Historische Bemerkungen - an der Universität Duisburg

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§1 Historische Bemerkungen
Nach dem Fremdwörter-Lexikon ist Mathematik die Wissenschaft von den Raum- und Zahlengrößen. Schaut man bei Wikipedia nach, so steht dort, dass es keine allgemein anerkannte
Definition gibt. Häufig wird Mathematik als eine Wissenschaft beschrieben, die selbst geschaffene Strukturen auf ihre Eigenschaften und Muster untersucht. Mathematik ist keine Einheit,
sondern besteht aus vielen Teilgebieten, die teilweise aufeinander aufbauen, teilweise aber auch
völlig unabhängig voneinander sind.
Bevor wir auf einige ”Hauptgebiete” der Mathematik eingehen, will ich ein paar historische
Bemerkungen machen:
Mathematik begann mit dem Zeitpunkt, als die Zahlzeichen eingeführt und mit ihnen die ersten
Rechnungen durchgeführt wurden. Unser Kulturkreis wird beeinflusst durch die Erfindung der
Zahlzeichen durch die Sumerer ca. 3000 v. Chr. (Sexagesimalsystem).
Die Piktogramme der ersten Tontäfelchen, die auf 3300 v.Chr. datiert werden und von denen
zwischen 500 und 600 bei Uruk, einer Stadt in Südmesopotamien gefunden wurden, stellen
verschiedene Waren dar, z.B. Fische, Milchkannen, Schweine, Kühe, Schafe oder Ziegen. Ausserdem gibt es Vertiefungen unterschiedlicher Form und Größe; sie bezeichnen die jeweiligen
Mengen der Waren; man könnte also die Tontäfelchen als Warenbegleitbrief betrachten.
(entnommen aus [TiL5]). Man geht davon aus, dass die ”Schriftzeichen” mit einem spitzen Gegenstand ziemlich tief in den feuchten Ton der Täfelchen eingeritzt wurden. Die anderen Zeichen, die sich als Zahlzeichen herausstellten, wurden mit einem Schreibrohr – einem Schilfrohr
oder einem Stäbchen aus Knochen oder Elfenbein – hergestellt, das an einem Ende abgerundet
und am anderen Ende spitz zugeschnitten war. Diese Griffel, von denen einer einen Durchmesser von ca. 4 mm und ein anderer einen Durchmesser von ca. 1 cm hatte, wurden unter einem
15
bestimmten Winkel (senkrecht oder schräg) in den Ton gedrückt. Dadurch entstanden kleine
und große runde Abdrücke bzw. kleine oder große ”Kerben”.
a) Altbabylonische Mathematik (3000 - 1500 v. Chr.)
Nach 1500 gibt es fast keine mathematischen Texte mehr; Fortschritte der Mathematik scheint
es erst in spätbabylonischer und persischer Zeit im Rahmen der Astronomie zu geben.
(i) Rechentechnik
Neben den üblichen Operationen wird mit Potenzen, Wurzeln, zwei (und gelegentlich
auch mehr) Gleichungen mit entsprechend vielen Unbekannten, quadratischen Gleichungen und konkreten Gleichungen höheren Grades gerechnet. Es gibt Rechenvorschriften
mit konkreten Zahlen; sie sind allerdings so allgemein gehalten, dass man auch beliebige
Zahlen einsetzen kann.
(ii) Geometrie
Die Geometrie ist weitgehend an der Praxis orientiert. Die Babylonier beherrschen die
grundlegenden Maßbeziehungen beim Dreieck, Viereck, Kreis und einigen regelmäßigen
Polygonen (mit welchem Faktor muss z.B. die Seitenlänge eines gleichseitigen Dreiecks
multipliziert werden um die Höhe zu erhalten). Außerdem gibt es Aufgaben, in denen das
Volumen von Gräben, Dämmen und anderen Bauwerken berechnet wird.
b) Altägyptische Mathematik
Als nächstes sind die Zahlzeichen der Ägypter (10er-System mit Individualzeichen für 1 (Strich
oder Finger), 10 (Fessel), 100 (Strick), 1000 (Lotuspflanze), 10 000 (Finger), 100 000 (Kaulquappe) und 1 000 000 (Gott)) zu erwähnen.
für
10
(Fessel)
für
100
(Strick)
für
1000
(Lotuspflanze)
für
10000
(Finger)
für
100000
(Kaulquappe)
für 1000000
(Gott)
Höhepunkt der altägyptischen Mathematik war der Zeitraum 1844 - 1797 v. Chr.; Kenntnisse
stammen aus dem Papyrus Moskau (P.M.) und dem Papyrus Rhind (P.Rh.), von denen jüngere
Abschriften gefunden wurden.
(i) Rechentechnik
Die Multiplikation und Division wird auf das Verdoppeln und Halbieren zurückgeführt.
Wegen der Vorliebe zu Stammbrüchen wird eine Tabelle für die Darstellung von Brüchen
der Form n2 für ungerades n als Summe von Stammbrüchen aufgestellt.
16
(ii) Geometrie
Berechnung des Inhalts von zylindrischen und kubischen Getreidespeichern. Dazu sind
Flächenberechnungen notwendig. Wir finden im P.Rh. die Anweisung für die Berechnung
der Kreisfläche
!
"2 ! "2
d
8
64
K = d−
=
d = d2 ,
9
9
81
wobei d der Durchmesser des Kreises ist. Wir wissen
! "2
d
π
K=π
= d2 .
2
4
Also folgt daraus als Näherung für π
π≈
256
= 3, 16 . . . .
81
Der Flächeninhalt eines Trapezes wird mit
T =
a+b
h
2
angegeben. Außerdem wird bei den Pyramidenaufgaben die Beziehung zwischen der Länge
der Seite, der Höhe und dem ”Rücksprung” behandelt. Im P.M. wird für das Volumen
eines Pyramidenstumpfs die Formel
V = (a2 + b2 + ab)
h
3
angegeben. Dabei ist a die Seitenlänge des ”Bodens” der quadratischen Grundfläche, b die
Seitenlänge des quadratischen ”Deckels” und h die Höhe des Pyramidenstumpfs. Diese
Formel ist richtig.
Heutzutage berechnet man das Volumen des Pyramidenstumpfs als Differenz der Volumina von zwei Pyramiden (mit dem Strahlensatz ergibt sich als Gesamthöhe der Pyramide
h! =
und damit
sowie
a
·h
a−b
a3
h
Vgroß =
·
a−b 3
b3
h
Vklein =
· ;
a−b 3
hieraus folgt durch Differenzbildung unter Verwendung der Beziehung
a3 − b 3
= a2 + ab + b2
a−b
die obige Formel); aber man ist sich sehr sicher, dass die Altägypter eine solche Formel
nicht kannten. Deshalb ist unklar, wie sie auf eine Formel für den Pyramidenstumpf
gekommen sind; es gibt unterschiedliche Erklärungen.
17
c) Griechische Mathematik
Originale der Werke griechischer Mathematiker sind nicht erhalten, mit Ausnahme einiger Papyri aus der Zeit um 200 n.Chr., also etwa zur Zeit oder kurz vor Diophant. Die ältesten
Euklid-Handschriften stammen aus dem 9. Jh. n. Chr.. Da die Elemente von Euklid im 4. Jh.
n. Chr. von Theon von Alexandria bearbeitet wurden, ist manchmal unklar, was von Euklid
und was von Theon stammt.
Man sagt, dass die griechische Mathematik mit Thales beginnt, der einige Sätze für Dreiecke
aufstellt. Hat Thales Sätze nicht nur ”erkannt und ausgesprochen”, sondern auch bewiesen?
Die sichersten Angaben über die mathematischen Leistungen von Thales enthält der Kommentar des Proklos (* 18.2.412 in Byzanz, dem heutigen Istanbul, †17.4.485 in Athen) zum 1.
