Montag, 7. Juli 2014 Agenda Seite 29 Magazin DEPRESSION Therapie ohne Nebenwirkungen Wer Antidepressiva einnehmen muss, leidet oft unter Nebenwirkungen. Eine neue Magnetimpulstherapie hat keine solchen zur Folge. SEITE 26 www.bernerzeitung.ch Der Tod und das Teufelsweib Neue CDs OPER Von Stieren und Störchen: Das 20. Opernfestival Avenches zeigt «Carmen» von Bizet in einer sehenswerten, aber musikalisch mässigen Produktion. Ein Dach! Ein Königreich für ein Dach! Dachte man am Freitag, als der Veranstalter das Opernvolk wider alle Vernunft nach Avenches beorderte – um die Aufführung dann doch zu annullieren. Pünktlich zur Premiere tobte ein Gewittersturm über der Römerarena, der selbst hartgesottene Avenches-Habitués das Fürchten lehrte. Am Samstag war alles besser. Mal abgesehen von den Nebelschwaden, die hartnäckig über der Bühne hingen. Die aber waren schon Teil des Spiels. Eric Vigié, Festivalleiter und Intendant der Opéra de Lausanne, lässt in seiner dritten Avenches-Inszenierung die Nebelmaschine auf Hochtouren laufen. Und sorgt mit der Lichtregie für eine schauerliche Finalszenerie, angesiedelt bei der alten Stierkampfarena von Sevilla, wo Carmen ihr übles Ende findet. ckierte, bevor sie zur Populäroper avancierte. Manche sahen darin eine Vorbotin des Verismus, des realistischen Musiktheaters. Schon die Vorlage allerdings, Mérimées gleichnamige Novelle von 1847, illustriert die SpanienKlischees der Zeit. Und Bizet knüpft musikalisch daran an, als Karl May der Klassik, der selber nie in Spanien war. Suggestiv, raffiniert erfunden ist die Folklore. Und wie man mit den Klischees umgeht, gehört zu den Grundentscheidungen jeder Produktion. Wohltuende Entschlackung Regisseur Vigié setzt auf wohltuende Entschlackung. Detailfreudig ist die Inszenierung, aber sparsam gehalten in den Mitteln, mal abgesehen von den überflüssigen Projektionen im zweiten Teil des Abends. Die Handlung verlegt er von 1820 ins Spanien der 1960er-Jahre, in die Spätphase des Franco-Regimes. Das Politische indes spielt kaum eine Rolle. Vigiés «Carmen» ist eine gradlinig erzählte Tragikomödie auf einer betongrauen Einheitsbühne, die sich gerade bei den dyna- mischen Massenszenen bewährt. Die Umbauten zwischen den Akten dauern trotzdem erstaunlich lange – das Publikum verkürzte sich die Wartezeit in der ersten Umbaupause mit Szenenapplaus für einen Storch, der wie bestellt über die römische Arena flog. Vigiés eigene Akzente sind rar, aber stimmig. Dass sich Carmen und der Stierkämpfer Escamillo schon bei der Ouvertüre ineinander vergucken, gehört dazu. Bemerkenswert sind auch die kleinen Pointen, die der Inszenierung eine überraschende Leichtigkeit im Geist der «Opéra comique» verleihen. Aber mit der Leichtigkeit ist es ebenfalls so eine Sache. Fast zu viel davon bietet das Orchestre de Chambre de Lausanne. Zwar sind gerade von den (Holz-)Bläser immer wieder überraschende Details zu hören. Doch insgesamt fehlt es dem Kammerorchester an der Kraft, in der Arena wirklich Akzente zu setzen. Das wiederkehrende Todesmotiv der Carmen wirkt wenig bedrohlich, und die Tempi sind relativ breit. Auch bei den Solisten fällt das Bild durchzogen aus – zumindest in der Zweitbesetzung, die am Samstag zum Zug kam. Dass die Nebenrollen mit Franck Ferrari (Escamillo) und der herausragenden Greta Baldwin (Micaëla) besser besetzt waren als die Hauptrollen, gehört zu den wenig erbaulichen Pointen des Abends. Während Giancarlo Monsalve (Don José) seine Stimme forcieren musste, um in der Arena zu bestehen, machte Noëmi Nadelmann als Carmen einen etwas kontrollierten Eindruck. Es fehlte an Geschmeidigkeit und Natürlichkeit – etwa bei den plötzlichen Forteausbrüchen. Darstellerisch gab Nadelmann als ebenso feuriges wie berechnendes «Teufelsweib» eine solide, wenn auch konventionelle Vorstellung. Oliver Meier Weitere Vorstellungen: 8., 11. und 12. Juli.Infos/Tickets: www.avenchesopera.ch PROJEKT Ein Dach fürs Opernfestival Avenches? Eine annullierte Premiere – das tut weh. Nicht nur den Zuschauern, die vergeblich nach Avenches pilgern. Auch dem Veranstalter. Der Premierenabend ist nicht versichert. Um eine halbe Million Franken dürfte die Einbusse betragen. Bei den letzten 20 Ausgaben machte das Wetter dem Festival immer wieder ei- nen Strich durch die Rechnung. Man müsse «vielleicht über eine Art Dach nachdenken – ernsthaft!», sagte