Öffentliche Räume – zu den Themen Ort, Infrastruktur und Landschaft. Steiermark 2010 Vortrag des Juryvorsitzenden Roland Gnaiger, gehalten am 17. September 2010 in Eibiswald anlässlich der Verleihung der GerambRosen 2010. Nach der Neukonzeption der „GerambRose“ durch den Verein BauKultur Steiermark wurde der erste Schwerpunkt auf „Öffentliche Räume – zu den Themen Ort, Infrastruktur und Landschaft“ gelegt. Das verdient Anerkennung. Seit zehn bis fünfzehn Jahren wird Architektur zunehmend stärker gesellschaftlich wahrgenommen. Baukünstlerisches Engagement wird durch Preise gewürdigt, gesellschaftlich vermittelt und von Medien, Wirtschaftskreisen und politischen Institutionen als relevantes Thema aufgegriffen. Auch wenn diese Entwicklung noch nicht in der von jedermann erlebbaren Wirklichkeit unserer Umwelt angekommen ist, eine zuversichtlich stimmende Fährte ist gelegt. Allerdings leidet dieser willkommene Auftakt unter dem massiven Handicap seiner nahezu ausschließlichen Ausrichtung auf Bauwerke / Objekte. Der Außenraum, die Straßen, Plätze, Gärten, Parks und der die Bauwerke umfassende Landschaftsraum werden gleichzeitig, in nahezu ignoranter Weise, ausgeblendet und von diesem Aufschwung ausgeschlossen. Dadurch wird alles, was sich zwischen den Bauwerken aufspannt, was unseren Alltag außerhalb der Häuser begleitet, fallweise bestimmt, sträflich vernachlässigt. Es ist dem Thema der GerambRose 2010 hoch anzurechnen, dass diesem Defizit entgegensteuert wird, um unsere Aufmerksamkeit auf den Außenraum, der auch der gesellschaftliche Raum ist, zu lenken. Soll diesem Thema, jenseits des konkreten, aber einmaligen Anlassfalls, ausdauernd aus der Absatzfalle geholfen werden, müssen wenigstens einige der Gründe für sein Schattendasein benannt werden. Die Ausblendung des öffentlichen (Außen-)Raums wird nämlich nicht nur von einer unbedarften und sorglosen Laienschaft verantwortet. Nein, durch ihr forciertes Interesse an Objekten führt die Fachschaft der Architekten diese Missachtung an (das muss vorerst den Architekten, nicht den Architektinnen angelastet werden). Hunderte Architekturpreise, nahezu alle von Architekten und verwandten Experten inhaltlich verantwortet, zielten durch die vergangenen Jahrzehnte ausschließlich auf Bauwerke. Kontext, Ensemble, Außenraum, Freiraumgestaltung wurden konsequent übergangen. Architekturfotografen hatten an dieser „Ausblendung“ und jener der Objekte aus ihrem Bezugsrahmen hart zu arbeiten. Weil qualitätsvolle Gestaltung, auch im Fall öffentlicher Räume, Aufmerksamkeit und achtsame Hinwendung zur Voraussetzung hat, liegt auf diesen Feldern nahezu alles im Argen. Niveauvolle Freiraumgestaltung beginnt bei der Ausbildung, bedarf einer sorgfältigen Planung und der öffentlichen Diskussion. Aber im Gegensatz zur Objektgestaltung haben wir in allen diesen Bereichen jeden Vergleich mit unseren Nachbarländern Schweiz und Deutschland zu scheuen. Der vergessene Raum Objekte, und (Bau-)Körper lassen sich abbilden, der Raum nur schwer bis nicht. Darin liegt sein folgenreicher Nachteil, der in einer vollkommen von Bildern beherrschten Welt besonders wirksam wird. Die Zuständigkeit für Objekte und Bauten ist durch Besitz- und Gewohnheitsrechte sowie eine eingespielte Praxis ziemlich klar geregelt. Die Verantwortung für den öffentlichen Raum ist wesentlich vielschichtiger. Bei seiner Organisation greifen alte Ordnungs- und Gestaltungspraktiken nicht mehr, neue Umgangsformen schwächeln noch, sind unvertraut, noch zu wenig verankert oder sind (oft auch aufgrund von dahinter stehenden Interessen) umstritten. Die den Straßen-, Dorf- oder Stadtraum betreffenden Entscheidungen sind sehr viel komplexer, kennen zahlreiche Beteiligte und Zuständigkeiten und ganz andere Einflussgrößen, sind