Buch von Euklids Elementen:
1) Thales hat ”erkannt und ausgesprochen”, dass die Basiswinkel im gleichschenkligen Dreieck gleich sind.
2) Thales habe gefunden, dass die Scheitelwinkel gleich sind, einen Beweis habe aber erst
Euklid für erforderlich gehalten. (Wenn zwei Dreiecke zwei Winkel und eine Seite gleich
haben, dann sind auch die übrigen Seiten und der übrige Winkel einander gleich.)
3) Thales habe zuerst ”bewiesen”, dass der Kreis durch den Durchmesser halbiert wird.
Inhaltlich befassen sich die Aussagen des Thales zumeist mit dem Umfeld des Winkelbegriffs.
Ob Thales eine genaue Defininiton des Winkels (als Neigung zweier Linien zueinander) gegeben
hat, ist unbekannt. Ebenso unbekannt ist, ob oder wie Thales Winkel gemessen hat. Sinnvoll
wäre gewesen, einen Winkel durch den zugehörigen Kreisbogen zu messen.
Wir beziehen uns bei Euklids Elementen auf das 13 Bücher umfassende Gesamtwerk:
Buch
Buch
Buch
Buch
Buch
Buch
Buch
Buch
Buch
Buch
I:
II:
III:
IV:
V:
VI:
VII:
VIII:
IX:
X:
Vom Punkt bis zum pythagoreischen Lehrsatz
Geometrische Algebra
Kreislehre
Ein- und umbeschriebene Vielecke
Ausdehnung der Größenlehre auf Irrationalitäten
Proportionen und Anwendungen auf Planimetrie
Teilbarkeitslehre, Primzahlen
Quadrat- und Kubikzahlen, geometrische Reihen
Lehre von Gerade und Ungerade
Klassifikation quadratischer Irrationalitäten,
Methoden der Flächenanlegung zu geometrischen
Lösung aller Typen quadratischer Gleichungen
Buch XI:
Elementare Stereometrie
Buch XII: Pyramide, Kegel, Kugel
Buch XIII: Reguläre Polyeder
Am Ende von Buch IX steht eine Reihe von Sätzen, die mit den vorangegangenen keinen Zusammenhang haben. Deshalb geht man davon aus, dass es sich um altpythagoreische Ergebnisse
handelt.
18
(i) Pythagoreische Zahlentheorie
Die Pythagoreer brachten Ordnung in die Menge der (ganzen) Zahlen, indem sie sie nach
bestimmten Gesichtspunkten in Arten einteilten, z.B. in gerade und ungerade, in Primzahlen und in zusammengesetzte Zahlen. Wir finden die Grundlagen zu den Ergebnissen
von Buch IX in Buch VII von Euklid:
Definitionen
1. Einheit ist das, wonach jedes Ding eines genannt wird.
2. Zahl ist die aus Einheiten zusammengesetzte Menge. (1 ist also keine Zahl, sondern
eine Einheit, aus der die Zahlen 2,3,4, . . . zusammengesetzt sind.)
3. Teil einer Zahl ist eine Zahl, die kleinere von der größeren, wenn sie die größere
genau misst. (Wir sagen heute: ’b teilt a’ oder ’b ist ein Teiler von a’, wenn eine
(ganze) Zahl c > 1 existiert mit bc = a.)
5. Vielfaches ist die größere Zahl von der kleineren, wenn sie von der kleineren genau
gemessen wird.
6. Gerade ist die Zahl, die sich halbieren lässt,
7. und ungerade die, die sich nicht halbieren lässt, oder die sich um die Einheit von
einer geraden Zahl unterscheidet.
11. Primzahl ist eine Zahl, die sich nur durch die Einheit messen lässt. (Da 1 keine
Zahl ist, kann 1 auch keine Primzahl sein.)
13. Zusammengesetzt ist eine Zahl, die sich durch irgendeine (andere) Zahl messen
lässt.
22. Eine vollkommene Zahl ist eine solche, die ihren Teilen zusammen gleich ist. (Eine
Zahl ist also vollkommen, wenn sie die Summe ihrer echten Teiler ist, wobei die
Einheit 1 mitgezählt wird, aber nicht die Zahl selbst. 6 ist z.B. vollkommen, weil
6 = 1 + 2 + 3 ist.)
Anschließend werden einige Sätze bewiesen, d.h. Ausssagen auf die Definitionen und Postulate zurückgeführt. Wichtig sind die folgenden Ergebnisse:
§31 Jede zusammengesetzte Zahl wird von irgendeiner Primzahl gemessen.
§32 Jede Zahl ist entweder eine Primzahl oder wird von irgendeiner Primzahl gemesen.
(Heute zeigen wir, dass sich jede natürliche Zahl ≥ 2 als Produkt von Primzahlpotenzen darstellen lässt.)
Wir finden dann in Buch IX von Euklid:
§20 Die Primzahlen sind mehr als jede vorgegebene Menge von Primzahlen.
Der Beweis von Euklid ist bekanntlich konstruktiv:
Sind q1 . . . , qn endlich viele Primzahlen, dann wird die Zahl
a := q1 · q2 · . . . · qn + 1
19
betrachtet. (Im Original wird gesagt: Man bilde die kleinste von q1 , . . . , qn und um
die Einheit vergrößerte Zahl.) Ist dann a eine Primzahl, so ist diese größer als alle
bisher gefundenen, also eine weitere Primzahl im Widerspruch zu der Annahme,
dass es nur n Primzahlen gibt. Ist a keine Primzahl, so muss a von irgendeiner
Primzahl p gemessen werden. Da es nur endlich viele Primzahlen gibt, muss p mit
einer der Primzahlen q1 , . . . , qn übereinstimmen, etwa mit q1 . Also gilt a = q1 · r und
a − 1 = q1 · . . . · qn und somit
1 = a − (a − 1) = q1 · (r − q2 · . . . · qn ).
q1 misst also die Einheit, was Unsinn ist. Damit muss p eine Primzahl sein, die von
allen q1 , · · · , qn verschieden ist. Also kann die Menge der Primzahlen nicht endllich
sein.
!
Wie findet man Primzahlen? Eine ganz alte Methode geht auf Eratosthenes zurück und
ist nach ihm benannt, das sog. Sieb des Eratosthenes. Man schreibt alle natürlichen
Zahlen von 2 bis zu einer Zahl n auf, nach Möglichkeit in einem rechteckigen Schema.
Dann verfahre man folgendermaßen:
(1) Markiere die Zahl 2 und streiche dann jede zweite Zahl.
(2) Ist k die erste nicht-gestrichene und nicht-markierte Zahl, so markiere k und streiche
dann jede k-te Zahl.
(3) Führe den Schritt (2) für alle k, die kleiner oder gleich der Quadratwurzel von n
sind, durch; ist k größer als n, so stoppe das Verfahren.
(4) Alle markierten Zahlen sind Primzahlen, und zwar sind dies alle Primzahlen kleiner
oder gleich n.
Bemerkungen
Die Primzahlen sind sehr unregelmäßig verteilt; so gibt es z.B. zwischen 9.999.901 und
9.999.999 genau 9 Primzahlen und zwischen 10.000.001 und 10.000.100 nur 2 Primzahlen.
Sind zwei Zahlen p und p + 2 Primzahlen, so sprechen wir von dem Primzahlzwilling
(p, p+2). Eine bislang unbewiesene Vermutung lautet: ”Es gibt unendlich viele Primzahlzwillinge.”
Wir nennen das Tripel (p0 , p1 , p2 ) mit Primzahlen p0 < p1 < p2 einen Primzahldrilling,
wenn die Differenz p2 − p0 kleinstmöglich ist. Es gibt zwei verschiedene Arten von Primzahldrillingen. Die eine Sorte besteht aus den Primzahlen p, p + 2, p + 6 (wie z.B. bei
dem Drilling (11, 13, 17)); die andere Sorte besteht aus den Primzahlen p, p + 4, p + 6
(wie z.B. bei dem Drilling (7, 11, 13) oder (613, 617, 619)). Der einzige Drilling der Form
(p, p + 2, p + 4) ergibt sich für p = 3.
