12.14 Chordata (Chordatiere)

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12.14 Chordata (Chordatiere)
Die Chordaten sind durch mindestens drei charakteristische Merkmale – alles eindeutige Autapomorphien – gekennzeichnet:
● eine Chorda dorsalis (Notochord) als dauernde oder
nur embryonal-larvale Zentralstruktur des Achsenskeletts (ontogenetisch entwickelt sich das Chordamesoderm aus Material der dorsalen Urmundlippe),
● das dorsal über der Chorda gelegene ektodermale
Neuralrohr und
● ein von Kiemenspalten durchbrochener Vorderdarm
(Kiemendarm), der primär – so heute noch bei Tunicaten, Acraniern und den Larvenformen der Agnathen – als
Ernährungsapparat dem Einstrudeln von Nahrung dient
und erst bei den kiefertragenden Wirbeltieren, den
Gnathostomata, in den Funktionskreis der Atmung tritt.
Das phylogenetische System der Chordaten kann mit seinen ranghohen Taxa heute als weitgehend gesichert gelten (▶ Abb. 12.125). Über den evolutiven Ursprung der
Chordaten wird dagegen noch kontrovers diskutiert. Eine
Hypothese nimmt an, dass die Chordaten von sessilen
Nahrungsstrudlern vom Typ der Tentaculaten und Pterobranchier abstammen. Danach hätten die Tunicaten die
Tentakelkrone durch den Kiemendarm als Filtrierapparat
ersetzt. Dieser Hypothese kann man jedoch entgegenhalten, dass die sekundäre Entstehung frei lebender Formen
aus sessilen Formen ein evolutiv seltenes Ereignis bedeutet; denn die sessile Lebensweise hat meistens starke
Spezialisierungs- und Reduktionserscheinungen zur Folge. Wahrscheinlicher dürfte sein, dass nicht benthische,
sondern pelagische Formen am Anfang standen. Nimmt
man an, dass sich eine bilaterale Deuterostomier-Larve –
etwa vom Typ der Echinodermen-Dipleurula oder der
Enteropneusten-Tornaria – in die Länge streckte und
sich ihre Wimpernbänder zu Neuralrohr und Endostyl
einsenkten und modifizierten, erhält man eine Protochordaten-Larve. Aus dieser Schwimmlarve könnte
ein Protochordat durch Progenesis (Gametenbildung
schon im Larvenstadium) entstanden sein. Die Fortbewegung mit Cilien wäre durch den Einsatz von Chorda und
Muskulatur ersetzt worden, und der Kiemendarm hätte
sich bereits in der Larvalphase angelegt.
Tunicata
Acrania
„Agnatha“
Chondrichthyes
Actinopterygii
Actinistia
Dipnoi
Gnathostomata
Amphibia
Craniota
= Vertebrata
Sarcopterygii
Sauropsida
Tetrapoda
(inkl. Aves)
12
Amniota
Mammalia
Abb. 12.125 Großgliederung der Chordata. Die meistens mit bezahnten Beißkiefern ausgestatteten Gnathostomata (Kiefermäuler;
erste Fossilbelege aus dem Silur, vor 430 Mio. Jahren) konnten sich innerhalb der Cranioten ganz neue Nahrungsnischen erschließen;
denn die fossil zuvor reich vertretenen kieferlosen Cranioten waren wie die Tunicata und Acrania noch reine Filtrierer. Die heutigen
(wenigen) „Agnatha“ bilden ein paraphyletisches Restensemble dieser Fauna. Einen weiteren entscheidenden Evolutionsschritt bedeutete der Erwerb muskulöser und mit einem besonderen Endoskelett ausgestatteter paariger Flossen bei den Sarcopterygii
(Fleischflosser; erste Fossilbelege schon aus dem oberen Silur, vor 415 Mio. Jahren). Zu ihnen zählen heute neben fischartigen
Vertretern – den auf die Südhalbkugel beschränkten Reliktgruppen der Dipnoi (Lungenfische) und Actinistia (mit der einzigen Gattung
Latimeria) – die Tetrapoda. Den Tetrapoden gelang der erfolgreiche Übergang zum Landleben. Allerdings haben sich erst die Amniota
durch die Ausbildung spezieller Embryonalhüllen, vor allem der Amnionhöhle, auch in ihren frühen Entwicklungsstadien vollständig
vom Wasser als Lebensraum gelöst. Mit ihren fossilen Vertretern reichen sie bis ins Unterkarbon (vor 340 Mio. Jahren) zurück. Ihre
beiden Hauptlinien – die Sauropsida (→ Reptilien und Vögel, ▶ Abb. 12.162 auf S. 686) und Synapsida (→ Säugetiere, ▶ Abb. 12.172
auf S. 694) – haben sich spätestens im Oberkarbon getrennt. Vgl. auch Kladogramm in Plus 12.4 (S. 667).
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12.14 Chordata (Chordatiere)
12 Vielfalt der Organismen
a
12.14.1 Tunicata (= Urochordata,
Manteltiere)
c
Formenübersicht
Ascidiacea (Seescheiden, ▶ Abb. 12.126), frei schwimmende Larven und sessile Adultformen: Ciona, solitär;
Botryllus, stockbildend.
Thaliacea (Salpen), tönnchenförmig, frei schwimmend,
Fortpflanzung mit Generationswechsel (Metagenese):
Salpa; Doliolum; Pyrosoma (Feuerwalze), koloniebildend.
Appendicularia (= Larvacea), klein, pelagische Strudler:
Oikopleura, baut ein komplexes gallertiges Schwimmgehäuse mit Filtergitter, in dessen Zentrum das Tier mit
Schwanzschlag eine gerichtete Wasserströmung erzeugt.
Larve
Statocyste
Gehirn
Mund
Ausströmöffnung
Auge
Neuralrohr
Cuticularmantel
Haftpapillen
Chorda
Kiemendarm
Herz
Peribranchialraum
b
Adultform
Mund
Ausströmöffnung
Ganglion
Ausströmöffnung
Kiemendarm
Kloakalraum
Cuticularmantel
Ovarium
Hoden
Kiemenspalte
Nervenstrang
Cuticularmantel
Peribranchialraum
Kiemenspalte
Kiemendarm
Herz
Entodermschlauch
Hypobranchialrinne
Querschnitt
Abb. 12.126 Organisationsschema der Ascidien: Larve (a) und Adultform (b). Bei der Adultform (Querschnitt auf Höhe der roten
Pfeile) ist an einem basalen Ausläufer (Stolo) eine Tochterascidie durch Knospung entstanden. Ein Entodermschlauch tritt in den Stolo
ein und liefert das Entoderm der Knospe. Die Strömungsrichtung des Meerwassers ist durch schwarze Pfeile markiert.
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Von entwicklungsbiologischer Seite sei schließlich darauf hingewiesen, dass der Komplex der homeotischen
Hox-Gene, der an der anterior-posterioren Gliederung
der Körperlängsachse beteiligt ist (S. 191), schon in der
Frühphase der Deuterostomier und dann vor allem bei
den Chordaten expandierte und bei den Vertebraten
sogar zu einer Tetraploidisierung führte: Vertebraten besitzen (mindestens) vier getrennte, d. h. auf verschiedenen Chromosomen lokalisierte Kopien des gesamten
Hox-Komplexes.
Fossil bilden die seit dem Kambrium bekannten Conodonta eine frühe Chordatengruppe. Frei im Wasser
schwimmend, besaßen die lang gestreckten, zentimetergroßen Tiere Chorda und Myomere sowie am Vorderende
zwei große Augen. Mit ihren mineralisierten, zähnchenförmigen Conodonten-Elementen wurden sie stratigrafisch bedeutsam, lange bevor man anhand von Weichteilabdrücken ihre Körpergestalt erkannte. Auch eine Branchiostoma-ähnliche Form (Pikaia) ist aus den Burgess
Shales (S. 514) beschrieben worden.
12.14 Chordata (Chordatiere)
häufig an Küsten europäischer Meere (z. B. AmphioxusSand bei Helgoland). Epigonichthyes (= Asymmetron),
Gonaden nur an der rechten Körperseite, asymmetrische
Mundbucht; z. B. an Küsten Südaustraliens und Neuseelands.
Die eindrückliche Schilderung, mit der Brehm das Lanzettfischchen Branchiostoma, damals noch Amphioxus genannt, den Lesern seines „Tierlebens“ vorstellte (Box
12.3), kann in mancher Hinsicht auch heute noch als gültig gelten. Zwar lässt sich Branchiostoma (▶ Abb. 12.127)
in vielen Merkmalen als Modellfall eines ursprünglichen
Chordaten betrachten, doch hat seine Lebensweise als
halbsessiler Strudler im flachen Sand der Meeresküsten
Box 12.3
Alfred Brehm (1868) über Amphioxus
„In den flachen Gewässern unserer Küste lebt ein kleines, fischähnliches Geschöpf von wenigen Zentimetern
Länge und weißlicher Farbe. Fast stets hält es sich im
Sande vergraben, so daß nur das spitze Kopfende herausragt; nur des nachts oder wenn es aufgejagt wird,
kommt es zum Vorschein und bewegt sich mit lebhaften, eleganten Schlangenwindungen des ganzen Körpers durchs Wasser. Ein Schauer der Ehrfurcht müsste
den Beobachter, dem unsere Vorstellungen über die
Entwicklung der Tierreihe nicht bloße Worte sind, beim
Anblick dieses unscheinbaren Tierchens erfüllen. Gilt es
doch als der Urahn unseres Stammes, als ältestes Tier,
von dem wir mit einiger Sicherheit die Reihe der Wirbeltiere ableiten können, als deren höchste Blüte wir
Menschen uns zu betrachten gewohnt sind. Natürlich
sind solche Ausdrücke mit der nötigen Vorsicht zu gebrauchen; es ist nicht gesagt, ja nicht einmal wahrscheinlich, daß der älteste Vorfahre der Wirbeltiere
genau so ausgesehen hat wie der heute lebende Amphioxus, der auch wieder eine Anpassung an ganz bestimmte Lebensverhältnisse darstellt, aber in den
Grundzügen der Organisation hat jedenfalls Übereinstimmung bestanden.“
12
12.14.2 Acrania
(= Cephalochordata, Schädellose)
Formenübersicht
c
Als Lanzettfischchen mit 2 Gattungen und knapp 30
Arten in allen Meeren der warmen und gemäßigten
Zonen vertreten. Branchiostoma (= Amphioxus;
▶ Abb. 12.127), bis 6 cm lang, mit ca. 60 Myomeren,
180 Kiemenspalten und 30 – 40 paarigen Gonaden;
Abb. 12.127 Lanzettfischchen, Branchiostoma lanceolatum,
vorderer Körperabschnitt. Deutlich zu erkennen sind die Cirren, die den Eingang der Mundhöhle umstellen, der gekammerte dorsale Flossensaum und – wenn auch schwächer sichtbar – die Anordnung der Muskelsegmente. (Foto: P. Ax, Göttingen)
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Dass die rein marinen Tunicaten – allesamt Filtrierer und
damit Suspensionsfresser – zu den Chordaten zählen,
zeigt sich vor allem in der Organisation der Larven,
deren Ruderschwanz von einer Chorda und einem Neuralrohr
durchzogen
wird
(Name:
Urochordata;
▶ Abb. 12.126 a). Lediglich bei den pelagischen Appendicularien gilt das auch für die Adultform. Offenbar haben
sich die Vertreter dieser Tunicatengruppe durch Progenesis aus den Larven von Salpen entwickelt.
Ihren Namen verdanken die Tunicaten ihrem Cuticularmantel, der von der einschichtigen Epidermis abgeschieden wird und – einmalig im Tierreich – aus einem
celluloseähnlichen Kohlenhydrat (Tunicin) besteht. Außerordentlich stark ist der zum Kiemendarm modifizierte Vorderdarm entwickelt (▶ Abb. 12.126 b). Bei Ascidien
kann er von über 1000 Kiemenspalten durchbrochen
sein. Aus dem von der Mundöffnung durch Cilienschlag
eingestrudelten Atemwasser werden an den Reusen des
Kiemenkorbs die mittransportierten Nahrungspartikel
abgefiltert und dem anschließenden Verdauungsteil des
Darms zugeführt. Am Grund des Kiemendarms liegt die
schleimproduzierende Hypobranchialrinne (Endostyl),
die sich mit der Schilddrüse der Wirbeltiere homologisieren lässt und deren Zellen bereits befähigt sind, das Jod
des Meerwassers anzureichern und in Thyroxinmoleküle
(S. 302) einzubauen. Wie bei Branchiostoma öffnen sich
die Kiemenspalten in einen Peribranchialraum, der dorsal
zu einem Kloakenraum ausgeweitet ist und in den auch
Enddarm und Geschlechtswege (Gonodukte) münden.
Dorsal des Kiemendarms findet man bei adulten Tieren
als Rest des zentralen Nervensystems nur ein einziges
Ganglion. Ein Coelom lässt sich nur noch im Pericard
nachweisen. Nephridien fehlen; die Exkretion erfolgt
über die Darmoberfläche oder über Speicherzellen. Das
Blutgefäßsystem ist offen (lakunär). Ein Herz, dessen
Schlagrichtung rhythmisch alterniert, treibt das Blut abwechselnd in den Kiemendarm und in die Eingeweide.
Fast alle Tunicaten sind Zwitter (Hermaphroditen).
Auffällig ist bei den Thaliaceen der markante – schon
vom Dichter Adalbert von Chamisso aufgeklärte – Generationswechsel (Metagenese): Die oft kettenförmig zu
Tierstöcken verbundenen Blastozooide bilden Gonaden.
Die befruchteten Eier entwickeln sich zu Oozooiden, aus
denen vegetativ durch Knospung wieder Blastozooide
hervorgehen.
12 Vielfalt der Organismen
Flossensaum, Sementierung der Muskulatur, Lage der Gonaden
Abb. 12.128 Branchiostoma lanceolatum,
Seitenansichten. Die beiden roten Pfeilpaare im mittleren Bild markieren die Querschnittsebenen von ▶ Abb. 12.129. Beim
Blutgefäßsystem ist Oxy-Blut hellrot, Desoxy-Blut dunkelrot angelegt. Die schwarzen
Pfeile bezeichnen die Blutströmungsrichtung. Bei der Kiemenarterie (Arteria ventralis) handelt es sich definitorisch um eine
Vene (Box 4.3, S. 275), die allerdings in Anlehnung an den Fischkreislauf stets als „Arterie“ bezeichnet wird.
Flossensaum
Flossensaum
Mundcirren
Seitenfalten
After
Gonade
Nerven-, Stütz- und Verdauungssystem
Mundhöhle
Neuralrohr
Kiemendarm
Mitteldarmdrüse (Leber)
Enddarm
Atrioporus
After
Peribranchialraum
Blutgefäßsystem
Aortenwurzeln
Bulbilli
Arteria
ventralis
Sinus
venosus
Aorta
Darmkapillaren
Vena subintestinalis
Leberpfortadersystem
Vena hepatica
zu derart vielen Organreduktionen und Spezialisierungen
geführt, dass sich engere phylogenetische Beziehungen
zu anderen Chordatengruppen nicht rekonstruieren lassen.
Als axiales Stützelement reicht die Chorda bis zur vorderen Körperspitze (Name: Cephalochordata). An ihr inserieren über Bindegewebssepten (Myosepten) die segmental angeordneten Muskelsegmente (Myomeren,
▶ Abb. 12.128), die auf der linken und rechten Körperseite um jeweils eine halbe Segmentlänge gegeneinander
versetzt sind. Diese Asymmetrie wird vom Nervensystem
insofern wiederholt, als die dorsalen (sensorischen) Nervenwurzeln beidseits nicht in einer Ebene liegen. Spinalganglien fehlen. Bei den ventralen „Wurzeln“ handelt es
sich um Muskelzellfortsätze, die wie bei den Nematoden
(▶ Abb. 12.116, S. 641) die Erregung direkt von den Nervenzellen abgreifen. Einfache Pigmentbecherocellen aus
654
je einer Photorezeptor- und einer Pigmentzelle finden
sich in riesiger Zahl (> 1000) längs des Neuralrohrs.
Doch fehlen komplexe Sinnesorgane wie Linsenaugen
oder Statorezeptoren.
Zu den Synapomorphien, die die Acrania mit den Cranioten gemeinsam haben, zählt neben der ausgedehnten
Chorda, der metamer gegliederten Muskulatur und dem
Neuralrohr mit seinen Spinalnerven auch die Struktur
des Blutgefäßsystems (▶ Abb. 12.128) mit einem Sinus
venosus als Eingangspforte aller aus dem Körper rückführenden venösen Gefäße. Ein Herz fehlt, doch wirken
Gruppen differenzierter Muskelzellen als pulsierende Regionen (Kiemenherzen = Bulbilli). Die Blut-„Gefäße“
selbst verlaufen ohne Endothelauskleidung in Räumen
der primären Leibeshöhle. Man sollte daher besser von
Blutbahnen sprechen.
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Chorda
Mitteldarm
D Craniota: Evolution der Organsysteme
Kiemendarmregion
Neuralrohr
Mitteldarmregion
dorsaler
(sensorischer)
Rückenmarksnerv
Flossensaum
Neuralrohr
Aortenwurzel
Epibranchialrinne
Chorda
Coelom
Exkretionskanälchen
Kiemenspalte
Kiemendarm
Ovarium
Hypobranchialrinne
Arteria ventralis
(Kiemenarterie)
Peribranchialraum
Chorda
Aorta
Mitteldarm
Coelom
Vena subintestinalis
(Darmvene)
Peribranchialraum
Seitenfalte
Abb. 12.129 Branchiostoma lanceolatum, Querschnitte (auf Höhe der roten Pfeilpaare in ▶ Abb. 12.128).
