Vortrag Hans Günther Homfeldt Agency und Bewältigung

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Vortrag Hans Günther Homfeldt
Vortrag gehalten auf der Fachtagung „Klinische Sozialarbeit Psychosoziale Gesundheit –
‚hard to reach’? am 8. Mai 2010 an der Alice Salomon Hochschule
* Ein ausführlicher Artikel wird im Jahrbuch 3 (Beiträge zur psychosozialen Praxis und Forschung 3) vorrauss. im Herbst 2010
unter dem Titel „Agency und Bewältigung. Impulse des 13. Kinder- und Jugendberichts für eine Gesundheitsförderung im
Jugendalter“ erscheinen.
Agency und BewältigungGesundheitsförderung in der Lebensphase Jugend
Aufbau des Vortrags:
Ich freue mich über die Möglichkeit zu diesem Vortrag und vor allem über diesen Anlass.
Und das zu einem Thema, das mir sehr am Herzen liegt: Agency und BewältigungGesundheitsförderung in der Lebensphase Jugend.
Wie habe ich mir den Aufbau des Vortrags vorgestellt?
Was ist überhaupt agency, was Bewältigung und drittens wie ist der Zusammenhang von
agency und Bewältigung zu sehen.
Versuchen will ich ferner, eine Verbindung zu Gesundheitsförderung im Jugendalter
herzustellen. Das Material dazu liefert mir neben anderem der 13. Kinder- und Jugendbericht.
Schließlich geht es mir dann darum, Ihnen einige Themenbereiche zu Forschung und Praxis
Klinischer Sozialarbeit vorzuschlagen, die in Verbindung mit dem 13. Kinder- und
Jugendbericht stehen, dabei wissend, das diese von jemandem kommen, der „von außen“ auf
die Klinische Sozialarbeit blickt.
1. Was ist agency?
Agency erfährt in der Ökonomie, den Rechtswissenschaften und den Sozialwissenshaften
unterschiedliche Sinngebungen. So geht es in der Ökonomie vor allem um die Steuerung der
Nutzenbeziehungen von Auftragnehmern und -gebern.
Agency- Theorien in den Sozialwissenschaften sind vor allem in der sozialen
Unterstützungsforschung, in der subjektorientierten Sozialisationstheorie und der
sozialpolitisch orientierten Sozialwissenschaft zu finden (z.B. in der Analyse sozialer
Bewegungen). Für die Themenfelder (z. B. die cultural studies) gilt: Grundsätzlich werden
Akteure in ihren sozialen Kontexten als Erzeuger ihrer Wirklichkeiten betrachtet, in denen sie
ihre Bedeutungen und Handlungsbefähigungen, ihre Agenda, entstehen lassen.
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Dem liegt die Annahme zugrunde: Akteure seien in der Lage, sich mit sozialen
Herausforderungen, Konflikten, freudigen wie auch eher unangenehmen Erlebnissen, auch
mit ihrer Gesundheit und Krankheit, auseinanderzusetzen. Dies geschieht auf der Basis ihrer
Handlungsmächtigkeit.
Angeregt wird die Stärkung von Handlungsmächtigkeit durch das Verlangen nach
Anerkennung und die Erfahrung von Selbstwirksamkeit. Ihren Sockel wiederum bildet ein tief
liegender Wunsch nach Selbstbehauptung.
Agency- Theorien nehmen die Deutungen der Akteure, ihre Kompetenzen und Ressourcen
wie auch Grenzen, auf der Ebene des persönlichen wie auch sozialen Handelns, auch bei der
Gestaltung institutioneller Welten, in den Blick. Diese wie auch soziale Beziehungen werden
aus der Perspektive der Handlungsbefähigungen und -optionen der Akteure analysiert.
Entsprechend heißt es bei dem Soziologen Mathias Grundmann (2008: 131):
„In Anlehnung an die Agency- Forschung… wird Handlungsbefähigung über das Erleben von
Handlungswirksamkeit und Selbstbestimmtheit in konkreten sozialen Handlungsbezügen
einer Person bestimmt“.
Facetten von Handlungsbefähigung bzw. Handlungsmächtigkeit ist in der Sicht von
Grundmann Selbstwirksamkeit, Handlungskompetenzen und pragmatisches
Handlungswissen.
Von ihnen her erschließen sich „Zugänge zu interaktiven Bezügen wie gesellschaftlichen
Kontexten der Lebensbewältigung“ (Böhnisch, Lenz, Schröer 2009: 44). Unterschieden
werden kann zwischen emotionalen, interaktiven und gesellschaftlichen Dimensionen.
Sie liefern das Schnittfeld im Sinne äußerer Handlungsbedingungen, innerer
Persönlichkeitsmerkmale und interaktiver Bezüge.
Erkenntnisleitend ist die Frage: Wie erleben und deuten Personen ihre Lebensverhältnisse,
ihre Handlungsmächtigkeit und auch:
Welche Handlungschancen und -perspektiven sehen sie für sich?
Wie das eigene Handeln erlebt wird, hängt stark ab von der Anerkennung des eigenen
Handelns und der mit ihr verknüpften Erfahrung der Selbstwirksamkeit.
Bedeutende Impulsgeber zur Schaffung von Selbstwirksamkeit sind zumeist Personen im
sozialen Nahraum: also Familie, Nachbarn, Peers.
