotheken, Jugendgruppen und Kindergärten, ja sogar Wohnräume für den Pfarrer und den Küster und anderes mehr einschlossen. Die Rechnung ging damals allerdings ebenso wenig auf wie in den Zeiten des ersten großen Kirchenbauprogramms nach 1890: Abgesehen von besonderen Not- und Versorgungslagen kehrten die Gläubigen ihren Kirchen bald auch dann meist den Rücken, wenn der nächste Kirchenraum in unmittelbarer Nähe lag. Andere religiöse, politische und kulturelle Angebote zogen die Menschen häufig stärker an und von den Kirchen weg. Die räumliche Nähe der Kirchengebäude spielte dabei teils aufgrund der wachsenden Mobilität der Bevölkerung, teils aufgrund der wachsenden Bedeutung der Massenmedien eine immer geringere Rolle. Dennoch hatten die neu gebauten Gemeindezentren eine größere Bedeutung für den Wandel von Kirche und Religion. Wie der Beitrag von Katrin Bauer am Beispiel des katholischen Kirchenzentrums HochdahlSandheide zeigt, trug die Anlage wesentlich zur Formierung und Erneuerung des Gemeindelebens auf der Grundlage der Reformen des Zweiten Vatikanischen Konzils bei, wenn sie auch letztlich nicht die partielle Rückkehr zu traditionellen kirchlichen Formen nach einer Generation verhindern konnte. Ergänzend hierzu arbeitet Wiebke Arnholz in einer dichten architekturästhetischen Beschreibung die enge dialektische Verknüpfung von sakralen und säkularen Räumen in diesem Gemeindezentrum heraus: Wie sich der sakrale Gottesdienstraum für die aktive Mitwirkung der Laien öffnete, so öffnete sich der säkulare Raum der anschließenden Gebäude für die Ausstrahlung kirchlicher Sendungsaufträge in die städtische Gesellschaft. Deshalb wäre es voreilig, bei der Anlage von Gemeindezentren 17 frank bösch / lucian hölscher seit den 1960er Jahren nur von einer immer weiterführenden säkularen Anpassung der Kirchen auszugehen. Vielmehr lässt sich seit den 1980er Jahren auch ein Trend zur Re-Sakralisierung ausmachen. Bereits 1981 kam eine Studie zu 17 Gemeindezentren zu dem Schluss, dass sich in allen untersuchten Fällen die Tendenz zeige, den zentralen Mehrzweckraum auf eine einzige Funktion, den sonntäglichen Gottesdienst, zu reduzieren und dafür den Raum formal zu resakralisieren.27 Unsere Fallstudien unterstreichen in ihrem Ausblick zur Gegenwart ähnliche Tendenzen. Die Neuordnung des Raumes ergriff im Laufe des 20. Jahrhunderts aber auch den Binnenraum der Kirchenbauten selbst. Angestoßen durch die liturgischen Reformbewegungen der 1920er Jahre, verstärkt dann aber vor allem durch das Zweite Vatikanische Konzil und auf protestantischer Seite durch die kirchliche Reformbewegung der 1960er Jahre, wandelte sich nach und nach die Raumstruktur und die Raumordnung der Kirchengebäude: Statt der traditionellen Langhäuser mit ihrer Frontalordnung zum Hochaltar hin entstanden mehr und mehr Zelt- und Rundbauten. Im Gottesdienst fand das Miteinander von Pfarrer und Gemeinde auch in der räumlichen Anordnung von Altar und Kirchensitzen seinen Ausdruck. Der Gottesdienstbesucher sah sich dadurch plötzlich aus der Rolle des passiven Zuschauers in die des aktiven Teilnehmers gedrängt. Mit der räumlichen Neuordnung ging auch eine weitreichende Revision symbolischer Inventare einher. Und wo möglich wurde davon auch die Einbettung der Gottesdiensträume in das architektonische Ensemble der städtischen Umgebung berührt. Auf welchen theologischen Grundlagen diese räumliche Neukonfiguration christlicher Gottesdienste in den 1960er Jahren ruhte, zeigt Stefan Böntert in seinem Beitrag zum Wandel kirchlicher Raumordnungen nach dem Zweiten Vatikanischen Konzil: Die bauliche Anlage und innere Ausgestaltung von Kirchenräumen stand seither immer in