In Anpassung an die Lebensweisen eines mikrophagen
Nahrungsstrudlers ist der Kiemendarm (▶ Abb. 12.129)
zu einem mächtigen Filtrierapparat ausgestaltet. Durch Cilienschlag wird der von der Hypobranchialrinne (Endostyl) produzierte Schleim über die Kiemenbögen verteilt
und dann mit den dort abgefilterten Nahrungspartikeln
von der ebenfalls bewimperten dorsalen Epibranchialrinne in den Mitteldarm transportiert. Nach Passage der Kiemenspalten gelangt das Wasser über den Peribranchialraum und den Atrioporus wieder nach außen. Vom Mitteldarm zweigt ein Leberblindsack ab, der nach vorn in den
Peribranchialraum zieht. Er bildet Verdauungsenzyme und
speichert Fett und Glykogen. Völlig anders als bei Wirbeltieren ist das Exkretionssystem gestaltet. Spezielle Zellen
im Coelothel des unter der Chorda gelegenen Coeloms
(Reusengeißelzellen = Cyrtopodocyten) dienen der Druckfiltration. Das Filtrat wird über Exkretionskanälchen in
den Peribranchialraum geführt. Auch für die Gonaden,
die segmental in der Außenwand des Peribranchialraums
liegen, fehlt bei Vertebraten jede Vergleichsmöglichkeit.
Eier und Spermien werden bei den getrenntgeschlechtlichen Acraniern durch den Peribranchialraum und den
Atrioporus nach außen abgegeben.
D Craniota: Evolution der
Organsysteme
Bei der Evolution der Schädeltiere (Wirbeltiere, Plus 12.4
auf S. 667) zu aktiven Schwimmern spielten die Kopfbildung und der Ersatz der Chorda durch die Wirbelsäule
die entscheidende Rolle. Zur Kopfbildung (Cephalisation,
S. 590) kam es durch die Konzentration von Sinnesorganen, neuronalen Zentren und Mundwerkzeugen am Bewegungsvorderpol des Tieres. Das Axialskelett mit Knorpel und Knochen als Stützmaterialien und dem myomer
segmentierten Muskelsystem ermöglichte wirkungsvolle,
schnelle Schwimmbewegungen und erweiterte damit das
Beutespektrum und den ökologischen Aktionsraum der
Cranioten.
Dieser Erweiterung des Aktionsraums läuft die für Cranioten typische Zunahme der Körpergröße parallel. Mit
dem bis zu 190 t schweren und bis zu 30 m langen Blauwal (Balaenoptera musculus) stellen sie das größte Lebewesen aller Zeiten; und auch an Land sind alle Giganten
Cranioten: fossil z. B. die Sauropoden mit Brachiosaurus
brancai (25 m lang und schätzungsweise 60 t schwer)
und rezent die Säugetiere mit den Elefanten (Loxodonta
africana, 7 t). Dass physiologische Prozesse mit zunehmender Körpergröße – auf die Gewichtseinheit bezogen
– energiesparender betrieben werden können (S. 248, s.
auch Plus 8.2 auf S. 396), mag den evolutiven Trend zu
größeren Formen begünstigt haben. Doch absolut gesehen, erfordert die Zunahme der Körpergröße und die
Steigerung der Aktivität entsprechende Anpassungen im
12
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Myomer
12 Vielfalt der Organismen
▶ Integument
Das Integument grenzt den Organismus gegen die Außenwelt ab, setzt ihn andererseits aber auch mit ihr in
Beziehung. Die Abgrenzungsfunktion äußert sich vor
allem im Schutz vor mechanischer Verletzung (Schuppen,
Hautpanzer), kurzwelliger Strahlung (Pigmenteinlagerungen) und Infektionen. Amphibien sind mit ihrem nur
schwach verhornten Integument auf toxische Hautdrüsensekrete gegen infektiöse Mikroorganismen angewiesen. Ohne diesen ständigen Sekretschutz werden sie in
kurzer Zeit Opfer von Infektionen.
Eine wesentliche Rolle spielt das Integument auch bei
Thermoregulation (Federn, Haare, Schweißdrüsen), Osmoregulation (Ionentransportmechanismen, v. a. bei
Anamniern) und Respiration (bei einigen luftatmenden
Teleostiern, z. B. beim Schlammspringer Periophthalmus,
bei Amphibien und lungenlosen Salamandern; S. 275).
Freie Nervenendigungen (Tast-, Schmerz-, Temperaturrezeptoren) und spezialisierte Sinnesorgane (v. a. bei Fischen: Seitenliniensystem, Geschmacksknospen) machen
die Haut zu einer ausgedehnten Rezeptorfläche. Geschmacksknospen sind bei Landwirbeltieren auf Mundund Rachenhöhle beschränkt, können aber bei Fischen
über die ganze Rumpfhaut verteilt sein. Schließlich
dient das Integument auch als Signalgeber (optische
Muster, Pheromonsignale) und tritt damit in den Dienst
der intra- und interspezifischen Kommunikation.
Körnerdrüse
Leydig-Zelle
Basallamina
Chromatophore
Tab. 12.2 Aufbau der Haut bei Wirbeltieren.
Integument
Cutis (Haut)
Dermis = Corium (Lederhaut)
Subcutis (Unterhaut)
▶ Grundplan. Die äußere Begrenzung des Integuments
bildet die Epidermis. Nur bei Branchiostoma ist sie – wie
bei allen Invertebraten – einschichtig, sonst stets mehrschichtig ausgebildet. An ihrer Basis bleibt zeitlebens ein
proliferierendes Blastem erhalten (Stratum germinativum = Keimschicht), das alle äußeren Zellschichten liefert. Bei den Landwirbeltieren verhornen die äußeren
Zellen, d. h. bilden das Strukturprotein Keratin (S. 31)
und sterben ab (Stratum corneum = Hornschicht). Sie
werden kontinuierlich oder periodisch (Häutung, Mauser) abgestoßen. Unter der Epidermis liegt das dickere,
bindegewebige Corium (▶ Tab. 12.2; ▶ Abb. 12.130):
▶ Differenzierung des Stratum corneum. Bei Amphibien noch sehr dünn, ist die Hornschicht bei Reptilien
mächtig entwickelt (Schuppen und Schilder). Generell
bildet sie bei Landwirbeltieren Krallen, Nägel, Hautschwielen, Papillarmuster (Fingerabdrücke!), Hufe, Hörner, Hornscheiden von Schnäbeln und bei Homoiothermen Federn und Haare.
Federn,
die
komplexesten
Keratinstrukturen
(▶ Abb. 12.131), sind evolutiv – so die traditionelle Auffassung – aus verlängerten Reptilienschuppen hervorgegangen. Doch heute wird diskutiert, ob es sich nicht
auch um ganz neue Hautgebilde (Epidermisröhren mit
Coriumpapille) handeln könnte. Ontogenetisch treibt zunächst eine starke Coriumpapille die Epidermis nach
außen vor; dann versenkt sich die Anlage als Federfollikel
in die Tiefe des Coriums. In Form der Pulpa ragt das Corium auch weiterhin in den epidermalen Federteil hinein,
wo es – gewissermaßen als Passform – in periodischen
Abständen Bindegewebssepten gegen die Epidermis vor-
Schleimdrüse
Stratum corneum
Epidermis
Stratum
germinativum
Stratum
spongiosum
Corium
Stratum
compactum
Blutgefäß
656
Epidermis (Oberhaut)
Subcutis
Abb. 12.130 Haut der Amphibien (nach Adam; Stark).
Die Leydig-Drüsenzellen treten vor der Metamorphose,
die Körner- und Schleimdrüsen nach der Metamorphose
auf.
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Ernährungs- und Verdauungs-, Atmungs- und Kreislaufsystem (z. B. ein geschlossenes Herz-Kreislauf-System mit
dichten Kapillarnetzen und hohen Druckverhältnissen im
Körper).
Bevor wir diese Anpassungen in den einzelnen Organsystemen näher besprechen, seien noch kurz zwei Daten
aus dem zellulären und molekularen Bereich genannt.
Cranioten besitzen über 200 verschieden differenzierte
Zelltypen – die höchste Zahl im Tierreich – und im
Genom die höchste Zahl an Hox-Genkomplexen (S. 652),
jenen regulatorischen Genen, die an frühontogenetischen
Entwicklungsprozessen beteiligt sind.
D Craniota: Evolution der Organsysteme
a
b
Federfahne
Federfahne
Hornscheide
Federkiel
(Scapus)
Federast (Ramus)
Federschaft
(Rhachis)
Federschaft (Rhachis)
dunenartige Federäste
Nabel der Federspule
ventrales dorsales
Dreieck Dreieck
der Federanlage
d
c
Federast
Bogenstrahl
Hakenstrahl
Bogenstrahl
Hakenstrahl
Federast
Abb. 12.131 Vogelfeder (nach Ewing; Portmann; Sick; Bergmann).
a Federentwicklung. Blick von ventral in die teilweise aufgeschnittene Federanlage. Die Pulpa ist weggelassen, um die Anlage von
Federschaft und Federästen zu zeigen. Distal entfaltet sich die Federfahne. Der rote Pfeil markiert den Eintritt der Blutgefäße in die
Pulpa. b Federstruktur. c Feinstruktur der Federfahne. d Drei Federäste mit Bogen- und Hakenstrahlen.
treibt und auf diese Weise innerhalb der Epidermisröhre
die späteren Federäste (Rami) gegeneinander abgrenzt.
Von diesen Primärsepten entspringen Sekundärsepten,
die zur Abgliederung der Federstrahlen (Radii) führen.
Die verhornte (aus β-Keratin bestehende) Epidermisröhre
springt schließlich ventral auf und entfaltet die Federfahne mit den Ästen und Radien.
Unter den Federtypen besitzen die Konturfedern (Flügel-Schwungfedern und Schwanz-Steuerfedern) eine geschlossene Federfahne, die den Daunenfedern (Dunen)
fehlt. Meistens sind die Konturfedern asymmetrisch mit
schmaler Außen- und breiter sowie weicher Innenfahne
gestaltet. Die vom Federschaft (Rhachis) ausstrahlenden
Federäste (Rami, Sing. Ramus) tragen beiderseits Federstrahlen (Radii, Sing. Radius), die als Bogen- oder Hakenstrahlen ausgebildet sind. Letztere greifen mit feinen
Häkchen (Hamuli) in die Flur der Bogenstrahlen ein. An
den Federfarben sind sowohl Pigmente (vor allem Mela-
nine, aber auch Carotinoide und Porphyrine) als auch
physikalische Strukturfarbeneffekte beteiligt. Letztere,
die besonders für die schillernden Blau- und Grüntöne
einzelner Gefiederpartien verantwortlich zeichnen, können auch mit Pigmentfarben zusammenwirken (vgl. z. B.
▶ Abb. 8.15 auf S. 404 für Farbeffekte der Amphibienhaut) und auf diese Weise eine breite Palette feinster
Farbabstufungen erzeugen. Jüngst zeigte sich, dass im
Gefieder vieler Singvögel auch Ultraviolett-reflektierende
Bereiche auftreten und beim Paarungsverhalten als Signalgeber wirken. In der Tat verfügen die meisten der
bisher untersuchten Vogelarten über UV-Rezeptoren.
Damit dürfte die uns bislang verschlossene UV-Sehwelt
der Vögel noch manche Überraschung bereithalten.
Im Gegensatz zu Federn sind Haare (▶ Abb. 12.132 a)
unverzweigte epidermale Hornfäden. Ihre Grundsubstanz wird von α-Keratin gebildet. Mit Reptilienschuppen
und Vogelfedern lassen sie sich nicht homologisieren.
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Federspule
(Calamus)
Epidermis
Corium
12 Vielfalt der Organismen
a
b
Mark
Haarschaft
c
Haarschaft
Rinde
Epidermicula
Epidermis
Epidermis
Epidermis
Corium
Haarbalg Musculus
arrector pili
innere
Wurzelscheide
äußere
Wurzelscheide
Mark
Rinde
Epidermicula
holokrine
Haarbalgdrüse
(Talgdrüse)
apokrine
Haarbalgdrüse
ekkrine
Drüse
(Schweißdrüse)
Haarbalg
Coriumpapille
Blutgefäß
Abb. 12.132 Haare und Hautdrüsen der Säugetiere (nach Bütschli; Montagna; Portmann; Ziswiler).
a Längsschnitt durch ein Haar. b Haarbalg mit Haarwurzel und Haarbalgdrüsen. c Schweißdrüse. Die nur bei Säugern auftretenden
Talgdrüsen halten mit ihrem öligen Sekret die Haare geschmeidig. Die Veränderung der Haarstellung (mithilfe des Musculus arrector
pili) ist wie die neuronal kontrollierte H2O-Abgabe durch die Schweißdrüsen und die Kontraktion und Dilatation der Blutgefäße im
Corium an der Thermoregulation beteiligt.
Während der Entwicklung bleibt die dermale Pulpa auf
die in das Corium versenkte Haaranlage beschränkt,
wächst also im Unterschied zur Feder nicht mit dem
Haarschaft aus. Nur an dem die Haarpapille überziehenden Stratum basale vollzieht sich das Haarwachstum. Das
ausdifferenzierte Haar ist aufgrund unterschiedlich gestalteter, verhornter Zellen in Oberhäutchen (Epidermicula), Rinde und Mark gegliedert. Letzteres enthält luftgefüllte Hohlräume, die bei fehlender Pigmentproduktion
die Weißfärbung des Haares bedingen. Am Haarbalg, der
aus der bindegewebigen Hülle und den epidermalen
Wurzelscheiden der Haarwurzel besteht, setzen glatte
Muskeln an. In den Haarbalg münden Haarbalgdrüsen
(▶ Abb. 12.132 b).
▶ Hautdrüsen. Hautdrüsen sind stets epidermale Gebilde, werden jedoch oft tief in das Corium versenkt. Bei
Fischen und Amphibien-Larven liefert das Stratum germinativum nur einzellige Drüsen, die als Leydig-Zellen
zwischen
den
übrigen
Epidermiszellen
liegen
(▶ Abb. 12.130). Während der Metamorphose zur Amphibien-Imago werden sie durch vielzellige Drüsen ersetzt: durch holokrine Körnerdrüsen (Giftdrüsen) und
merokrine Schleimdrüsen (▶ Tab. 12.3, ▶ Abb. 12.130).
Die Haut der Reptilien und Vögel ist dagegen drüsenarm.
Vögel besitzen lediglich eine paarige Bürzeldrüse (Uropygialdrüse; ▶ Abb. 12.165, S. 688), deren holokrin sezerniertes öliges Sekret das Federkeratin geschmeidig hält
(aber nicht – wie vielfach behauptet – die wasserabsto-
658
Tab. 12.3 Sekretionstypen der Hautdrüsen von Wirbeltieren.
Sekretionstyp
Mechanismus
holokrin
Umwandlung des gesamten Zellinhalts zu
Sekret; Zelle zerfällt bei Sekretbildung
merokrin
Ausschleusung des Sekrets aus der Zelle; Zelle
bleibt erhalten
●
apokrin
Ausschleusung großer Sekrettropfen (konzentrierte, proteinhaltige Sekrete)
●
ekkrin
Ausschleusung kleiner, lichtmikroskopisch kaum
sichtbarer Sekrettropfen (wässrige Sekrete)
ßenden Eigenschaften der Vogelfeder bedingt; Keratin
selbst ist bereits wasserabstoßend). Die Bürzeldrüse erfüllt damit eine ähnliche Funktion wie die Haarbalgdrüsen der Säugetiere. Das Sekret der Bürzeldrüse wird mit
dem Schnabel auf die Federn übertragen. Analoge Verhältnisse wie bei Säugetieren, d. h. individuelle „Federbalgdrüsen“, verbieten sich bei Vögeln insofern, als das
Sekret solcher Drüsen das hautnahe Daunengefieder verschmieren würde.
Außerordentlichen Drüsenreichtum zeigt die Haut der
Säugetiere: Zu den Haarbalgdrüsen (▶ Abb. 12.132 b)
zählen einerseits die holokrinen Talgdrüsen, die dem Einfetten der Haare dienen, aber auch an der Bildung von
Pheromonen beteiligt sind, andererseits verschiedene
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holokrine
Haarbalgdrüse
(Talgdrüse)
apokrine Drüsen (mit aufgeknäuelten Drüsenschläuchen). Von letzteren leiten sich phylogenetisch die apokrinen Milchdrüsen ab. Bei den Monotremen münden
die paarigen Milchdrüsen in ein flach-vertieftes Milchfeld, die Areola, wo das Sekret vom „Säugling“ aufgeleckt
wird. Die übrigen Säuger besitzen Milchdrüsen mit Zitzen. Ontogenetisch wird zunächst eine von der Achsel zur
Leistenregion ziehende paarige Milchleiste angelegt. Bei
den Placentaliern kommt es dann je nach Ordnung in
verschiedenen Regionen dieser Anlage zur Ausdifferenzierung von Drüsenpaaren: brustständigen bei Fledermäusen und Primaten, achselständigen bei Seekühen,
rumpfständigen bei Raubtieren und leistenständigen bei
vielen Huftieren.
Die ekkrinen Schweißdrüsen (v. a. bei Primaten;
▶ Abb. 12.132 c) stehen nie mit Haaren in Zusammenhang. Ihr wässriges Sekret (Schweiß) ist äußerst stoffarm
und dient vor allem der Thermoregulation (durch Evaporation von Wasser, S. 465).