Definition
Ist s ∈ N, so heißt Ms := 2s −1 eine Mersennesche Zahl; ist Ms eine Primzahl, so heißt Ms
eine Mersennesche Primzahl (nach dem französischen Franziskanermönch Marin Mersenne
(1588 - 1648)).
20
Satz
Ist Ms eine Mersennesche Primzahl, so ist s eine Primzahl.
Beweis: Wir nehmen an, dass s zerlegbar ist mit s = uv und natürlichen Zahlen u, v > 1.
Dann gilt wegen
an − bn = (a − b)(an−1 + an−2 b + . . . + abn−2 + bn−1 )
folgende Beziehung
2s − 1 = (2u )v − 1v = (2u − 1)((2u )v−1 + . . . + 2u + 1) .
Wegen u, v > 1 sind beide Faktoren auf der rechten Seite größer als 1. Also ist Ms zerlegbar
im Widerspruch zur Voraussetzun, dass Ms eine Primzahl ist.
!
Der folgende Satz stellt einen Zusammenhang zwischen Mersenneschen Primzahlen und
geraden vollkommenen Zahlen her. Wir verwenden folgende Beziehung:
Ist a0 = a, a1 = aq, . . . , an = aq n und s = a0 + . . . + an , so gilt:
s=a
q n+1 − 1
.
q−1
Speziell für a = 1 und q = 2 erhalten wir
1 + 2 + 4 + . . . + 2n = 2n+1 − 1 .
Diese Tatsache war wahrscheinlich schon den Babyloniern bekannt.
Satz
Ist v = 2n p mit n ≥ 1 und ungeradem p ≥ 1, so sind folgende Aussagen äquivalent:
(i) p ist eine Primzahl, und es gilt p = 2n+1 − 1.
(ii) v ist vollkommen.
Beweis: (i) ⇒ (ii): Die Teiler d von v mit v &= d sind
1, 2, . . . , 2n , ihre Summe ist p
und
p, 2p, . . . , 2n−1 p, ihre Summe ist p(2n − 1).
Aus den Sätzen in den Büchern des Euklid folgt, dass keine weiteren Teiler existieren.
Die Summe aller Teiler d von v mit d &= v ist also
p + p(2n − 1) =
(ii) ⇒ (i): Wir bezeichnen mit
σ(v) =
p · 2n = v.
#
d|v,d∈N
d
21
die Summe aller Teiler von υ; ist v vollkommen, so gilt
σ(v) = 2v
Da p ungerade ist, kommen in der Primfaktorzerlegung
mr
1
p = pm
1 · . . . · pr
von p nur Primzahlen pρ &= 2 vor. Wegen
σ(q1n1
· · · qsns )
und
σ(qσnσ ) =
=
s
$
σ(qσnσ )
σ=1
qσnσ +1 − 1
qσ − 1
für paarweise verschiedene Primzahlen q1 , . . . , qs folgt:
2n+1 p = 2v = σ(v) = σ(2n p) = σ(2n )σ(p) = (2n+1 − 1) σ(p),
also
σ(p) =
Wegen σ(p) ∈ N und p ∈ N ist
2n+1
1
p = (1 + n+1
)p .
n+1
2
−1
2
−1
p
∈ N.
2n+1 − 1
p
p
Wegen σ(p) = p + n+1
sind p und n+1
die einzigen Teiler von p. Da
2
−1
2
−1
p = (2n+1 − 1)
ist wegen 2n+1 − 1 ≥ 3 und
p
2n+1
−1
Also ist p = 2n+1 − 1 eine Primzahl.
p
2n+1
−1
≥3
≥ 1, muss p eine Primzahl und
p
2n+1
−1
= 1 sein.
!
Bemerkungen
Wir erhalten folgende Tabelle
n=1:
n=2:
n=3:
n=4:
n=5:
n=6:
p = 22 − 1
p = 23 − 1
p = 24 − 1
p = 25 − 1
p = 26 − 1
p = 27 − 1
= 3 ∈ P,
= 7 ∈ P,
= 15 ∈
/ P,
= 31 ∈ P,
= 63 ∈
/ P,
= 127 ∈ P,
v
v
v
v
v
v
= 21 · 3
= 22 · 7
= 23 · 15
= 24 · 31
= 25 · 63
= 26 · 127
=
6
vollkommen
= 28 vollkommen
= 120 unvollkommen
= 496 vollkommen
= 2016 unvollkommen
= 8128 vollkommen
Die ersten vier (geraden) vollkommenen Zahlen waren schon den Griechen vertraut. Die
5. und 6. vollkommene Zahl wird in Manuskripten, die um das Jahr 1460 geschrieben
22
wurden, erwähnt. Weitere Informationen über die Vermutungen und Ergebnisse im Zusammenhang mit vollkommenen Zahlen findet man in [ReUl].
Gottfried Wilhelm Leibniz glaubte, dass jede Primzahl s eine Mersennesche Primzahl
liefert. Das ist falsch. Mersennesche Primzahlen erhält man z.B. für
s = 2, 3, 5, 7, 13, 17, 19, 31, 61, 89, 107, 127 ;
aber nicht für
s = 11 wegen 211 − 1 = 23 · 89 .
Damit ergeben sich nach den 4 bekannten die folgenden vollkommenen Zahlen:
212 (213 − 1) =
216 (217 − 1) =
218 (219 − 1) =
33550336
8589869056
137438691328
230 (231 − 1) = 2305843008139952128
(ii) Euklidische Geometrie
In den Büchern des Euklid wird zum ersten Mal ”axiomatisch” festgelegt, was unter
den Objekten der Geometrie zu verstehen ist. Beginnen wir mit einer Auswahl der 23
Definitionen im I. Buch des Euklid:
1. Ein Punkt ist, was keine Teile hat.
2. Eine Linie (ist) breitenlose Länge.
4. Eine gerade Linie (Strecke) ist eine solche, die zu den Punkten auf ihr gleichmäßig
liegt.
5. Eine Fläche ist, was nur Länge und Breite hat.
15. Ein Kreis ist eine ebene, von einer einzigen Linie [die Umfang (Bogen) heißt] umfasste Figur mit der Eigenschaft, dass alle von einem innerhalb der Figur gelegenen
Punkte bis zur Linie [zum Umfang des Kreises] laufenden Strecken einander gleich
sind.
16. Und Mittelpunkt des Kreises heißt dieser Punkt.
20. Von den dreiseitigen Figuren ist
ein gleichseitiges Dreieck jede mit drei gleichen Seiten,
ein gleichschenkliges jede mit nur zwei gleichen Seiten,
ein schiefes jede mit drei ungleichen Seiten.
Dann kommen die 5 Postulate, die wir heute als Grundlage der sog. ”Euklidischen
Geometrie” wählen. Gefordert soll sein u.a.:
1. Dass man von jedem Punkt nach jedem Punkt die Strecke ziehen,
23
2. Dass man eine begrenzte gerade Linie zusammenhängend gerade verlängern kann,
3. Dass man mit jedem Mittelpunkt und Abstand den Kreis zeichnen kann,
4. Dass alle rechten Winkel einander gleich sind,
5. Und dass, wenn eine gerade Linie beim Schnitt mit zwei geraden Linien bewirkt,
dass innen auf derselben Seite entstehende Winkel zusammen kleiner als zwei Rechte
werden, dann die zwei geraden Linien bei Verlängerung ins Unendliche sich treffen
auf der Seite, auf der die Winkel liegen, die zusammen kleiner als zwei Rechte sind.