Die Soziale Arbeit kann dann zu einem wirksamen Impuls- und Unterstützungsgeber werden,
wenn sie in der Lage ist, gesellschaftliche Teilhabe anzuregen und zu ermöglichen.
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In sozialpolitischen Diskursen um gesellschaftliche Teilhabe kann agency als Konzept eine
Richtungsweisung liefern für eine akteursbezogene Befähigungs- und Wohlfahrtspolitik.
Dabei geht es um Ressourcenverteilung, -ausstattung und -erschließung.
Ressourcenausstattung und in der Folge Erschließung von Ressourcen sind sozial sehr
ungleich verteilt. Dies ist vielfach in Untersuchungen- nationalen wie internationalenerwiesen, aber das gesellschaftliche Problem ist nicht gelöst! Entsprechend nehmen sich
benachteiligte Bevölkerungsgruppen insgesamt nach wie vor als wesentlich weniger
handlungsmächtig wahr. Darauf verweisen u. a. in Bezug auf Gesundheit und
Heranwachsende die verschiedenen Jugendgesundheitssurveys, z.B. die HBSC- Studie, aber
auch die KIGGS- Studie von 2007.
Auf den Zusammenhang von sozialer und gesundheitlicher Ungleichheit geht auch der 13.
KJB ausführlich ein. In ihm heißt es: Ein benachteiligender sozio-ökonomischer Status
bedinge in der Regel erschwerte Zugänge zu positiven, auch gesundheitsbezogenen
Wirksamkeitserfahrungen. Aus dieser immer wieder empirisch ermittelten Erkenntnis ergeben
sich Forderungen nach mehr Befähigungsgerechtigkeit. Nach der Ottawa- Charta von 1986
sollte sie Menschen darin befähigen, „selber Entscheidungen zu fällen und eine Kontrolle
über die eigenen Lebensumstände auszuüben“.
Fast 25 Jahre nach der Veröffentlichung der Charta ist dies immer noch Programm und in den
sozialen Diensten, dem Bildungswesen, in der Gesundheitshilfe nicht umgesetzt. Und die
Soziale Arbeit als Wissenschaft ist wenig hilfreich, nicht klar genug, vielleicht auch nicht
stark genug, hier einen Wandel anzustoßen..
So spricht zwar die Soziale Arbeit in Disziplin und Profession von einer Akteursorientierung.
In Forschungen geht es jedoch kaum um die Handlungsbefähigung respektive -mächtigkeit
der Akteure in ihrer eigenen Sicht und um daraus folgende Gestaltungsüberlegungen (z. B. in
Hilfeplangesprächen). Zumeist werden Handlungsmächtigkeiten implizit im Blick der
sozialen Teilsysteme ermittelt.
Die bisherigen Definitionen von Akteur und Subjekt sind in den beiden vorherrschenden
Ansätzen zur Lebensweltorientierung und zu nutzerorientierten sozialen Dienstleistungen,
zumeist implizit verankert, an sozialstaatlich bedingte Institutionalisierungen und Vorgaben
geknüpft. Von ihnen werden dann Handlungsoptionen und Handlungswirksamkeiten der
Akteure eingeschätzt und werden auch Überlegungen zu sozialer Unterstützung entwickelt,
obwohl die Unterstützungsforschung selber durchaus andere Wege nahe legt:
Sie fragt nämlich von den Jugendlichen als Akteuren her, schlicht und einfach: Wie kann die
Handlungsmächtigkeit Jugendlicher gesellschaftlich gefördert und gesichert werden?
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Gesichert wegen gestiegener gesellschaftlicher Ungewissheiten, das eigene Leben
wunschgemäß gestalten und entwerfen zu können.
In einem solchen Verständnis geht es sozialer Unterstützung darum, Handlungsmöglichkeiten
zu erweitern und Abhängigkeiten abzubauen, indem sie auf der strukturellen Ebene inklusive
Zugänge und damit Sicherheiten vorschlägt und auf der Handlungsebene emotionale und
Vertrauen fördernde Impulse und Netzwerke bietet.
Soziale Unterstützung umfasst entsprechend nach Nestmann Maßnahmen und soziale
Beziehungen, „durch die Individuen von ihrer sozialen Umwelt gegen bedrohliche und
beeinträchtigende Erlebnisse und Erfahrungen abgeschirmt und bei deren Eintreten und
Verlauf sie in ihren Bewältigungsanstrengungen gefördert werden können“ (2001: 1687).
Beeinträchtigende Erlebnisse werden wahrscheinlicher, weil sich gesellschaftliche
Sicherheiten und Gewissheiten mehr und mehr verflüchtigt haben aus den Strukturen des
Alltags wie auch in den institutionellen Zuständigkeiten. In der Folge zeigen sich gespaltene
Normalitäten, wie es Böhnisch formuliert. „Subjektivität stellt sich dabei in ambivalenten
Bewältigungsprozessen des Strebens nach Handlungsfähigkeit“ (Böhnisch, Lenz, Schröer
2009: 29) her: Als gesellschaftliche Entgrenzungstendenzen sind sie in den modernen
Lebensläufen immer stärker eingeschrieben, so dass auch die Lebensalter zunehmend mehr zu
entgrenzten und damit zu offenen und verwundbaren. Lebensphasen geworden sind: mit
neuen Bewältigungsaufgaben.