▶ Verknöcherungen des Coriums. Viele ancestrale Wirbeltiere wie Ostracodermen und Placodermen (Plus 12.4)
trugen mächtige dermale Hautknochenpanzer. Auch die
Ahnen der Knorpelfische besaßen solche Knochenschilde,
a
von denen bei den heutigen Haien und Rochen nur noch
die Placoidschuppen (▶ Abb. 12.133) als Restbildung
zeugen. Ihrem Bau nach stimmen diese „Hautzähne“
weitgehend mit den Kieferzähnen aller Wirbeltiere überein: Ein von Odontoblasten gebildeter Dentinkegel wird
außen von einer Schmelzschicht (Schmelzkappe) umhüllt, die hier aus knochenähnlichem Vitrodentin besteht. Bei den Ganoidschuppen archaischer Knochenfische (Chondrostier und Holostier) trägt das Dentin
einen mehrschichtigen Überzug aus schmelzähnlichem
Ganoin. Die Elasmoidschuppen (Cycloid- und Ctenoidschuppen, S. 682) der Teleostier bestehen dagegen nur
aus je einem dermalen Knochenplättchen ohne jegliche
Schmelzauflagerung. Sie werden stets von der Epidermis
bedeckt.
Deutlich verschieden von diesen Schuppen der Actinopterygier sind jene der frühen Sarcopterygier-Fische.
Als Cosmoidschuppen sitzen sie unmittelbar auf einer
spongiös ausgebildeten Knochenschicht. Das von einem
Porenkanalsystem durchsetzte Cosmin besteht aus
einem Dentinkern, der von einer – im Gegensatz zu den
Ganoidschuppen – einschichtigen Schmelzlage überdeckt
ist. Die Odontoblasten ragen mit ihren Fortsätzen in das
Kanalsystem hinein.
Dentin
Odontoblasten
Schmelzkappe (Vitrodentin)
Coriumpapille
Stratum germinativum
Epidermis
Stratum
germinativum
Corium
Blutgefäß
Abb. 12.133 Entwicklung der Placoidschuppen beim Dornhai (Squalus acanthias) (nach Klaatsch, Rietschel; Jollie).
a Frühes Stadium: Eine Coriumpapille
wächst gegen die Epidermis vor. Die obersten Zellen der Papille ordnen sich epithelartig an (rot) und bilden als Odontoblasten
das Dentin. Die basalen Epidermiszellen des
Stratum germinativum über der Coriumpapille werden hochprismatisch und bilden als
Schmelzorgan (gelbgrün) die Schmelzkappe
(blau).
b Fertig ausgebildete Placoidschuppe.
12
b
Schmelzkappe (Vitrodentin)
Dentin
Pulpa
Epidermis
Stratum
germinativum
Corium
Basalkanal
Halskanal
Basalplatte
659
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D Craniota: Evolution der Organsysteme
12 Vielfalt der Organismen
Zahnleiste
i1
i2
i3
c
p1
p2
p3
p4
I1 I2
b
c
I3
Epidermis
Schmelz
C
P1
P2
Schmelzorgan
Adamantoblasten
Schmelz
Zahnleiste
P3
P4
M1
M2
M3
Dentin
Schmelzorgan
Krone
Dentin
Pulpa
Zement
Wurzel
Pu
Pulpa
OdontoOd
blasten
Blutgefäß
ErsatzMilchzahnzahnanlage
anlage
Abb. 12.134 Säugetierzähne (nach Fleischmann; Kühn; Lison).
a Zahnleiste in der Unterkieferhälfte eines Säugerembryos, von unten gesehen. Neben den Milchgebiss-Zahnanlagen von Incisiven
(I1–I3) Caninus (C) und Praemolaren (P1–P4) sind die entsprechenden Ersatzzahnanlagen i1–i3, c und p1–p4 (rot) zu sehen. Die Molaren
(M1–M3) werden nur einmal angelegt.
b Querschnitt durch die Zahnleiste eines Säugerembryos mit einer Milchzahn- und der entsprechenden Ersatzzahnanlage. Die
Schnittebene ist in (a) durch die blaue Punktlinie markiert. Die Adamantoblasten bilden die innere Zelllage des Schmelzorgans.
Odontoblasten rot.
c Fertig ausgebildeter Schneidezahn (Incisivus).
Zähne sind dermale Hartgebilde, die bei Gnathostomen
im Bereich des Stomodaeums auftreten. Ihre Festigkeit
verdanken sie den besonderen mechanischen Eigenschaften ihrer interzellulären Matrix, dem knochenähnlichen
Dentin (Zahnbein), das von einem noch härteren
Schmelz überzogen wird (▶ Abb. 12.134 b und c). Ontogenetisch bilden sie sich an der Epidermisunterseite in
einer Zahnleiste (▶ Abb. 12.134 a), einer Einfaltung des
Mundhöhlenepithels, die parallel zum Kieferrand verläuft. Dabei scheiden die um die Pulpa angeordneten
Odontoblasten (Neuralleistenderivate) nach außen das
Dentin, die darüberliegenden epidermalen Adamantoblasten nach innen den Schmelz ab. Bei der Ausbildung
der Zähne wirken also zwei Primordien zusammen: der
Dentinkeim des Coriums und das epidermale Schmelzorgan. Am Säugerzahn ist neben Dentin und Schmelz
noch das Knochengewebe Zement beteiligt. Als Belag
umgibt es entweder nur die Zahnwurzel oder bedeckt
die ganze Zahnanlage. Bei hochspezialisierten Kauzähnen
(Nager, Huftiere) sind die taschenförmigen Einsenkungen
zwischen den Schmelzfalten mit Zement gefüllt. Durch
das Kauen entsteht auf der Zahnkrone ein ständig scharfbleibendes Erosionsprofil, wobei der harte Schmelz stets
am weitesten vorragt (▶ Abb. 12.135, Einschaltbilder). Zu
den für frühe Tetrapoden typischen Faltenzähnen
s. ▶ Abb. 12.161 a (S. 684).
Fische, Amphibien und Reptilien verfügen nur über
einen Zahntyp: den spitzen, kegelförmigen Fangzahn
(homodontes Gebiss). Im heterodonten Säugergebiss fol-
660
gen dagegen – von vorn nach hinten – vier Zahnformen
aufeinander: Incisivi (I, Schneidezähne), Canini (C, Eckzähne), Praemolares (P, vordere Backenzähne) und Molares (M, hintere Backenzähne). In welcher Anzahl und Gestalt sie in Ober- und Unterkiefer auftreten, ist mit der
Ernährungsweise der einzelnen Säugetiergruppen eng
korreliert und liefert ein verlässliches taxonomisches
Merkmal. Mithilfe der Zahnformel lässt sich die zahlenmäßige Verteilung der vier Zahntypen pro Kieferhälfte
leicht angeben: ICPM (oben) / ICPM (unten). Für den ursprünglichen Placentalierzustand (Insektenfresser, 44
Zähne) gilt 3143/3143, für Hund 3142/3143, Katze und
Löwe 3131/3121 (▶ Abb. 12.135), Pferd 3133/3133
(▶ Abb. 12.135), Elefant 1033/0033 (vgl. Mammut,
▶ Abb. 12.135) und Mensch 2123/2123. In der „Brechschere“ der Raubtiere wirken oberer P4 und unterer M1
als Reißzähne (▶ Abb. 12.135). Die Stoßzähne der Elefanten sind modifizierte obere Schneidezähne (I1; Dentin als
Elfenbein). Konvergent zum Fischtyp ist das Gebiss der
Zahnwale sekundär homodont geworden; Delphine können bis zu 250 gleich geformte Kegelzähne besitzen.
Primär zahnlos sind Agnathen. Der Mund dieser kieferlosen Formen ist mit epidermalen Hornzähnchen besetzt – Bildungen, wie sie auch bei Amphibienlarven vorkommen. Sekundär zahnlos geworden sind Schildkröten,
Vögel, Monotremen, Bartenwale und einzelne Xenarthra
(z. B. Ameisenbären). Hier können Hornschnäbel oder
mächtige Hornplatten (Barten) an ihre Stelle treten. Während bei den rezenten Vögeln selbst embryonale Zahn-
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a
D Craniota: Evolution der Organsysteme
Löwe, Panthera leo (Carnivora)
Pferd, Equus equus (Perissodactyla)
M1
P1
P4 P2
Caninus
M1
P4 P3
Dinotherium
(Proboscidea; fossil, Pliozän)
I2
Caninus
Zement Schmelz
Mammuthus
(Proboscidea; fossil, Pleistozän)
Schmelz Zement
I1
I1
Abb. 12.135 Säugetierschädel mit verschiedenen Gebisstypen (nach Bailey; Gaudry; Andrews; Kühn). Beim Raubtiergebiss (Löwe)
sind die Reißzähne (Brechschere) rot angelegt und in allen Gebissen die Schneidezähne (Incisivi) blau markiert. Beim Pferd und
Mammut ist zusätzlich noch der 1. Molar in Aufsicht abgebildet. I = Incisivus, M= Molar, P = Praemolar.
anlagen fehlen, finden sich solche Rudimente im Kiefer
von Schildkröten, Monotremen und Bartenwalen.
Bei Fischen, Amphibien und Reptilien erfolgt der Zahnwechsel fortlaufend während des ganzen Lebens (polyphyodontes Gebiss). Bei den meisten Säugern tritt nur ein
zweifacher Zahnwechsel auf (diphyodontes Gebiss:
Milch- und Ersatzzähne), wobei die Molaren allerdings
nicht gewechselt werden (▶ Abb. 12.134 a). Manche
Nager und die Zahnwale verfügen nur über eine einzige
Zahngeneration (monophyodontes Gebiss).
▶ Skelett
Der Stütz- und Fortbewegungsapparat ursprünglicher
Chordaten besteht aus Chorda und Längsmuskulatur.
Letztere ist auf den dorsalen Körperbereich beschränkt
und in Myomere gegliedert. Die Myomere setzen nicht
direkt an der Chorda an, sondern an bindegewebigen
Querwänden (Myosepten), die sich zwischen Chorda
und Integument aufspannen.
Innerhalb der Vertebraten wird die ungegliederte
Chorda in zunehmendem Maße von einer gegliederten
Wirbelsäule umgeben und schließlich von dieser verdrängt. Die damit erreichte Verfestigung des Achsenskeletts hat – zusammen mit dem immer direkteren Ansatz der Muskeln an diesem Achsenskelett – eine wirkungsvolle schlängelnde Fortbewegungsweise des Fisch-
körpers zur Folge. Beim Übergang zum Landleben ermöglicht die Entwicklung beweglicher Hebelsysteme (Extremitäten, vgl. ▶ Abb. 8.9 b auf S. 398) mitsamt entsprechenden Umkonstruktionen des Muskelsystems ganz
neue Arten der Lokomotion (Laufen, Fliegen).
▶ Stützgewebe. Alle Bindegewebe erfüllen dank besonderer mechanischer Eigenschaften ihrer reich entwickelten Interzellularsubstanz im Körper Stützfunktionen.
Durch Einlagerung von Fibrillen (Skleroproteine, z. B. Kollagen) können lockere bis straffe fibrilläre Bindegewebe
entstehen, deren interzelluläre Matrix von Fibroblasten
gebildet und ständig erneuert wird. Die eigentlichen
Stützgewebe der Wirbeltiere sind jedoch Knorpel und
Knochen.
Im Knorpel (▶ Abb. 12.136 a) besteht die steifgallertige, elastische Interzellularsubstanz – die Matrix – vor
allem aus Mucopolysacchariden (Chondroitinsulfat). Der
Stofftransport zu und von den Knorpelzellen erfolgt innerhalb der Interzellularmatrix durch Diffusion. Blutgefäße fehlen. Der Knochen (▶ Abb. 12.136 b) erreicht seine
Festigkeit durch Biomineralisation der organischen Interzellularsubstanz. Die von Osteoblasten gebildete Matrix
wird von Kollagenfasern durchzogen, längs derer sich
Calciumphosphat in Form von Hydroxylapatit ablagert
und die Osteoblasten schließlich vollständig einmauert.
12
661
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M1
P2
12 Vielfalt der Organismen
a
b
c
Epiphysenkern
Epiphysennaht
Gelenkknorpel
Knochenzelle
(Osteocyt)
Matrix
Knorpel
Matrix
perichondraler
Knochen
enchondraler
Knochen
Mesenchym
Abb. 12.136 Stützgewebe.
a Knorpelgewebe. b Knochengewebe. c Verknöcherung eines knorpelig präformierten Röhrenknochens. Enchondraler Knochen rot,
perichondraler Knochen grün. Der mit Mesenchym ausgefüllte Raum wird später zum Markraum. Knorpel gelb.
Tab. 12.4 Arten der Knochenbildung (Ossifikation).
Ossifikationstyp
Ossifikationsort
Skelettelement
desmal
unmittelbar im Bindegewebe
Deckknochen
chondral
in knorpelig präformiertem Gewebe:
Ersatzknochen
●
enchondral
von innen
●
perichondral
von außen (vom Perichondrium her)
Die jetzt Osteocyten genannten Knochenzellen besitzen
im Gegensatz zu den abgerundeten Knorpelzellen sternförmig verzweigte Fortsätze. Ver- und Entsorgung des
Knochengewebes erfolgt durch Blutgefäße, die im Verlauf
der Osteogenese in Gefäßkanäle eingeschlossen werden.
Bei den Um- und Neubildungsprozessen, die im Knochen
ständig ablaufen, dienen Osteoklasten der Resorption
mineralisierten Knochengewebes.
Ontogenetisch besteht das Endoskelett der Wirbeltiere
primär aus Knorpelgewebe, das später verknöchert
(chondrale im Gegensatz zu desmaler Ossifikation,
▶ Tab. 12.4, ▶ Abb. 12.136 c). Nur bei einigen wasserlebenden Wirbeltiergruppen (Agnatha, Chondrichthyes)
bleibt das Innenskelett auch im erwachsenen Zustand
knorpelig. Phylogenetisch scheinen Knorpel- und Knochengewebe etwa gleichzeitig entstanden zu sein (S. 681)
– Knorpel wohl in Anpassung an die Wachstumsdynamik
des embryonalen Organismus. Er kann rasch von innen
heraus wachsen (d. h. durch Intussuszeption), während
sich Knochen nur langsam durch das Zusammenspiel
von Ab- und Aufbauprozessen umbildet.
662
▶ Wirbelsäule. Die Ontogenese der Wirbel verläuft innerhalb der Wirbeltiere außerordentlich vielgestaltig;
doch beginnt sie stets damit, dass Skleroblasten aus
dem mesodermalen Sklerotom der Ursegmente (Somiten) auswandern und sich um die Chorda anlagern
(▶ Abb. 12.137). Dorsal und ventral bilden sie Wirbelbögen (Arcualia), unmittelbar um die Chorda Wirbelkörper
(Centra). Von Wirbelbögen wie -körpern werden pro Ursegment jeweils zwei hintereinander liegende Paare angelegt (▶ Abb. 12.138 a), von denen das hintere meistens
mit dem vorderen des nächstfolgenden Segments zum
definitiven Wirbel verschmilzt. Die dadurch bedingte intersegmentale Stellung der Wirbel, die in der alternierenden Lage von Wirbeln und Muskelsegmenten zum Ausdruck kommt, ermöglicht einen funktionell optimalen
Muskelansatz.
Die dorsalen Arcualia differenzieren sich zu Neuralbögen, die das Rückenmark umfassen und zwischen denen
die Spinalnerven austreten. Die ventralen Arcualia schließen sich nur im Schwanzbereich der Knochenfische und
Urodelen zu Hämalbögen um einen Blutgefäßkanal.
Meistens bleiben sie jedoch ventral offen und bilden Ansatzstellen für die Rippen.
Die Doppelanlage der Wirbel bleibt bei Cyclostomen
zeitlebens erhalten: Pro Segment treten adult zwei gleich
große Neuralbögen auf. Bei den Gnathostomaten vereinigen sich die einzelnen Elemente der Doppelanlage auf
verschiedene Weise. Auch wenn bei vielen Formen eine
nahtlose Verschmelzung der einzelnen Elemente unterbleibt, kann man bei den Gnathostomaten doch erstmals
von einer Wirbelsäule als gegliedertem Achsenskelett
sprechen.
Auch Ausmaß und Art der Verdrängung des embryonalen Chordagewebes durch den Wirbelkörper erfolgen
gruppenspezifisch: Bei Agnathen und Chondrostiern
(▶ Abb. 12.138 b) fehlen Wirbelkörper vollkommen; die
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Knorpelzelle
D Craniota: Evolution der Organsysteme
a
b
Neuralrohr
dorsale Nervenwurzel
Myotom
Dermatom
Sklerotom
Somitenstiel
Spinalganglion
ventrale Nervenwurzel
Myotom
Dermatom
Nierenkanälchen-Anlage
Nierengang
Gonadenanlage
Chorda
Aorta dorsalis
Coelom
Darmlumen
Darmmuskulatur
Darmwand mit
dotterreichen Zellen
Ektoderm
Somatopleura
Visceropleura
Coleom
Zellen der Unterhaut
(Subcutis)
ventrale blutbildende
Zellen
Abb. 12.137 Schematischer Querschnitt durch einen Wirbeltierembryo.
a Frühes und b späteres Stadium (nach Portmann). Dorsal bildet das Mesoderm eine Reihe paariger Mesodermblöcke (Ursegmente =
Somiten), die ventralwärts über ein Zwischenstück (Somitenstiel = intermediäres Mesoderm) in die unsegmentierten Seitenplatten
übergehen. Bei ihnen trennt das Coelom ein laterales somatisches Blatt (Somatopleura) von einem medialen visceralen Blatt (Visceropleura = Splanchnopleura). Jeder Somit differenziert sich in ein laterales Dermatom (bildet Corium und Hartgebilde der Haut), ein
mittleres Myotom (bildet Wirbelsäulen- und Extremitätenmuskulatur) und ein mediales Sklerotom (bildet Wirbelkörper). Die Pfeile
markieren das Auswandern von Zellen oder das Auswachsen von Organanlagen.