(heutiges Parallelenpostulat)
In Buch XIII werden Sätze über reguläre Polyeder zusammengestellt. Unter anderem wird
gezeigt:
Es gibt genau fünf Platonische Körper, nämlich das Tetraeder, das Hexaeder (Würfel), das
Oktaeder, das Dodekaeder und das Ikosaeder (benannt nach den griechischen Namen für die
Anzahl der Seitenflächen):
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Tetraeder: 4 gleichseitige Dreiecke
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Hexaeder: 6 Quadrate
Oktaeder: 8 gleichseitige Dreiecke
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Dodekaeder: 12 regelmäßige Fünfecke
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Ikosaeder: 20 gleichseitige Dreiecke
24
d) Römische Mathematik
Die Römer haben (nach der ”Welteroberung”) viele Teile der griechischen Mathematik übernommen. Hauptsächlich - aber nicht ausschließlich - haben sie sich der Anwendungen wegen mit
Mathematik beschäftigt. Es bestand auch ein gosses Interesse an der griechischen Philosophie
und Naturwissenschaft. Der gebildete Römer hat sicherlich bemerkt, dass Mathematik in der
griechischen Kultur eine bedeutende Rolle gespielt hat, und so wird er gemeint haben, dass er
davon ein bisschen wissen müsste - natürlich nicht zuviel.
Cicero (*106, †43 v.Chr.) schreibt in ”De oratore” (herausgegeben 54 v.Chr.):
”die Mathematiker bearbeiten dunkle Gegenstände, eine entlegene, vielseitige und tiefe Wissenschaft.” Der gebildete Römer war allerdings der Rhetor. Rhetorik brauchte man zur Bewerbung
um Staatsämter und zur Durchsetzung von Beschlüssen im Senat und vor Gericht.
Quintilian (*35, †95 n.Chr.) hat einen Lehrplan für die Ausbildung des Redners entworfen.
Zur Ausbildung gehört auch Unterricht in Grammatik, Musik und Geometrie (griechisch: Erdvermessung); dabei ist Logik und Arithmetik mitgemeint. (Figuren mit gleichem Umfang sind
nicht flächengleich.)
Apuleius (*ca. 125-171 n.Chr.) besuchte Rhetorenschulen in Madaura (heutiges Tunesien)
sowie Karthago und studierte in Athen. Er hat griechisches Gedankengut in lateinischer Sprache
zugänglich gemacht, darunter auch etwas Mathematik.
Augustinus (*345, †430) hat nach seiner Taufe im Jahre 387 durch Ambrosius Schriften verfasst, in denen gelegentlich ”mathematische” Gedanken vorkommen. Mathematik wurde als
Hilfsmittel zum Verständnis theologischer Fragen benutzt. Augustinus sagt: ”Gott hätte die
Welt auch in weniger als 6 Tagen erschaffen können, aber er wollte auf diese Weise die Vollkommenheit der Zahl 6 sichtbar machen.” Weiter versucht Augustinus zu begründen, warum
Moses, Elias und der Herr selbst gerade 40 Tage lang gefastet haben. 40 = 4 · 10 und 4 treten
bei der Aufteilung des Tages und des Jahres auf:
Morgen-, Mittag-, Abend- und Nachtstunden
Frühlings-, Sommer-, Herbst- und Wintermonate.
Wichtige Bedeutung hat Augustinus allerdings für Philosophie und Theologie.
Martianus Capella (um 400) schreibt vor der Eroberung von Karthago durch die Vandalen
(im Jahre 439) ”Über die Hochzeit der Philologie und des Merkur”:
Philologie ist außer Philosophie und Berufwissenschaften die weiseste aller Jungfrauen, in deren
Gefolge sieben Jungfrauen allegorisch die Disziplinen Grammatik, Dialektik, Rhetorik,
Geometrie, Arithmetik, Astronomie und Harmonie vertreten. Die Siebenzahl der artes
liberales wird hier festgeschrieben und ist so das ganze Mittelalter hindurch geblieben.
Die Geometrie erklärt als ihre Aufgabe, die Gestalt und Grösse der Erde, ihre Teile und
Landschaften zu beschreiben.
Die Arithmetik beschreibt die Eigenarten von Zahlen. (Keine Beweise, viel weniger Kenntnisse
als in den Elementen von Euklid steht.)
In der Harmonielehre sollte die Musiktheorie der Pythagoreer vermittelt werden.
Aber beachte: Das sind die mathematischen Kenntnisse eines Rechtsanwalts aus der ”Provinz”,
wobei andere Disziplinen wie Grammatik, Dialektik und Rhetorik viel wichtiger sind.
Von Boet(h)ius (*475 in Rom (?), †524 in Pavia) ist einiges über das römische Bildungswesen
bekannt. Die Schulausbildung gliedert sich in drei Stufen: Grundschule, Grammatikschule und
Rhetorikschule.
25
Im 7. Lebensjahr beginnt der Elementarunterricht; bis zum 14. Lebensjahr bringt man den
Kindern das Lesen, Schreiben und Rechnen (mit Hilfe des Abakus) bei. Der Schulmeister (litterarius oder ludi magister) unterrichtet in privat betriebenen Grundschulen - meistens im
Freien, in den Säulenhallen und Loggien der Mietshäuser oder in öffentlichen Anlagen. Diese
Gemeinschaftsschule besuchen die Kinder aus bescheidenen Verhältnissen; die Reichen lassen
ihre Sprösslinge zu Hause unterrichten. Aus der Zeit des Kaisers Diokletian (vgl. Zeittafel) ist
überliefert, dass durch das Preisedikt des Kaisers die Eltern pro Schüler ein monatliches Entgelt
von 50 Denar zu entrichten hatten, was ungefähr dem Tagelohn eines einfachen Handwerkers
(50 bis 60 Denar) entspricht. Die Unterrichtsmethoden gehen über gedankenloses Nachplappern
und Auswendiglernen kaum hinaus.
In der 2. Ausbildungsstufe lehrt ein grammaticus an Hand lateinischer und griechischer Klassiker, die auswendig gelernt werden, Diktion und Grammatik. Die Lektüren erstrecken sich auch
auf zeitgenössische Dichter.
In der Redekunst unterweist der rhetor die jungen Leute, die in dieser dritten Schulstufe
Sprachlehre und Textstudien betreiben und auch eigene Aufsätze schreiben und vortragen. Der
Übungsstoff entstammt ausschliesslich der Mythologie und Geschichte; das zeitgenössische Leben ist aus der Schule verbannt. Der im diokletianischen Preisedikt festgelegte Lohn für die
Grammatik- und die Rhetorikschulen beträgt 200 bis 250 Denar pro Schüler. Doch auf dieses
Einkommen ist kein Verlass, denn viele Zöglinge verschwinden, wenn am Ende des Schuljahres
die Zahlung fällig wird. Es gibt weder Prüfungen noch Zeugnisse, und die Dauer des Schulbesuches ist nicht vorgeschrieben.
Wenn man anschließend universitätsähnliche Fachhochschulen für Jurisprudenz oder Philosophie besuchen wollte, musste man Kenntnisse in den vier mathematischen Wissenschaften,
nämlich Arithmetik, Musik, Geometrie und Astronomie nachweisen.
Seit Boetius ist die Bezeichnung ”Trivium” für die drei Fächer ”Grammatik, Logik (bzw.