2. Was meint nun Bewältigung? Und wie hängen agency und Bewältigung zusammen?
Die Lebensbewältigung verknüpft personal- biografische mit gesellschaftsstrukturellen
Konstellationen (2009: 32). Dabei entstehen Fragen wie: Wie bleibe ich handlungsfähig und
biografisch handlungsmächtig? Und kaum noch: wie und wo verorte ich mich?
Wie ist der Zusammenhang von agency und Bewältigung?
Während Lebensbewältigung das Zusammenspiel von inneren, personbezogenenbiografischen und äußeren, gesellschaftlichen Handlungszusammenhängen erfasst, erschließt
Agency die Umsetzung dieses Handlungszusammenhanges und die sozialen Prozesse der
Stärkung von Handlungsmächtigkeit. Dies geschieht z. B. dadurch, dass Netzwerke und
soziale Unterstützung aktiv in Anspruch genommen und in ihrer Bedeutung eingeschätzt
werden können. In dem Maße, wie dies gelingt, gewinnen Akteure die Kontrolle über ihr
Handeln und über ihre sozialen Beziehungen in ihren jeweiligen Sozialräumen.
Nun zur Lebensphase Jugend, vor allem im Blick des 13. Kinder- und Jugendberichts
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3. Agency und Bewältigung: Ihre Bedeutung für eine Gesundheitsförderung in der
Lebensphase Jugend?
Was Gesundheitsförderung ist, setze ich als bekannt voraus.
Was jedoch die Lebensphase Jugend (Stichwort: entgrenzte Lebensphasen) ist, dazu sind
einige Sätze nötig.
Im traditionellen Sinne werden den verschiedenen Lebensaltern gesellschaftliche
Erwartungen zugeordnet. Sich entgrenzende Arbeit, entgrenzende private Lebensführung und
entgrenztes Lernen bis weit ins Erwachsenenalter hinein haben in der sog. Zweiten Moderne
dazu geführt, dass Jugend nicht mehr länger eine strategische Sozialgruppe in einer
wachstumsbezogenen Gesellschaft ist, sondern dass Jugend- und Erwachsenenalter als
Lebensphasen nicht mehr so ohne weiteres voneinander abgrenzbar sind (vgl. Böhnisch,
Lenz, Schröer 2009: 185). Konsum, Sexualität, Gesundheit und auch Netzwerke sind beiden
Lebensaltern gemeinsam.
Mit diesen wenigen Hinweisen wird nicht zum Ausdruck gebracht, die Lebensphase Jugend
verschwinde oder sei bereits verschwunden. Sie lässt sich einzig nicht mehr ohne weiteres
von anderen Lebensphasen abgrenzen. Gleichwohl bleiben lebensphasenspezifische Vorgaben
an Jugend erhalten (z.B. der Schulabschluss, auch Pubertät) und –vorsichtig formuliertgesundheitsbezogene Entwicklungsaufgaben. Jedenfalls wagt der 13. Kinder- und
Jugendbericht solche für die Lebensalter von der frühen Kindheit bis zum jungen
Erwachsenenalter zu formulieren.
Bei Jugendlichen zwischen 12 bis 18 Jahren ermittelt der 13. KJB als gesundheitsbezogene
Entwicklungsthemen
-
den Körper spüren
-
die Grenzen suchen und
-
eine eigene Identität finden.
Hörbare Kritik an diesen Festlegungen ist zumeist: Diese Themen gelten doch auch für die
anderen Lebensphasen. Stimmt! Gleichwohl erlangen sie in der jeweiligen Lebensphase eine
besondere Bedeutung.
Im Jugendalter sind Jungen und Mädchen gleichermaßen aufgrund des Körperwandels
herausgefordert, ein Körperbewusstsein und eine je eigene geschlechtliche Identität zu
entwickeln. Dies impliziert die Akzeptanz der eigenen biologischen wie sozialen
Geschlechtlichkeit.
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Im Jugendalter weiten sich die sozialen Einflüsse in vielfältiger Weise. Der familiale Einfluss
reduziert sich in aller Regel, der der sozialen Lebenswelten außerhalb der Familie- Peers,
Medien, Schule- gewinnt an einprägender Bedeutung. Entsprechend nimmt der enge
Zusammenhang von sozialer Ungleichheit und Gesundheit zwischen Familie und
Heranwachsendem, zumindest sichtbar, ab.
In Bezug auf die einzelnen sozialen Determinanten ergibt sich im Jugendalter allerdings ein
inkonsistentes Gesamtbild. So zeigen Studien eine sich abschwächende Beziehung zwischen
sozialer Ungleichheit und Gesundheitshandeln, etwa im Konsum der legalen Drogen: Alkohol
und Tabak. Ein wichtiges Einflussfeld für Risikohandeln sind Gleichaltrigengruppen.
Welchen Stellenwert nimmt Jugend in gesellschaftspolitischen Diskussionen und in
Fachdiskursen der Kinder- und Jugendhilfe ein?