Chorda bleibt hier auch adult als axiales Skelett intakt.
Sonst wird die Chorda entweder innerhalb oder zwischen
den Wirbelkörpern eingeschnürt bis völlig reduziert.
Doch selbst bei den Säugetieren verbleibt im Zentrum
der Bandscheiben, die als bindegewebige Platten zwischen den Wirbeln liegen, noch ein Chorda-Rest als Nucleus pulposus.
Damit die Wirbelsäule als flexibles Axialskelett wirken
kann, müssen zwischen den Wirbeln Gelenke und an den
Wirbeln Ansatzorte für Muskeln und Bänder ausgebildet
sein. Gelenke liegen primär zwischen den konkaven, konvexen, planen oder sattelförmigen Wirbelflächen. Folgende Typen werden unterschieden: amphicoele (bikonkave)
Wirbel bei Teleostiern, procoele (vorn konkave, hinten
konvexe) bei vielen Amphibien, opisthocoele (hinten
konkave, vorn konvexe) bei den meisten Reptilien, heterocoele (sattelförmige) bei den Vögeln und biplane bei
den Säugetieren. Als Angriffspunkte der Muskulatur dienen Gelenkfortsätze. Sie können dorsal als Dornfortsatz
(Processus spinosus), lateral als Querfortsätze (Processus
transversi), ventrolateral als Rippenansatzstellen (Diapophysen, Parapophysen) und zwischen benachbarten
Wirbeln als Zygapophysen (Prä- und Postzygapophysen)
ausgebildet sein (▶ Abb. 12.138 c).
Die Anzahl der Wirbel variiert innerhalb der Vertebraten je nach Gliederungsgrad und Streckung des Körpers
stark. Bei Knorpelfischen und Schlangen beträgt sie bis zu
300 (alles Brustwirbel), beim Aal (Anguilla) etwa 200.
Kompaktere Körpergestalten haben Verschmelzungen
und Reduktionen von Wirbeln zur Folge. So sind bei Vö-
geln zahlreiche Wirbel der hinteren Körperregion (die
hintersten Brustwirbel, die Lumbal- und Sacralwirbel
sowie die vordersten Schwanzwirbel) zu einem
festen Knochen (Synsacrum, ▶ Abb. 11.10 auf S. 514,
▶ Abb. 12.165 auf S. 688) verwachsen.
Relativ konstante Wirbelzahlen liegen bei Säugetieren
vor (▶ Abb. 12.173, S. 695): 7 rippenlose Hals-(Cervical-)
Wirbel, meistens 13 Brust-(Thorakal-)Wirbel, 6 – 7 Lenden-(Lumbal-)Wirbel, 2 – 3 Kreuz-(Sacral-)Wirbel und
1 – 47 Schwanzwirbel. Bei Menschenaffen und Mensch
sind die letzten Schwanzwirbel zu einem Steißbein (Os
coccygis) verschmolzen. Der 1. Halswirbel (Atlas) enthält
die Gelenkgruben für die beiden Hinterhauptshöcker
(Condyli). Der Zapfen des 2. Halswirbels (Epistropheus),
der sich ontogenetisch vom Wirbelkörper des Atlas ableitet, ist gelenkig mit der Innenfläche des ringförmigen
Atlas verbunden.
Seitlich schließen sich der Wirbelsäule stabförmige
knöcherne Spangen an, die Rippen (Costae). Sie entstehen durch enchondrale Verknöcherung in den Bindegewebssepten der segmentierten Rumpfmuskulatur. Mit
der Wirbelsäule sind sie meist gelenkig verbunden. Ihre
markanteste Ausprägung erfahren sie im vorderen
Rumpfbereich (Brust = Thorax), wo sie den Brustkorb
bilden. Bei Vögeln wird die Festigkeit des Brustkorbs
durch nach hinten gerichtete Rippenfortsätze (Processus
uncinati, ▶ Abb. 12.142 auf S. 666) erhöht. Teleostier besitzen zusätzlich zu den Rippen sog. Gräten, die durch
direkte Verknöcherung in den Bindegewebshüllen der
Muskelfasern entstehen und mit der Wirbelsäule meis-
12
663
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Somit
Neuralleiste
12 Vielfalt der Organismen
a
(intrasegmental)
Somiten
Basidorsale
Interdorsale
Chorda
Intercentrum
(= Hypocentrum)
Pleurocentrum
Arcualia (Wirbelbögen)
Centra (Wirbelkörper)
Basiventrale
Interventrale
Arcualia (Wirbelbögen)
b
Spinale
Spinale
Basidorsale
Basidorsale
Rückenmark
Interdorsale
Chordascheide
Chorda
Basiventrale
Basiventrale
Interventrale
c
Raum des
Rückenmarks
Basidorsale
Diapophyse
Tuberculum
Parapophyse
Capitulum
Raum der Chorda
Basidorsale
Präzygapophyse
Verschmelzungspunkt
von Basi- und Interventrale
Postzygapophyse
Interdorsale
Tuberculum (oberer Rippenkopf)
Capitulum (unterer Rippenkopf)
Verschmelzungspunkt
von Basi- und Interventrale
Abb. 12.138 Axialskelett der Wirbeltiere (nach Jarvik; Remane; Goodrich).
a Schema. b Stör (Acipenser). c Ein fossiler Vertreter aus der Stammgruppe der Tetrapoden (Ichthyostega, ▶ Abb. 11.6 auf S. 511).
b und c zeigen links Frontal-, rechts Lateralansichten. Die primären Segmentgrenzen sind rot markiert.
tens keinen Kontakt aufnehmen. Bei Tetrapoden schaltet
sich zwischen die ventralen Rippenenden das Brustbein
(Sternum) ein. Es fehlt den Blindwühlen, Schildkröten
und Schlangen. Bei Vögeln bildet es den größten Knochen
des Skeletts.
▶ Extremitäten und Extremitätengürtel. Während Agnathen lediglich unpaare Flossensäume und Einzelflossen
besitzen, treten schon bei den ältesten gnathostomen Fischen (Placodermen, Plus 12.4) paarige Extremitäten in
Form von Brust- und Bauchflossen auf. Von diesen vielstrahligen Fischextremitäten lassen sich die fünfstrahligen (pentadactylen) Tetrapodenextremitäten phylogenetisch herleiten (▶ Abb. 11.6, S. 511).
664
Da es sich bei Vorder- und Hinterextremität um serial
homologe (= homonome) Strukturen handelt, lassen sich
die Beziehungen der einzelnen Strukturelemente in
▶ Abb. 12.139 gemeinsam darstellen. Innerhalb der Tetrapoden erfährt der skizzierte pentadactyle Grundplan
mannigfache Abwandlungen, die klassische Belege für
„Evolutionsreihen“ liefern.
Reduktion von Strahlen tritt bei Huftieren in zwei
großen Evolutionslinien auf (▶ Abb. 12.140): Entweder
wird der Mittelstrahl zum dominierenden Träger des Körpers (Unpaarhufer: Perissodactyla = Mesaxonia) – bei
Pferden ist er der einzige bodenberührende Strahl –
oder zwei Strahlen (III, IV) übernehmen diese Funktion
(Paarhufer: Artiodactyla = Paraxonia). Dass beide „Lösun-
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Wirbel
(intersegmental)
Humerus
Femur
Radius
Tibia
Ulna
Fibula
Intermedium
Radiale
Tibiale
Ulnare
Fibulare
Carpus
Tarsus
Centralia
Carpalia
Metacarpus Metatarsus
Finger
Zehen
Tarsalia
Metacarpalia Metatarsalia
V
I
Phalangen
Abb. 12.139 Organisationsschema der Tetrapodenextremität. Linke Seite von vorn
betrachtet. Schwarz fett: vordere Extremität; rot: hintere Extremität; Normalschrift: Begriffe gelten für beide Extremitäten.
Lateinische und deutsche Bezeichnungen:
Carpus = Handwurzel, Femur = Oberschenkelknochen, Fibula = Wadenbein, Humerus
= Oberarmknochen, Metacarpus = Mittelhand, Metatarsus = Mittelfuß, Radius =
Speiche, Tarsus = Fußwurzel, Tibia =
Schienbein, Ulna = Elle.
II
III
IV
Perissodactyla
(Unpaarhufer)
Tapir
(Tapirus)
Artiodactyla
(Paarhufer)
Nashorn
(Rhinoceros)
Pferd
(Equus)
Schwein
(Sus)
Rind
(Bos)
Kamel
(Camelus)
Radius
Ulna
Radius
Radius
4
2
Ulna
Ulna
Radius
Radius
Ulna
Radius
5
5
Carpus
3+4
2
Metacarpus
3
4
3+4
2 34 5
3
2 3 45
Phalangen
II
V
III
IV
II
II
V
IV
III
III
III IV
III IV
III
IV
Abb. 12.140 Skelett der Vorderextremität bei Huftieren. Die Zahlen 2 – 5 bezeichnen die Metacarpalia (Mittelhandknochen), II – V die
Phalangen (Finger).
gen“ funktionell gleichwertig sind, zeigt sich in letzterem
Fall in Verschmelzungstendenzen der beiden Mittelfußknochen. Den heute 190 Arten der Paarhufer stehen nur
15 rezente Arten der Unpaarhufer (4 Tapir-, 5 Nashornund 6 Pferde-, Esel- und Zebraarten) gegenüber. Doch
dürfte dieses Verhältnis kaum mit Unterschieden in der
Leistungsfähigkeit des Extremitätenskeletts – eher in der
des Verdauungssystems (S. 699) – verbunden sein. Im
adulten Vogelflügel bleiben nur drei Strahlen erhalten,
wobei es sich nach entwicklungsbiologischen Analysen
um die Finger II – IV handelt (▶ Abb. 12.165, S. 688). Mit
der Reduktion von Strahlen geht oft eine Verlängerung
12
der Elemente einher. Bei Huftieren sind an der Längenzunahme vor allem die distalen Elemente – Metacarpalia
und Metatarsalia – beteiligt (▶ Abb. 12.141). Gleichzeitig
wird der Fuß vom ursprünglichen Sohlengang (Insectivoren, Bären, Primaten) über den Zehengang (Hunde,
Katzen) bis zum Zehenspitzengang (Pferde) aufgerichtet.
Mit langem Hebelarm und kleiner bodenberührender
Fläche (▶ Abb. 8.9 b, S. 398) ist damit der Idealtyp des
Renners verwirklicht. Verlängert wird auch der Mittelfuß
des Vogels (zum Laufknochen). Bei Flugsauriern und Fledermäusen sind die Flughäute zwischen verlängerten
Phalangen und dem Rumpf ausgespannt, während beim
665
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Autopodium
Zeugopodium
Stylopodium
D Craniota: Evolution der Organsysteme
Laufknochen (Tarsometatarsus, ▶ Abb. 12.165 auf S. 688)
des Vogelbeins vereinigen sich während der Ontogenese
die Metatarsalia I – III; an ihrem oberen Ende verschmelzen sie zudem mit den distalen Tarsalia. Die proximalen
Tarsalia vereinigen sich mit dem distalen Tibia-Ende zum
Tibiotarsus. Damit wird das „Fersengelenk“ der Vögel zu
einem Intertarsalgelenk. Zur Verkürzung der Elemente
kommt es im Grabbein des Maulwurfs, v. a. aber in den
Vorderextremitäten von Ichthyosauriern und Walen. In
diesen „Flossen“ werden auch noch Gelenke versteift, sodass das Bein als Ruderfläche wirkt. Vermehrung der
Phalangen (Hyperphalangie) tritt z. B. bei Ichthyosauriern (▶ Abb. 11.8 c, S. 512) und Walen auf. Während
hier Ober- und Unterarm extrem kurz sind, wird distal
die rudernde Handfläche durch zusätzliche (bis zu 20)
Fingerglieder verlängert. Demgegenüber konnte sich
eine Vermehrung der Strahlen (Polydactylie) offenbar
in keiner Evolutionsreihe durchsetzen. Doch führen
(meist dominante) Mutationen bei allen Tetrapoden zur
Polydactylie, einem Rückfall auf ancestrale Stadien
(S. 511). Häufig sind die Homozygoten schwer missgebildet und daher letal. Eine völlige oder teilweise Reduktion
der Extremitäten erfolgte konvergent bei Blindwühlen,
Blindschleichen und Schlangen, Reduktion nur der Hinterextremitäten bei Walen und Seekühen. Rudimente des
Beckens sind hier jedoch auch adult noch vorhanden.
Vorder- und Hinterextremitäten sind über Schulterund Beckengürtel mit dem Axialskelett gelenkig verbunden. Beide Gürtel bestehen bei Tetrapoden aus drei Knochenpaaren (▶ Abb. 12.142). Einen vollständigen Schultergürtel besitzen Amphibien, Sauropsiden und bei den
Säugetieren die Monotremen. Bei allen übrigen Säugern
wird das Coracoid (Rabenschnabelbein) zurückgebildet.
Die Clavicula (Schlüsselbein) bleibt bei fliegenden (Fledermäuse), grabenden (Maulwurf) und greifkletternden
Formen (Primaten) erhalten, verschwindet aber vollständig dort, wo die Extremitäten nur pendelnde Bewegungen in der Körperlängsachse ausführen (Huftiere, Raubtiere). Hier ist das Schultergelenk innerhalb der angrenzenden Muskulatur frei verschiebbar, also nicht fest mit
Brustkorb und Wirbelsäule verbunden. Die Scapula
(Schulterblatt) wird überall ausgebildet. Recht geringe
Länge L, [mm]
103
102
101
Femur
1
Länge L, [mm]
103
102
101
Metatarsalia
1
10–2
10–1
101
1
102
103
Körpergewicht M [kg]
Abb. 12.141 Längen von Hinterbeinknochen – Femur und
Metatarsalia (nach Daten von Alexander, Jayes, Maloiy, Wathuta). Rote Signaturen: Paarhufer, schwarze Signaturen: übrige
Säugetiere. Die Längen L der betreffenden Knochen sind als
Funktion des Körpergewichts M der Tiere aufgetragen. Die
Daten folgen generell den Allometriebeziehungen L = a × Mb
bzw. log L = b × log M + log a (vgl. Gleichung [9], S. 248).
Ergebnis: Bei Paarhufern liegen die relativen Längen der Metatarsalia, aber nicht die des Femurs signifikant über denen der
übrigen Säugetiere. Ähnliche Beziehungen gelten für die Vorderbeine, d. h. für Humerus und Metacarpalia, und für die Extremitäten der Unpaarhufer. In der Evolution der Huftiere sind
also generell die distalen, aber nicht die proximalen Extremitätensegmente überproportional verlängert worden. Vgl. auch
▶ Abb. 8.9 b (S. 398), die bei einem Sprinter unter den Raubtieren ebenfalls die überproportionale Verlängerung der distalen Extremitätenglieder zeigt.
Vogel zusätzlich ein verlängerter Unterarm mit seinen
Schwingen zur Flügelfläche beiträgt. Fusion von Elementen ist häufig mit Verlängerungen korreliert. Wie bereits
erwähnt, verschmelzen bei Rind und Kamel die Metacarpalia III und IV zum Kanonenbein (▶ Abb. 12.140). Im
Scapula
Gelenkgrube des Humerus
Processus
uncinatus
Wirbelsäule
Ilium
Ilium
Coracoid
Clavicula
(linke und rechte
Clavicula zur
Furcula
verwachsen)
Pubis
Carina
666
Gelenkgrube des Femur
Rippen
Sternum
Ischium
Abb. 12.142 Schulter- und Beckengürtel
eines Vogels (nach Portmann; Bergmann).
Grün: Schultergürtel, orange: Beckengürtel.
Carina = Brustbeinkamm, Clavicula =
Schlüsselbein, Coracoid = Rabenschnabelbein, Furcula = Gabelbein, Ilium = Darmbein, Ischium = Sitzbein, Processus uncinatus = Hakenfortsatz der Rippe, Pubis =
Schambein, Scapula = Schulterblatt, Sternum = Brustbein.
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12 Vielfalt der Organismen
D Craniota: Evolution der Organsysteme
Plus 12.4
Mit den Ostracodermen (den Schalenhäutern) erscheinen
im späten Kambrium und frühen Ordovizium die ersten
fossil überlieferten Cranioten. Trotz ihres knöchernen Exoskeletts – v. a. ihres schweren Kopfpanzers – und des Fehlens paariger Flossen waren die kleinen, max. 60 cm langen
Formen aktive Schwimmer. Doch dürften sie sich vorwiegend in Bodennähe aufgehalten haben.
Ostracodermen
Poraspis, Heterostraci
Schalenhäuter. (nach Kiaer, Heintz)
Kieferlos und mit kleiner Mundöffnung ernährten sie sich
als Suspensionsfresser, wobei sie wie die Tunicaten und
Acranier ihren als Reuse wirkenden Kiemendarm zur Ernährung (und Atmung) einsetzten. Die Osteostraci besaßen
auf ihrem breiten dorsalen Kopfschild ausgedehnte, aus
Myxinoida
Petromyzontida
Osteostraci
Chondrichthyes
Actinopterygii
Sarcopterygii
Gnathostomata
Placodermi
Craniota
Anaspida
„Agnatha“
Heterostraci
„Ostracodermata“
Arandaspidida
kleinen polygonen Plättchen bestehende Felder, zu denen
von der Ohrregion dicke Nervenstränge zogen. Die zunächst geäußerte Vermutung, unter diesen Plättchenfeldern hätten elektrische Organe gelegen, dürfte kaum zutreffen, da im Kopfbereich der Raum für jene Muskulatur
fehlt, die diese elektrischen Felder hätte erzeugen müssen
(vgl. ▶ Abb. 8.14, S. 403). Wahrscheinlicher ist, dass es sich
bei diesen Sinnesfeldern um Teile des Seitenliniensystems,
eventuell sogar um Elektrosensoren (Plus 7.3, S. 362) handelte. Mit zahlreichen Gruppen im Meer- und Süßwasser
vertreten, starben die Ostracodermen zu Ende des Devons
wieder aus, sodass zu den heutigen artenarmen Gruppen
der Agnathen eine große zeitliche Lücke klafft.