enger Wechselwirkung zur Reform der Liturgie. Theologische Überlegungen etwa zum »Ort« Gottes im Gottesdienst ließen sich, wie Böntert zeigt, liturgisch gar nicht anders einlösen als durch die räumliche Neuverortung von Altar und Tabernakel, Ambo und Kanzel inmitten bzw. gegenüber der Gemeinde. Kirchen­gebäude änderten so nicht nur ihre äußere Gestalt, sondern auch ihre innere Gestaltung im Vollzug religiöser Handlungen. Hinzu kamen neue Formen von Gotteshäusern, welche die experimentelle Öffnung der Kirchen gegenüber der Gesellschaft weiter vorantrieben. Als recht erfolgreich erwiesen sich etwa die Autobahnkirchen, die in gewisser Weise an die vormoderne Tradition der Wegkapelle anschlossen. 27 Martin Görbing u. a., Planen – Bauen – Nutzen. Erfahrungen mit Gemeindezentren, Gießen 1981. 18 raum und religion in der moderne Zu den ersten Autobahnkirchen, die 1958 in Berlin und Augsburg entstanden, sind rund vierzig weitere dazugekommen, die immerhin eine jeweils sechsstellige Besucherzahl pro Jahr erreichen.28 Nahezu zeitgleich entstand 1960 in Berlin die erste »Ladenkirche« als Projekt der Kirchen­ reformbewegung: In einem angemieteten Bäckerladen mitten im »Kiez« versammelte sich hier die Gemeinde in weltlichen Mehrzweckräumen, ohne Altar, Kanzel oder Kreuz an der Wand, und sprach bei den Gottesdiensten miteinander.29 Die Ladenkirche im engeren Sinn setzte sich zwar nicht durch, als Modell war sie aber durchaus wegweisend. Besondere Aufmerksamkeit widmen die Beiträge dieses Bandes über die Gotteshäuser hinaus der in den Nachkriegsjahrzehnten beobachtbaren Ablösung religiöser Veranstaltungen von deren traditionellen Zentren, den Kirchen. Sie kann als Ausdruck und Katalysator der veränderten Stellung der christlichen Kirchen in der säkularen Gesellschaft gelesen werden. Dabei handelte es sich um einen dialektischen Prozess wechselseitiger ­Distanzierung und neuer Durchdringung: Während Kirchengebäude etwa städte­baulich aus dem Zentrum der Städte verschwanden, erschlossen sich kirchliche Veranstaltungen auch wiederum neue städtische Räume. Oft begannen sich die Grenzen zwischen religiösen und säkularen Veranstaltungen sogar aufzulösen, religiöse Veranstaltungen verloren ihren tradi­ tionellen Ort im säkularen Raum. Die Folgen solcher Enträumlichung religiöser Veranstaltungen und kirchlicher Gemeinschaften waren beträchtlich. Die Erosion der kirch­ lichen Ortsgemeinden setzte völlig neue religiöse Raumordnungen frei, deren Untersuchung den Hauptteil der Beiträge im vorliegenden Band ausmacht: So entstanden in den Massenmedien neue, virtuelle Räume, die, etwa bei Gottesdienstübertragungen, auch die traditionellen kirchlichen Formate aufbrachen. Auch wurden die Kirchen selbst räumlich mobiler, entwickelten in Kirchentagen, Akademien und der kirchlichen Presse überregionale Organisationsformen, deren Einzugsgebiete weit größer als die Ortsgemeinden waren. So haben heute etwa funktional auf musikalische Darbietungen ausgerichtete Angebote, Klöster und kirchliche Freizeiten eine oft größere Anziehungskraft auf die kirchliche Öffentlichkeit als die Angebote der Ortsgemeinde. 28 Bernhard Schmidt, Autobahnkirchen – »Tankstellen für die Seele«. Eine Momentaufnahme anlässlich der Errichtung der ersten Autobahnkirche am Berliner Ring, in: Praktische Theologie 47/4, 2012, S. 247-255; Harald Rein, Grenzen der Seelsorge. Die Spannung zwischen territorialer Pfarrgemeinde und funktionaler Seelsorge am Beispiel der Autobahnkirchen in der Bundesrepublik Deutschland, Frankfurt a. M. 1987. 29 Wittmann-Englert, Zelt (s. Anm. 2), S. 157. 