4. Jugend als Lebensphase im 13. Kinder- und Jugendbericht
In öffentlichen Diskussionen, aber auch den Fachdiskursen über die Kinder- und Jugendhilfe
entstehe der Eindruck, als würde es sich eigentlich um Kinderhilfe handeln und als wären
Jugendliche nicht auch Adressaten der Kinder- und Jugendhilfe. Angebote, die sich explizit
an Jugendliche richteten, würden in den Debatten zur Weiterentwicklung der Kinder- und
Jugendhilfe zu wenig beachtet. Der überfällige Ausbau der Tagesbetreuung für Kinder- jünger
als drei Jahre- werde in den Vordergrund gerückt. Die Versprechungen eines
Sozialinvestitionsstaats, nämlich durch frühzeitige Investitionen in eine positive Entwicklung
der Kinder quasi präventiv zukünftige Probleme vermeiden zu können oder zumindest für
deren Lösung nicht mehr zuständig zu sein, hätten sich offenbar auch in der Kinder- und
Jugendhilfe verfangen. Dies spiegelte sich in der magischen Formel der "frühen Hilfen"
wider. Eine solche Sicht verstelle den Blick auf die in der Jugendphase neu zu bewältigenden
Entwicklungsaufgaben- so jedenfalls Seckinger und van Santen (2009: 186). Ist ihnen
zuzustimmen?
Zutreffend ist diese Sicht zumindest nicht für den 13. Kinder- und Jugendbericht. Er verweist
ausdrücklich auf die gesundheitsrelevanten Entwicklungsaufgaben der Jugendphase (2009:
115- 119) wie auf die im jungen Erwachsenenalter (2009: 139- 142). Der Bedeutung von
Jugend und jungem Erwachsenenalter trägt der Bericht auch dadurch Rechnung, dass in den
abschließend formulierten fünf vorrangigen Gesundheitszielen und überprüfbaren Forschritten
(2009: 261f.) sich das fünfte Ziel auf die psychosoziale Entwicklung von Jugend und jungen
Erwachsenen bezieht: Jugendliche und junge Erwachsene müssten in einer immer komplexer
werdenden Gesellschaft in ihrer psychischen Entwicklung umfassender unterstützt werden. Es
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seien daher die psychosozialen Auffälligkeiten von Jugendlichen in fünf Jahren um zehn
Prozent zu reduzieren. So heißt es im fünften Gesundheitsziel am Schluss des Berichts.
Den Blick auf Jugendliche zu richten, fordert auch der 3. Armuts- und Reichtumsbericht(
2008), indem er hervorhebt: Je älter Heranwachsende würden, umso mehr seien sie von
Armut betroffen. Seien es bei unter Sechsjährigen 14 %, so bei 15- bis 18jährigen schon 24
%. Es steht zu vermuten, dass sich mit dem Anstieg der sozialen Ungleichheit gleichermaßen
die gesundheitliche Ungleichheit von der Kindheit ins Jugendalter hinein verstärkt. Dies ist
umso besorgniserregender, da sich die Mechanismen und sozialen Gradienten von Gesundheit
über die verschiedenen Lebensalter hinweg verändern, so dass M. Richter/ Hurrelmann (2006:
22) zu der Aussage gelangen, gesundheitliche Ungleichheiten seien auf eine Häufung von
benachteiligenden Lebensbedingungen über den Lebensverlauf zurückzuführen.
Entsprechend lässt sich Gesundheit in ihren Bewältigungsbezügen von der frühen Kindheit
bis ins hohe Alter biografisch immer neu thematisieren. Wie steht es nun mit der
wissenschaftlichen Thematisierung von Jugend und Gesundheit?
Auffällig ist, dass gesundheitsschädliche Risikofaktoren in der frühen Kindheit und im
Erwachsenenalter, kaum aber im Jugendalter erfasst werden (M. Richter 2005: 11 und 65). So
gibt es nur wenige empirisch gesicherte Informationen zu gesundheitlicher Ungleichheit im
Jugendalter.
Und wie kommentiert die Stellungnahme der Bundesregierung im 13. KJB
Gesundheitsförderung im Jugendalter?
5. Stellungnahme der Bundesregierung zur Lebensphase Jugend
In der Stellungnahme der Bundesregierung, mit der traditionsgemäß jeder Bericht beginnt, ist
Bemerkenswertes zum einen zu lesen, zum anderen- trotz intensiver Betonung im Bericht- in
der Stellungnahme eher nichts zu finden. So richtet sich der Blick der Bundesregierung fast
ausschließlich auf die frühe Kindheit und kaum auf die Altersphase Jugend und noch weniger
auf die Altersphase junger Erwachsener. Bemerkenswertes ist hingegen zu lesen zur
gesellschaftlichen Inklusion. So heißt es, Kinder und Jugendliche mit Behinderung seien in
erster Linie Kinder und Jugendliche (2009: 12), die Lebenslage sei der Ausgangspunkt für die
Förderung von Kindern und Jugendlichen mit Behinderung (2009: 14) und ganz
grundsätzlich: „Der junge Mensch muss im Mittelpunkt der verantwortlichen Teilsysteme
stehen“ (2009:13). Anders formuliert: Vorrang vor allem anderen hat stets die
gesellschaftliche Teilhabe aller Kinder und Jugendlichen. Dies wird dadurch ermöglicht, dass
die Lebenslage eines Heranwachsenden die Mitte bildet: in der Bildung genauso wie in der
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Gesundheit, in der Prävention wie in der Rehabilitation. Nicht die Behinderung, die
Beeinträchtigung, der Migrationshintergrund, sondern die Entwicklung der
lebenslagenbezogenen, biografischen Handlungsfähigkeit sollen also im Zentrum
institutionellen wie auch professionellen Bemühens stehen.