Dialektik) und Rhetorik” üblich. (Trivial ist also das, was am Anfang kommt.) Die vier mathematischen Fächer werden zum ”Quadrivium” zusammengefasst. Die Fächer des Triviums
und des Quadriviums bilden die ”sieben freien Künste”. Die Fakultät, an der später an den
Universitäten diese sieben Fächer gelehrt werden, heißt ”Artistenfakultät”.
e) Anfänge des Bildungssystems im christlichen Abendland
Karl der Große (*742, †814) hat sich sehr um die allgemeine Volksbildung bemüht, obwohl
er selbst trotz aller Anstrengungen nie wirklich Schreiben und Lesen erlernen konnte. Er sprach
zwar Lateinisch und verstand auch das Griechische, aber die Buchstaben des Alphabets wollten
nie so richtig in seinen Kopf. Im Jahre 789 ordnete er an, dass künftig jedes Kloster eine
Schule unterhalten musste, an der die jungen Männer Lesen, Schreiben und Rechnen lernen
sollten. Außerdem sollten neben religiösen Schriften auch die Klassiker studiert werden. Sowohl
die Mönche als auch die Nonnen an diesen Schulen entstammten der Oberschicht, waren in
der Regel aber die zweiten Söhne oder die nachgeborenen Kinder beiderlei Geschlechts aus
kinderreichen Familien, die weder auf eine nennenswerte Erbschaft noch auf eine Mitgift hoffen
konnten. Im Dienst der Kirch konnten sie es jedoch zu Ansehen bringen.
Karl der Große bemühte sich auch im Interesse der Stärkung seines Staates um ein höheres
Bildungsniveau der Geistlichkeit und der ”höheren Beamten” des Staates. Auch an den Bischofssitzen wurden Schulen errichtet, von denen die in Tours, Fulda, auf der Reichenau, in St.
Gallen und in Corvey berühmt wurden.
26
Gegen Ende des 11.Jh. gab es verschiedene Gründe, sich mit den wissenschaftlichen Arbeiten
der Griechen und der Araber auseinanderzusetzen:
1) Während es bislang immer nur gelungen war, einzelne Werke der Griechen bzw. der
Araber nach ”Europa” zu bringen, fielen den Christen bei der Wiedereroberung Spaniens große arabische Bibliotheken in die Hände, besonders in Toledo. Dadurch waren
sie im Besitz fast der gesamten arabischen wissenschaftlichen Literatur, einschließlich der
Übersetzungen und Kommentare griechischer Werke.
2) Die Christianisierung Europas war im wesentlichen abgeschlossen, die Kirche konnte sich
anderen Aufgaben zuwenden; dazu gehörte die wissenschaftliche Bildung des Klerus.
3) Die sog. ”Völkerwanderung” war beendet. Der Handel begann sich zu entwickeln, zunächst
im Mittelmeergebiet, wo Venedig, Genua und Pisa führend waren, dann auch im übrigen
Europa. Die Zahl der deutschen Städte wuchs z.B. zwischen 900 und 1200 von 40 auf 250
an. Dort entwickelten sich Bevölkerungsschichten aus Kaufleuten, Handwerkern, Ärzten,
Richtern und Verwaltungsbeamten, die Fachwissen brauchten, aber auch für allgemeine
Bildung aufgeschlossen waren.
Wo konnte das gesteigerte Bildungsbedürfnis befriedigt werden? Anfangs sicherlich an den Domschulen bzw. Klosterschulen. Die Schulen dienen der christlich-frommen Erziehung der Priester
und Mönche: die ”Bildung” dient dem Verständnis des Heils, geht in Gebet und Andacht über.
Lesen und Lernen ist Gottesdienst und Sorge für die Seele. Später werden die Schulen auch für
die Laien göffnet; der Unterrichtsstoff ist der gleiche. Der Unterricht erfolgt in 3 Stufen.
a) Der Elementarunterricht, der etwa 3 Jahre dauert, umfasst die Einführung in das Lesen
(am Psalmenbuch), das Lesen im Psalmenbuch sowie das Lernen von Psalmen, Schreiben
(Schönschreiben), Rechnen, Gesang, lateinische Konversation und grundlegende Grammatik.
b) Es folgt mit einer Dauer von etwa 8 Jahren der Unterricht in den sieben freien Künsten.
c) Den Abschluss und die Krone bilden die theologischen Studien, die Wissenschaft von den
göttlichen Offenbarungen, die Auslegung der Heiligen Schrift, in der ”die Heimat, die
wahre Weisheit aufleuchtet”, und die Dogmatik.
Aber allmählich entwickeln sich daraus oder auf andere Art und Weise Ausbildungsstätten, die
wir aus heutiger Sicht als Vorstufe der Universitäten bezeichnen können. Es gibt im Wesentlichen drei verschiedene Möglichkeiten für eine Universitätsgründung; sie entsteht
a) aus einer Klosterschule oder einer ähnlichen von Geistlichen geleiteten Anstalt,
b) durch Gründer wie den Papst, eine städtische Gemeinschaft oder einen Fürst,
c) durch Berufslehrer, die sich irgendwo niederließen und Schüler um sich scharten.
27
Um 1200 wird durch Zusammenschluss der Schulen in Paris unter der Leitung des Kanzlers
der Kathedrale sozusagen die Universität gegründet, an der sich viele andere Universitäten
orientiert haben. (Im Laufe des 13.Jh. wurde die Universität selbstständig. 1257 stiftete Robert
de Sorbon ein ”Haus des Lernens”, ein Heim für arme Studenten und Magister der Theologie;
nach ihm hat die Universität ihren Namen. Die Universität Paris hatte 4 Fakultäten. Der
Student trat in die Fakultät der artes (Artisten- bzw. Philosophische Fakultät) ein und lernte
dort die artes liberales; nach erfolgreichem Abschluss erhielt er die Berechtigung in einer der
”höheren” Fakultäten Theologie, Rechtswissenschaft oder Medizin zu studieren.)
Die erste ”deutschsprachige” Universität, d.h. Universität des deutschen Reiches, wird 1348 in
Prag durch Kaiser Karl IV. (* 1316 in Prag, †1378 in Prag) gegründet, dessen Name sie auch
heute noch trägt.
Wir listen ein paar ausgewählte Gründungen deutschsprachiger Universitäten auf; nach Prag
sind insbesondere zu erwähnen:
1365 Wien
Albert von Sachsen (* 1316 in Helmstedt) studierte in Paris, wurde dort 1351 Magister
artium, war 1353 Rektor, trat 1362 in den Dienst von Papst Urban V. und erwirkte von
ihm das Privileg zur Gründung der Universität Wien, deren erster Rektor er 1365 wurde.
Da es mit dem Aufbau der Universität nur langsam voranging, übernahm Albert 1366
das Bistum Halberstadt. Er starb 1390.
1386 Heidelberg
Gegründet durch Kurfürst Ruprecht I. von der Pfalz ist sie die älteste Universität Deutschlands. 1803 fiel Heidelberg an Baden. Die Universität wurde reorganisiert und erlebte einen
Neuanfang. Sie fügte den Namen des ersten badischen Großherzogs Karl Friedrich ihrer
offiziellen Bezeichnung hinzu und nennt sich seither Ruprecht-Karls-Universität.
1388 Köln
Am 21. Mai 1388 wurde auf Wunsch des Rates der Stadt Köln die Gründungsurkunde
durch Papst Urban VI. unterzeichnet. 1798 fiel die Universität der französischen Unterrichtsreform zum Opfer und wurde aufgelöst. Neugründung 1919 durch den damaligen
Oberbürgermeister und späteren Bundeskanzler Konrad Adenauer.
1392 Erfurt
Erfurt war nach bescheidenen Anfängen um 1470 die größte der deutschen Universitäten,
an der sich fast ein Drittel aller deutschen Studenten immatrikulierten. Am 12. November
1816 wurde die Universität geschlossen. Neugründung zum 1. Januar 1994.
1409 Leipzig
Nach dem Umbruch des Jahres 1989 hat sich die Universität von dem ihr auferlegten
Namen ”Karl-Marx-Universität” getrennt und heißt jetzt wieder ”Universität Leipzig”.
1419 Rostock
Erst ab dem Jahre 1432 vervollständigte die Theologische Fakultät den Lehrbetrieb an
der Universität und machte so ein Studium generale in allen vier Fakultäten möglich.