19 frank bösch / lucian hölscher 4. Jenseits des Kirchenraums Einen geradezu experimentellen Charakter nahm die Aufkündigung tradi­ tioneller kirchlicher Raumordnungen an, wenn kirchliche Veranstaltungen den Kirchenraum verließen, um auf Straßen, Plätzen oder Sportstadien eine neue Heimat in der säkularen Umwelt zu suchen. Der Exodus war zunächst als Ausbruch aus dem gesellschaftlichen Ghetto gemeint, in das sich die Kirchen in Deutschland zum Teil schon nach dem Ersten, spätestens aber nach dem Zweiten Weltkrieg gedrängt sahen. Zur Durchführung bedurfte es eines neuen Konzepts von Kirche, das Kirche und christliche Gemeinde nicht mehr als Gegenüber zur Welt, sondern als lebendigen, möglichst progressiven Teil der Gesamtgesellschaft verstand. Dieses ambitionierte, seit den 1950er Jahren unter dem Begriff der »Säkularisierung« vorgetragene und umgesetzte Konzept ging bald daran, die Grenzen zwischen Kirche und Gesellschaft einzureißen, ohne doch an religiöser Sub­ stanz zu verlieren.30 Von den kirchlichen Kerngemeinden wurde dieser Aufbruch zwar vielfach misstrauisch beobachtet, von den weniger engagierten Rändern der Kirchen dagegen meist akzeptiert und nur selten als feindliche Besetzung des säkularen Stadtraums begriffen.31 Durch Anpassung ihrer performativen Formen an die zeitgenössische Popkultur konnten sich so etwa katholische Weltjugendtage als weltanschaulich und sozial offene Veranstaltungen präsentieren.32 Gleichwohl wurde der öffentliche urbane Raum seither in neuer Weise zu einem Forum auch religiöser Positionierungen. Anders als die katho­ lischen Prozessionen an Fronleichnam, welche im 19. Jahrhundert von Protestanten in gemischt konfessionellen Gebieten noch als unerlaubte Vereinnahmung säkularer Räume für kirchliche Zwecke bekämpft worden waren, wurden die Veranstaltungen der Katholiken- und evangelischen Kirchentage auf den Straßen und Plätzen der jeweiligen Gaststädte seit den 1960er 30 Insofern wird hier ein anderer, zeitgenössischer Begriff von Säkularisierung benutzt als analytisch meist üblich. Vgl. hierzu Lucian Hölscher, Kirche im Zeit­ alter der Säkularisierung, in: Zeitschrift für evangelische Ethik 52, 2007, S. 3-11; Ders., Die Säkularisierung der Kirchen. Sprachliche Transformationsprozesse in den langen 1960er Jahren, in: Wilhelm Damberg (Hg.), Soziale Strukturen und Semantiken des Religiösen im Wandel. Transformationen in der Bundesrepublik Deutschland 1949-1989, Essen 2011, S. 203-214. 31 Ein solcher Konflikt ergab sich etwa im Frühjahr 2012 in Kassel beim Streit um die Errichtung einer Statue des Bildhauers Stephan Balkenhol in einem katho­ lischen Kirchturm, wodurch die documenta-Chefin Carolyn Christov-Bakargiev ihr Konzept der Kasseler Kunstausstellung gefährdet sah. Vgl. Matthias Heine, Schwester Unlustig, in: Die Welt vom 25. Mai 2012. 32 Vgl. Winfried Gebhardt, Megaparty Glaubensfest. Weltjugendtag: Erlebnis – Medien – Organisation, Wiesbaden 2007. 20 raum und religion in der moderne Jahren auch von der jeweils anderen Konfession in der Regel nicht mehr als illegitime Besetzung städtischer Räume verbucht. Nicht weil sie sich nicht mehr als religiöse, ja sogar als konfessionelle Veranstaltungen verstanden, sondern weil sie sich als Anbieter in einem offenen religiösen Feld sahen, konnten sie die zeitweise Besetzung des öffentlichen Raums durchsetzen. Die temporäre performative Besetzung des säkularen Raumes untersucht Thomas Mittmann am Beispiel der Kirchen- und Katholikentage. Während in den 1950er/60er Jahren noch unverwechselbare kirchliche Symbole, Zeichen und Praktiken dominierten, macht Mittmann seit Ende der 1960er Jahre einen eigenständigen räumlichen Bereich aus, in dem die Kirchen nicht mehr unbedingt als solche erkennbar waren, weil nun alternative