Kieferapparat und paarige Flossen, das sind die Neuerwerbungen, mit denen die Placodermen (= Plattenhäuter,
Panzerfische) zu Ende des Silurs (– 430 Mio. Jahre) ein
neues Evolutionsniveau – jenes der Gnathostomata – erreicht und die erste große Radiation in der Wirbeltiergeschichte eingeleitet haben. Als fischähnliche, mit einem
starken Exoskelett gepanzerte Formen bildeten sie damals
die obersten Glieder der marinen Nahrungskette. Deutlich
größer als die Ostracodermen (Titanichthys und Dunkleosteus > 6 m lang), räuberisch, schnell schwimmend und gewandt manövrierend, waren sie mit den beiden Hauptgruppen der Arthrodira und Antiarchi weltweit im Meerund Süßwasser verbreitet, starben jedoch wie die Ostracodermen zu Ende des Devons fast schlagartig aus. Ihrer
Wurzel müssen die Knorpel- und Knochenfische entsprungen sein. Doch sowohl in der Anordnung der Platten ihres
Exoskeletts als auch im Bau ihrer Kiefer unterscheiden sie
sich deutlich von allen rezenten Gnathostomaten.
Die Stellung der Ostracodermen und Placodermen im System der Cranioten. Ausgestorbene Gruppen in blauer und
grüner Schrift, Taxa mit rezenten Vertretern rot. Wie das
Kladogramm zeigt, handelt es sich bei den Ostracodermen
und generell bei den Agnathen um paraphyletische Gruppierungen. Von den formenreichen Ostracodermen sind nur
einige Taxa aufgeführt.
12
Placodermen
Bothriolepis
Plattenhäuter (Panzerfische). (nach Stensiö)
667
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Ostracodermen und Placodermen – die ersten Etappen in der Evolution der Cranioten
a
Prämandibularbogen
Hyoidbogen
Mandibularbogen
b
Mandibularbogen
Branchialbogen 1
Hyoidbogen
c
otische Region
Spiraculum
Occipitalregion
Orbitalregion
Ethmoidalregion
Chorda
Kiemenspalte
Branchialbogen 5
Copulae
PalatoMandi- Hyoid Hyomanquadratum bulare
dibulare
Mandibularbogen
I
Hyoidbogen
II
Branchialbogen 1
III
Abb. 12.143 Grundplan des Wirbeltierschädels: Ableitung
des Kieferapparats aus dem Kiemenskelett (nach Romer;
Portmann; Starck).
a Hypothetisches Ausgangsstadium (agnathes Wirbeltier) mit
gleichförmigen Branchialbögen (Kieferbögen). b Hypothetisches Zwischenstadium. c Ursprünglicher Gnathostomat (Beispiel: Knorpelfisch). Neurocranium blau, Viscerocranium orange, Dermatocranium rot. I – III: Zählung der Arterienbögen, die
mit den entsprechenden Kiemenbögen assoziiert sind
(▶ Abb. 12.150, S. 674).
Abwandlungen erfährt der Beckengürtel. Die drei Grundelemente – Ilium (Darmbein), Pubis (Schambein) und
Ischium (Sitzbein) – sind überall vertreten (Dinosaurier:
▶ Abb. 12.164, S. 686).
▶ Schädel. Wie bei den meisten bilateralsymmetrischen
Organismen trägt auch bei Wirbeltieren der Bewegungs-
668
vorderpol einerseits die großen Fernsinnesorgane mit
den nachgeschalteten neuronalen Zentren, andererseits
die Öffnungen von Darmtrakt und Atmungsorganen. Die
Gliederung des Schädels (Cranium) folgt diesen beiden
Funktionskomplexen: Das Neurocranium bildet die Kapsel für Gehör und Sinnesorgane (Geruchsorgan, Augen,
Labyrinth) und lässt sich daher primär in eine ethmoidale, orbitale und otische Region gliedern; das Viscerocranium (Splanchnocranium) umgreift mit serial angeordneten Skelettspangen die vorderen Nahrungs- und Atemwege. Beide Schädelkomponenten zusammen können als
Endocranium dem Dermatocranium gegenübergestellt
werden – einem subepidermalen Deckknochenpanzer,
der im Gegensatz zum chondral verknöchernden Endocranium
durch
desmale
Ossifikation
entsteht
(▶ Tab. 12.4, S. 662) und aus dem Schuppenpanzer archaischer Fische (Plus 12.4, S. 667) – wenn auch auf
noch nicht näher ableitbare Weise – hervorgegangen
sein dürfte. Während diese drei primär selbständigen
Schädelkomponenten (▶ Abb. 12.143 c) bei den ursprünglichen Cranioten noch weitgehend getrennt sind,
kommt es bei den Tetrapoden zu mannigfachen Umlagerungen und Verschmelzungen und damit zu einer neuen
Einheit, dem Syncranium (▶ Abb. 12.144, ▶ Abb. 12.145).
Den Anstoß zu dieser Entwicklung gab die Entstehung
des Kieferapparats innerhalb des Viscerocraniums
(▶ Abb. 12.143). Bei den frühen Gnathostomaten differenzierte sich ein vorderer Kiemenbogen der Agnathen
zum Mandibularbogen (Kieferbogen), dessen dorsaler
Teil (Palatoquadratum) heute mit dem ventralen Teil
(Mandibulare) das primäre Kiefergelenk einschließt. Bei
den Tetrapoden bleiben als Derivate von Palatoquadratum und Mandibulare vor allem die hinteren, gelenkbildenden Abschnitte Quadratum und Articulare erhalten.
(Die lateinischen/griechischen und deutschen Bezeichnungen der hier und im Folgenden genannten Schädelknochen sind in der Legende zu ▶ Abb. 12.144 zusammengestellt.) Im vorderen Bereich verstärken Teile des
Dermatocraniums den Kieferbogen: die zahntragenden
Kieferrandknochen Prämaxillare und Maxillare sowie
das Quadratomaxillare im Oberkiefer, Dentale und Angulare im Unterkiefer. Der vordere Teil des Mandibulare
wird nur noch embryonal als Meckel-Knorpel angelegt,
der des Palatoquadratums verschmilzt mit dem Neurocranium.
Dermatocranialen Ursprungs sind auch die großen
Knochen des primären Gaumens: Vomer, Palatinum, Pterygoid und Parasphenoid. Bei Säugern wachsen ventral
von diesen Knochen Praemaxillare und Maxillare nach
innen aus und bilden (mit dem Palatinum) einen sekundären Gaumen, der Mund- und Nasenhöhle trennt und
sekundär zur Verlagerung der inneren Nasenöffnungen
(Choanen) nach hinten führt. Dieser harte sekundäre
Gaumen, der sich als analoge Bildung auch bei Krokodilen
findet, erlaubt es, gleichzeitig zu kauen und zu atmen.
Der nächstfolgende Kiemenbogen der Agnathen wird
zum Hyoidbogen (Zungenbeinbogen). Der dorsale Teil
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12 Vielfalt der Organismen
D Craniota: Evolution der Organsysteme
Seitenansicht
Orbitosphenoid
Nasale
Parasphenoid
Frontale
Squamosum
Parietale
Prooticum
Nasenhöhle
Vomer
Exoccipitale
Praemaxillare
Palatinum
Columella
Quadratum
Dentale
Articulare
Hyoid
Maxillare Pterygoid
Zungenbein
Angulare
Quadratojugale
Schädelbasis
Orbitosphenoid
Maxillare
Das knorpelige Primordialcranium
ist hellgrau angelegt.
Vomer
Praemaxillare
Parasphenoid
Exoccipitale
primäre
Choane
Columella
Quadratum
Palatinum
Quadratojugale
Pterygoid
Neurocranium
Viscerocranium
Dermatocranium
12
Abb. 12.144 Organisationsschema des Amphibienschädels.
(Hyomandibulare) dient der Aufhängung des Kieferapparats am Neuralschädel, der ventrale (Hyoid) nähert sich
dem Mandibulare. Die zwischen Mandibular- und Hyoidbogen liegende Kiemenspalte bildet das Spiraculum –
einen Gang, der bei Haien und Rochen als Spritzloch
offen bleibt, bei Knochenfischen dagegen verödet. Bei Tetrapoden wird er zur Eustachi-Röhre und zum Mittelohr.
Das Hyomandibulare rückt ins Mittelohr ein und bildet
die Columella (bei Säugern den Stapes). Das Trommelfell
schließt diese ursprüngliche Kiemenspalte nach außen
ab.
Die auf den Hyoidbogen folgenden Branchialbögen
(Kiemenbögen) tragen bei den Wasseratmern Kiemen.
Die Zahl dieser Bögen beträgt 5 – 7 bei Knorpelfischen, 4
bei Teleostiern und 3 bei Amphibienlarven. Zwischen den
Bögen öffnen sich die Kiemenspalten. Ventral sind die
Bogenpaare durch Copulae verbunden. Bei Tetrapoden
gehen Derivate des Hyoidbogens sowie der nachfolgenden Schlundbögen in den Zungenbein- und Kehlkopfapparat ein. ▶ Abb. 12.144 und ▶ Abb. 12.145 geben
eine Übersicht über die Knochenelemente des Amphibien- und Säugerschädels.
669
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Articulare = Gelenkbein
Cartilago arythaenoidea = Stellknorpel
Cartilago cricoidea = Ringknorpel
Cartilago thyroidea = Schildknorpel
Dentale = Unterkieferknochen
Ethmoid = Siebbein
Frontale = Stirnbein
Hyoid = vorderes Zungenbein
Incus = Amboss
Jugale = Jochbein
Lacrimale = Tränenbein
Malleus = Hammer
Nasale = Nasenbein
Palatinum = Gaumenbein
Parietale = Scheitelbein
Perioticum = Felsenbein
Pterygoid = Flügelbein
Praemaxillare = Zwischenkieferknochen
Quadratum = Quadratbein
Squamosum = Schuppenbein
Stapes = Steigbügel
Trachea = Luftröhre
Tympanicum = Paukenbein
Vomer = Pflugscharbein
12 Vielfalt der Organismen
Seitenansicht
Praesphenoid
Orbitosphenoid
Frontale
Lacrimale
Ethmoid
Vomer
Nasale
Nasenscheidewand
und Nasenknorpel
Alisphenoid
Basisphenoid
Parietale
Squamosum
Interparietale
Supraoccipitale
Exoccipitale
Perioticum
Praemaxillare
1
2
Dentale
Meckelscher Knorpel
3
Cartilago arytaenoidea
4
Maxillare
Trachealknorpel
Palatinum
Pterygoid
Jugale
Schädelbasis
C. cricoidea
C. thyroidea
Zungenbeinkörper
Hyoid
Caninus
Incisiven Praemolaren Molaren
Vomer
Squamosum
Basisphenoid
Basisoccipitale
Perioticum
Praemaxillare
Maxillare
primäre
Choanen
Neurocranium
Palatinum
Viscerocranium
Alisphenoid
Pterygoid
Jugale
Praesphenoid
Dermatocranium
Abb. 12.145 Organisationsschema des Säugetierschädels.
Das primäre Kiefergelenk zwischen den Ersatzknochen Quadratum und Articulare wird bei Säugern durch
ein sekundäres Kiefergelenk zwischen den Deckknochen
Squamosum und Dentale ersetzt. Articulare und Quadratum rücken in die Kette der Gehörknöchelchen ein und
werden zu Hammer und Amboss (▶ Tab. 12.5,
▶ Abb. 12.146). Die Paukenhöhle (Cavum tympani,
Lumen des Mittelohrs) geht aus dem zwischen Mandibu-
670
lar- und Hyoidbogen gelegenen Spritzloch hervor. Das sie
außen begrenzende Trommelfell hat sich wahrscheinlich
bei Amphibien, Reptilien und Säugetieren dreimal unabhängig entwickelt. Diese gesamte Ableitung von Mittelohr und Mittelohrknochen lässt sich sowohl embryologisch beobachten als auch paläontologisch rekonstruieren (▶ Abb. 11.9, S. 513).
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Basisoccipitale
Stapes
Incus
Malleus
Tympanicum
D Craniota: Evolution der Organsysteme
Tab. 12.5 Homologisierung der Mittelohrknochen der Säugetiere mit Elementen des Visceralskeletts
Säugetiere
übrige Tetrapoden
Fische
Stapes (Steigbügel)
Columella1
Hyomandibulare
Incus (Amboss)
Quadratum
Malleus
(Hammer)
Articulare
Tympanicum (Paukenbein)
Angulare
1
In der heutigen vergleichend-anatomischen Literatur wird die Columella trotz ihrer stabförmigen Gestalt häufig wie der Steigbügel der
Säugetiere als Stapes bezeichnet, um dem Homologieaspekt auch nomenklatorisch Rechnung zu tragen. Der Stapes wäre demnach
generell das Hyomandibulare der Landwirbeltiere, wenn immer es an der Schallleitung beteiligt ist.
Amphibien, Sauropsiden
Ohrkapsel
Incus
Ohrkapsel
Columella
Hyomandibulare
Säugetiere
Ohrkapsel
Malleus
Tympanum
Mittelohr
Spiraculum
Stapes
Tympanum
Mundhöhle
äußerer
Gehörgang
Hyoid
Mundhöhle
Eustachi-Röhre
(Tuba
pharyngotympanica)
Eustachi-Röhre
Tympanicum
Mittelohr
Abb. 12.146 Ausbildung des Mittelohrs bei Wirbeltieren. Mittelohrknochen farbig.
Incus = Amboss, Malleus = Hammer, Stapes = Steigbügel, Tympanicum = Paukenbein, Tympanum = Trommelfell. Vgl. ▶ Abb. 11.9,
S. 513.
Die Frage, ob man die Organisation des Kopfes direkt
aus der des Rumpfes ableiten könne oder ob man den
Kopf als eine Neubildung des Bewegungsvorderpols interpretieren müsse – dieses Kopfproblem beschäftigt
die vergleichende Morphologie seit der Wende 18./
19. Jahrhundert. Goethe (1790) und Oken (1807) vertraten die Wirbeltheorie des Schädels, nach der der Neuralschädel in Fortsetzung der Wirbelsäule ähnlich wie diese
metamer gegliedert sei. In ähnlicher Richtung zielen auch
Überlegungen, die im dorsalen Kopfbereich eine Somitengliederung erkennen und die Branchialnerven als modifizierte Spinalnerven betrachten. Diesen Segmenttheorien des Kopfes halten Embryologen entgegen, dass sich
in der Ontogenese des Schädels (mit Ausnahme der Occipitalregion) keine metamere Gliederung nachweisen
lässt. Nach heutiger Sicht ist der Wirbeltierkopf durch
Zusammenfügung herkunftsmäßig verschiedener Teile
entstanden: aus dem Neurocranium und dem branchiomer gegliederten Viscerocranium. Einerseits lässt das
Neurocranium keine eindeutigen Anzeichen einer
Rumpfmetamerie (Myomerie) erkennen, andererseits
stellen Branchiomerie und Myomerie zwei voneinander
völlig unabhängige Gliederungssysteme dar. Letzterem
Befund entspricht, dass das Viscerocranium aus Material
der für Cranioten charakteristischen Kopfneuralleiste, das
Axialskelett aber aus Material der mesodermalen Sklerotome (▶ Abb. 12.137, S. 663) entsteht. Da jedoch an der
Bildung der hinteren (mehrheitlich mesodermalen) Kopfabschnitte zweifellos Rumpfmetameren beteiligt sind,
stellt sich bei der Morphogenese des Kopfes das interessante entwicklungsbiologische Problem des Zusammenwirkens verschiedener embryonaler Ausgangsmaterialien
und Gliederungsprinzipien.
12
▶ Nervensystem
Gehirn und Rückenmark sind bei allen Wirbeltieren nach
dem gleichen Grundplan angelegt. Das Gehirn lässt stets
eine Längsgliederung in fünf Abschnitte erkennen, deren
funktionelle Ausgestaltung bereits beschrieben wurde
(Plus 6.4, S. 343).
Die klassischen 12 Gehirnnerven sind häufig als Stütze
für Segmenttheorien des Kopfes herangezogen worden,
671
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Fische
Augenmuskeln
Innenohr
Zungenmuskeln
I N. olfactorius
II N. opticus
III N. oculomotorius
IV N. trochlearis
V N. trigeminus
VI N. abducens
VII N. facialis
VIII N. vestibulocochlearis*
IX N. glossopharyngeus
X N. vagus
XI N. accessorius
XII N. hypoglossus
Kopfregion
Gesichtsmuskeln
Mundschleimhaut
gesamter
Körper
Branchialnerven
Augenmuskelnerven
12 Vielfalt der Organismen
Abb. 12.147 Gehirnnerven der Säugetiere.
Sensorische Bahnen sind durch blaue, motorische durch rote Pfeile gekennzeichnet.