28
1456 Greifswald
Die Alma mater Gryphiswaldensis wurde als Pommersche Landesuniversität mit den vier
klassischen Fakultäten gegründet. Nach dem Ende des 2. Weltkrieges wurde die Universität auf Befehl der sowjetischen Militärregierung geschlossen und 1946 wiedereröffnet,
allerdings ohne die Rechtswissenschaftliche Fakultät. 1991 wurde die Rechts- und Staatswissenschaftliche Fakultät wiedereröffnet. Sie heißt jetzt Ernst-Moritz-Arndt-Universität.
1457 Freiburg
Gegründet durch Erzherzog Albrecht VI. von Österreich. Großherzog Ludwig sicherte
Anfang des 19. Jahrhunderts den Fortbestand der Freiburger Hochschule in schweren
Zeiten; sie führte fortan den Namen des Gründers und des Gönners: Albert-LudwigsUniversität.
1472 Ingolstadt
Ab 1800 Verlegung nach Landshut, ab 1826 Verlegung nach München an den Sitz der
1759 von Kurfürst Maximilian III. Joseph gegründeten Akademie der Wissenschaften.
1477 Tübingen
Gegründet durch Graf Eberhard im Bart von Württemberg(-Urach). ”Attempto!” ”Ich
wag’s”, so lautete das Losungswort des Grafen, als er die Universität gründete. Einst als
”kleinste Universität Deutschlands” belächelt, ist aus ihr eine ehrwürdige Alma mater
geworden.
1655 Duisburg
Genehmigung durch Kurfürst Friedrich Wilhelm; Gründungstag ist der 14. Oktober 1655.
Einen Tag später wird Johannes Clauberg erster Rektor der Universität und nimmt die
Insignien – Kette, Zepter und Siegel – in Empfang. Auflösung 1818; im Februar 1819
landen die Insignien der Duisburger Universität in Bonn. Neugründung als Universität
– Gesamthochschule am 7. August 1972. Anläßlich des 400. Todestages von Gerhard
Mercator (eigentlich Gerhard Kremer, * 5.3.1512 in Rupelmonde (Flandern), †2.12.1594
in Duisburg) erhält die Universität 1994 den Namen ”Gerhard-Mercator-Universität”.
Am 1.1.2003 wird die Universität mit der Universität Essen, die ebenfalls 1972 als Universität – Gesamthochschule gegründet wurde, als fusionierte Universität Duisburg-Essen
neugegründet.
In der Artistenfakultät konnte man die Vorbildung für die drei berufsqualifizierenden höheren
Fakultäten erwerben. Zu dieser allgemeinen Bildung trug auch die Mathematik im Rahmen des
Quadriviums bei. Deshalb gibt es schon sehr früh Dozenten für die Mathematik, die allerdings
auch noch andere Lehrgebiete aus ihrer Fakultät mit übernehmen mussten. Es ist überliefert,
dass sehr lange 80% der Zeit für das Trivium und nur 20% für das Quadrivium verwandt wurde.
Nach etwa 1 12 − 2 Jahren findet in der Artistenfakultät die erste Prüfung, das sog. Baccalariat,
statt: sie umfasst das Studium der vorgeschriebenen logischen Schriften und die Bücher der
Physik. Wer sich zur Prüfung meldet, muss nachweisen, dass er die Bücher gehört und die
zugehörigen Übungen, Resumptionen und Disputationen (s.u.) mitgemacht hat.
Nach weiteren 1 12 − 2 Jahren werden in der zweiten Prüfung der Artistenfakultät - dem Magisterium - die restlichen Disziplinen überprüft.
29
Nur etwa 1/4 der Immatrikulierten ereichen das Baccalariat und von diesen wieder nur etwa
1/4 das Magisterium. Angesichts dieser Prozentsätze sind folgende Daten aus einer Tabelle
der Immatrikulationszahlen im 16. Jahrhundert interessant. Wir betrachten die Universitäten
Leipzig und Tübingen:
Jahr Leipzig Tübingen Baccalarii in Leipzig Magistri in Leipzig
1500
1505
1510
1515
1520
1525
1530
1535
1540
344
351
382
572
417
102
100
141
204
83
101
160
109
80
52
46
95
113
117
179
156
156
77
16
19
26
23
14
17
16
17
10
8
6
11
5
Im Laufe des 16. Jahrhunderts gibt es Bemühungen, die unterste Fakultät mit den drei höheren
Fakultäten gleichzustellen. Als erster Erfolg kann die Umbenennung von ”Artisten-” in ”Philosophische” Fakultät gesehen werden, die ab Ende des 16. Jahrhunderts beginnt.
An der Philosophischen Fakultät der alten Universität Duisburg gibt es in der Zeit von 1655 bis
1818 insgesamt 27 Professoren, davon 8 für Mathematik und Philosophie, wobei Johann Jakob
Schilling alleine 51 Jahre diese Fächer vertritt (1728-1779).
Entsprechend der Lage der wissenschaftlichen Kultur im Mittelalter handelt es sich beim Unterricht um das Lernen und Aneignen und nicht um die Hervorbringung von Wissenschaft. Die
Form der Lehrtätigkeit besteht aus zwei Teilen, der lectio und der disputatio. Dabei bedeutet
legere, den Text nach Inhalt und Form zu erläutern. Der Besitz des Textes wird vorausgesetzt,
ja sogar häufig ausdrücklich gefordert: mindestens je drei Zuhörer sollen einen Text zusammen haben. In den Disputationen, für welche ein Tag in der Woche angesetzt wird, tritt die
Fakultät als Körperschaft auf. Die Gesamtheit der Lehrer und Schüler versammelt sich im grossen Hörsaal. Die Disputationen gelten für beschwerliche, aber überaus wichtige Übungen; die
Statuten enthalten regelmäßig sehr genaue Vorschriften darüber und Strafandrohungen gegen
Säumige.
Die angestellten und besoldeten Professoren sind verpflichtet, regelmäßig ihr Fach in öffentlichen Vorlesungen und öffentlichen Lektorien zu lehren, meist vier Stunden wöchentlich. Diese
Vorlesungen sind allen Studierenden ohne weiteres zugänglich; es findet weder eine Honorarzahlung noch eine Inskription statt. Immer wieder gibt es Beschwerden der Aufsichtsbehörde
und teilweise auch der Studierenden, dass die Professoren so geneigt seien, die öffentlichen Vorlesungen so häufig ausfallen zu lassen. Vor allem über die Mediziner und auch über die Juristen
wird viel geklagt.
Sechsmal im Jahr gibt es eine grössere Unterbrechung der Vorlesungen: etwa 2 1/2 Wochen zu
Weihnachten, 1 zu Fastnacht, 2 zu Ostern, 1 1/2 zu Pfingsten, 5 zu den Hundstagen und 4 bis
5 für Michaelis.
Im 16. Jahrhundert verwischt die Grenze zwischen ”Schule” und ”Universität”. Bis dahin ist der
Unterschied klar: die Schule lehrt die gelehrte Sprache, die Universität lehrt die Wissenschaften,
in der facultas artium die allgemeinen, in den oberen Fakultälten die Fachwissenschaften.
30
An den prostetantischen Schulen um 1580 gehören zum Unterricht an den Schulen drei Gebiete:
Glaubenslehre, Sprache (klassisches Latein, Griechisch und Hebräisch an den grossen Schulen)
und Wissenschaften (propädeutischer Unterricht in der Dialektik, dann auch in der Physik und
Kosmologie oder mathematischen Geographie und schliesslich in der Mathematik). Dadurch
wird die Universität allmählich von dem elemtarwissenschaftlichen Untericht entlastet, die philosophische Fakultät hört auf, Obergymnasium zu sein; die alte artistische Fakultät verschmilzt
mit der Lateinschule zum Gymnasium. Dieser Vorgang, der gegen Ende des 16. Jahrhunderts
beginnt, kommt erst im 19. Jahrhundert zum Abschluss. Der heute übliche Name Gymnasium ist erst im 19. Jahrhundert zur offiziellen und ausschließlichen Bezeichnung für die auf
das Universitätsstudium vorbereitende Schule geworden. Im 16. Jahrhundert wird der Name
”Gymnasium” neben ”Academia” oder ”Lyceum” auch von Universitäten gebraucht.