räumliche Kompositionen und Ausdrucksinventare aufkamen. Er fasst dies als eine »Selbstsäkularisierung« insbesondere der Evangelischen Kirchentage, bei der spezifisch kirchliche Kleidung und Symbole aufgegeben wurden, um die Öffnung zur Welt zu unterstreichen. Zugleich zeigt er, wie die religiösen Individualisierungs- und Optionalisierungsprozesse innerhalb des kirchlichen Publikums auf der konzeptionellen Ebene zu einer zunehmenden »Eventisierung« der Katholikentage und Evangelischen Kirchentage führten. Damit verbunden war aber auch eine gezielte Medialisierung dieser kirchlichen Massenereignisse, bei denen die Zuschauer und Zuhörer als eine eigene Gruppe adressiert wurden. Alle diese Trends führten Mittmann zufolge dazu, dass die konfessionellen Besonderheiten von Kirchentag und Katholikentag immer mehr verschwanden. Im Nachklang zu ’68 entstanden in den 1970er/80er Jahren zahlreiche neue soziale Bewegungen, die den öffentlichen Raum besetzten. Oft wird jedoch vergessen, dass die polarisierende Mobilisierung dieser Zeit nicht nur die Linke erfasste. Auch auf Seite der Konservativen führten die liberalen Reformen zu Protesten, Parteieintritten und neuen Organisationen.33 Das galt insbesondere für die Abtreibungsgesetze, die vor allem in den USA kirchliche Gruppen auf die Straße und in die Politik führten. Wie Jana Ebelings Beitrag zeigt, gewannen die deutschen Kirchen durch ihre öffentlichen Proteste in der Straßen- und Medienöffentlichkeit zwar an Einfluss, dies bescherte jedoch zugleich einen Kontrollverlust über die vielfältigen zugespitzten Aussagen und Bilder, die nun kursierten und kritisch der Kirche insgesamt zugeschrieben wurden. Ebelings Beitrag nimmt dabei die Pro33 Vgl. Frank Bösch, Die Krise als Chance: Die Neuformierung der Christdemokraten in den siebziger Jahren, in: Konrad Jarausch (Hg.), Das Ende der Zuversicht? Die Strukturkrise der 1970er Jahre als zeithistorische Zäsur, Göttingen 2008, S. 288-301; Massimiliano Livi u. a. (Hg.), Die 1970er Jahre – auch ein schwarzes Jahrzehnt? Politisierungs- und Mobilisierungsprozesse zwischen rechter Mitte und extremer Rechter in Italien und der Bundesrepublik 1967-1982, Bielefeld 2010. 21 frank bösch / lucian hölscher teste mit der medialen Perzeption zusammen in den Blick und argumentiert, dass erst die undifferenzierte Darstellung der Medien die heterogenen Pro­ teste gegen die Reform des § 218 als eine kirchliche Mobilisierung erscheinen­ ließen. Auch sie macht dabei eine »Selbst-Säkularisierung« der Kirchen aus, wenn diese sich in den Auseinandersetzungen nicht vornehmlich auf christliche, sondern auf rechtliche Grundsätze wie das Grundgesetz beriefen. In welchem Maße die Medialisierung die Kirchen, die Religion und ihre räumliche Verortung herausforderte, zeigt besonders der Beitrag von Ronald Funke. Ob der Gottesdienst regulär per Fernsehen ins Wohnzimmer übertragen werden dürfe, wurde in einem jahrzehntelangen Aushandlungsprozess ausgelotet. Funke arbeitet dabei die unterschiedlichen Antworten der beiden Konfessionen heraus. Die katholische Seite mit ihrem Selbstverständnis der einen universellen Kirche Christi strebte auch ein einheitliches Fernsehbild des Katholizismus an und versuchte zudem, vor allem die kirchennahe Fernsehöffentlichkeit in den (echten) Kirchenraum zu integrieren. Dagegen führte die Vielfalt der evangelischen Kirchen in Deutschland zu einer uneinheitlichen Präsentation des protestantischen Glaubens im Fernsehen. Die protestantischen Fernsehgottesdienste fanden oft bewusst in halb- oder nichtkirchlichen Räumen statt, um auf diesem Weg eine breitere Öffentlichkeit zu erreichen. Der Fernsehgottesdienst wurde somit zu