Bei den kursiv gedruckten Bezeichnungen
handelt es sich nicht um echte Gehirnnerven. Zum Ursprung der Gehirnnerven im
Hirnstamm s. Teilabb. b in Plus 6.4 (S. 343).
doch bilden sie ein Ensemble von Nervenbahnen recht
unterschiedlicher Herkunft (▶ Abb. 12.147).
Zunächst sind Olfactorius (I) und Opticus (II) nicht mit
peripheren Nerven zu vergleichen. Der Riechnerv besteht
aus Axonen, die – vom Riechepithel auswachsend – zum
Lobus olfactorius des Vorderhirns ziehen (▶ Abb. 7.15,
S. 368), und der Sehnerv ist eine eigentliche Hirnbahn
(Trakt, Box 6.6 auf S. 331), die das Zwischenhirn mit seinem nach außen gestülpten Retinateil (▶ Abb. 7.25 a,
S. 377) verbindet. Auch der Vestibulocochlearis (VIII) bildet eine reine Sinnesbahn, die sich von den Rezeptoren
des Seitenliniensytems und der Labyrinthorgane ableitet.
Dagegen sind die Branchialnerven dem segmental gegliederten Viscerocranium zugeordnet. Der Trigeminus (V)
versorgt den Kieferbogen, der Facialis (VII) den Hyoidbogen, der Glossopharyngeus (IX) den 1. Branchialbogen
und der Vagus (X) die nachfolgenden Branchialbögen.
Die drei motorischen Nerven Oculomotorius (III), Trochlearis (IV) und Abducens (VI), die die äußeren Augenmuskeln innervieren, werden oft mit ventralen Wurzeln
von Rückenmarksnerven verglichen und in den Dienst
von Segmenttheorien des Kopfes gestellt. Der Accessorius (XI) wird erst bei Amnioten selbständig; bei Anamniern ist er noch ein Ast des Vagus. Der Hypoglossus
(XII), der ebenfalls als Hirnnerv nur den Amnioten zukommt, ist als ein Komplex ursprünglicher Spinalnerven
aufzufassen, die sekundär in die Schädelkapsel aufgenommen wurden.
Gerade am Beispiel der Branchialnerven und ihrer Ursprungsgebiete im Hirnstamm lässt sich zeigen, dass das
Gehirn auch bei höheren Formen die Grundorganisation
des Zentralnervensystems weitgehend bewahrt hat
(▶ Abb. 12.148). Die Zellkörper der sensorischen Fasern
liegen in seitlichen Ganglien; die Fasern selbst enden in
dorsalen sensorischen Kernen. Bei den motorischen Fasern liegen die Zellkörper dagegen im Hirnstamm selbst,
und zwar in ventralen motorischen Kernen. Beide Verhältnisse entsprechen denen im Rückenmark. Dass dagegen die visceromotorischen Axone über dorsale – statt
672
ventrale – Nerven aus dem Hirnstamm austreten, dürfte
einen primären Zustand repräsentieren, bei dem noch
keine strikte Sonderung in sensorische und motorische
Bahnen vorlag.
▶ Blutgefäßsystem
Neben den Nerven bilden die Blutgefäße das zweite
große Leitungssystem der Wirbeltiere. Im vorderen Teil
des Körpers folgen sie der Gliederung des Kiemendarms
(branchiomere Anordnung), im hinteren der Somitengliederung der Muskulatur (myomere Anordnung). Auch
wenn die peripheren Blutgefäße in ihrem Verlauf gruppen- und individuenspezifisch stärker variieren als die
topografisch strenger festgelegten Nervenbahnen, erweist sich der räumliche Anlageplan der Hauptblutgefäße
als außerordentlich konstant. Während der Embryonalentwicklung wird er bei allen Wirbeltiergruppen stereotyp rekapituliert.
In seinen Grundzügen ist dieser Plan bereits bei Branchiostoma angelegt (▶ Abb. 12.128, S. 654). Anstelle eines
zentralen Antriebsorgans (Herz) besitzt Branchiostoma
jedoch zahlreiche ventrale Kiemenherzen (Bulbilli), die
das Blut in die Kiemenbogengefäße treiben.
▶ Herz. Ontogenetisch entsteht das Herz ventral vom
Vorderdarm aus Seitenplattenmaterial – den primären
Herzzellen, die das Herzrohr (Endothel) bilden und um
die herum die Seitenplatten dann den Herzbeutel (Pericard) abschnüren. Anatomisch gliedert sich die schlauchförmige Herzanlage, die sich bereits bei den Fischen in
eine S-förmige Schlinge legt, in vier serial aufeinanderfolgende Abschnitte (▶ Abb. 12.149): Vom Venensystem
strömt das Blut zunächst in den Sinus venosus, von
dort in das ebenfalls dünnwandige Atrium (Vorkammer,
Vorhof) und dann in den muskulösen Ventrikel (Herzkammer), den es durch ein ebenso muskulöses Ausströmrohr, den Conus (oder – falls erweitert – Bulbus) arteriosus, wieder verlässt. Der folgende Anfangsteil der Aorta
ist oft als Truncus arteriosus ausgebildet.
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* früher: N. stato-acusticus
D Craniota: Evolution der Organsysteme
Hirnstamm
Rückenmark
somatomotorische Region Tela choroidea
somatosensorische Region
visceromotorische Region
viscerosensorische
Sulcus limitans
Region
Hirnganglion
weiße
Substanz
graue
Substanz
Spinalganglion
Flügel- somatosensorische Region
platte
viscerosensorische Region
Zentralkanal
Grund- visceromotorische Region
platte somatomotorische Region
dorsale
Wurzel
ventraler Ast
Seitenlinie,
Hautsinnesorgane
dorsaler
Ast
Branchialmuskulatur
postgang- präganglionäre
lionäre
Sympathikusfaser
Kopfmuskulatur,
äußere Augenmuskeln
Darmschleimhaut,
Geschmacksknospen
glatte Darmmuskulatur
Abb. 12.148 Querschnitt durch Hirnstamm und Rückenmark (nach Plate; Giersberg, Rietschel; Portmann). Bereits embryonal besteht
das Neuralrohr aus einer dorsalen (sensorischen) Flügelplatte und einer ventralen (motorischen) Grundplatte. Beide sind wiederum in
einen somatischen (die äußeren Organe versorgenden) und einen visceralen (die inneren Organe versorgenden) Anteil gegliedert.
Bei allen wasserlebenden Vertebraten wird das Herz
(Desoxy-)Blut
durchströmt
nur
von
O2-armem
(▶ Abb. 12.150: Fische und Amphibienlarven). Mit der
Ausbildung der Luftatmung und des Lungenkreislaufs
kommt es bei Amphibien zur Anlage von zwei Vorhöfen:
in den linken münden die Lungen-, in den rechten die
Körpervenen. Der nur noch embryonal angelegte Sinus
venosus wird in die rechte Vorkammer aufgenommen.
Im Ventrikel sorgt ein System vorspringender Muskelbalken (Trabekel) dafür, dass sich Oxy- und Desoxy-Blut nur
teilweise vermischen (▶ Abb. 12.150: adulte Amphibien).
Im Herz der rein lungenatmenden Amnioten wird die
vollständige Trennung beider Blutströme durch die Ausbildung einer Scheidewand im Ventrikel erreicht. (Bei
hypothetische
Ausgangsform
Atrium
Sinus venosus
Ductus Cuvieri
▶ Arteriensystem. Vom Truncus arteriosus bzw. dessen
Fortsetzung, der Aorta ventralis, entspringen die Kiemenbogenarterien: gemäß der Zahl der Branchialbögen
bis zu 15 bei Agnathen und meistens 6 bei primär wasserlebenden Gnathostomaten. Die abführenden Kiemengefäße münden in gemeinsame Aortenwurzeln, die sich
Knorpelfische
(Elasmobranchii)
Truncus arteriosus
Conus arteriosus
Ventrikel
Reptilien verfügen allerdings nur die Krokodile über ein
vollständig trennendes Ventrikelseptum.) Damit sind
Körper- und Lungenkreislauf als getrennte Systeme parallel geschaltet (▶ Abb. 12.150: Vögel, Säugetiere). In
beiden werden vom Herzen wegführende Gefäße als Arterien, zum Herzen hinführende Gefäße als Venen bezeichnet (Box 4.3, S. 275).
Truncus
arteriosus
Truncus
arteriosus
Conus
arteriosus
Conus
arteriosus
Ventrikel
Atrium
Sinus
venosus
12
Knochenfische
(Teleostei)
Ventrikel
Atrium
Pericard
Sinus
venosus
Abb. 12.149 Herzgliederung am Beispiel der Fische (nach Wiedersheim; Starck; Portmann). Bei den Knochenfischen ist die erste
Anlage des Herzschlauchs durch gestrichelte Linien angegeben. Säugetierherz s. ▶ Abb. 4.28 b (S. 274).
673
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ventrale Wurzel
Sympathikusganglion
12 Vielfalt der Organismen
Fische
Amphibien
larval
Arteria carotis
Arteria carotis
Arteria
carotis
III
III
IV
V
VI
VI
Atrium
vordere
Kardinalvene
hintere
Kardinalvene
Sinus venosus
Aorta
Lungenkapillaren
Reptilien
Vögel
Arteria carotis
Säugetiere
Arteria carotis
Arteria carotis
Vena
pulmonalis
III
III
IV
IV
Aortenwurzel
VI
VI
Arteria
pulmonalis
Atrium
Vena cava
anterior
Arteria
pulmonalis
Ventrikel
Ventrikel
Aorta
VI
Ductus
Botalli
Arteria
pulmonalis
Arteria
pulmonalis
Atrium
Aorta
L
Aortenwurzel
IV
V
Ventrikel
Ductus Cuvieri
R
III
IV
V
Ventrikel
Ductus
caroticus
Lungenkapillaren
Aorta
III
VI
IV
Ductus
Botalli
Arteria
pulmonalis
Vena cava
posterior
Ventrikel
Atrium
Ventrikel
R
L
Abb. 12.150 Herz und Arterienbogensystem. Ventrale Ansichten. Die Arterienbögen sind nach üblicher Branchialbogenzählung
(▶ Abb. 12.143 c, S. 668) mit III – VI bezeichnet. Oxy-Blut hellrot; Desoxy-Blut dunkelrot; Mischblut (bei adulten Amphibien und
Reptilien) in mittlerem Rotton. Vgl. ▶ Abb. 4.28 a (S. 274).
L = linke Körperseite, R = rechte Körperseite.
Beim Ductus caroticus der adulten Amphibien handelt es sich um einen rudimentären Teil der Aortenwurzel. Arteria carotis = Kopfarterie (Carotide), Arteria pulmonalis = Lungenarterie, Vena cava anterior, posterior = vordere und hintere Hohlvene, Vena pulmonalis =
Lungenvene.
caudal zur Aorta descendens vereinigen, die die Rumpfund Schwanzregion versorgt.
Auch bei Tetrapoden, denen Kiemen fehlen, werden die
Arterienbögen embryonal stets in der für Fische typischen Zahl und topografischen Gliederung angelegt und
erst in der weiteren ontogenetischen Entwicklung gruppenspezifisch modifiziert. Völlige Reduktion erfährt
dabei der 1. und 2. Bogen (Mandibular- und Hyoidbogen)
sowie der 5. Bogen. Letzterer bleibt nur bei einigen Urodelen als „zweiter Aortenbogen“ erhalten. Der 3. Bogen
bildet die Kopfarterien (Carotiden), der 4. Bogen die primär paarigen Aortenwurzeln und der 6. Bogen die Lungenarterien.
674
Das Verbindungsstück zwischen Aortenwurzeln und
Lungenarterien kann als Ductus Botalli persistieren
(z. B. bei Urodelen, ▶ Abb. 12.150: adulte Amphibien).
Beim Säugerembryo fließt placentales Blut über den
rechten Vorhof und Ventrikel einerseits durch das Foramen ovale des Atriumseptums in die linke Herzkammer,
andererseits in die Lungenarterie. Von dort strömt es
unter Umgehung der noch nicht funktionsfähigen Lungen
über den Ductus Botalli in die Aorta. Mit dem Einsetzen
der Lungenatmung schließen sich Ductus Botalli und Foramen ovale.
Der bei Amphibien noch weitgehend symmetrischen
Anlage der Arterienbögen überlagert sich bei Amnioten
eine ausgeprägte Asymmetrie. Bei Reptilien treten die
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Kiemenkapillaren
adult (Salamander)
Carotiden mit einer der beiden Aortenwurzeln in Kontakt
– und zwar mit jener, die dem linken Ventrikel entspringt
und infolge der bei Reptilien erstmals auftretenden Überkreuzung der Aortenwurzeln nach rechts zieht
(▶ Abb. 12.150: Reptilien). Die vom rechten Ventrikel
kommende (und nach links abbiegende) Aortenwurzel
ist schwächer ausgebildet. Bei Vögeln verkümmert sie
bereits embryonal. Vögel verfügen also nur über einen
rechten Aortenbogen, Säuger dagegen nur über einen linken, der allerdings wie bei Vögeln seinen Ursprung im
linken Ventrikel nimmt (▶ Abb. 12.150). Wegen der größeren Pumpleistung, die der nachgeschaltete Körperkreislauf erfordert, sind die Wandungen des linken Ventrikels wesentlich stärker ausgebildet als die des rechten,
der nur für den druckschwächeren Lungenkreislauf zuständig ist.
▶ Venensystem. Bei Fischen strömt das venöse (Desoxy-)
Blut des Körpers über ein Paar vordere und hintere Kardinalvenen (Venae cardinales) in den Sinus venosus des
Herzens (▶ Abb. 12.150: Fische). Zuvor vereinigen sich jederseits die vordere und hintere Kardinalvene zum Ductus
Cuvieri (▶ Abb. 12.149). Bei Tetrapoden wird dieses System der Kardinalvenen zunächst im hinteren Körperbereich (bei Amphibien), dann aber auch vorn (bei Amnioten) durch Hohlvenen (Venae cavae) ersetzt, in deren Anlage Reste der alten Kardinalvenen eingehen.
Einige Organe verfügen neben dem obligaten arteriovenösen Kapillarsystem zusätzlich noch über ein rein venöses Pfortadersystem (Portalsystem). So strömt bei
allen Chordaten das nährstoffreiche venöse Blut des Mitteldarmgebiets
über
die
Vena
subintestinalis
(▶ Abb. 12.128 c, S. 654), die spätere Vena portae (Pfortader), zur Leber und von dort über die Lebervene (Vena
hepatica) zum Sinus venosus (bei Fischen) bzw. zur hinteren Hohlvene (bei Tetrapoden): Leber-Pfortader-System (▶ Abb. 12.173, S. 695). Analog existiert ein NierenPfortader-System, das allerdings adulten Säugern fehlt.
Bei ihnen strömt das venöse Blut aus den Hinterextremitäten direkt in die hintere Hohlvene.
▶ Urogenitalsystem
Zwischen Exkretions- und Fortpflanzungssystem besteht
keine funktionell notwendige Beziehung. Bei den meisten
Invertebraten – mit Ausnahme der Anneliden (S. 608) –
werden beide Systeme auch völlig getrennt voneinander
ausgebildet. Dass sie bei Vertebraten vielfach zu einem
Urogenitalsystem zusammentreten, beruht auf der
engen räumlichen Nachbarschaft ihrer Primordien im
Wirbeltierembryo (▶ Abb. 12.137 b, S. 663). Im Adultzustand werden häufig gemeinsame Ausfuhrkanäle für
Harn und Gameten benutzt und sogar Teile der Exkretionsorgane selbst in den Dienst des Sexualapparats gestellt.
▶ Exkretionsorgane. Bei ancestralen Wirbeltieren wird
das Exkretionssystem ähnlich wie das Nerven- und Blut-
gefäßsystem segmental angelegt. Im ursprünglich organisierten Holonephros besaßen alle Rumpfsegmentpaare
ein Nierenelement (Nephron), das sich auf Höhe jedes
Somitenstiels mit einem Trichter (Nephrostom) ins Coelom öffnete (▶ Abb. 12.151, heute noch bei Myxine).
Schon zu einem frühen evolutiven Zeitpunkt muss sich
ein cranialer Abschnitt des Holonephros als Pronephros
(Vorniere, ▶ Abb. 12.151) vom Rumpfabschnitt – dem
Opisthonephros – abgegliedert haben. Embryonal bei
allen Wirbeltieren vertreten, bleibt er adult nur bei einigen (Süßwasser-)Teleostiern und Amphibien in wenigen
vorderen Körpersegmenten erhalten. Ontogenetisch
stülpt sich in jedem dieser Segmente ein Kapillarknäuel
von der Coelomwand gegen das Nephrostom vor (äußerer Glomerulus). Die vom Glomerulus ins Coelom ausgeschiedene Harnflüssigkeit wird vom Nephrostom eingestrudelt und gelangt auf diese Weise in das Nierenkanälchen (Tubulus). Die Tubuli aller Nephronen biegen
caudalwärts um und verschmelzen zum primären Harnleiter (= Wolff-Gang, Vornierengang), der in die Kloake
mündet.
Im weiter caudal gelegenen Opisthonephros (Rumpfniere, ▶ Abb. 12.151), der den Knorpelfischen, vielen Amphibien und – als Metanephros – auch allen Amnioten
als alleiniges Ausscheidungsorgan dient, treten im adulten Zustand keine Nephrostome mehr auf. Der Blutgefäßglomerulus wird von einer Coelomkapsel (Bowman-Kapsel) becherförmig umfasst und bildet dann den zentralen
Teil des Malpighi-Körperchens (▶ Abb. 4.39 a, S. 288).