ungleich schwieriger und langwieriger zu steuern und herbeizuführen. Ihre Gestaltung bedarf einer politischen Kunst, welche der künstlerischen Ausformulierung in nichts nachstehen darf. In diesem Punkt haben Gesellschaften wie die österreichische mit ihrer Herrschaftstradition und ihrer zaghaften Demokratiepraxis naturgemäß größere Probleme als etwa die Schweiz. Für den Vorrang des Objektes vor dem Raum ist des Weiteren das mit dem Bauen seit jeher verbundene Darstellungsbedürfnis verantwortlich. Hinter diesem kann, zwischen legitimer Selbstbehauptung, naiver Eitelkeit und gewiefter Marketingstrategie, eine breite Palette an Intentionen stehen. In diesem Punkt sind sich alle Gesellschaftsklassen einig: Innerhalb des jeweiligen sozialen Bezugsrahmens wird mit dem eigenen Bauwerk repräsentiert und um Rang, Aufmerksamkeit und Bedeutung gerungen. Das Leistungsvermögen der Bauten im Dienste der Imagebildung ist ungleich größer als das der öffentlichen Räume. Im Interesse leicht abrufbarer Botschaft werden Häuser auf Marken reduziert und zu Parolen verkürzt. Davon leben die Farbenhändler am Land wie die Arenen des internationalen Architekturbusiness. Und damit nicht genug: Die Väter (selten genug auch Mütter) von Bauten sind um vieles leichter zu identifizieren als die von neuen oder neu gestalteten Plätzen, Ortszentren oder Grünräumen. In und auf diese lassen sich Denkmäler setzen, selber sind sie selten eines. Das heißt, der öffentliche Raum muss aus anderen Motiven gespeist und von anderen Quellen getränkt werden. Mehr als bei den Häusern sind wir beim öffentlichen Raum als ganze Gemeinschaft betroffen und vereint. Das Themenfeld der GerambRose 2010 ist sehr breit gefasst. Ich beschränke mich hier, im Interesse der Vertiefung, auf die öffentlichen Räume der Städte, der Dörfer und der Siedlungen. Der öffentliche „Zwischenraum“ Man muss nicht vom Fach sein, sondern nur die Entwicklungen ein paar Jahre, besser noch zwei, drei Jahrzehnte überblicken können, dann wird ganz offensichtlich: Stadt ist Vielfalt. Verarmen unsere Städte funktional, dann ist das der Beginn einer galoppierenden Abwärtsbewegung. Unsere Straßen und Plätze leiden unter den leeren Sockelzonen. Die Folge sind vergammelte, verwahrloste und bedeutungsentleerte Räume, für deren Wiederbelebung es zunehmend an Geld, Kraft und Vertrauen fehlt. Den öffentlichen Gärten und Parks ergeht es ähnlich. Ihre Konzeption entstammt anderen Jahrhunderten, vor allem anderen Bedürfnissen. Neue Gartenanlagen wurden und werden kaum noch angelegt. Die Ausrichtung der alten hat sich überlebt. Weder Tradition noch Gewohnheit sind ein ausreichendes Lebenselixier. Hofgarten, Volksgarten, Bürgergarten - es fehlt uns heute an einer Fortsetzung. Die jungen Vorstädte und Stadtperipherien sind weitere „Baustellen“. Können wir deren Hässlichkeit angesichts unserer Baugeschichte und des aktuellen Wissens und Vermögens weiter akzeptieren? Die Umräume der Gewerbegebiete und Einkaufszentren sind funktional reduziert auf die Bewegung des rollenden Verkehrs. Es sind keine Räume für Menschen, keine Orte des Ankommens und Verweilens. Diese Pisten für den Transit und ein schnelles Verlassen sind es, die darüber hinaus unsere Städte, Dörfer und deren Zentren entleeren. Diese Form des Einkaufens „saugt“ die gesellschaftlichen Aktivitäten in Innenräume, reduziert Öffentlichkeit auf den Konsum und entzieht dem Stadtraum alle Energie. Die Polis, als Gemeinschaft der Bürger, zerfällt. Parallel dazu zerbricht die Polis als Körper der Stadt. Diese Entwicklung bedroht nicht zuletzt die Demokratie. Demokratie braucht den öffentlichen Raum, den Raum des Aushandelns, den Raum der Konfrontation und des Kompromisses. Zuerst sind unseren Ortszentren die wohnenden Menschen