einem Experimentierfeld. Durch ihn gerieten beide Konfessionen zudem in eine neue Konkurrenzsituation, da vom Wohnzimmer aus nun auch Angehörige der jeweils anderen Konfession erstmals regelmäßiger die abwechselnd gezeigten Gottesdienste verfolgen konnten. Während sich die Kirchen leerten, konnte die Zuschauerzahl der Gottesdienstübertragungen in den 1980er/90er Jahren von 360 000 auf 700 000 nahezu verdoppelt werden. Kaum berücksichtigen konnten wir in unserem Band die differente Entwicklung der Kirchen im Sozialismus, obgleich auch hier der raumbezogene Blick lohnenswert erscheint. Gerade in protestantisch geprägten Staaten wie der DDR waren die Kirchen durch die Repression und die starken Austritte kaum noch durch Gottesdienste, eigene Medien und außerkirch­ liche Aktivitäten in der Gesellschaft präsent, wohl aber durch kirchliche Gebäude. Diese steinernen Bauten erschienen vielen wie ein mahnender Hinweis auf eine Präsenz der Religion, die Diktaturen überdauern könne. Auf dem Territorium der DDR gab es rund 10 000 Kirchenbauten, von denen bis 1978 nur rund 60 Kirchen abgerissen worden sind. Diese Abrisse waren jedoch spektakulär, wie bei der Garnisonskirche in Potsdam, der Versöhnungskirche in Berlin oder der Paulinerkirche in Leipzig.34 In ge34 Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München 2009, S. 193. 22 raum und religion in der moderne wisser Weise zeigten sie, dass auch das Verschwinden kirchlicher Räume, die bis heute im öffentlichen Gedächtnis verankert sind, diesen öffentlich neue Aufmerksamkeit geben konnte. In den 1980er Jahren wandelte sich diese Politik der SED und sie gestattete, auch im Rahmen ihrer generellen Hinwendung zur Altstadtsanierung, mit finanzieller Unterstützung der westdeutschen Kirchen den Neu- und Wiederaufbau. Immerhin fünfzig Kirchenneubauten lassen sich in der DDR während der Ära Honecker ausmachen.35 Besonders in Neubaugebieten entstanden hierbei neue Gemeindezentren, auch um zu verhindern, dass sich die Gemeinden sonst schwer kontrollierbar in Privatwohnungen träfen. Bei den gesamtdeutschen Kirchentagen der 1950er Jahre, insbesondere in Leipzig 1954, kam es noch zu einer Verwandlung des sozialistischen Raums: Die roten Flaggen beider Rathäuser wichen den weißen Fahnen mit dem violetten Kreuz, zu jeder vollen Stunde läuteten die Glocken und bereits am Bahnhof wurden ankommende Christen von »dem sprechenden Plakat der singenden Kruzianer«36 empfangen, wie auch der Beitrag von Thomas Mittmann unterstreicht. In den folgenden Jahrzehnten kam es in der DDR jedoch weniger zu einer Verlagerung der Kirche in den öffentlichen Raum als vielmehr zu einer Öffnung kirchlicher Räume. Besonders die Kirchenmusik war ein Angebot an nichtgläubige Menschen. Auch hier wurden neue Formate ausprobiert, um insbesondere die Jugend anzusprechen. Schon Mitte der 1960er Jahre gab es etwa in der DDR vereinzelte JazzGottesdienste, in Ost-Berlin und anderen Orten auch Blues-Messen.37 Vor allem aber verwandelte ihre Öffnung für regimekritische Aktivitäten die Gestalt kirchlicher Räume, indem in den 1980er Jahren etwa Friedens-, Frauen- und Umweltgruppen hier ein Dach fanden.38 Die Basisgruppe »Kirche von unten« stand für diesen Prozess ab 1987. Bei der Kirchenleitung war zwar stets umstritten, inwieweit politischer Protest im Kirchenraum zulässig sei; aber gerade der Umsturz 1989 zeigte nachdrücklich, wel35 Insgesamt entstanden in der DDR 70 Kirchenneubauten und 400 neue Sakralräume; vgl. Verena Schädler, Katholischer Sakralbau in der SBZ und DDR, Regensburg 2013, S. 232 ff. 36 Alfred Lehmann, Die Stadt nahm uns auf, in: Heinrich Giesen (Hg.), Fröhlich in Hoffnung. Der Deutsche Evangelische Kirchentag 1954 in Leipzig. Gesamtdeutsche Ausgabe. Im Auftrag des Präsidiums des Deutschen Evangelischen Kirchentages herausgegeben, Stuttgart 1954, S. 187 f., hier S. 188. 