Auch die segmentale Gliederung des Harnorgans geht
mehr und mehr – schließlich sogar im embryonalen Anlageplan – verloren. Die Opisthonephros-Tubuli nehmen
zwar bei einigen Teleostiern und Amphibien noch Kontakt mit dem Wolff-Gang auf, bei den Amnioten (aber
auch bei den Knorpelfischen und vielen Amphibien)
münden sie jedoch in einen neuen Gang, den sekundären
Harnleiter (= Ureter) (▶ Abb. 12.151: Metanephros). Ontogenetisch wächst dieser sekundäre Harnleiter vom
Endabschnitt des Wolff-Gangs in cranialer Richtung bis
zum Opisthonephros aus, wo sich ihm die Nierenkanälchen anschließen. Wie oben schon erwähnt, wird der
kompakte, caudal gelegene (und mit Ureter versehene)
Opisthonephros der Amnioten als Metanephros bezeichnet.
12
▶ Fortpflanzungsorgane. Wirbeltiere vermehren sich
durch geschlechtliche (bisexuelle) Fortpflanzung. Die
Keimzellen (Gameten: Ei- und Samenzellen) reifen in
den Gonaden (Ovarien und Hoden) heran und werden
über spezielle Ausfuhrgänge (Gonodukte) nach außen geleitet. Die für alle Landwirbeltiere obligate innere Besamung erfolgt über Kopulationsorgane im weiblichen Ausführgang, dem Eileiter (Ovidukt). Gonaden, Ausfuhrgänge, ihre verschiedenen Anhangsdrüsen (z. B. Samenblasen, Prostata bei Säugetieren) und die Kopulationsorgane
bilden die primären Geschlechtsmerkmale. Ihnen werden die sekundären Geschlechtsmerkmale gegenüber-
675
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D Craniota: Evolution der Organsysteme
12 Vielfalt der Organismen
Holonephros
Pronephros
Opisthonephros
Metanephros
Aorta
WolffGang
Coelom
MalpighiKörperchen
äußerer
Glomerulus
Nephrostom
WolffGang
Nephrostom
Nephrostom
äußerer
Glomerulus
Hoden
WolffGang
WolffGang
WolffGang
WolffGang
Ureter
Abb. 12.151 Nierentypen bei Vertebraten (nach Romer; Starck). Die Einschaltbilder zeigen die embryonalen Anlagen von Pro- und
Opisthonephros.
gestellt, die sich meistens unter dem Einfluss geschlechtsspezifischer Sexualhormone entwickeln und
bei Partnerwahl, Revierverteidigung, Jungenaufzucht
usw. eine Rolle spielen. Hierzu zählen geschlechtsspezifische Unterschiede in Feder- und Haarkleid, in Gebissund Skelettmerkmalen, ferner Horn- und Geweihbildungen, Milchdrüsen, Brustflecken sowie das Marsupium
(Beutel) der Beuteltiere.
Die Anlage der Gonaden lässt nur noch bei Knorpelfischen und Amphibien eine segmentale Gliederung erkennen; bei den übrigen Gruppen erfolgt sie von Anfang
an in Form eines kompakten Gewebestrangs. Stets beginnt sie damit, dass sich die Coelomwand beiderseits
des dorsalen Mesenteriums – in unmittelbarer Nachbarschaft der Nierenanlage – vorwölbt und zu paarigen Genitalleisten differenziert. In diesen leistenförmigen Gonadenanlagen treten zwei Zelltypen auf: Keimzellen und
somatische Zellen („Gonadensoma“). Letztere bilden im
weiblichen Geschlecht die Follikelzellen (▶ Abb. 3.17,
S. 173), im männlichen die Samenkanälchen und die Zwischenzellen (interstitielle Zellen). Sie sind die Produktionsstätten der Sexualhormone.
Bei allen Wirbeltieren findet man die Urkeimzellen
zunächst außerhalb des Gonadensomas. Bei Anuren liegen sie in der frühen Ontogenese im ventralen Entoderm,
wandern amöboid in die dorsale Darmwand und von dort
durch das Mesenterium in die Gonadenanlagen (Keim-
676
bahn: ▶ Abb. 12.152). Ähnlich wie bei Insekten bestimmt
in der frühen Ontogenese ein spezialisiertes Keimplasma,
das RNA-haltige Granula (Polgranula) enthält, die Sonderrolle der Keimzellen.
Das Gonadensoma wird embryonal bisexuell angelegt
(▶ Abb. 12.153). Die Rindenregion (Cortex) kann sich
später zum Ovar, die Markregion (Medulla) zum Hoden
(Testis) entwickeln. Liegen Urkeimzellen in der Rinde,
differenzieren sie sich zu Oogonien (und dann weiter zu
Eizellen), liegen sie im Mark, werden sie zu Spermatogonien (und Spermien) – unabhängig vom Karyotyp: Das
Geschlecht des Gonadensomas determiniert den Typ der
Keimzellen. Ob sich in der embryonalen Gonadenanlage
die Rinde oder das Mark weiterentwickelt, die Ontogenese also in weiblicher oder männlicher Richtung verläuft,
entscheiden zunächst genetische und später hormonale
Faktoren des Somas.
Nicht nur die Gonaden, sondern auch deren Ausfuhrgänge (Gonodukte) werden bisexuell angelegt. Parallel
zum Wolff-Gang – dem primären Harnleiter, der bei Amnioten ausschließlich als Samenleiter dient – entwickelt
sich ein zweiter Gang, der primäre Eileiter (MüllerGang). Bei ancestralen Fischen entsteht er embryonal
durch Abspaltung vom Wolff-Gang. Hormonale Geschlechtsrealisatoren, die von Medulla oder Cortex der
embryonalen Gonade abgegeben werden, entscheiden
über das weitere Schicksal dieser Gänge (▶ Abb. 12.153):
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Nebenhoden
MalpighiKörperchen
(von BowmanKapsel
umschlossener
Glomerulus)
D Craniota: Evolution der Organsysteme
c
Neuralrohr
Somit
Chorda
Aorta
Vene
Nucleus
Keimbahnkörper
b
Genitalleiste
Mesenterium
Urkeimzelle
Blastocoel
Urkeimzelle
Entodermzelle
Darmwand
Normalerweise differenziert sich beim Männchen nur der
Wolff-Gang, beim Weibchen nur der Müller-Gang zum
Samen- bzw. Eileiter. Die jeweils andere Anlage degeneriert. Bei männlichen Kröten bleibt zeitlebens ein Cortexrest als Bidder-Organ erhalten. Wird der Hoden entfernt,
entwickelt sich dieses Organ zu einem funktionsfähigen
Ovar. Da sich auch die Müller-Gänge nicht vollständig
zurückgebildet haben, kann eine zunächst als „Vater“ erfolgreiche Kröte nach Hodenexstirpation als „Mutter“
eine zweite Nachkommenschaft liefern.
In weiblichen Vögeln wird nur die linke Gonadenanlage
ausdifferenziert. Nach Exstirpation des Ovars wächst die
bisexuell gebliebene rechte Gonadenanlage zu einem
a
Abb. 12.152 Keimbahn in der Embryonalentwicklung des Frosches (Rana) (nach
Bounoure; Hadorn).
a Im Zweizellstadium liegen am vegetativen
Zellpol sog. Keimbahnkörper, die die Keimzelldeterminanten enthalten (Polgranula, für
Drosophila s. S. 205). b Die Urkeimzellen
(orange) mit den Keimbahnkörpern (rot)
verschieben sich zwischen den Entodermzellen gegen das Blastocoel und c wandern
nach Ausdifferenzierung der Genitalleiste
von der dorsalen Darmwand durch das
Mesenterium ins Mark (schwarz) und in die
Rinde (blau) der embryonalen Gonaden.
Wanderung von Keimbahnkörpern und
Urkeimzellen durch rote Pfeile markiert.
Zwitterorgan (Ovotestis) oder zu einem funktionsfähigen
Hoden heran. Auch in der Normalentwicklung kommen
Zwittergonaden vor, z. B. bei vielen Teleostiern. Männliche und weibliche Gameten reifen jedoch meistens
nicht gleichzeitig. Ist das dennoch der Fall wie bei einigen
Meerbrassen (Sparidae) und Sägebarschen (Serranidae),
liegt echte Zwitterbildung vor.
Im männlichen Geschlecht geht die Gonade bei den
meisten Gnathostomaten eine Verbindung mit einigen
Tubuli der Rumpfniere ein (Urogenitalverbindung,
▶ Abb. 12.154). Bei Knorpelfischen und Amphibien werden die Spermien aus dem Hoden über Ductuli efferentes
in den cranialen Abschnitt des Opisthonephros (dessen
Embryonal bisexuell
Abb. 12.153 Bisexuelle Gonadenanlage
bei Amphibien (a) und Differenzierung der
Anlage zu Ovar und Hoden (b).
Pronephros
Müller-Gang
Rinde der Gonadenanlage
Mark der Gonadenanlage
Wolff-Gang
12
b
Ovarium
Adult
Adult
Hoden
Opisthonephros
Ovidukt
(Müller-Gang)
Ureter
(Harnleiter)
Opisthonephros
Müller-Gang
(reduziert)
Wolff-Gang
(Harnsamenleiter)
Samenblase
677
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a
12 Vielfalt der Organismen
Chondrostier
(Stör, Acipenser)
Elasmobranchier,
Amphibien
Amnioten
Opisthonephros
Pars sexualis
des Opisthonephros
Meta- Nebennephros hoden
Teleostier
Opisthonephros
Abb. 12.154 Ableitungswege der männlichen Gonade, Urogenitalverbindung
(nach Angaben von Romer; Starck). Grüne
Linien: Harnsamenleiter bei Urogenitalverbindungen; violette Linien: reine Harnleiter;
orange Linien: reine Samenleiter.
Hoden
WolffGang
Ureter
Pars renalis
des Opisthonephros
a
WolffGang
WolffGang
Ductus
spermaticus
Ovar
b
Keimscheibe
alter Follikel
(ihm entstammt Eizelle Ez1)
Ovulation
Besamung
Eiklar (Eiweiß)
Dotter (Eigelb)
Follikel mit
ausgewachsener Eizelle
Luftkammer
Ostium tubae
Eiweißbildung
Bildung der
Schalenhaut
Bildung der
Kalkschale
Ez1
Eiweißdrüsenteil
des Ovidukts
Hagelschnur
(Chalaza)
innere, äußere Schalenhaut
Chorion Amnion Allantois
Ez2
Keimscheibe
Embryo
extraembryonales Coelom
Ez3
Ureter
Darm
Kloake
Dottersack
Blutgefäße
Abb. 12.155 Oviparie bei Vögeln (nach Starck; Portmann; Luckelt; Ruiz).
a Ovidukt des Huhns (Gallus) mit verschiedenen Stadien der Eibildung. b Struktur des Hühnereis in einem frühen (oben) und späteren
Stadium (unten: mit Embryo und extraembryonalen Anhangsorganen). Im frisch besamten Ei bildet das gesamte Eigelb die dotterreiche
Eizelle. Das Eiklar besteht vor allem aus Ovalbumin, das sich in den Hagelschnüren verdichtet. Die für Vögel typische discoidale
Furchung (S. 172) beschränkt sich auf die Keimscheibe am animalen Pol der Eizelle. Zum Zeitpunkt der Eiablage besteht die Keimscheibe bereits aus 60 000 Zellen. Erst später breitet sich das Blastoderm über die zunächst ungefurchte Dotterkugel aus. Zu den
extraembryonalen Anhangsorganen zählen neben Amnion und Chorion, die das extraembryonale Coelom umschließen (zur Bildung
s. S. 179), der Dottersack und die Allantois. Ersterer steht mit dem Mitteldarm, letztere mit dem Enddarm in Verbindung. Die Allantois
speichert N-haltige Stoffwechselendprodukte und bildet bei Vögeln zusammen mit dem Chorion (Chorioallantois) das Hauptatmungsorgan des im Ei eingeschlossenen Embryos. Ez1 = jüngste Eizelle im Ovidukt, Ez2 = von Eiweißmasse umgebene Eizelle
(beginnende Embryonalentwicklung), Ez3 = ausgebildetes Ei.
678
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Hoden WolffGang
Pars sexualis) und von dort durch den Wolff-Gang in die
Kloake geleitet. Der Wolff-Gang übernimmt in diesem
Fall als Harnsamenleiter eine Doppelfunktion.
Bei ancestralen Knochenfischen kann die Urogenitalverbindung in Lage und Ausdehnung längs des Opisthonephros stark variieren: Bei Acipenser (▶ Abb. 12.154)
und Neoceratodus erstreckt sie sich über die gesamte
Rumpfnierenlänge, bei Lepidosiren nur über den caudalen
Abschnitt, sodass hier nur dem letzten Stück des WolffGangs die Rolle eines Harnsamenleiters zukommt. Selbst
bei Amphibien (z. B. Rana) können noch zwei Drittel der
gesamten Rumpfniere in die Urogenitalverbindung einbezogen werden. Bei Teleosteern fehlt diese Verbindung
dagegen immer: Opisthonephros und Hoden, der hier
durch einen sekundären Samenleiter (Ductus spermaticus) ausmündet, liegen völlig getrennt nebeneinander.
Auf andere Weise als bei Teleosteern wird die Trennung
von Harn- und Samenwegen bei Amnioten erreicht
(▶ Abb. 12.151: Metanephros; ▶ Abb. 12.154). Der craniale Rumpfnierenabschnitt dient hier nur noch während des
Embryonallebens als Ausscheidungsorgan, adult dagegen
als Nebenhoden (Epididymis) allein der Speicherung und
Ausleitung der Spermien. Der Wolff-Gang übernimmt
damit ausschließlich die Rolle des Samenleiters (Ductus
deferens). Ein Ureter dient als sekundärer Harnleiter.
Im weiblichen Geschlecht kommt es niemals zu einer
Verbindung zwischen Ovar und Opisthonephros. Der im
männlichen Geschlecht in den Sexualapparat einbezogene craniale Teil der Rumpfniere degeneriert nach Abschluss seiner embryonalen Exkretionstätigkeit. Nur gelegentlich bleiben Reste als Nebeneierstock (Epoophoron)
auch adult erhalten. Die Eizellen gelangen aus dem Ovar
direkt in die Leibeshöhle, wo sie vom paarigen Eileiter
(Müller-Gang) durch einen Flimmertrichter (Ostium tubae) aufgenommen werden. Bei Amnioten gliedern sich
die Müller-Gänge in Ovidukt (Eileiter), Uterus (Gebärmutter) und Vagina (Scheide). Laufen im Ovidukt bereits
längere Phasen der Embryonalentwicklung ab, können –
bei Vorliegen von Oviparie – spezielle Drüsensekrete
Schutz- und Ernährungsfunktion für den Embryo übernehmen (Eiweiß- und Schalendrüsen bei Knorpelfischen,
Marsupialia
Gallertdrüsen bei Amphibien, Eiweißdrüsen im oberen
und Schalendrüsen im unteren Teil des Ovidukts der Sauropsiden, s. Vögel ▶ Abb. 12.155). Bei Viviparie existieren
im Uterus eigene Entwicklungsstätten für den Embryo
(Bildung einer Placenta als stoffwechselphysiologisch aktives Kontaktorgan zwischen embryonalem und mütterlichem Gewebe, S. 179). Im Zusammenhang mit der außerordentlichen Größe der Eier wird bei Vögeln nicht nur
das Ovar, sondern auch der Müller-Gang nur auf einer –
der linken – Körperseite ausgebildet.
Von den Knorpelfischen bis zu den Vögeln münden die
Harn- und Geschlechtsgänge in eine Kloake. Nur die sekundären Eileiter der Teleostier können in einem eigenen
Porus genitalis nach außen führen. Der Kloake sitzt als
ventrale Ausstülpung die Harnblase an. Bei vielen Sauropsiden, die einen hochkonzentrierten, breiigen Harn
erzeugen (S. 286), wird die Harnblase zurückgebildet.
Bei den Säugetieren – mit Ausnahme der Monotremen –
teilt der Damm (Perineum) die embryonal angelegte
Kloake in einen ventralen Teil, den Sinus urogenitalis,
und den dorsalen Enddarm mit der Afteröffnung. In den
Sinus urogenitalis münden die Gonodukte und die Harnblase mit der Harnröhre (Urethra).
Innerhalb der Säugetiere (▶ Abb. 12.156) bleiben bei
den Monotremen und Marsupialiern die Müller-Gänge
vollständig voneinander getrennt, sodass vom Sinus urogenitalis zwei Scheiden ausgehen (Didelphia = Zweischeidige). Bei den übrigen Säugetieren, den Placentaliern
(Monodelphia = Einscheidige), verschmelzen die unteren
Abschnitte (Scheiden) zu einer einheitlichen Vagina. Die
Uteri können dabei völlig getrennt bleiben (Uterus duplex) oder in die Verschmelzung einbezogen werden. In
letzterem Fall kann sich die Verschmelzung auf die unteren Uterusabschnitte beschränken (Uterus bicornis) oder
zu einem einheitlichen, unpaaren Uterus simplex führen.
Kopulationsorgane: Primär wasserlebende Wirbeltiere entleeren ihre Spermien direkt aus der Kloake nach
außen. Falls äußere Besamung stattfindet, werden auch
die Eizellen auf gleiche Weise abgegeben. Doch können
komplizierte Paarungsverhaltensweisen eine innere Besamung auch ohne besondere Kopulationsorgane sichern.
Placentalia
Uterus
duplex
Uterus
bicornis
Uterus
simplex
Ovidukt
12
Abb. 12.156 Weibliche Geschlechtsgänge
bei Säugetieren. Innerhalb der Placentalier
tritt der Uterus duplex bei Nagetieren auf,
der Uterus bicornis bei Insektenfressern,
Raubtieren, Paarhufern, Walen und Halbaffen und der Uterus simplex bei den Primaten (exkl. Halbaffen). Bei den Fledermäusen finden sich alle drei Uterustypen.