Gern spreche ich deshalb noch einmal Folgendes an: Am besten gelingt die Umsetzung
gesellschaftlicher Teilhabe, wenn die Kinder- und Jugendhilfe bei der Erzeugung von
Ermöglichungsräumen behilflich ist. Dazu ist es nötig, die Akteure nicht auf dem der
Systemlogik geschuldeten institutionellen Verständnis von Adressat/ Klient/ Patient zu
verkürzen, sondern sie als sinn- und sinnenhaft handelnde Personen in ihren Sozialräumen
und biografischen Lebenssituationen auf der Basis ihrer Ressourcen zu verstehen und zu
stärken: in ihrer agency und gesundheitsbezogenen Lebensbewältigung:
[Dass dies im 13. Kinder- und Jugendbericht nicht noch stärker herausgestellt werden konnte,
hängt damit zusammen, dass es auftragsgemäß (§ 74 SGB VIII) immer auch darum geht, den
Leistungsstand der Kinder- und Jugendhilfe (hier im Kapitel D) sichtbar werden zu lassen.
Und dies sind nun einmal die Leistungen in den vorfindbaren Einrichtungen, die sich übrigens
durchaus sehen lassen können. Sie dürfen jedoch nicht den Blick verstellen, worum es im
Bericht vorrangig geht und was im Teil A auch grundsätzlich hervorgehoben wird: nämlich
um agency und gesundheitsbezogene Lebensbewältigung der jungen Menschen.]
6. Kritik am Blick aus institutioneller Perspektive: Studie des BMG „Gesund
aufwachsen“
Der Agency-Ansatz macht darauf aufmerksam, dass es nicht darum geht, ein Modell
gesunden Aufwachsens für Jugendliche nach den Vorgaben Sozialer Teilsysteme, z. B. im
Sinne ihrer Funktionslogiken, zu formulieren, sondern Bezugspunkt sind Jugendliche als
Akteure in ihren gesundheitsbezogenen Interessen, Bedürfnissen und Handlungsoptionen.
Durch Stärkung ihrer agency eröffnen sich den Jugendlichen Spielräume, ihren Zugang zur
Gesundheitsförderung mitgestalten zu können.
Schauen wir uns die aktualisierte Überarbeitung des Nationalen Gesundheitsziels „Gesund
aufwachsen: Lebenskompetenz, Bewegung und Ernähren“ (2010 aus dem BMG,
unterzeichnet vom Minister Rösler) an, dann ist registrierbar: Ziele, Teilziele und
Startermaßnahmen sind einzig aus der Perspektive institutioneller Settings systematisiert,
nicht jedoch von der agency der Jugendlichen. Die Argumentationskette/ das Muster ist in der
Studie „Gesund aufwachsen“, wie folgt:
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1. Untersuchungen zeigen, dass die motorische Leistungsfähigkeit im zurückliegenden
Vierteljahrhundert um 10 % abgenommen hat.
2. Dies führt zu wachsenden Mängeln in der körperlichen Leistungsfähigkeit. Die
Auswirkungen zeigen sich später (im Erwachsenenalter und höheren Alter).
3. Darum sind vermehrt Angebote zur Bewegungsförderung in Kita und Schule
angebracht. Die Vorstellungen, Bedürfnisse, Optionen der Jugendlichen fließen dabei
nicht ein. So ist auch ihre Partizipation in der Entwicklung von Konzepten nicht
vorgesehen.
4. Es ergeben sich Anforderungen für Jugendliche, besonders für dicke (!), die für sie
ohne sie ausgedacht werden, aber doch gut für sie sein sollen.
Aus dieser Sicht wird deutlich: Vonnöten sind qualitativ- empirische Studien, die sich
systematisch auf das gesundheitsbezogene Bewältigungshandeln und die agency Jugendlicher
einlassen und sich darum bemühen, ihre Sicht von Problemsituationen und ihre
Wahrnehmung zu Ansätzen von Gesundheitsförderung zu erfassen. Nun könnte eingewendet
werden, dazu seien Kinder und auch Jugendliche noch nicht richtig in der Lage.
Beispiele beweisen das Gegenteil, etwa die empirische Studie von Ilze Kalnins u. a. in
Kanada von 2002, in der 9 bis 11 jährige Kinder die Strategien zur Bewältigung von
Gesundheitsproblemen in der Kommune einschätzen sollten. Dabei wurden ihnen drei
Fallvignetten
zum Spielplatz,
zum Schulweg und zum
Straßenverkehr vorgelegt und vier Fragen zur Beantwortung gestellt. Die Ergebnisse zeigten:
Die interviewten Kinder sind sehr an gesundheitsbezogenen Geschehnissen in ihrem
Gemeinwesen interessiert und durchaus in der Lage, praktikable Vorschläge zu ihrer
Gesundheitsförderung zu machen. Die Studie schließt mit der Bemerkung: „Children can be
competent community builders who can identify and solve youth problems at a community
level“ (S. 232).
7. Studien aus der Perspektive von Jugend
Mein Plädoyer geht dahin: Die Gesamtpolitik auf Landes- wie Bundesebene sollte Jugend
allgemein, aber eben auch in Bezug auf ihre Gesundheit, ins Zentrum ihres Interesses stellen,
ohne dabei die frühe Kindheit und die frühen Hilfen beiseite zu stellen. Den Blick au die
Lebensphase Jugend zu lenken, darauf verweist der 13. Kinder- und Jugendbericht. Darauf
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verweist auch nachdrücklich ein Memorandum des BJK vom Mai 2009. Darauf sollte auch
die Jugendhilfe noch intensiver hinweisen.