37 Kowalczuk, Endspiel (s. Anm. 34), S. 205; Henning Pietzsch, Jugend zwischen Kirche und Staat. Geschichte der kirchlichen Jugendarbeit in Jena 1970-1989, Köln 2005, S. 97. 38 Thomas Klein, »Frieden und Gerechtigkeit«. Die Politisierung der Unabhängigen. Friedensbewegung in Ost-Berlin während der 80er Jahre, Köln 2007, S. 289 f.; Ehrhart Neubert, Geschichte der Opposition in der DDR 1949-1989, Köln u. a. 1998, S. 685-689. 23 frank bösch / lucian hölscher che Macht die Öffnung der Kirchräume und der Schritt auf die Straße haben konnten. Deutlich früher und umfassender lässt sich dies in Polen ausmachen. Der Artikel von Frank Bösch zeigt am Beispiel des ersten Papstbesuchs in Polen 1979, wie der sozialistisch geprägte Raum im Zuge des Ereignisses temporär in einen christlichen Raum verwandelt wurde. Er analysiert, wie dies vorher mit dem Staat ausgehandelt wurde und Letzterer sich erstaunlich aktiv daran beteiligte, um eine gewisse Kontrolle zu wahren. Dabei wird deutlich, wie es auf den Straßen zu einer Umwandlung von sozialistischen Symbolen, Ritualen und Deutungen hin zu einer temporär prak­ tizierten, christlich konnotierten Gegenwelt kam. Dies wurde zusätzlich dadurch verstärkt, dass der Papst und die Besucher die üblichen Regeln des kirchlichen Zeremoniells durchbrachen und so im öffentlichen Raum eine neue Form der Kommunikation schufen, die sich deutlich von der sozialistischen unterschied. Trotz des temporären Charakters des Papstbesuchs wird an diesem Beispiel die längerfristige Prägekraft der ephemeren Räume deutlich – im Anknüpfen an Praktiken und Zeichen oder in der fest verkoppelten Erinnerung an die Papstauftritte auf den Wiesen vor Krakau. Wie stark die Medialisierung selbst beim Tod des Papstes und seiner Aufbahrung Rituale verändern konnte und mit dem Petersplatz einen zen­ tralen Raum des Katholizismus neu als »Bühne für den Papstwechsel« konstruierte, zeigt die Fallstudie von René Schlott: Der Petersplatz wurde seit den 1950er Jahren, also parallel zum Ausbau der visuellen Kommunikation im Fernsehzeitalter, immer weiter als säkularer Raum für Freiluftmessen und Totengottesdienste erschlossen, die dabei ihr Zeremoniell änderten. Die Kirche suchte allerdings immer die Bilderhoheit zu wahren, um auch medial das Zeremoniell auf den Papst hin auszurichten. Unser Band konzentriert sich zwar auf die christliche Religion, doch öffnet zumindest ein Artikel diese Perspektive. Anhand der »New-AgeBewegung« der siebziger und achtziger Jahre zeigt Pascal Eitler, wie damals eine eigene neue religiöse Topologie aufkam. Diese konstruierte und popularisierte einerseits neuartige oder nahezu unbekannte religiöse bzw. sakrale Räume, die sich bewusst vom klassischen Kirchenbau abgrenzten. Dazu zählten natürliche oder eingerichtete »mystische« und »kultische Orte« oder »Orte der Kraft«, an denen die »Suchenden« ihre Mitte finden sollten, um sich spirituell und emotional erfahren und erheben zu können. Anders als die christlichen Orte des Gottesdienstes sollten solche natür­ lichen »Orte der Kraft« gerade nicht gestaltet werden. Andererseits zeigt Eitler in seinem Artikel aber auch, wie der Körper selbst zum Ort der Religion wurde: Nicht in einem Gotteshaus, sondern im Körper und den Gefühlen der »Suchenden« sollte das Göttliche gefunden werden. 