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts ist neben der alten Gelehrtenbildung eine neue, die höfischfranzösische Bildung, aufgekommen. Diese schließt die Naturwissenschaft und Mathematik,
Naturrecht (im Sinne von Rousseau) und Staatswissenschaften, Geschichte und Geographie ein
(vgl. z.B. [Blan] oder [Russ]). Andererseits ist auch die alte lateinische Gelehrtenbildung noch
da und gilt auf Schulen und Universitäten als unentbehrlich. Latein ist noch die Sprache der
Gelehrsamkeit und der Universitäten; die Vorlesungen und vor allem die Disputationen werden in lateinischer Sprache gehalten. Auch die Universitätsliteratur ist noch ganz überwiegend
lateinisch.
Interessant ist die Zahl der Studierenden an den vier preussischen Universitäten zu Beginn des
18. Jahrhunderts: Halle hat 1202, Königsberg hat 400, Frankfurt hat 190 und Duisburg hat 163
Immatrikulierte.
f ) Die Entwicklung zum mathematischen Institut
Im Jahre 1734 wird eine neue Universität in Göttingen gegründet (und 1737 eingeweiht). Sie
entwickelt sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts neben Halle und Leipzig zu den wichtigsten Universitäten Deutschlands. Dies sind die Universitäten der drei großen protestantischen
Länder Preussen, Sachsen und Hannover. Die wichtigste Fakultät ist nicht die theologische, sondern die juristische. Auch auf die historischen Fächer und die Naturwissenschaften wird großer
Wert gelegt, was sich in der Zahl der entsprechenden Professorenstellen ausdrückt. In der philosophischen Fakultät gibt es etwa um 1765 12 ordentliche und 6 ausserordentliche Professoren
sowie 5 Privatdozenten, im Vergleich zu 3 ordentlichen und 1 ausserordentlichem Professor in
der theologischen Fakultät sowie 5 ordentlichen, 2 ausserordentlichen Professoren und 1 Privatdozenten in der medizinischen Fakultät. Von den 12 Professoren der philosophischen Fakultät
liest einer Mathematik. Die Vorlesungen werden durchweg in deutscher Sprache gehalten. Mitte des 18. Jahrhunderts wird von Buddeus darauf hingewiesen, wie wichtig es sei, besser auf
ihren Beruf vorbereitete Lehrer an die Gymnasien zu senden. ”Ursprung des ganzen Übels sei,
dass den Schulen Leute vorgesetzt werden, die zu allem eher als zu Lehrern taugen, die weder
richtig zu denken noch zu lesen noch auch zu reden imstande seien; diese schickten dann wieder
die schlecht vorbereiteten Schüler auf die Universität. Von jenem Übel aber sei die wichtigste
Ursache, dass die Universitäten die Vorbereitung auf das Lehramt fast ganz vernachlässigten”.
In der Folge wird eine allgemeine Lehramtsprüfung für das Lehramt an höheren Schulen eingeführt und damit ein eigener Gymnasiallehrerstand geschaffen. Die erste Prüfungsordnung hat
noch eine sehr einfache Gestalt.
31
Um untüchtige und ungenügend vorbereitete junge Leute von den Universitäten fernzuhalten,
werden Abschlussprüfungen an den Schulen eingeführt. Im Jahre 1812 wird durch ein Edikt,
veranlasst von Wilhelm von Humboldt, die Form der Prüfung genauer festgelegt. Es wird
verlangt: ein deutscher, ein lateinischer, ein französischer und ein mathematischer Aufsatz, eine
Übersetzung aus dem Griechischen und ins Griechische. Die mündliche Prüfung soll sich auf alle
Sprachen, die gelehrt werden, auf Mathematik, Geschichte, Geographie, Naturlehre beziehen;
bei der Interpretation der alten Schriftsteller wird lateinisch gesprochen. Das Ergebnis wird
durch drei Nummern bezeichnet:
I unbedingt tüchtig, II bedingt tüchtig und III untüchtig.
Da man auch durch eine Aufnahmeprüfung an der Universität, die von den entsprechenden
Kommissionen häufig nicht so ernst genommen werden, und auch mit der Note III studieren
konnte, war eine Überlaufung der Universitäten mit schlecht vorgebildeten Studierenden die
Folge. Deshalb wird 1834 die Aufnahmeprüfung an der Universität abgeschafft und
das Bestehen der Reifeprüfung als Voraussetzung zur Immatrikulation eingeführt.
Konsequenz dieser Verordnung ist eine einheitliche Gestaltung des Unterrichts an den Gymnasien. Die Grundzüge einer Unterrichtsverfassung aus dem Beginn des 19. Jahrhunderts besagen
folgendes:
Das Gymnasium hat einen zehnjährigen Kursus, in 6 Klassen, von unten auf gezählt VI (Sexta)
bis I (Prima), wobei sich die Schüler unterschiedlich lang in einer Klasse aufhalten: Je 1 Jahr
in den Unterklassen VI (Sexta), V (Quinta) und in der Mittelklasse IV (Quarta), 2 Jahre in
der Mittelklasse III (Untertertia und Obertertia), 2 Jahre in der Oberklasse II (Untersekunda
und Obersekunda) und 3 Jahre in der Oberklasse I (Prima). Der Lehrplan sieht 1858 in
Preussen folgendermassen aus:
VI V IV III II
Latein
6 6 8
Griechisch
− − 5
Deutsch
6 6 4
Mathematik
6 6 6
Naturwissenschaften
2 2 2
Geschichte und Geographie 3 3 3
Religion
2 2 2
Zeichnen
3 3 2
Kalligraphie
4 4 −
8
5
4
6
2
3
2
2
−
8
7
4
6
2
3
2
−
−
I
Summa
8
7
4
6
2
3
2
−
−
76
50
44
60
20
30
20
10
8
Man sieht, es sind 4 Hauptfächer: Lateinisch, Griechisch, Deutsch und Mathematik. Das Unterrichtziel in den einzelnen Hauptfächern wird im Lehrplan festgelegt. Die Ziele sind dabei
(gerade in Mathematik) sehr hoch angesetzt: In
V beginnen Algebra und Geometrie, in
IV Theorie der Gleichungen und Geometrie nach dem 6., 11., 12. Buch des Euklid, in
III Logarithmen und analytische Geometrie, in
32
II Lehre von den Reihen, ebene und sphärische Trigonometrie, Kegelschnitte und in
I Gleichungen 3. und 4. Grades, Anfangsgründe der unbestimmten Analytik, Fortsetzung
der Lehre von den Reihen, Wahrscheinlichkeitsrechnung; daneben in der Hälfte der Stunden angewandte Mathematik, besonders die mechanischen Wissenschaften.
Das ist der Lehrplan für den idealen Abiturienten. Ob es ihn jemals als in glücklichen Ausnahmefällen gegeben hat?
Da Mathematik eines der Hauptfächer des gymnasialen Lehrplanes bildete, war auch die Ausbildung spezialisierter Mathematikstudenten nötig. (An allen preussischen Universitäten zusammen gab es bis etwa 1860 jährlich ungefähr 20 Absolventen als Mathematik-Hauptfachlehrer.)
Erst nach 1848 setzte sich in den nicht-preussischen Staaten eine volle Gleichberechtigung der
philosophischen Fakultät und eine stärkere Stellung von Mathematik und Naturwissenschaften
im Lehrplan der höheren Schulen durch.