Wichtig ist dazu, dass Jugend und Gesundheit auch wieder stärker ins Blickfeld
sozialwissenschaftlicher Forschung kommt, z.B. zu Fragen wie:
-
Wie ist die gesundheitsbezogene agency Jugendlicher beschaffen? Wie sieht
gesundheitsbezogene Lebensbewältigung aus?
-
Was erwarten Jugendliche von den sozialen Hilfesystemen und von Schule?
-
Welche Bedeutung messen Jugendliche peers zu?
-
Und welche Unterschiede gibt es zwischen weiblichen und männlichen Jugendlichen?
-
Wird überhaupt von Jugendlichen professionelle Unterstützung erwartet?
-
Wenn ja, in welcher Art?
-
Oder aber wird eher Gleichaltrigen vertraut?
-
An wen wenden sich Jugendliche überhaupt in gesundheitsbezogenen Fragen?
Antworten auf Fragen dieser Art lassen sich zu der Frage zusammenfassen: Wie erleben
Jugendliche ihre Gesundheit?
Schauen wir an dieser Stelle auf die Klinische Sozialarbeit und ihr Selbstverständnis als
beratende und behandelnde Sozialarbeit (Geissler- Piltz 2005: 21) und auf ihr Verständnis,
„die Person und ihr Erleben und Werten in ihrer Umwelt und Lebenssituation“ (Geissler- Piltz
2005: 21) einzubeziehen, dann erschließen sich hier wichtige Forschungsaufgaben in Bezug
auf Jugend und ihre Vorstellungen von Gesundheit allgemein und in Bezug auf die
üblicherweise schwer Erreichbaren (wie z.B. jugendliche Flüchtlingsmigranten) insbesondere.
Aus einem in dieser Weise sich heraus kristallisierenden Blickfeld ergeben sich im
professionellen Bereich unverwechselbare Aufgabenverständnisse:
- in der Beratung,
- in der Kooperation mit anderen Teilsystemen und Professionellen
und
- in der sozialen Unterstützung und Vernetzung,
- aber auch in der gesundheits- und gesellschaftspolitischen Verortung.
Einen aktuellen Punkt möchte ich hier herausgreifen, der auch im 13. Kinder- und
Jugendbericht eine große Rolle gespielt hat: der Gedanke der Inklusion, getragen von den
Grundüberlegungen: Kinder und Jugendliche seien in erster Linie Kinder und Jugendliche und
erst dann in Bezug auf ihre spezifischen Handlungsnotwendigkeiten zu sehen.
Diesen Satz finden Sie in der Stellungnahme der Bundesregierung.
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8. Gesundheitsförderung im Jugendalter- der Gedanke der Inklusion
In der Behindertenhilfe ist es im letzten Jahrzehnt zu einer Wende gekommen: vom vorrangig
medizinischen bzw. medizinisierten hin zum inklusiven bzw. biopsychosozialen Blick. Der
Wandel ist angeregt worden durch die ICF (Internationale Klassifikation der
Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit der WHO von 2001). In der
Behindertenhilfe ist diese Klassifikation inzwischen gängig geworden.
Im Ergebnis wird Behinderung gefasst als Ergebnis negativer Wechselwirkungen zwischen
einer Person, ihren Gesundheitspotentialen und den jeweiligen Umweltgegebenheiten.
Behinderung entsteht bei unzureichender Passung zwischen der Handlungsmächtigkeit einer
Person und an sie gerichteten Erwartungen. Mit dem relationalen Blickwinkel ergibt sich eine
sozialwissenschaftliche Anknüpfung sozialer Unterstützung mit dem Ziel einer
uneingeschränkten Gleichstellung, Selbstbestimmung und Teilhabe an der Gesellschaft.
Die gesellschaftliche Teilhabe geht aus von gleichen Grundbedürfnissen und daraus folgend
gleichen Grundrechten aller Kinder und Jugendlichen bei gleichzeitiger Anerkennung der
Tatsache, dass auf spezifische Förder- und Unterstützungsbedarfe auf der Basis der
Handlungsmächtigkeit und der Bewältigungsformen zu achten ist. Strukturell bedeutend ist,
dass die Menschenrechte, z. B. die UN- Kinderrechtskonvention, auch jene zu Behinderten,
zunehmend mehr als Rechte auf Verwirklichungschancen bzw. auf die Unterstützung, die
eigene agency zu stärken, aufgefasst werden.
Für die Umsetzung bedeutend ist wegen der Komplexität der Aufgaben dabei, dass die
sozialen Teilsysteme kooperieren. Deshalb ist ein weiteres Ziel des ICF, eine gemeinsame
Sprache in der Kommunikation von Fachpersonen unterschiedlicher Professionen aus dem
Sozial- und Gesundheitswesen zu schaffen (z. B. bereits relevant im Bereich der
Frühförderung, aber auch im Bereich des § 35a).