der Leiter Eric Vigié dem «Bernerbär». Nachgedacht wird ganz konkret: Laut Pressestelle gibt es ein Projekt. Die Hürden sind allerdings hoch. Eine davon: die hohen Kosten. Die andere: der Denkmalschutz. mei 4100 4200 4800 3710 4570 4600 4900 4600 5700 5500 5870 4570 4570 5710 6000 6500 3360 3360 4360 4360 4360 6000 97 19 97 19 97 19 98 19 98 19 99 20 00 20 01 20 02 20 02 20 03 20 04 20 05 20 06 20 07 20 08 20 09 20 10 20 11 20 12 20 13 96 19 19 19 95 Ai da Ca rm L a en Tr L a av i B at a Re ohè qu m Tu iem e ra ( Il ndo Ver b a t di ) N a r bi e bu r e Ai cco di Si da vi gl Ri ia go l W et t ilh o To elm sc T D i a e ll e Z C a au r m be Na en r flö te bu Il c c o Tr o A i vat da o r e La Tr D o av i n at a L u G io c ia v a Ri di nn go L i L a l e t t am B o me rm Na oh è oo bu m r cc e o 20 Ausgaben des Opernfestivals Avenches: Durchschnittliche Anzahl Zuschauer pro Aufführung 6000 Grafik fri / Quelle Opernfestival Avenches Bluttropfen und Totenmaske Das Nebulöse – es lässt sich auch auf den Protagonisten Don José beziehen, der in dieser Dreistundenoper zur tragikomischen Gestalt wird. Bald weinerlich, bald dämonisch umwölkt, fordert der Sergeant von der Zigarrendreherin Carmen eine Liebe ein, die es nicht mehr gibt – die es wohl nie gegeben hat. Und als er es am Ende doch noch merkt, der Nebel sich lichtet, greift er zum Messer, wird zum Mörder. In Avenches verpufft die Wirkung der Szene allerdings. Vigié stellt zwar die Nebelmaschine ab, dafür taucht er die Szenerie ganz in Rot, lässt Bluttropfen und eine Totenmaske auf den Römerturm projizieren. Statt schaudernd zu erstarren, fragt man sich: Wie viel Kitsch verträgt Bizets Werk? Es ist ja ohnehin so eine Sache mit dieser «Carmen», die bei der Uraufführung 1878 noch scho- Bis das Blut fliesst: Finalszene in Avenches mit Giancarlo Monsalve (Don José) und Noëmi Nadelmann (Carmen). zvg Regisseur Eric Vigié setzt auf wohltuende Entschlackung. Detailfreudig ist die Inszenierung, aber sparsam gehalten in den Mitteln. Diese Opern wurden bereits mehrmals aufgeführt Aida Carmen Nabucco Rigoletto La Traviata La Bohème 25 3-mal 3-mal 3-mal 2-mal 2-mal 2-mal Aufführung 2014 Carmen Budget: 5 Mio. Franken. Notwendige Auslastung für schwarze Zahlen: 77 Prozent. Ziel für 2014 sind durchschnittlich 5000 verkaufte Karten pro Vorstellung. FOLKROCK Ein Hipster mit Star-Qualitäten Ray LaMontagne: Supernova. Im angloamerikanischen Raum ist Ray LaMontagne ein Star, doch auf dem Kontinent kennt man ihn kaum. Das könnte sich mit «Supernova», dem fünften Album des bärtigen Hipsters ändern. Flockiger Folkrock mit eingängigen Refrains dominiert, dazu kommen die versonnenen Texte. Auf dem Produzentenstuhl sass Dan Auerbach (The Black Keys), der momentan hinter jedem zweiten Hitparadenalbum steckt. Er garniert den Songwritersound mit Retrobeilagen, vom Glockenspiel bis zur scherbelnden Byrds-Gitarre. Für alte Fans mag das zu sehr von LaMontagnes edler Kunst ablenken – doch das breite Publikum wird es lieben (RCA). ROCK Ein Soloalbum als Teamarbeit Chrissie Hynde: Stockholm. Seit über 30 Jahren ist Chrissie Hynde die Chefin der Pretenders. Jener Band, die New Wave mit Rock ’n’ Roll verheiratete. Hyndes überfälliges Solodebüt «Stockholm» ist eine Kollaboration mit Björn Yttling (Peter, Björn and John), die Gästeliste reicht von Neil Young bis John McEnroe. Chrissies Stimme klingt jugendlich-elastisch und kann sich vor einem schlanken, mit moderner Elektronik unterlegten Play-back prächtig entfalten. Schade, dass die Qualität der Songs nicht immer mithalten kann. Am besten sind die besinnlichen Momente, in denen Hynde tönt «wie Aimee Mann nach einem warmen Bad» (Rolling Stone) (Caroline). ALTERNATIVE Eine wuchtige Midlife-Crisis Bob Mould: Beauty & Ruin. Auch schon länger im Geschäft ist Bob Mould, einstiger Kopf der einflussreichen Alternative Rocker Hüsker Dü. Auch wenn er sein neues Album als «weitere Bonusrunde» bezeichnet: «Beauty& Ruin» ist ein wuchtiges Comeback, atmosphärisch dicht und voller wunderbarer Pop-Hooklines. Mould hat die Songs in einer schwierigen Lebensphase geschrieben, thematisiert den Tod seines Vaters und die MidlifeCrisis. Doch er tut dies ohne Larmoyanz und mit der Dringlichkeit des alternden Punkrockers, der noch lange nicht aufgibt. Eines der besten Gitarrenalben dieses Jahres (Merge Records). Samuel Mumenthaler