verloren gegangen, dann das Gewerbe und zuletzt der Konsum. Alle drei Funktionen haben ihre eigenen Peripherien geschaffen, ohne dass sie für den öffentlichen Raum Ersatz bieten. Raum wurde in ihnen zum Zwischenraum. Wo in Gewerbegebieten Asphalt ist, ist in den Wohngebieten Grün. Die funktionale Vielfalt ist ausgedünnt – hier wie dort. Die Altersstruktur der Bewohner ist eine reine Funktion des Siedlungsalters. Der Anschluss an Vielfalt und Leben heißt Auto. Zwischenraum statt Raum An unseren Peripherien lässt sich wunderbar Raumqualität, vor allem deren Fehlen demonstrieren. Worin liegt der Unterschied zwischen Siedlung und Zersiedlung? Der Unterschied liegt darin, ob aus der Summe der Häuser Raum oder nur Zwischenraum entsteht! Raum ist die Folge einer bewussteren Stellung und Beziehung der Häuser zueinander. Die Häuser begrenzen den Raum und konstituieren ihn. Die Innenflächen der öffentlichen Räume sind die Außenflächen der sie begrenzenden Häuser. Stehen Häuser bloß nebeneinander, ohne Sinn und Bezug, sind Zwischenräume und Zersiedlung ihr Ergebnis. Reagieren Häuser aufeinander, nehmen sie Beziehung auf, verfolgen sie wenigstens eine gemeinsame Idee, dann können Raum und Siedlung ihre Folge sein. Was die Fachwelt „Städtebau“ nennt, ist ein regelmäßig missverstandener Begriff, welcher auf dieser Themenebene nichts anderes meint als die Beziehung zwischen den Elementen (einer Siedlung, einer Stadt). In der menschlichen Kommunikation kann eine leichte körperliche Wegdrehung eine konsequenzreiche Beziehungsänderung bedeuten. Diese Art der „Körpersprache“ ist auch Bauten eigen. Neuere Siedlungshäuser sind von Beginn an „weggedreht“. Auch Häuser können die „kalte Schulter“ zeigen. Viele bezaubernde historische Orte (Assisi ist dafür ein vollkommenes Beispiel) bestehen alleine aus der Summe sehr gewöhnlicher, nahezu banaler Häuser (mit wenigen „dazwischengestreuten“ Besonderheiten). Der Raum / die Stadt hat dort Vorrang vor dem Objekt. Würden wir unseren Fokus vermehrt auf das Dazwischen, den Raum / die Stadt / das Dorf richten, dann könnten wir damit die Bauwerke von ihren heutigen, sie vielfach überanstrengenden Ansprüchen entlasten. Der öffentliche Raum und seine Qualität Baukultur ist keine Geschmacksfrage. Im Widerspruch zum verbreiteten (Vor-)Urteil kennen Architektur und Baukultur für die Beurteilung klare Kriterien. Dass diese nicht im selben Maße zu objektivieren sind wie die Berechnung einer Energiekennzahl (und über diese wird viel gestritten), hat mit ihrer Komplexität zu tun. Darin liegt aber nicht ihre Schwäche, sondern ihre Stärke. Alle wichtigen Dinge im Leben sind vielschichtig. Das heißt aber nicht, dass man über die Qualität von Baukultur, über gelungen oder misslungen und alle Zwischenstufen nicht sprechen könnte. Einige der wesentlichsten Beurteilungsaspekte sind in weiterer Folge genannt. Dabei geht es, in diesem Fall, immer um den öffentlichen Raum. Seine Gestaltungsqualität ist einerseits nicht zu trennen von seinen Aufgaben und Funktionen, andererseits hat Gestaltung aber auch eine unabhängige Existenz. Die folgenden Fragen wurden von der Jury angesichts der großen Anzahl eingereichter Projekte berührt und im Verlauf einer zweitägigen Bereisung intensiv erörtert und diskutiert: Aufenthaltsqualität Ist der jeweilige Ort einladend oder ausladend? Bietet er vielfältige, unterschiedliche Milieus – schattige, kühle Bereiche, sonnige, windgeschützte, …? Animiert der Raum zu Zusammentreffen, Kommunikation und Austausch? Offeriert er Angebote an unterschiedliche Gruppen(größen)? Handelt es sich um einen Ort der Versammlung, des Flanierens, des Marschierens, einen Ort des Beobachtens, des Sehens … und Gesehen-Werdens? Verbindet er Generationen und integriert er unterschiedliche