Grundlage für die Kooperation der sozialen Systeme bildet die Lebenslage der Jugendlichen
gemäß der bemerkenswerten Feststellung in der Stellungnahme der Bundesregierung: Alle
Kinder und Jugendliche sind vor allem erst einmal Kinder und Jugendliche und erst dann im
Kontext ihrer spezifischen Gegebenheiten zu sehen, z.B. ihrer Behinderung, ihrem
Migrationshintergrund etc. Auf der Grundlage dieses Statements ergeben sich weit reichende
Überlegungen zur Inklusion und Notwendigkeiten zum Abbau existierender
Zuordnungslogiken sowie zur Aufhebung der Verantwortungsaufteilung zwischen Kindern
und Jugendlichen mit und ohne Behinderung in verschiedene Leistungssysteme.
Erst in der Kooperation der Kinder- und Jugendhilfe, der Gesundheits- und Behindertenhilfe,
inklusive Schule, kann es gelingen, jugendliche Akteure komplex wahrzunehmen, zu
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verstehen und auch ihre Ressourcen, Handlungsmächtigkeiten und Bewältigungsmuster
umfassend bei sozialer Unterstützung einzubeziehen
In diesem Sinne verstehe ich auch den Satz aus der Stellungnahme der Bundesregierung: Der
junge Mensch müsse im Mittelpunkt der Teilsysteme stehen.
9. Kooperation der sozialen Dienste
Sich mit der Aufgabe der Kooperation der sozialen Dienste auseinanderzusetzen, ist eine von
der Bundesregierung formulierte Kernaufgabe für die Steuerungsgruppe gewesen, nicht
zuletzt in Bezug auf die Kooperation der Kinder- und Jugendhilfe mit der Behindertenhilfe
und der Gesundheitshilfe.
Zur gesundheitsbezogenen Kooperation gibt es bekanntlich inzwischen gute Beispiele im
Bereich der frühen Hilfen. Die Ottawa- Charta, aber auch das SGB VIII, im § 81
(Zusammenarbeit mit anderen Stellen und öffentlichen Einrichtungen), legen Kooperationen
auch nahe.
Damit sie aber zu einer nachhaltigen Ressource werden, sind sie strukturell zu sichern. Das
vollzieht sich in Rahmenvereinbarungen, gesetzlichen Regelungen, Verträgen. Diese
implizieren aber noch längst nicht eine gelingende Umsetzung. Zumeist ist sie mit heftigen
Interessenkonflikten vor Ort (z.B. Budgetkämpfen) verbunden.
Was umfasst nun eine strukturelle Verankerung von Kooperation?
Dazu fallen mir fünf maximale Eckpunkte ein:
-
eine rechtliche Verankerung von Kooperation in den Schulgesetzgebungen wie auch
in den SGB´s,
-
eine partielle Zusammenführung der Finanztöpfe von Schule- Jugendhilfe und
Gesundheitswesen,
-
die Qualitätssicherung der sozialen Dienste,
-
eine integrierte Berichterstattung auf kommunaler Ebene, d. h. das Zusammenfügen
von Sozialbericht-, Gesundheitsbericht- und Bildungsberichterstattung und
schlussendlich
-
eine gesundheitsfördernde Gesamtpolitik
Um Kooperation strukturell aufzubauen, ist erst einmal davon auszugehen, dass die sozialen
Dienste einander in ihren Funktionen fremd sind und dass es auf der Handlungsebene
aufgrund der unterschiedlichen Logiken der sozialen Dienste erhebliche
Kooperationshemmnisse gibt.
Sie sind
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-
in den je eigenen Denk- und Arbeitsstilen begründet,
-
z. T. in überzogenen Erwartungen aneinander,
-
im je eigenen Sprachcode (z. B. findet sich der Begriff des Settings nur selten in der
Kinder- und Jugendhilfe),
-
in den unterschiedlichen Gesetzen und Finanzierungen.
-
in immer noch existenten fehlenden Anerkennungen des jeweiligen anderen sozialen
Dienstes.
Gerade Anerkennung des jeweils anderen Dienstes ist auf der Handlungsebene eine wichtige
Voraussetzung für Kooperation.
Auch wenn Kooperation ungemein schwierig und aufwändig ist:
die sozialen Dienste kommen um sie nicht herum. Denn:
Kooperationsnotwendigkeiten und Anknüpfungsmöglichkeiten resultieren aus den
wachsenden Risikokonstellationen wie auch Entgrenzungstendenzen gesunden Aufwachens,
besonders gilt dies für benachteiligte Jugendliche.
10. Sechs Themenfelder für Forschung und Praxis Klinischer Sozialarbeit
Die aufgezeigte Agency- und Bewältigungsperspektive ermöglicht ein grundlegend anderes
Verständnis von Sozialer Arbeit, als dies in einem durchinstitutionalisierten
wohlfahrtsstaatlichen System vorfindbar ist; denn Personen jeglicher Art (auch, wenn sie
inhaftiert sein sollten), werden in der Agency-Perspektive stets als „aktive Urheber von
Wandel“ (A. Sen) gesehen. Dies gelingt in dem Maße, wie sich Professionelle als
eingebetteter Teil eines mit den Akteuren gemeinsamen Entwicklungsprozesses bzw. eines
gemeinsamen Interaktionsgefüges verstehen. Ist eine solche Sichtweise evtl. eine attraktive
Option für Klinische Sozialarbeit, da sie sich in einem solchen Verständnis von klinisch in
Fall- und Feldbezug unverwechselbar in eine interprofessionelle Kooperation einbringen
kann?