Als Konsequenz der ambivalenten Stellung der Mathematik (als Teilgebiet in der philosophischen Fakultät und als Gebiet, das von den Anwendungen her den Naturwissenschaften nahe
steht) wurde in Tübingen im Jahre 1863 neben der philosophischen die erste naturwissenschaftliche Fakultät an einer deutschen Universität gegründet. 1869 setzte Hermann
Hankel (*14.2.1839 in Halle, †29.8.1873 in Schramberg) die Einrichtung eines mathematischphysikalischen Seminars durch, dessen erster Vorstand er wurde. Hankel war ordentlicher Professor für Mathematik und Astronomie. Nach seinem Tod wurde 1874 eine Professur alleine
für Mathematik ausgeschrieben.
Am 18. September 1890 wird auf der 63. Versammlung der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte von 33 Teilnehmern (u.a. Georg Cantor, David Hilbert, Felix Klein, Hermann Minkowski, Carl Runge) in Bremen ein Manifest zur Gründung einer Vereinigung der
deutschen Mathematiker unterzeichnet. Dieses Datum wird als Gründungsdatum der Deutschen Mathematiker-Vereinigung bezeichnet, obwohl die Statuten und die Geschäftsordnung erst auf der ersten DMV-Tagung 1891 in Halle beschlossen wurden.
Am Ende des 19. Jahrhunderts kommt es zu einer Reformbewegung in der Gestaltung des
Mathematikunterrichts. Eine 12-köpfige Kommission, zu der u.a. Felix Klein gehört, machen im
Jahre 1905 die Ergebnisse ihrer Arbeit unter dem Namen ” Meraner Vorschläge” bekannt.
In der Präambel werden drei Leitsätze formuliert:
1. Die höheren Lehranstalten sollen weder eine einseitig sprachlich-geschichtliche, noch eine
einseitig mathematisch-naturwissenschaftliche Bildung geben.
2. Die Mathematik und Naturwissenschaften sind als den Sprachen durchaus gleichwertige
Bildungsmittel anzusehen, und an den Prinzipien der spezifischen Allgemeinbildung der
höheren Schulen ist festzuhalten.
3. Die tatsächliche Gleichberechtigung aller höheren Schulen ist festzuhalten.
Neben der logischen Durchbildung wird als Hauptaufgabe des Mathematikunterrichts formuliert:
”Stärkung des räumlichen Anschauungsvermögens und Erziehung der Gewohnheiten zum funktionalen Denken.”
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Der zweite Teil dieser These wirkte sich am stärksten aus, denn er führte zu der Einführung
der Differential- und Integralrechnung in den Unterricht, und zwar als Hilfsmittel zur ”Kennzeichnung des Verlaufs einer Funktion und deren Änderung”.
Wir schauen uns deshalb ein Unterrichtswerk aus dem Anfang des 20. Jahrhunderts an. Bemerkenswert ist dabei, dass es um die Jahrhundertwende eine Trennung in ”Lehrbücher” und
”Aufgabensammlungen” gab. So wollen wir einen Blick werfen in
Kambly-Thaer: Mathem. Unterrichtswerk, 1. Teil: Arithmetik und Algebra
Ausgabe B: Für Oberrealschulen, Realgymnasien und Gymnasien mit
math. Reformunterricht. F. Hirt–Verlag Breslau, 44. Aufl. 1918 (mit dem
Vorwort zur 39. Aufl. von 1908)
Damit nicht der Eindruck entsteht, dass in diesen Bänden das besprochen wird, was wir heutzutage darunter verstehen (Rechnen mit Zahlen und Buchstaben), will ich aus dem Inhalt mit
insgesamt 11 Abschnitten (davon die letzten 4 im Anhang) zitieren. In den einzelnen Abschnitten werden die Kapitel jeweils neu, die Paragraphen allerdings durchgehend durchnumeriert.
IV. Abschnitt: Rechnungsarten der dritten Stufe
3. Kapitel: Von den imaginären und komplexen Zahlen
5. Kapitel: Von den Logarithmen
VII. Abschnitt: Die Kombinationslehre nebst Anwendungen
4. Kapitel: Von der geteilten fallenden Faktoriellen und dem
binomischen Lehrsatze
§ 114: Lehrsatz 1:
%n&
k
Folgerungen:
n
#
k(k − 1)
k=1
n
#
k(k − 1)
k=1
1·2
Daraus folgt
n
#
k=1
k2 =
1·2
n
=
=
!
..
.
=
n
n−k
"
(n + 1)n(n − 1)
1·2·3
n
n
1# 2 1#
1# 2 1
k −
k=
k − n(n + 1)
2 k=1
2 k=1
2 k=1
4
(n + 1)n(n − 1) (n + 1)n
n3 n2 n
+
=
+
+
1·3
2
3
2
6
§ 115: Der binomische Lehrsatz für ganzpositive Exponenten
n !! ""
#
n
n
(1 + x) =
xk
k
k=0
Beweis: Vollständige Induktion
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IX. Abschnitt: Analysis
§ 129: Cardanische Lösung der kubischen Gleichung
§ 131: Gleichungen vierten und höheren Grades
X. Abschnitt: Differentialrechnung
1. Kapitel: Differentialquotienten
Hier werden die üblichen Ableitungsregeln behandelt.
2. Kapitel: Reihen
§ 136: Ableitungen einer Potenzreihe
§ 137: Konvergenz und Divergenz unendlicher Reihen
§ 138: Die Binomialreihe
α
(1 + x) =
∞ % &
#
α
k=0
k
xk .
§ 139: Die Exponentialreihe
x
f (x) = a =
∞
#
(x · ln a)k
k=0
k!
.
f ! (x) = ax · ln a
§ 142: Die Ableitungen der trigonometrischen Funktionen
3. Kapitel: Maxima und Minima
§ 143: Anwendungen der Differentialrechnung
XI. Abschnitt: Integralrechnung
Der auf Grund der Meraner Vorschläge eingeführte Lehrplan blieb in seinen wesentlichen Zügen
bis in die Sechziger Jahre des 20. Jahrhunderts erhalten.
Der ”Sputnik-Schock” von 1957 löste dann eine neue Reformbewegung aus. Die USA wollten
den Vorsprung der Sowjetunion dadurch aufholen, dass auch bildungsfernere Schichten systematisch zu qualifizierten Ingenieuren und Naturwissenschaftlern ausgebildet werden sollten. Dazu
gehörte auch eine gute Ausbildung in Mathematik. (U.a. ist wegen dieser Bemühungen die Fernsehsendung ”Sesam-Straße” eingeführt worden.) Die in den USA einsetzende Bildungseuphorie
griff auch auf Europa über.
Eine abstrakte Gedankenwelt der Strukturmathematik, der sog. ”Bourbakismus”, fand in der
BRD Eingang in die Mathematiklehrpläne von der Grundschule bis hin zu den Abschlussklassen
der Gymnasien, aber auch in die mathematischen Servicevorlesungen für naturwissenschaftliche,
technische und wirtschaftswissenschaftliche Fächer und natürlich auch in die Anfängervorlesungen für Studierende der Mathematik.
In der Grundschule wurden die Zahlen über die Mächtigkeit von Mengen eingeführt.
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In der 10. Klasse des Gymnasiums wurden die reellen Zahlen als Äquivalenzklassen rationaler Cauchy-Folgen definiert.
In der Analysis-Vorlesung stand der Begriff des normierten Vektorraumes schon im 1.
Semester auf dem Programm, und Differentiation wurde sehr abstrakt für Abbildungen
zwischen Banach-Räumen eingeführt.
Leider ging dadurch der Bezug zu den Anwendungen der Mathematik verloren, was eigentlich
durch die Reform gefördert werden sollte. So kam es allmählich wieder zur Abkehr von der
reinen ”Strukturmathematik”.
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