Altersgruppen? Ist es ein Raum der Aktion oder der Kontemplation oder ermöglicht er fallweise beides? Funktionen Eignet sich ein Platz für Konzerte, kann auf ihm Markt gehalten werden? Lässt er Feiern zu und Trauer? Erschließt er die Häuser in ausreichend guter Art? Bietet er allen gesellschaftlichen Gruppen, auch Kindern, Jugendlichen, Alten und Behinderten eine gleichberechtigte Teilnahme an der Gesellschaft? Und nicht zuletzt – aber auch nicht wie vielfach heute alles dominierend: Ermöglicht er Noteinsätze (von Feuerwehr und Rettung), leitet er Wasser ab, lässt er sich vom Schnee räumen? Ist er ferner trittsicher und rutschfest? Wozu animieren seine Oberflächen? Erlauben sie Skaten, ein Laufen mit Bleistiftabsätzen, das Pinkeln von Hunden? Oder ist von alledem nichts da, weil der Platz / Raum von einer formalistischen Idee, von einer Mode oder der Handschrift eines Architekten diktiert wird und von alledem nichts bietet? Auch solches war unter den eingereichten Projekten zu sehen. Gestaltung Sind Schwellen und Übergänge akzentuiert? Wie werden Absätze und Höhensprünge ausformuliert? Wird der Einsatz der Mittel dem Ort und seinen Bewohnern gerecht? Stehen Aufwand und Nutzen in einem ausgewogenen Verhältnis? Werden die Gestaltungselemente dem Ort, seiner Geschichte und seinem Potenzial gerecht und entspricht die Gestaltung unserer Zeit oder ist sie modisch und verspricht keinen Bestand? Welche Zeichen werden gesetzt, und welche Bedeutungshierarchien? Stehen die Gestaltungsmittel (Farbe, Klang, Haptik, …) in überzeugenden und ausgewogenen Verhältnissen zueinander und wie sind ihre Qualitäten und ihre Mischung? Sind Bäume hier stimmig, welcher Möblierung bedarf es (oder gibt es davon zu viel)? Ist der Ort austauschbar, unverwechselbar? Verdichtet sich die Gestaltung zu Atmosphäre, gräbt sie sich ein in unsere Empfindungen und unser körperliches Bewusstsein? Wir alle wissen um diese Fragen, die angeführten Aspekte sind uns allerdings in verschiedenem Ausmaß bewusst. Unser Unbewusstes lässt uns oft treffsicher „gute“ Orte und Plätze aufsuchen. Der (Alltags-)Gebrauch entscheidet, ob ein neuer Ort angenommen wird. Für Vergleiche und Bewertungen, wie sie innerhalb einer Jurierung unverzichtbar sind, müssen unbestimmte Gefühle („Geschmäcker“) in eine bewusste Form gebracht werden. Und das gilt erst recht für die Phase der Planung und Projektentwicklung. Etliche Fragen sind erst angerissen, müssen weiterverfolgt und vertieft werden: Wann, wo und in welchen Maßen ist der öffentliche Raum ein „Mehrzweckraum“, ein Funktionsoder ein Ermöglichungsraum? Ist der Raum selbst Akteur oder „nur“ Bühne? Wie wird die Gestaltung der Gegenwart gerecht? Was sind die heutigen und die zukünftigen, neuen Ansprüche? Womit fördern wir die Gemeinschaft (und ihre Mittel und wodurch überfordern wir sie? Im Gefüge der Stadt hat jeder Raum eine eigene Stellung. Welche Bedeutung kommt dem jeweiligen Platz, der jeweiligen Straße im Gefüge der ganzen Stadt oder Siedlung zu? Ist jeder Ort eigenständig zu sehen und verlangt nach einer unterschiedlichen Behandlung? Braucht jeder Platz einer Stadt eigene Elemente, eine andere Pflasterung, andere Leuchten, eigene Möblierung oder macht die Gemeinsamkeit dieser Elemente gerade die Identität der ganzen Stadt / des ganzen Dorfes aus? Die GerambRose 2010 hat zur Gestaltung öffentlicher Räume etliche hervorragende Beispiele und hilfreiche Vorbilder in das Licht gerückt. Man darf sich auf eine Fortsetzung freuen. Es war lehrreich und ein großes Vergnügen, daran beteiligt zu sein. Das, was hier angerissen und aufgebrochen wurde, verlangt noch Kontinuität. Damit würde ein noch größerer Beitrag für die Steiermark geleistet, einer, dessen Ausstrahlung weit über die Steiermark hinauswirkt.