Uterus
Vagina
Harnblase
Sinus
urogenitalis
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D Craniota: Evolution der Organsysteme
Bei Haien sind dagegen zwei Strahlen der paarigen
Bauchflossen zu einem männlichen Kopulationsorgan
(Pterygopodium) umgebildet. Bei einigen Teleostiern
übernehmen Strahlen der unpaaren Analflosse die gleiche Funktion (Gonopodium). Bei den Landwirbeltieren
wird im Sinus urogenitalis ein Geschlechtshöcker (Phallus) ausgebildet, der sich bei den Weibchen der Placentalier zur Klitoris, bei den Männchen zum Begattungsglied
(Penis) differenziert. Eidechsen und Schlangen besitzen
einen paarigen, Krokodile und Schildkröten einen unpaaren Penis. Bei den Vögeln verfügen nur die Straußen-,
Enten- und Gänsevögel über einen Penis. Die übrigen
Vögel – die Neoaves – pressen während der Kopulation
die Kloaken aneinander. Der Penis der Säugetiere entwickelt sich unter dem Einfluss androgener Sexualhormone aus einem undifferenzierten Geschlechtshöcker,
der im weiblichen Geschlecht zur Klitoris wird.
12.14.3 „Agnatha“ (Kieferlose)
Formenübersicht
c
Myxinoida (Schleimaale), marin, vorwiegend saprozoisch, keine Metamorphose: Myxine (Inger), im Atlantik,
Schlickboden; Eptatretus, an nordamerikanischer Pazifikküste, Felsboden.
Petromyzontida (Neunaugen), mit Metamorphose, Larven limnisch, Adultformen marin oder limnisch, räuberisch bzw. ektoparasitisch an Fischen: Petromyzon (Meeresneunauge); Lampetra (Flussneunauge).
Die heute nur knapp 100 Arten umfassenden Agnathen (=
Cyclostomaten, Rundmäuler) bilden eine Restgruppe der
paläozoisch weit verbreiteten kieferlosen Fische (Ostracodermen, Plus 12.4 auf S. 667). Mit ihrem nackten, aalähnlichen Körper verfügen die rezenten Formen weder
über ein Außenskelett noch über paarige Flossen. Die
Chorda, die zeitlebens erhalten bleibt, und das – wohl
sekundär – knorpelige Endoskelett verleihen ihnen eine
hohe Biegungselastizität. Die sich von kranken oder toten
Fischen ernährenden marinen Schleimaale können ihren
Körper sogar verknoten.
Die Neunaugen entwickeln sich über das Stadium der
Ammocoetes-Larve, die wie die Acranier als Strudler
lebt. Während der Metamorphose schließt sich das Endostyl des Kiemendarms (S. 655) und differenziert sich
zur Schilddrüse. Die bei den Larven unter der Haut liegenden Blasenaugen entwickeln sich zu typischen Vertebratenaugen. Zusammen mit der sekundär unpaaren
Nasengrube und den jederseits 7 äußeren Kiemenöffnungen sind sie für den Namen „Neunauge“ verantwortlich.
Die adulten Tiere leben räuberisch. Dabei heften sie sich
mit einer Saugscheibe, die mit Hornzähnchen bewehrt
die kleine runde Mundöffnung umschließt (Name: Rundmäuler), an lebenden Fischen fest, denen sie dann mit
einem Raspelapparat Gewebestücke entreißen.
680
Das Meeresneunauge (Petromyzon) lebt jahrelang als
Ammocoetes-Larve in Flüssen und Bächen, um nach der
Metamorphose als Adultform ins Meer, aber nach Eintreten der Geschlechtsreife zur Paarung wieder in die Flüsse
zurück zu wandern (anadromer Lebenszyklus, bei dem
die Tiere wie die Störe und Lachse unter den Actinopterygiern zum Laichen aus dem Meer flussaufwärts wandern).
Sie nehmen dann keine Nahrung mehr auf, laichen ab und
sterben. Die Flussneunaugen (Lampetra) verbleiben dagegen zeitlebens in den Oberläufen von Fließgewässern.
Nach der Metamorphose der jahrelang im Schlamm lebenden Ammocoetes-Larven nehmen die Adulten keine
Nahrung mehr auf. Sie dienen rein als Reproduktionsformen, die schon wenige Monate nach der Metamorphose
sterben. Im Gegensatz zu den Petromyzonten zeigen die
weltweit verbreiteten marinen Schleimaale einen einphasigen Lebenszyklus. Sie sind proterandrische Hermaphroditen, d. h. Zwitter, bei denen die (unpaare) Gonade
zunächst männliche, später weibliche Gameten bildet.
12.14.4 Chondrichthyes
(Knorpelfische)
Formenübersicht
c
Elasmobranchii (= Neoselachii): „Selachii“ (Haie,
▶ Abb. 12.157), paraphyletische Gruppe relativ ursprünglicher Knorpelfische, fast alle Arten marin: Scyliorhinus (Katzenhai); Squalus (Dornhai, „Seeaal“); Mustelus (Glatthai); Carcharodon (Weißer Hai), über 3 m
lang. Batoidea (= Rajiformes) (Rochen), dorsoventral
abgeflacht, marin, vorwiegend benthisch: Raja (Nagelund Glattrochen); Torpedo (Zitterrochen), mit elektrischem Organ (S. 402); Manta (Teufelsrochen).
Holocephali (Seekatzen, Chimären), marin, Bodenbewohner: Chimaera.
Obwohl alle heutigen Knorpelfische als Skelettsubstanz
Knorpel – nicht Knochen – besitzen, stammen sie von
knochentragenden Formen ab. Als Reste eines ehemaligen knöchernen Dermalskeletts können die für die ganze
Gruppe charakteristischen Hautzähne (Placoidschuppen,
▶ Abb. 12.133, S. 659) gelten. Der Schädel, dem das Dermatocranium fehlt, wird nur von Neuro- und Viscerocranium gebildet.
Beim frühen Auftreten von Knorpelgewebe in der Embryonalentwicklung der Wirbeltiere handelt es sich also
nicht, wie früher vermutet, um die Rekapitulation eines
stammesgeschichtlich ursprünglichen Zustands. Phylogenetisch erscheint Knochengewebe vielleicht sogar früher
als echtes hyalines Knorpelgewebe (Ostracodermen, Placodermen; Plus 12.4 auf S. 667). Dass ontogenetisch zuerst Knorpel auftritt, ist als Anpassung an die hohe
Wachstumsrate, aber geringe mechanische Beanspruchung des embryonalen Skeletts zu verstehen. Knorpel-
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12 Vielfalt der Organismen
12.14.5 Actinopterygii (Strahlenflosser)
Hoden Rückenflosse
Gehirn
Aorta Magen
Mundhöhle
Kiemendarm
Abb. 12.157 Organisationsschema eines
Hais (♂). Oxy-Blut hellrot, Desoxy-Blut
dunkelrot.
Niere
Schwanzflosse
Bauchflosse
Leber Mitteldarm
a
b
Abb. 12.158 Ernährungssystem der Haie.
a Querschnitt durch Oberkieferrand mit
Zahnfolge. Die Verlagerung der Zähne erfolgt in Richtung des orangen Pfeils. b Zwei
Ausprägungen des Spiraldarms.
Zähne
Spiraldarm
außen
innen
Kloake
Fuchshai
(Alopias)
gewebe wächst schnell „von innen heraus“ durch Intussuszeption, Knochengewebe dagegen langsam über komplizierte Resorptions- und Appositionsprozesse (S. 661).
Seit 400 Mio. Jahren – seit dem unteren Devon – als
räuberisch lebende, gewandte Hochseeschwimmer in
ihren wesentlichen Strukturmerkmalen nahezu unverändert, zeigen die Selachier eine merkwürdige Kombination ursprünglicher und spezialisierter Merkmale. Wie
die Placoidschuppen besitzen auch die Zähne keinen echten Schmelz, sondern werden von knochenähnlichem
Vitrodentin überzogen. Im Gegensatz zu den Placoidschuppen ist das Vitrodentin der Zähne mesodermalen
Ursprungs.
Das
ektodermale
Schmelzorgan
(▶ Abb. 12.133 a, S. 659) dient hier lediglich als Passform
für die Vitrodentinkappe. Die Zähne entstehen in einer
Epithelfalte hinter dem Mundrand, werden in der Ontogenese auf den Kieferrand geschoben und – abgenutzt –
nach außen geklappt, wo sie ausfallen (▶ Abb. 12.158 a).
Der Schlunddarm wird meistens von 5 Kiemenspalten
durchbrochen. Vor der 1. Kiemenspalte liegt das Spritzloch (Spiraculum). Es leitet sich von der ursprünglich
zwischen Mandibular- und Hyoidbogen gelegenen Kiemenspalte ab, die durch Einbezug des Hyoidbogens in
die Aufhängung des Kieferapparats ventral stark eingeengt wurde (▶ Abb. 12.143 c, S. 668). Der weitlumige,
nicht in Dünn- und Dickdarm unterteilte Mitteldarm ist
Katzenhai
(Scyliorhinus)
zur Vergrößerung der inneren Oberfläche mit einer Spiralfalte versehen (▶ Abb. 12.158 b). Das Gehirn verfügt
über mächtig entwickelte Riechlappen (Vorderhirn als
primäres Riechhirn). Haie sind Makrosmaten.
Als hoch spezialisiert muss die Art der Fortpflanzung
gelten. Einige Haie legen große, dotterreiche, von einer
Hornschale umgebene Eier, sind also ovipar. Die Mehrzahl der Haie ist dagegen lebendgebährend: ovovivipar
(Schlüpfen der Jungfische innerhalb des Uterus) oder vivipar (Embryonen entwickeln sich – säugetierähnlich –
an einer Placenta). In allen Fällen erfolgt innere Besamung, wozu ein Teil der männlichen Bauchflossen als
Penis ausgebildet ist (S. 679).
12
12.14.5 Actinopterygii
(Strahlenflosser)
Formenübersicht
c
Cladistia (Flösselfische), nur in Flüssen Afrikas, 2 Gattungen: Polypterus (Flösselhecht); Erpetoichthys (Flösselaal).
Chondrostei (Knorpelganoiden): Acipenser (Stör); Huso
(Beluga); Polyodon (Löffelstör).
Ginglymodi (Knochenganoiden), 2 Gattungen: Lepisosteus (Kaimanfisch, Knochenhecht); Atractosteus.
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Gallenblase
Brustflosse Pankreas
Halecomorphi (Kahlhechte), 1 Art: Amia calva
(Schlammfisch).
Teleostei (Knochenfische i. e. S.), 25 000 – 30 000 Arten,
z. B. Clupeiformes: Clupea (Hering); Salmoniformes:
Salmo (Forelle); Cypriniformes: Cyprinus (Karpfen); Siluriformes: Silurus (Wels); Esociformes: Esox (Hecht); Gadiformes: Gadus (Kabeljau); Perciformes: Perca (Flussbarsch), Haplochromis (Maulbrüter).
Ginglymodi und Halecomorphi wurden früher als „Holostei“ zusammengefasst.
Fossil treten die ersten Knochenfische bereits vor den
Knorpelfischen auf. Doch haben die Teleosteer – die dominierende Knochenfischgruppe – erst in der Kreidezeit
und im frühen Tertiär ihre Radiation zur heutigen Formenfülle erlebt.
Zum vorwiegend verknöcherten Skelett gehört neben
dem Schädel, der Wirbelsäule, den mit ihr verbundenen
Rippen und den freien Gräten auch ein Hautknochenpanzer (S. 659). Bei ancestralen Knochenfischen (Cladistia, Chondrostei, Ginglymodi und Halecomorphi, insgesamt nur 48 Arten) besteht er aus dicken, knöchernen,
von schmelzartigem Ganoin überzogenen, rhombenförmigen Ganoidschuppen. Mit der verstärkten Ausbildung
eines knöchernen Innenskeletts bildet sich dieser Rhomboidschuppenpanzer bei höheren Fischen zurück. Die Teleosteer besitzen nur noch dünne, biegsame, ausschließlich aus Knochen bestehende Cycloid- und Ctenoidschuppen (erstere mit rundem, letztere mit gezacktem
Hinterrand).
Die Flossen der Actinopterygier besitzen an ihrer Basis
keine Muskel- und Endoskelettelemente wie jene der Sarcopterygier. Sie werden von schlanken Flossenstrahlen
(Lepidotrichia) gestützt, die sich von Schuppen ableiten
(Name: Strahlenflosser).
Im Gegensatz zu den Knorpelfischen waren die meisten ancestralen Knochenfische Süßwasserformen (S. 283,
s. auch S. 511). Mit Beginn des Mesozoikums finden sich
fast nur noch marine Formen, doch seit dem frühen Tertiär drangen zahlreiche Formen wieder in Flusssysteme
vor. Der Ursprung der Actinopterygier im Süßwasser
macht verständlich, dass die ältesten Knochenfische
neben Kiemen Lungen besaßen, paarige Aussackungen
des Vorderdarms, die unter den klimatischen Bedingungen der Devonzeit während periodischer Austrocknungsphasen als Hilfsorgane der Atmung dienten. Heute treten
sie nur noch bei den Flösselfischen auf – und unter den
Sarcopterygiern bei den Lungenfischen. Von den Lungen
lässt sich phylogenetisch die Schwimmblase ableiten. Bei
den Physostomen (z. B. Karpfen, Hering) mündet sie
noch über den Ductus pneumaticus in den Vorderdarm;
bei den Physoclisten (z. B. Barsch, Kabeljau) fehlt adult
diese Verbindung. Die Schwimmblase dient den Teleosteern als Auftriebsorgan, mit dessen Hilfe sie ihr spezifisches Gewicht an das des umgebenden Wassers anpassen (Plus 4.3, S. 262). Dem entspricht, dass die Schwimm-
682
blase bei Süßwasserfischen 7 %, bei Meeresfischen 5 % des
Körpervolumens ausmacht und bei bodenlebenden Fischen, z. B. Plattfischen (Pleuronectidae) völlig fehlt.
(Man beachte, dass das spezifische Gewicht des
schwimmblasenfreien Fischkörpers 1,07, das des Süßwassers 1,00 und das des Meerwassers 1,02 beträgt.) Sekundär kann die Schwimmblase auch wieder als Atmungsorgan dienen (S. 264). Einige marine Teleosteer
sind wieder ins Süßwasser zurückgekehrt. Oft – z. B.
beim Lachs – spiegelt sich dann der evolutive Weg Süßwasser → Meer → Süßwasser in ihrem individuellen (anadromen, d. h. zur Laichzeit flussaufwärts gerichteten) Lebenszyklus wider.
Im Gegensatz zu den Knorpel- besitzen die Knochenfische nur 4 Paar Kiemen (▶ Abb. 4.15, S. 260), die unter
einem Kiemendeckel (Operculum) liegen. Ein Spiraculum
tritt nur bei den Chondrosteern auf. Zahlreiche Organsysteme wie das Skelett-, Muskel-, Zentralnerven-, Kreislauf- und Urogenitalsystem weisen einen noch weitgehend segmental gegliederten Bau auf (z. B.
▶ Abb. 12.150, ▶ Abb. 12.151 und ▶ Abb. 12.154), der
bei den Tetrapoden im Zusammenhang mit den verschiedenen Formen terrestrischer Lebensweise zahlreiche Reduktionen und Konzentrationen erfährt.
Von den ancestralen Knochenfischen sei hier vor
allem der von Geoffroy Saint-Hilaire (Plus 11.1, S. 503)
entdeckte Flösselhecht Polypterus (▶ Abb. 12.159 a) genannt, der das Nilgebiet sowie die Flusssysteme Westund Zentralafrikas besiedelt. Zusammen mit dem westafrikanischen Flösselaal Erpetoichthys bildet er die Reliktgruppe der Cladistia, die heute als Schwestergruppe aller
übrigen Actinopterygier gilt. Zu seinen charakteristischen
Merkmalen zählen die dicken rhombischen Schuppen
(Ganoidschuppen, S. 659), die den Körper wie ein geschlossenes Kleid überziehen, die eigenartige, in einzelne
Flössel aufgelöste Rückenflosse und der Besitz von Lungen. Auch der nordamerikanische Kaimanfisch Lepisosteus (▶ Abb. 12.159 b) besitzt einen Integumentpanzer aus Ganoidschuppen, die – ebenso wie die Wirbelkörper – gelenkig miteinander verbunden sind und damit
die Manövrierfähigkeit dieses wendigen Räubers mit der
charakteristischen schnabelförmigen Schnauzenregion
erhöhen. Beim ebenfalls nordamerikanischen Schlammfisch Amia (▶ Abb. 12.159 c) wird der Körper von einer
speziellen Form von Cycloidschuppen bedeckt, die z. T.
noch eine dünne Ganoinschicht tragen. Unter allen archaischen Knochenfischen steht er den Teleosteern am
nächsten, ja wird als deren Schwesterart betrachtet. Wie
Lepisosteus ist auch Amia eine Reliktform ehemals weltweit verbreiteter Knochenfische, die in der Kreidezeit
ihre Hauptentfaltung erlebten. Bei den heute dominierenden Actinopterygiern, den Teleosteern, sind die
Schuppen dünn und leicht geworden (Elasmoidschuppen,
S. 659), die Wirbel dagegen vollständig verknöchert.
Einer Reduktion des Exoskeletts läuft also eine Verstärkung des Endoskeletts parallel.
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12 Vielfalt der Organismen
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