Welche Themenfelder erscheinen nunmehr als relevant für Forschung und Praxis Klinischer
Sozialarbeit auf der Grundlage meiner Ausführungen, vor allem auch vom 13. Kinder – und
Jugendbericht ausgehend?
Sechs Themenbereiche möchte ich ansprechen, dabei zwei von eher grundsätzlicher Art:
a. Zuerst nenne ich als grundsätzliches Thema Im Hinblick auf eine disziplinäre
Selbstverständigung die Entwicklung eines expliziten Körperverständnisses. Im 13. Kinderund Jugendbericht finden sich vielfach Hinweise zum Körper, auch zu eher soziologischen
Körperdiskursen im Teil A des Berichts. Nicht zuletzt durch das gesundheitsbezogene
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Entwicklungsthema in der Lebensphase Jugend „den Körper spüren“ wird auch die praktische
Relevanz sichtbar Verweise auf den achtsamen Umgang mit dem eigenen wie dem Körper
des/ der anderen und verschiedene weitere Bezüge verstärken einen solchen Eindruck.
Ein Körper-/ Leibverständnis auf der Ebene der Disziplin zu entwickeln für die Klinische
Sozialarbeit als beratende und behandelnde Profession, ist nicht ganz einfach; denn Körper/
Leib/ Somatokultur/ Körperbewusstsein finden sich in einschlägigen Handbüchern der
Disziplin Soziale Arbeit nicht. Was mit dem Körper zusammenhängt, wird zumeist in die
Kategorie (Sozial-)Pflege gepackt, obwohl er doch im Alltag unübersehbar präsent zu sein
hat. Zum einen ist der Körper beeinträchtigenden Einschreibungen wie Kontrolle und auch
Gewalt ausgesetzt, zum anderen wird durch ihn als Medium im Sinne von Mitte eine aktive
Beziehung zur Ordnung von Welt (z. B. Szenezugehörigkeit, aber auch nur schlicht von
Wohlbefinden) hergestellt.
Grundsätzlich steht und fällt mit dem Wohl und Wehe des Körpers unsere Existenz. Deshalb
mein Plädoyer: Da sich über den Körper zu bewältigende Entwicklungsaufgaben geradezu
paradigmatisch vollziehen, hat eine sich biopsychosozial verstehende Klinische Sozialarbeit
ihn stets mitzudenken und ein explizites Verständnis von ihm zu schaffen.
b. Ein weiteres umfassendes Themenfeld ergibt sich im Kontext von Kooperation mit den
anderen sozialen Teilsystemen. Was bedeutet es eigentlich institutionell, wenn Ernst gemacht
wird mit dem Satz der Bundesregierung: Der junge Mensche muss Mittelpunkt der sozialen
Teilsysteme sein? Was hat sich zu ändern, wenn sie miteinander kooperieren? Welche
Aufgabe fällt der Klinischen Sozialarbeit dabei zu? Kann sie evtl. Moderatorin von
Kooperation sein?
c. Spezifizierbar ist der Satz aus der Stellungnahme der Bundesregierung am § 35 a SGB VIII.
Hier stellt sich die Frage, mit der sich vorrangig eine Klinische Sozialarbeit befassen und zu
einer schlüssigen Antwort kommen sollte: „Soll die Jugendhilfe Rehabilitationsträger
werden?“ (Wiesner 2001: 285). Denn, wie es in der Stellungnahme der Bundesregierung
richtig heißt (S.13), könnten Behinderungen bei Kindern und Jugendlichen „nur im Kontext
des familialen und sozialen Beziehungs- und Erziehungssystems betrachtet werden“.
Weitere wichtige auch schon einheimische Themen in der Klinischen Sozialarbeit sind:
d. Beratung und Unterstützung von Kindern und Jugendlichen, insbesondere die Geschwister
berücksichtigend, mit chronischen Erkrankungen und dabei die Notwendigkeit der
Entwicklung interinstitutioneller Kooperationen.
e. Kinder und Jugendliche chronisch und psychisch kranker Eltern und die Notwendigkeit
interinstitutioneller Kooperation.
15
f. Einen weiteren möglichen Schwerpunkt bildet schließlich
eine gesundheitsförderliche Erziehungshilfe:
Bislang wird sie kaum im Zusammenhang mit Gesundheitsförderung gesehen. Die zentrale
Frage für sie ist: Wie ist die Kooperation zwischen Erziehungshilfe und Jugendpsychiatrie zu
verbessern? Kann hier die Klinische Sozialarbeit im Sinne eines gemeinsamen Dritten einen
Beitrag leisten?
Nun bin ich fast am Ende meines Vortrages. Fast!
Liebe Frau Geissler- Piltz, dies sind nur einige wenige aufgelistete Themen, in denen sich die
Soziale Arbeit und insbesondere die Klinische Sozialarbeit in meiner Sicht konstruktiv mit
dem Ziel eines Profilgewinns einmischen kann.
Frei von irgendwelchen Imperativen und Verpflichtungen des Tun- Sollens oder gar TunMüssens beginnt eine wunderbare Zeit der Kür für Sie! Ich wünsche Ihnen für diese
Lebensphase, in der ich mich auch nun schon fast drei Jahre bewege, alles Gute und vor allem
Bleiben Sie gesund und im Sinne von Kür und Freiheit weiter so dabei, dass es für Sie in
jedem Fall gesundheitsbildend ist! Alles Gute für Sie und viele gute Verwirklichungschancen
dabei.
Literatur
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München.
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