24 raum und religion in der moderne Eine räumliche Verlagerung »jenseits der Kirche«, so lässt sich abschließend bilanzieren, kann unser Buch somit auf vielfältigen Ebenen aus­ machen: Erstens innerhalb der christlichen Architektur, indem klassische Gotteshäuser neu konzipiert wurden und sich sowohl architektonisch als auch von ihrer Nutzung her vom klassischen Kirchenbau abwandten; zweitens räumlich, indem neue Orte außerhalb der Kirchen aufgesucht wurden; drittens medial, indem die Kirche und Religion in Wohnzimmer und auf Leinwände verlagert wurden; viertens durch neue Konzeptionen des Glaubens, die etwa die Natur oder den Körper als zentrale Orte entdeckten. In allen Fällen stand dies für eine Öffnung von Kirche und Glauben. Diese gewann in den langen siebziger Jahren sicherlich besonders an Intensität. In vielen Fällen zeigte sich jedoch, dass sie in den letzten Jahren wiederum von gewissen Einschränkungen begleitet wurde. Insofern sollte man die Öffnung der Kirchen und die Verlagerung auf außerkirchliche Räume nicht vorschnell als einen ständig fortschreitenden Prozess verstehen, wenngleich die Dynamik der bisherigen Veränderungen unbestreitbar ist. * * * Der vorliegende Band entstand im Rahmen der DFG-Forschergruppe »Transformation der Religion in der Moderne« und stellt einige Teilergebnisse der von uns geleiteten Teilprojekte vor. Diese wurden ergänzt um Beiträge, die ebenfalls im Mai 2012 auf einer Tagung in Bochum diskutiert wurden. Allen Referenten, Kommentatoren und Teilnehmern sei für ihre Hinweise gedankt. Dank für das Lektorat der Beiträge schulden wir zudem Frau Johanna Esch und Herrn Fabian Heese. 25 1. Die Öffnung kirchlicher Räume Katholischer Kirchenbau zwischen theologischem Anspruch und gesellschaftlichem Wandel Raumkonzepte in der Liturgiereform nach dem II. Vatikanum Stefan Böntert 1. Liturgiereform – Kirchenreform – Kirchbaureform Die Liturgiereform, die das II. Vatikanum (1962-1965) im Zuge der Erneuerung für die Kirche auf den Weg brachte, kann als das bedeutendste Ereignis der Kirchengeschichte des 20. Jahrhunderts bezeichnet werden.1 Zwar bezog sich der Wille zur Erneuerung nicht allein auf den Gottesdienst, sondern umfasste grundlegend das Selbstverständnis und Wirken der Kirche unter den Bedingungen der Gegenwart. Dennoch gilt die veränderte Liturgie bis heute als das sichtbarste Resultat des Konzils.2 Dies hängt sowohl mit der Tatsache zusammen, dass die Teilnehmer als erstes Dokument die Liturgiekonstitution verabschiedet haben als auch damit, dass die Kirche die Liturgie als ein Geschehen betrachtet, in dem ihr Selbstbild vorrangig zum Ausdruck kommt. In der Feier stellt sie sich nach außen und innen dar, so dass sie im Gesamt des kirchlichen Lebens einen entscheidenden Kristallisationspunkt bildet. Sosehr die Reform konkrete Modifikationen vornahm, so wenig entsprang sie dem Wunsch, allein in formaler Hinsicht Korrekturen durchzuführen. Die Maßnahmen beruhten auf der Neuformulierung theologischer Grundlagen und waren von dem Anliegen getragen, im Gespräch mit den kulturellen Strömungen der Gegenwart den Glauben zu reflektieren, ihn zu vertiefen und die Liturgie als einen seiner wichtigsten Vollzugsorte 1 Vgl. die umfassende Studie zum durchgehenden Phänomen der Reform in der Liturgiegeschichte: Martin Klöckener/Benedikt Kranemann (Hg.), Liturgiereformen. Historische Studien zu einem bleibenden Grundzug des christlichen Gottesdienstes. Teil I: Biblische Modelle und Liturgiereformen von der Frühzeit bis zur Aufklärung. Teil II: Liturgiereformen seit der Mitte des 19. Jahrhunderts bis zur Gegenwart. Festschrift Angelus A. Häußling, Münster 2002. 2 Zu dieser Einschätzung vgl. statt anderer Johannes Paul II., Apostolisches Schreiben ›Vicesimus quintus annus‹ zum 25. Jahrestag der Verabschiedung der Liturgiekonstitution (4.12.1988), Bonn 1993, Nr. 12. 29